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KAPITEL 4

ALLER ANFANG IST SCHWER

Baltimore, Mai 1943

„Nächster Halt: Baltimore!“, ertönte die Stimme des Schaffners, der seinen Kopf in das Zugabteil steckte. Die ganze Fahrt über hatte Petra versucht ein wenig zu schlafen. Aber die Aufregung und die Angst, ihre Haltestelle zu verpassen, waren zu groß. Petra verließ den Bahnhof von Baltimore und wunderte sich, dass die Straßen noch so belebt waren, obwohl sich die Nacht bereits über die Stadt legte. Elegant gekleidete Gesellschaften zogen an ihr vorbei. Die grell leuchtenden Neonlichter eines Kinos zogen fröhliche junge Leute wie Motten an. Petra blieb vor einem Zeitungskiosk stehen und kam aus dem Staunen nicht heraus: Hunderte von Zeitschriften wurden hier zum Kauf angeboten. Sie betrachtete fasziniert die unterschiedlichen Titelblätter. Es gab sogar ausländische Magazine. Nachdem sie einen Augenblick lang die vielfältigen, neuen Eindrücke um sich herum eingesaugt hatte, holte sie ein Stück Papier aus ihrer Tasche auf dem die Adresse ihrer Unterkunft stand. Verloren schaute sie auf die Straßenschilder. Sie hatte nicht den blassesten Schimmer, welche Richtung sie einschlagen sollte. Ein jüngeres Paar schlenderte an ihr vorbei. Petra hielt sie aufgeregt an. „Entschuldigung, können Sie…?“ Doch der Mann winkte sofort ab: „Nein, heute nicht.“ Petra war verwirrt. Sie wedelte mit dem Blatt Papier hinter ihnen her: „Ich wollte doch nur wissen, wo…“ Doch das Pärchen legte einen Zahn zu und Petras Stimme ging im Straßenlärm unter. „Hey!“, hörte sie eine tiefe Stimme hinter sich rufen. Sie drehte sich um und erkannte einen Polizisten, der auf sie zueilte. „Hier ist Betteln verboten“, schnauzte er. Petra erschrak. Sie wusste nicht genau, was sie falsch gemacht hatte. Schnell versuchte sie zu erklären: „Oh nein, ich habe doch nur versucht, nach dem Weg zu fragen.“ Nervös hielt sie ihm den zerknitterten Zettel mit der Adresse entgegen. „Oh, das tut mir sehr leid. Sind Sie neu in der Stadt?“ Petra, die etwas schockiert war, dass sie gleich von mehreren Leuten für eine Obdachlose gehalten wurde, antwortete: „Ich bin gerade angekommen.“ Zum Beweis dafür zeigte sie auf ihren Koffer. Die Gesichtszüge des Polizisten wurden milder. Er betrachtete den Zettel: „Dann lassen Sie mich doch mal sehen, wo die Reise für Sie hingeht.“ Als er die Adresse sah, zeigte er auf eine Reihe von Taxis, die auf der anderen Seite der Straße auf Kundschaft warteten. „Das ist ein ganzes Stück entfernt. Ich rufe Ihnen gerne ein Taxi.“ Petra hatte keine Vorstellung davon, wie viel eine Taxifahrt kosten würde und antwortete zögernd: „Vielen Dank, aber ich würde lieber laufen.“ Der Polizist runzelte die Stirn: „Sind Sie sicher? Es ist wie gesagt ein ganzes Stück weg.“ Petra nickte. Hastig suchte sie nach einer Erklärung, die ihn zufriedenstellen könnte. „Ja, aber so kann ich gleich die Stadt etwas kennenlernen.“ Er zuckte mit den Schultern und sagte: „Wie Sie meinen.“ Dann beschrieb er ihr den Weg so genau er konnte, während Petra eifrig versuchte, seine Anweisungen aufzuschreiben.

Nachdem sie sich einigermaßen sicher war, die Wegbeschreibung verstanden zu haben, bedankte sie sich bei dem hilfsbereiten Polizisten und machte sich mit ihrem Koffer zu Fuß auf den Weg. Er hatte nicht übertrieben, es war ein langer Marsch bis zu ihrer Unterkunft. Ihr Koffer fühlte sich in ihrer Hand immer schwerer an. Hechelnd musste sie immer wieder die Hand zum Tragen wechseln, da ihre Finger durch den porösen Griff schon ganz wund gerieben waren. Als sie schwer atmend ihre Unterkunft erreichte, war es bereits stockfinster. Sie blieb vor einem heruntergekommenen Backsteinhaus stehen, das eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Einladend sah es nicht aus. Doch darüber konnte sich Petra keine Gedanken mehr machen, sie war kraftlos und erschöpft. Sie ging hinein und stellte erleichtert fest, dass die Rezeption noch besetzt war. Ein kleiner, rundlicher Mann mit Halbglatze schaute sie prüfend an. Trotz ihrer Müdigkeit versuchte sie ein freundliches Lächeln aufzusetzen und sagte: „Guten Abend, ich habe ein Zimmer auf den Namen Smith reserviert.“ Eigentlich hieß sie Schmidt, doch ihr Vater hatte den Namen bei der Reservierung leicht abgeändert, damit ihr deutscher Name keine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Der kleine Mann erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl und watschelte zu dem Reservierungsbuch. Er grunzte hinter dem Tresen hervor: „SIE haben ein Zimmer reserviert?“ Petra brauchte ein paar Sekunden, bis sie seine Verwirrung verstand: Frauen durften ohne die Erlaubnis eines Mannes nicht einmal ein Bankkonto eröffnen, geschweige denn eine Unterkunft mieten. Daher setzte sie schnell nach: „Mein Vater hat das Zimmer für mich reserviert. Es sollte auch schon für die nächsten drei Monate bezahlt sein.“ Der grummelige Mann hatte ihren Namen nun in seinem Buch gefunden. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, kam er hinter dem Tresen hervor und führte sie laut stöhnend die Treppen bis zur ersten Etage hoch. Am Ende eines langen Ganges blieben sie vor dem Zimmer mit der Nummer 4 stehen. Mürrisch reichte er ihr den Schlüssel. „Halten Sie das Zimmer sauber und keine Besucher nach 23 Uhr.“

Petra nickte und er verschwand ohne ein weiteres Wort nach unten. Petra steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete langsam die Tür. Das Zimmer war heruntergekommen. An den Wänden klebte eine schreckliche Blümchentapete, die an vielen Stellen schon von den Wänden abblätterte. Anstatt einer Deckenlampe baumelte nur eine einfache Glühbirne von der Decke. Es ragten Kabel aus der Wand und die Vorhänge waren vergilbt. Petra war es in diesem Augenblick egal. Als sie die Tür hinter sich schloss, kam es ihr vor, als würde sie die Außenwelt ausschließen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie wirklich allein. Es fühlte sich unwirklich an. Petra lauschte: Vom Fenster aus konnte sie ein wenig Straßenlärm hören, aber ansonsten war es still. Sie warf sich aufs Bett und holte tief Luft. Die ganze Anstrengung der letzten Wochen fiel von ihr ab. Nachdem sie eine Weile die Stille genossen hatte, begann sie sich im Zimmer umzuschauen. Es war klein, doch es hatte alles, was sie brauchte: ein Bett, einen Kleiderschrank und ein Fenster. Gegenüber dem Bett stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Stuhl davor. Dies sollte nun erst einmal für die nächsten Monate ihr neues Zuhause sein.

Sie öffnete ihren Koffer und hing ihre Kleider achtsam in den Kleiderschrank. Viel hatte sie nicht, aber sie war auch noch nie jemand gewesen, der viel Wert auf Mode legte. Schließlich hatte sie in Deutschland die Hälfte der Zeit ihre BDM Uniform getragen. Als sie ein gelbes Blümchenkleid aus dem Koffer nahm, hielt sie kurz inne und betrachtete es. Es hatte ihrer Mutter gehört. Sie hatten einst einen riesigen Streit gehabt, weil Petra sich das Kleid ausgeliehen hatte und am Ende ein Knopf fehlte. Sie betrachtete die Stelle, an der der Knopf einst abgegangen war. Zu ihrer Überraschung war da aber ein neuer Knopf, der nicht ganz zu den anderen Knöpfen passte. Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. Ihre Mutter musste vor der Reise einen neuen für sie angenäht haben. „Danke Mama“, flüsterte sie und drückte das Kleid fest an ihre Brust, so wie sie ihre Mutter gerne gedrückt hätte. Sie konnte nicht fassen, dass sie nun ganz allein für ihr Leben verantwortlich war. Als sie noch zu Hause lebte, hatte sie sich immer geärgert, wenn ihre Eltern ihr ungefragt Lebensratschläge gaben. Nun wusste sie nicht, wie sie ohne sie zurechtkommen sollte.

Nachdem sie sich etwas in ihrem neuen Zimmer eingerichtet hatte, hängte sie noch ihren Mantel über den Stuhl. Als sie dies tat, fiel der Brief ihrer Mutter aus der Innentasche des Mantels. Sie hob ihn auf und setzte sich auf die Bettkante. Eine ganze Weile saß sie regungslos da und betrachtete die Handschrift ihrer Mutter. Sie war sich nicht sicher, ob sie es ertragen konnte, die Worte ihrer Mutter zu lesen. Ein einfacher Knopf hatte ihr schon fast die Tränen in die Augen getrieben. Was würde sie nur dafür geben, jetzt bei ihrer Familie zu sein! Sie fasste sich ein Herz und öffnete den Brief. Als sie zu lesen begann, konnte sie die Stimme ihrer Mutter regelrecht hören.

„Meine geliebte Petra, es bricht uns das Herz, dich gehen zu lassen. Aber es würde uns noch mehr wehtun, dich ein Leben voller Angst im Schatten leben zu sehen. Du bist dazu bestimmt, zu strahlen. Du weißt es noch nicht, aber du wirst viele Herzen mit deiner Wärme berühren. Geh mit einem offenen Blick durch die Welt und sie wird dich mit offenen Armen empfangen. Erwarte nicht immer zu viel von dir selbst. Du bist genug. Du musst nicht allein die Welt auf deinen Schultern tragen. Du wirst Menschen begegnen, die dir beim Tragen helfen werden. Denke daran, wann immer du dich verloren oder einsam fühlst. Du magst glauben, dass dein Herz in Stücke gebrochen ist, aber all diese Stücke sind immer noch in dir. Und du wirst den Mut finden, die Stücke wieder zusammenzusetzen. Es wird einige Zeit dauern und es wird nicht leicht sein, aber vertraue mir, wenn ich sage, dass du dich irgendwann wieder heil fühlen wirst. Wir werden bei jedem Schritt in deinem Herzen bei dir sein. In Liebe Mutti und Vati.“

Tränen tropften auf das Papier und ließen die Buchstaben langsam vor Petras Augen verschwimmen. Sie brauchte mehrere Anläufe, um den Brief vollständig zu lesen. Die Emotionen, die sie in ihrem Herzen spürte, waren zu stark. Ihre Kehle war zugeschnürt. Ihre Brust schmerzte. Verflogen war die Freude über ihr neues Leben. Sie sehnte sich nur noch zurück in die liebevollen Arme ihrer Eltern. Petra las den Brief noch mehrere Male, bis ihr vor Erschöpfung die Augen zufielen.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, dauerte es ein paar Sekunden, bis sie realisierte, wo sie war. Es musste sehr früh sein, denn die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen. Dennoch hörte Petra bereits geschäftiges Treiben von dem leicht geöffneten Fenster aus. Sie schlug die Decke zur Seite und öffnete das Fenster vollständig. Es war schon einiges los auf den Straßen von Baltimore. Es schienen meist Ladenbesitzer um diese Zeit unterwegs zu sein. Von ihrem Zimmer aus beobachtete sie die lange Schlange, die sich vor Tiffany´s Bakery bildete. Zeitungslesende Geschäftsmänner und adrett gekleidete Hausfrauen warteten darauf, dass sich die Türen öffneten. Etliche Lieferwagen schlängelten sich durch die engen Straßen, um ihre ganz unterschiedlichen Waren abzuliefern. Am Ende der Straße waren ein Lieferwagenfahrer und ein junger Gehilfe damit beschäftigt, Fässer mit frisch gebrautem Bier in einen Spirituosenladen zu schleppen. Petra ergötzte sich an diesem Schauspiel. Sie fühlte sich wie die Zuschauerin eines Theaterstücks. Als sie in einem der Schaufenster ein Klavier entdeckte, wanderten ihre Gedanken wieder zu ihren Eltern und ihr wurde schwer ums Herz. Aber es half ihr nicht, in Selbstmitleid zu zerfließen, damit hatte sie schon die halbe Nacht verbracht. Sie musste sich ablenken. Petra beschloss, ihre neue Heimat zu erkunden. Sie warf das erstbeste Kleid über und wusch sich das Gesicht. Sie bürstete sich kurz die Haare durch und machte sich dann auf den Weg. Nach einiger Zeit fand sie sich auf der Haupteinkaufsmeile der Stadt wieder. Egal, wohin sie schaute, fielen ihr Friseursalons, Geschäfte mit Miederwaren und noch einige andere Läden mit großen, bunten Schaufenstern ins Auge. Hier schien alles viel größer und opulenter zu sein als in Deutschland. Während sie im Sonnenschein vor sich hin flanierte, zog sie ein Schaufenster so in den Bann, dass sie voller Bewunderung davor stehen blieb. Auf der Schaufensterpuppe hing sorgfältig drapiert ein edles Chiffonkleid, wie Petra es einst in einem Film gesehen hatte. Es war blassrosa und aus einem so leichten Stoff, dass jeder kleinste Windhauch es zum Schwingen bringen würde. Ihre Augen funkelten, als sie das Kleid im Schaufenster betrachtete. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, eins dieser Mädchen zu sein. Ein Mädchen, das so ein Kleid trägt, hat keine Sorgen, dachte sie sich. Während sie nachdachte, sah sie sich selbst in der Reflexion der Scheibe. Da stand sie in dem alten, braunen, löchrigen Mantel ihrer Mutter. Nein, sie würde wohl nie eins dieser Mädchen sein. Resigniert wendete sie ihren Blick ab und ging weiter.

Als sie sich am Nachmittag auf den Rückweg zu ihrer Bleibe machen wollte, kam sie an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Im Fenster stand ein großes Schild: „Aushilfe gesucht“. Eine Arbeit, dachte sie sich, war genau das, was sie jetzt brauchte. Als junges Mädchen hatte sie gelegentlich beim Obst- und Gemüsehändler in ihrer Straße ausgeholfen. Sie zögerte kurz, holte tief Luft und betrat den Laden, um sich für die Stelle vorzustellen. Zu ihrer Überraschung hatte man auch sofort Zeit für sie. Der Ladenbesitzer merkte schnell, dass er ein junges Ding vor sich hatte, das nicht viel von den Gesetzen dieses Landes verstand. Eine Hilfskraft, die so günstig und so unwissend war, kam ihm gerade recht. Er betrieb das Geschäft nun schon in dritter Generation, doch seit kurzem stand es nicht gut um seinen kleinen Laden: Ein großer Supermarkt hatte wenige Straßen weiter eröffnet und seine Kunden blieben ihm seitdem scharenweise fern. Neben seiner Tochter, die meist an der Kasse saß, wollte er noch jemanden einstellen, der den Kunden die Einkäufe einpackte, um ihnen so noch einen zusätzlichen Service zu bieten. Daher bot er Petra die Stelle sofort an, ohne viele Fragen zu stellen. Petra war überglücklich über die Chance und trat gleich am nächsten Tag ihre Stelle an. Leider musste sie schnell feststellen, dass eine entspannte Arbeitsatmosphäre anders aussah. Es herrschte ein rauer Ton, den Petra so nicht gewohnt war. Dennoch versuchte sie sich so gut sie konnte anzupassen. Ihre Aufgabe war es, die Einkäufe der Kunden sorgfältig in Papiertüten einzupacken. Während diese darauf warteten, dass die Einkäufe abkassiert wurden, begutachtete Petra die Kunden. Eine ältere Dame in einem opulenten Fellmantel, der ihr allem Anschein nach eine Nummer zu klein war, erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Dame trug auffällig viel Schminke, die leider völlig ihre Wirkung verfehlte: Anstatt die Augenfältchen zu kaschieren, wurden diese durch das Make-up noch betont und sahen so tiefer aus, als sie waren. Der grellrote Lippenstift war auch sehr reichhaltig aufgetragen und klebte an ihren Zähnen. Die Aufmachung der alten Dame störte Petra nicht im Geringsten. Es waren ihre Überheblichkeit und ihre Art, andere von oben herab zu behandeln, die Petra nervös machten. Kopfschüttelnd beugte sich die Frau zu Petra, während diese ihre Einkäufe einpackte: „Doch nicht das Gemüse mit dem Fleisch in eine Tüte!“, keifte sie sie an. Verunsichert nahm Petra das Gemüse wieder aus der Tüte. „Doch auch nicht mit dem Obst!“ Hektisch versuchte Petra nach einer neuen Tüte zu greifen und streifte dabei die Tüte mit den Früchten, die daraufhin von der Theke fiel und ihren Inhalt auf dem ganzen Boden verteilte. Die Dame schaute nur abschätzig auf sie herab, als Petra auf allen vieren vor ihr kroch und versuchte, die Früchte einzusammeln. „Die werde ich sicher nicht bezahlen“, sagte sie knapp. Der Ladenbesitzer bemerkte den Tumult und eilte heran. „Keine Sorge, Mrs. Morgan, meine Tochter wird ihnen eine neue Tüte Obst zusammenstellen. Natürlich auf Kosten des Hauses.“ Die Dame nickte blasiert, als hätte sie nichts anderes erwartet. Als sie den Laden mit ihren Einkäufen verließ, schimpfte der Besitzer wütend mit Petra: „Das ziehe ich dir von deinem Lohn ab.“ Diese war wegen ihres Fehlers am Boden zerstört und nickte beklommen.

Die nächsten Wochen vergingen nur langsam. Petra hatte anfangs gehofft, dass die Arbeit im Laden ihr helfen würde, neue Kontakte zu schließen, doch die Kunden behandelten sie wie Luft. Auch mit der Tochter des Ladenbesitzers wurde sie einfach nicht warm. Jeder Tag glich dem anderen. Sie ging früh zur Arbeit, kämpfte sich durch den Tag und war am Abend dann so erschöpft, dass sie nur noch wieder ins Bett wollte. Sie fühlte sich wie ein Schatten ihrer selbst. Jeden Tag auf dem Heimweg blieb sie an dem großen Zeitungskiosk stehen und begutachtete die Titelblätter. Die Überschriften lasen sich auf beinahe jedem Blatt gleich, meist prangten dort reißerische Parolen gegen Deutschland. Petra wollte zwar auch, dass die Nazis den Krieg verlieren, doch es brach ihr das Herz zu lesen, dass alle Deutschen als Nazis abgestempelt wurden. Petra überkam jedes Mal eine Mischung aus Trauer und Wut, wenn sie einmal wieder eine besonders reißerische Karikatur auf einem der Hefte erblickte. Das Leben in Amerika hatte sich Petra anders vorgestellt. Die Einsamkeit nagte an ihr und sie spürte, dass sie so wie bisher nicht ewig weitermachen konnte. Doch sie war schon so in ihrer Routine gefangen, dass sie nicht wusste, wie sie dieser wieder entfliehen konnte.

Als Petra an diesem Nachmittag den Laden verließ, war sie völlig ausgelaugt und niedergeschlagen. Ihre Fußsohlen brannten wie Feuer, weil sie den ganzen Tag stehen musste. Sie hätte nie gedacht, dass es so anstrengend sein würde, Einkäufe in Tüten zu packen. Während sie nach Hause schlenderte, blieb ihr Blick an einem Plakat haften, das am Tag zuvor an dieser Stelle noch nicht gehangen hatte. Es zeigte eine junge Frau in Uniform. Sie salutierte mit einem strahlenden Lächeln. Petra konnte sich nicht erklären, warum, aber etwas an diesem Bild zog sie magisch an. Neugierig trat sie einen Schritt näher und las die Aufschrift: „Dein Land braucht dich! Werde Ambition Girl!“ Petra war von der Zeichnung so fasziniert, dass sie nicht merkte, wie sich eine ältere Dame leise zu ihr gesellte und sie musterte. „Sie wären perfekt dafür.“

Petra schreckte aus ihrer Trance hoch. Sie drehte sich zu der alten Dame um und betrachtete sie. „Dame“ war tatsächlich das richtige Wort für sie. Sie hatte leicht grau gelocktes Haar, ihr Gesicht war von vielen tiefen Falten durchzogen, doch ein herzliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Dame trug das bezauberndste Kostüm, das Petra je gesehen hatte. Es saß perfekt und das leuchtende Blau ließ sie förmlich erstrahlen. So stellte sich Petra die perfekte Großmutter aus einem Kinderbuch vor. Petra war fasziniert von ihrem Anblick. „Entschuldigung, was haben Sie gesagt?“, fragte Petra etwas verdattert. Die alte Dame zeigte auf das Plakat. „Sie wären ein perfektes Ambition Girl.“ Petra musste lachen. „Vielen Dank. Aber ich weiß noch nicht einmal, was das ist. Ich habe nur diese wundervolle Zeichnung gesehen und musste einfach stehen bleiben.“ „Haben Sie die vielen Artikel in den Zeitungen nicht gesehen? Das sind Mädchen, die unsere Truppen motivieren. Sozusagen die Cheerleader der US Army.“ Petra wurde bei dem Wort „Army“ hellhörig. Die ganze Zeit schon zermarterte sie sich den Kopf darüber, wie sie wohl wieder nach Deutschland zurückkehren könnte. Also fragte sie: „Reisen diese Ambition Girls auch nach Europa?“ Die ältere Dame zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, sie sind eher für die Truppen hier in den USA zuständig. Aber man hat auch schon Künstler nach Japan einfliegen lassen. Da sollte Europa sicher auch kein Problem sein.“ Die ältere Dame lächelte. Petra sah wieder auf das Plakat und flüsterte verträumt: „Sie sieht so perfekt aus. Ich bin zu durchschnittlich für so etwas.“

Mit einem Schmunzeln betrachtete die alte Frau Petra. „Natürliche Schönheit sollte man nie unterschätzen. Ich wünschte, ich hätte so eine Möglichkeit gehabt, als ich in Ihrem Alter war.“ Die Dame blickte nostalgisch auf das Plakat und fuhr fort: „Ich habe einen guten Mann geheiratet. Wir haben zwei Kinder bekommen, wie man es von uns erwartet hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meinen Mann und meine Kinder. Sie sind mein Ein und Alles. Doch ich hatte nie ein richtiges Abenteuer in meinem Leben.“ Petra war gerührt von den Worten der alten Frau. Sie konnte in ihren Augen sehen, wie sehr sie sich gewünscht hätte, die Frau auf dem Plakat zu sein. „Ich glaube, ich hatte erst einmal genug Abenteuer“, murmelte Petra. Die Frau im blauen Kostüm schüttelte den Kopf. „Was für ein Unsinn! Das Leben hält noch so viele Abenteuer für Sie bereit. Man sollte keins auslassen, sonst sind Sie irgendwann diejenige, die auf der Straße einer völlig fremden jungen Frau erzählt, wie sehr sie er bereut, ihr Leben einfach hat verstreichen zu lassen!“ Es war, als würden die strahlend grünen Augen der alten Frau Petra direkt in die Seele schauen. Gedankenverloren blickte diese noch ein letztes Mal auf das Plakat und dann wieder auf die alte Dame. „Ich denke, ich werde mich da mal vorstellen. Und egal was passiert, danach kann ich wenigstens sagen, ich war auf einem Abenteuer.“ Die alte Frau lächelte und nickte begeistert. „Ich wünsche Ihnen nur das Beste für Ihr Abenteuer!“

Die beiden Frauen verabschiedeten sich und Petra machte sich beschwingten Schrittes wieder auf den Heimweg. Vergessen war der schreckliche Tag im Lebensmittelgeschäft. Sie verspürte neue Zuversicht und sah eine Perspektive vor sich. Die alte Dame hatte, ohne es zu wissen, etwas in ihr geweckt. Etwas, von dem sie gar nicht wusste, dass sie es besaß: Abenteuerlust. Petra wusste nicht, was sie erwarten würde. Höchstwahrscheinlich würde sie sofort wieder nach Hause geschickt werden, aber die alte Dame hatte recht: Sie musste es versuchen. Also prägte sie sich gut ein, wo und wann sie sich vorstellen sollte.

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