Читать книгу Sakristei des Todes - Paul Doherty - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDer Dominikaner kauerte auf seinem Betstuhl in der leeren Kirche von Blackfriars, und sein Blick huschte hin und her zwischen dem goldverzierten Kruzifix und dem Kiefernholzsarg mit dem Leichnam seines ermordeten Ordensbruders.
Bruder Alcuin war unruhig. Er nagte an der Unterlippe und verschränkte die Finger fest ineinander. Egal, was die anderen dachten, er kannte die Wahrheit. Bruder Bruno war brutal ermordet worden. Alcuin war ebenso zornig wie entsetzt: zornig darüber, daß eine so ruchlose Tat in einem Dominikanerkloster begangen werden konnte, und entsetzt, weil er wußte, daß der Mörder eigentlich ihn gemeint hatte.
Es war so einfach gewesen. Alcuin hatte eine Mitteilung erhalten, natürlich anonym, in der er aufgefordert wurde, gleich nach der Vesper in die Krypta zu kommen. Verärgert über die Farce, die vor kurzem entdeckt worden war, und den frommen Spott, der hinter all dem stand, war er hingegangen – und hatte Bruno am Fuße der steilen Treppe gefunden, die in die Krypta hinunterführte; sein Genick war verdreht, und sein Hirn gerann in blutigen Pfützen seines zerschmetterten Schädels.
Pater Prior war rasch zu dem Schluß gelangt, daß Bruno auf der obersten Stufe unglücklich ausgeglitten und in den Tod gestürzt war. Aber Alcuin wußte es besser. Irgendwie hatte der Mörder dort gewartet und Bruder Bruno entweder ein Bein gestellt oder ihn die steile, scharfkantige Steintreppe hinuntergestoßen. Das war am vergangenen Abend gewesen. Morgen nach der Frühmesse würden Brunos Dominikanerbrüder das Requiem singen und den Leichnam ihres armen Gefährten hier hinter dem Hochaltar bestatten. Sie würden leise miteinander über Brunos Vorzüge sprechen, und mit der Zeit, vielleicht eher früher als später, würde er in Vergessenheit geraten, und an die Art seines Todes würde man sich nur noch vage erinnern, während sein Mörder triumphierend davonspazierte.
Alcuin blickte auf und starrte das Kruzifix an. Christus würde das doch gewiß nicht zulassen? Mord war eine der Sünden, die zum Himmel um Rache schrien. Es mußte Gerechtigkeit geschehen. Aber sollte er sich an dieser Gerechtigkeit beteiligen? Wer würde ihm glauben, einem einfachen Sakristan und Kellermeister? Nur er und sein Freund, der uralte Bibliothekar Callixtus, kannten die Wahrheit, aber sie konnten keinen Beweis finden. Der Rest der Klostergemeinschaft würde sagen, sie handelten aus Bosheit, und behaupten, Alcuin sei von einem üblen, verschlagenen Dämon besessen. Vielleicht würde man ihn nach Rom oder nach Avignon schicken, damit er sich vor seinen Oberen verantwortete, oder – noch schlimmer – man würde ihn den Inquisitoren ausliefern, die ihn befragen und verhören und ihm den Prozeß machen würden. Und was dann?
Alcuin wischte sich die Schweißperlen von der breiten Stirn. Sein bleiches, eckiges Gesicht wurde verdrossener, während er in die zunehmende Dunkelheit starrte. Natürlich konnte noch Schlimmeres passieren. Wie Bruder Athelstan würde man ihn aus Blackfriars verbannen und in irgendeine schmuddelige Pfarrkirche schicken, wo er den Ungewaschenen und Ungebildeten als Seelsorger dienen müßte. Ein Lächeln huschte über Alcuins säuerliches Gesicht. »Athelstan, Athelstan«, murmelte er, »warum bist du nicht hier? Ich brauche dich jetzt. Der Orden braucht dich. Christus der Herr braucht deinen durchdringenden Blick und deinen scharfen Verstand.«
Das Lächeln verblaßte. Athelstan war nicht eingeladen zu der Sitzung des Generalkapitels des Dominikanerordens im Mutterhaus zu Blackfriars. Athelstan war jetzt Gemeindepfarrer in St. Erconwald in den Elendsquartieren von Southwark, wo er mit seinem Kater plauderte und den Sternenhimmel erforschte.
»Weißt du, Alcuin«, hatte Athelstan einmal zu ihm gesagt, »ich habe einmal mit einem Mann gesprochen, der in Persien war und den Magi begegnet ist. Das sind weise Männer, die den Himmel studieren. Er hat mir eine seltsame Geschichte erzählt – daß es einmal keine Sterne gab, keine Sonne, keinen Mond. Nichts als eine dunkle, finstere Masse, die auf Gottes Geheiß zu brennenden Felsen zerbarst und das Universum formte, von dem die Erde nur ein kleiner Teil ist.«
Alcuin schüttelte den Kopf. Wenn Athelstan von derartigen Theorien redete, war es vielleicht nur gut, daß er nicht hier war. Wieder erinnerte Alcuin sich an das dunkle, scharfgeschnittene Gesicht und die schwermütigen Augen seines Ordensbruders. Athelstan war für Höheres vorgesehen gewesen. Im Noviziat ein brillanter Student, hatte er sein Gelübde gebrochen, war, den Kopf voll romantischer Geschichten, davongelaufen in den Krieg und hatte seinen kleinen Bruder Francis mitgenommen. Athelstan war zurückgekehrt, Francis nicht. Seinen Eltern hatte es das Herz gebrochen, und nur der Pater Prior hatte Athelstan vor der ganzen Härte des dominikanischen Gesetzes bewahren können. Athelstan hatte sein Studium beendet, seine Gelübde abgelegt und war zum Priester geweiht worden. Dann hatte man ihn zur Arbeit in die stinkenden Gassen der Londoner Elendsviertel entsandt.
Alcuin hörte ein Geräusch und hob den Kopf. Er spähte im dunklen Gotteshaus umher, sein Blick wanderte schnell über die großen Statuen der Apostel in ihren Nischen. Hier konnte niemand sein. Er hatte in der stillen Zeit zwischen Vesper und Komplet allein sein wollen, um nachzudenken und zu beten. Alcuin rieb sich das Gesicht, und wieder hob er den Kopf und starrte hinauf zum Kruzifix. Das bot dem Mörder, der sich von hinten angeschlichen hatte, die Gelegenheit, die Sehne der Garotte um Alcuins mageren, faltigen Hals zu schlingen. Ein paar Augenblicke lang wehrte sich der Sakristan heftig, aber die Schlinge wurde enger gezogen, und während ihm noch das eigene Blut in den Ohren pochte, starb Alcuin. Er hatte nicht mehr schreien, kein Gebet sprechen und auch nicht den Namen seines Freundes Athelstan flüstern können.
An der Ecke der stinkenden Gasse gegenüber von St. Erconwald stand auch jemand und starrte zum ernsten, düsteren Berg des Kirchengebäudes hinüber. Auch er dachte an vergangene Sünden und an Gottes bevorstehende Rache und Gerechtigkeit. Der Beobachter hielt sich dicht an der urinbesudelten Wand. Er achtete nicht auf den Bettler, der hinter ihm wimmerte, und trat hin und wieder von einem Fuß auf den anderen, wenn Ratten aus den Mauerritzen hervorschlüpften, um zwischen übelriechenden Haufen von Kot und Abfall zu jagen.
Aus einem Fenster weiter oben in der Gasse hörte man ein junges Mädchen singen; die klare, süße Stimme wollte nicht zu der stinkenden Gasse passen und schien dem Beobachter in der Dunkelheit überaus unangemessen. Der Mann lehnte sich an die Mauer. Es war ein bittersüßes Lied, das Erinnerungen an die Vergangenheit heraufbeschwor, Erinnerungen vor allem an eine geheime Sünde. Doch er hatte getan, was in seiner Macht stand: Hunderte Wachskerzen hatte er vor den Heiligenfiguren in der Kathedrale von St. Paul angezündet, er war zu Beckets Grab nach Canterbury gepilgert, um sich dort zu Boden zu werfen, und er hatte den Armen reichlich Geld gegeben. Er war sogar zu Leuten gegangen, die sich mit der Schwarzen Kunst befaßten, Kreaturen der Nacht mit Zauberbüchern in geheimen, luftlosen Kammern. Er hatte eine Münze unter die Zunge eines Gehängten geschoben und, den Anweisungen des Zauberers folgend, zwei Nächte unter dem Schafott verbracht und dem Herrn der Finsternis ein Lied gesungen, auf daß sein Geheimnis verborgen bleibe.
Der Beobachter starrte hinauf zum Kirchturm von St. Erconwald. Das Blitzen reflektierten Lichts verriet ihm, daß Pfarrer Athelstan mit seinem Fernrohr und den Tierkreiskarten dort oben war, den Himmel befragte und in dieser milden Sommernacht darauf wartete, daß der Abendstern erschien. Der Beobachter bewegte sich. Wahrlich, die Schrift hatte recht: Die Sünde verfolgte den Sünder stets. Er fühlte, wie sie herankroch, ein abscheuliches Wesen, das sich hinter ihm durch die Gassen wälzte. Er roch ihren Atem, fühlte ihre kalten Klauen in seinem Nacken, und dennoch – was konnte er tun? Ein Geständnis bedeutete den Galgen; aber Schweigen würde den furchtbaren Tag nur aufschieben. Er schaute zur Kirche hinüber, zum Hause Gottes und zum Tor des Himmels. Aber für den Beobachter in der Dunkelheit stank auch die Kirche nach alter Sünde.