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I. Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für Verständnis und Anwendung des Verwaltungsrechts in Europa
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Rechtsvergleichung im Verwaltungsrecht hat eine lange Tradition und reicht bis in seine Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück.[1] Zwar verblasste ihre Bedeutung mit dem Aufkommen des staatsrechtlichen Positivismus für ein ganzes Jahrhundert;[2] zum Erliegen gekommen ist sie jedoch nie. Sie hat dazu beigetragen, in der deutschen Verwaltungsrechtsordnung entwickelte Institute wie den Vorbehalt des Gesetzes, das subjektive öffentliche Recht oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ebenso europaweit zu verbreiten wie die französisch geprägten Figuren des acte administratif oder des service public.[3] Dabei haben – wie die (eigenwillige) Interpretation des englischen local government durch Rudolf von Gneist zeigt – auch Missverständnisse die weitere Ausprägung bestimmter verwaltungsrechtlicher Institute wie etwa der Selbstverwaltung erst ermöglicht.[4] Seit der Zeitenwende der Jahre 1989/1990 haben Globalisierung und europäische Integration der Rechtsvergleichung im Verwaltungsrecht einen neuen Schub verliehen und sie (wieder) zu einem integralen Bestandteil verwaltungsrechtlicher Analyse und Systembildung gemacht. Als solche hat sie eine rechtsdogmatische und -politische Bedeutung für die Verwaltungsrechtsordnung der Europäischen Union, aber auch für die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen im europäischen Rechtsraum.
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So ist das Unionsrecht zwar eine allen Mitgliedstaaten gemeinsame, eigenständige Teilrechtsordnung. Diese beruht jedoch nicht nur auf den Verfassungen der Mitgliedstaaten, deren grundlegende Wertungen sie zu berücksichtigen hat (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV) und von denen sie zahlreiche Impulse empfängt (z.B. Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 340 Abs. 2 AEUV);[5] sie ist in weiten Bereichen auch so fragmentarisch, dass interessengerechte Lösungen nur unter Rückgriff auf rechtsvergleichende Einsichten gefunden werden können. Dem trägt die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in Teilen des europarechtlichen Schrifttums bestehende Neigung, das Unionsrecht als selbstreferentielles Handlungsregime der EU-Organe verstehen zu wollen,[6] nicht ausreichend Rechnung, ja sie erscheint wie ein Versuch, den im nationalen Bereich gerade erst überwundenen Positivismus auf europäischer Ebene wiederauferstehen zu lassen.
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Unmittelbare Rechtserheblichkeit besitzt die Rechtsvergleichung zudem dort, wo das Unionsrecht Einfluss auf die Tätigkeit der nationalen Verwaltungen besitzt, d.h. im Bereich des mittelbaren Vollzugs. Da das Verwaltungsrecht überwiegend Recht ist, „das seine Steuerungswirkung erst über die Aktivitäten von Bürokratien, europäischen wie mitgliedsstaatlichen, entfaltet“, Recht also, „das Verwaltungen arbeiten lässt“,[7] lassen sich Grundsätze, Regeln und Institute, die das nationale Verwaltungsrecht im Zuge seiner Europäisierung und seiner Einbindung in den europäischen Verwaltungsverbund überlagern, modifizieren oder verdrängen, nur erfassen, wenn man auch den Kontext kennt, dem sie entstammen.
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Schließlich ist auch die rechtspolitische Bedeutung der Verwaltungsrechtsvergleichung nicht zu unterschätzen. Der europäische Rechtsraum im Allgemeinen und die Rechtsordnung der Europäischen Union im Besonderen zeichnen sich jenseits der harmonisierten Bereiche – wie andere Mehr-Ebenen-Systeme auch – durch einen Wettbewerb der Rechtsordnungen aus, in dem es immer auch um die beste Lösung oder – in der Sprache der Organisationswissenschaften – die „best practice“ geht.[8] Das setzt voraus, dass man Aufbau und Funktionsweise der anderen Verwaltungsrechtsordnungen versteht.
Einführung › § 73 Grundzüge des Verwaltungsrechts in Europa – Problemaufriss und Synthese › II. Divergenzen und Konvergenztendenzen zwischen den Verwaltungsrechtsordnungen