Читать книгу Sakristei des Todes - Paul Doherty - Страница 6

EINS

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Sir John Cranston, der große, dicke, offenherzige Coroner der Stadt London, ließ sich auf seinem hochlehnigen Stuhl zurücksinken und nippte genüßlich an einem juwelenbesetzten Becher, randvoll mit dem Besten, was die Weinberge von Bordeaux hervorbringen konnten. Er rülpste sanft und strahlte in die Runde. Fackeln aus reinem Harz und große Wachskerzen erleuchteten die Halle. Pagen in der Livree des Herzogs von Lancaster, John von Gaunt, standen an den Wänden und hielten ebenfalls Fackeln in den Händen, so daß der Raum trotz der Dunkelheit draußen strahlte und funkelte wie an einem Sommertag.

»Wahrhaft wundervoll«, murmelte Cranston.

John von Gaunts Haupthalle hier im Savoy-Palast an der Themse war ebenso reich und üppig ausgestattet wie die im päpstlichen Palast in Avignon oder das Gemach eines großen italienischen Fürsten – wie etwa dem, den Gaunt bei diesem prachtvollen Bankett bewirtete. Goldbrokat, dick und mit silbernen Fäden bestickt, bedeckte jeden Zoll der Wand unter der Stichbalkendecke. Das Glas der Fenster war vielfältig gefärbt, und jede Scheibe schmückte eine Geschichte aus der Bibel oder aus der klassischen Mythologie. Ein gelbschwarzer türkischer Teppich aus reinster Wolle bedeckte den Boden von Wand zu Wand. Die Tafeltücher waren aus Seide, und jeder Teller, jeder Kelch aus edlem Metall. Kein Wunder, daß John von Gaunt, Herzog von Lancaster und Regent des Reiches, solange sein Neffe, Richard II., noch ein Knabe war, ausgewählten Bewaffneten befohlen hatte, sich diskret in der Halle zu verteilen, je einer zur Beobachtung jedes Gastes; der Herzog duldete keinen Dieb in seinem Haushalt. Gaunt hatte dieses Bankett veranstaltet, um seine Pracht zu demonstrieren und den Fürsten von Cremona zu unterhalten, nicht um Dieben und Schurken, die sich in jedem Palast herumtrieben, leichte Beute zu gewähren.

Cranston rülpste noch einmal und klopfte sich auf den mächtigen Wanst. Seine Frau, Lady Maude, hatte vor kurzem zwei prächtige Knaben entbunden, Francis und Stephen. Cranston war vom Regenten in seinem Amt als Coroner bestätigt worden, und jener hatte ihn eingeladen, bei diesem Bankett zu seiner Rechten zu sitzen, eine außerordentliche Ehre für einen Friedensrichter.

»Ich wünschte, Lady Maude könnte mich jetzt sehen«, brummte Cranston. Aber die Einladung hatte nicht auch seiner braven Frau gegolten. Nicht daß sie das gestört hätte.

»Gott verzeih mir, Sir John«, hatte sie gesagt, »aber ich kann den Herzog von Lancaster nicht leiden. Er hat Augen wie eine Schlange – tot und kalt. In seinem Ehrgeiz ist er wie Luzifer, und ich fürchte für den jungen König.«

Sir John war überrascht gewesen. Lady Maude war eine umsichtige Frau. Sie behielt ihre Gedanken für sich, aber wenn sie sprach, waren ihre Worte wie wohlgezielte Pfeile, die geradewegs ins Ziel trafen. Cranston rutschte unbehaglich hin und her; er stellte seinen Becher auf den Tisch und wandte sich nach links. Gaunts gelbliches Gesicht mit dem säuberlich gestutzten Bart wirkte zufrieden, während er unter schweren Lidern die Herrlichkeit seiner Halle betrachtete. Links neben Gaunt saß der junge König. Der Junge, dachte Cranston, sieht aus wie ein Engel mit seinem blassen Gesicht, den klaren blauen Augen, den empfindsamen Zügen und dem schulterlangen blonden Haar. Der junge König schien dem dunkelbärtigen, braungesichtigen italienischen Fürsten, der zu seiner Linken saß, aufmerksam zu lauschen. Cranston lehnte sich wieder zurück und warf einen Seitenblick auf den Italiener; der Mann war berühmt für seinen verschlagenen Scharfsinn, der ihn reich wie Krösus und seinen kleinen Stadtstaat zu einer der großen Mächte Italiens gemacht hatte.

Der Fürst von Cremona beherrschte Banken, Häfen, fruchtbare Weingärten, Felder und Gutshäuser. Seine Schiffe reisten von der Adria bis zum sagenhaften Konstantinopel und zu den goldenen Gestaden von Trezibond. Cranston wußte, warum er in England war. Die englische Staatskasse war leer. Das Parlament war aufsässig; unter den Bauern brodelte die Unzufriedenheit derart, daß die Steuereintreiber nicht mehr wagten, ohne starke Militäreskorte in ein Dorf einzuziehen. Gaunt hatte Cremona nach England eingeladen, um ein Darlehen bei ihm aufzunehmen, und infolgedessen in seiner üppigen Gastlichkeit nicht geknausert. Prunkwagen hatten ihn in Southampton begrüßt; Gaunt und seine Brüder, in reinen Goldbrokat gekleidet, hatten ihn nach London geleitet, wo er mit immer prachtvolleren Schauspielen, farbenfrohen Spektakeln, Banketten und Reden begrüßt worden war. Das alles mochte Cremona beeindruckt haben, aber den Unwillen in der Stadt hatte es nur verstärkt. Die Londoner sahen, daß Gaunt mehr Macht auf sich vereinte als jeder Kaiser, Papst oder König.

Cranston griff nach seinem Becher und schlürfte geräuschvoll; er genoß es, wie der Wein mit seinem körperreichen Geschmack seinen Mund mit Süße erfüllte. Aber seine gute Laune begann zu schwinden. Sollte er sich an dieser Prasserei beteiligen? Und weshalb hatte Gaunt ihn eigentlich eingeladen? Cranston rutschte unruhig hin und her. Das Bankett war vorbei, und was für ein Mahl war es gewesen! Schwan, Hirsch, Eberbraten, Rindfleisch und Kalb, Fisch aus dem Fluß, Neunaugen, in Sahnesauce gekocht, Marzipan sowie Aspik, in die außergewöhnlichsten Formen gegossen und geschnitten. Gaukler waren gekommen und gegangen, Akrobaten, Feuerschlucker und Zwerge, die alle zum Lachen gebracht hatten. Die Musikanten auf der Galerie am hinteren Ende der Halle waren inzwischen fast eingeschlafen und der Knabenchor mit den klaren Stimmen längst entlassen. Cranston riß sich zusammen und schaute durch die Halle mit den zwei nebeneinander verlaufenden Tafeln. Nicht mehr als sechzig der großen Lords waren bei diesem Bankett zugegen. Wieso gehörte er zu dieser erlesenen Schar?

Vor dem Bankett hatte Gaunt dem italienischen Fürsten von Cranstons Geschick bei der Aufklärung berüchtigter Mordfälle erzählt.

»Ist kein derartiges Problem unlösbar für Euch?« hatte Cremona gefragt.

»Keines!« hatte Cranston sich trunken gebrüstet und dabei strahlend zu den gaffenden Umstehenden hinübergeschaut. Jetzt begann Sir John, seine eitle Angeberei zu bereuen.

»Sir John, Ihr fühlt Euch wohl?«

Cranston drehte sich um. Gaunt schaute ihn forschend an, als bemühe er sich, Cranstons Verfassung zu erkunden.

»Mylord, ich bin glücklich, hier zu sein«, antwortete Sir John. »Ihr erweist mir eine große Ehre.«

Er und Gaunt schauten plötzlich an das andere Ende der Halle, wo Tumult ausgebrochen war, weil eine große Ratte, von einem Greyhound aufgescheucht, auf den Tisch gehuscht war. Die Gäste sprangen aufgeregt von ihren Plätzen und stachen mit ihren Messern auf das Nagetier ein, bis es vom Tisch herunter in die Fänge eines wartenden Hundes sprang. Die Meute geriet in Aufruhr und wurde erst von Jägern beruhigt, die mit Peitschen die Hunde und ihre zerfleischte Beute hinaustrieben.

»Genug ist genug«, flüsterte Gaunt.

Er stand auf und winkte den Herolden, die auf der Galerie standen; diese hoben ihre silbernen Trompeten und ließen drei langgezogene Fanfaren ertönen. Das Getöse in der Halle verstummte. Alle Blicke richteten sich auf Gaunt.

»Euer Gnaden …«

Gaunt nickte seinem versteinert blickenden Neffen kaum merklich, zu.

»… mein Fürst von Cremona und Ihr, meine Freunde und Gäste; wir sind am heutigen Tag bei unserem bescheidenen Mahl geehrt durch die Anwesenheit eines der großen Herrscher Italiens – Signor Gian Galeazzo, Fürst von Cremona und Herzog der umliegenden Gebiete.«

Gaunt hielt inne, um den plätschernden Applaus zuzulassen, ehe er ihn mit einer Bewegung seiner beringten Hand wieder zum Schweigen brachte.

»Doch der Fürst von Cremona hat ein Problem, das er uns mitteilen möchte. Ein großes Geheimnis, das niemand zu lösen vermag. Und deshalb habe ich den edlen Coroner unserer Stadt um seine erhabene Anwesenheit gebeten: Sir John Cranston.«

Gaunt hielt inne, und Cranston warf einen raschen Blick in die Runde. Er sah unterdrücktes Lächeln, Grinsen hinter vorgehaltener Hand, und er spürte, daß eine Falle auf ihn wartete. Gaunt war nicht sein Freund; er tolerierte ihn, aber mochte ihn nicht, denn der Coroner hatte keine Zeit für die Stutzer und Gecken am Hofe des Regenten, die den Reichtum des Volkes vergeudeten für ihre weichen, weißen Leiber. Gleichwohl lächelte Cranston jetzt und nickte zu den Worten Gaunts. Wachsam wartete er auf das, was kommen sollte.

»Sir John Cranston«, fuhr Gaunt fort, »ist in der Stadt und bei den Gerichten wohlbekannt für seine deduktive Vernunft, seine feinsinnigen Fragen, sein rücksichtsloses Aufspüren der Verbrecher und seine Geschicklichkeit bei der Lösung faszinierender Geheimnisse. Der Fürst von Cremona hat ein solches Geheimnis, an dem die hellsten Köpfe und die besten unter den forschenden Gehirnen an den Höfen Europas gescheitert sind.« Gaunt machte eine Pause, und Cranston merkte, wie still es in der Halle geworden war. »Der Fürst von Cremona«, fuhr Gaunt fort, »hat eintausend Goldkronen darauf gewettet, daß niemand dieses Geheimnis lösen kann. Mylord Coroner …« Gaunt wandte sich halb Cranston zu.

»Wollt Ihr die Wette annehmen?«

Cranston starrte ihn sprachlos an. Eintausend Goldkronen, das war ein Vermögen! Wenn er die Wette einging und verlor, war er ein armer Mann. Wenn er aber ablehnte, würde man ihn als Feigling verspotten. Wenn jedoch das Geheimnis des Fürsten von Cremona so verzwickt war, war seine Chance, ein solches Vermögen zu gewinnen, sehr gering. Cranston lächelte, während ihm die verschiedenen Möglichkeiten in Windeseile durch den Kopf gingen. Wenn Lady Maude doch nur hier wäre. Vor allem aber fehlte ihm Athelstan: Der Mönch hätte irgendeinen ehrenhaften Ausweg gewußt. Aber jetzt hatte Cranston keine Wahl. Was konnte er tun – seine früheren Prahlereien in aller Öffentlichkeit zurücknehmen?

»Mylord Cranston«, wiederholte Gaunt, »nehmt Ihr die Wette an?«

Cranston trank schlürfend aus seinem Weinbecher. »Selbstverständlich«, erwiderte er kühn, und eine Woge von Jubel, gutmütigen Spottrufen und Anfeuerungen erhob sich. Schwerfällig erhob sich der Coroner und verfluchte insgeheim den schweren Wein, der in seinen Adern strömte und seinen Verstand stumpf machte. Schließlich war er Cranston. Weshalb sollte er vor diesen Trotteln, diesen Weibern in Männerkleidern, das Gesicht verlieren? Er war Sir John Cranston, Coroner der Stadt London, Gatte der Lady Maude, Vater von Francis und Stephen. Er hatte Festungen gegen die Franzosen gehalten und allein so manchen Gegner angegriffen.

»Kein Geheimnis«, brüllte er, »übersteigt meine Verstandeskraft! Wenn ein Problem existiert«, fügte er hinzu und zitierte seinen Gehilfen Athelstan, »dann ist es logisch, daß auch eine Lösung existieren muß.«

»Das bestreitet niemand.« Gaunt schlug ihm auf die Schulter und drückte ihn sanft wieder auf seinen Stuhl. Der Coroner sah das verschlagene Lächeln des Regenten, den mitleidigen Blick des jungen Königs und das triumphierende Blitzen in den Augen Cremonas.

»Ist die Lösung denn bekannt?« fragte Cranston.

»Natürlich«, antwortete Cremona. »Wie es Brauch ist, werde ich eine Person auswählen – zum Beispiel Seine Gnaden, den König. Wenn Eure Theorie falsch ist, wird man ihm, nachdem er feierlich Stillschweigen gelobt hat, einen Teil der Lösung offenbaren.« Cremona lachte. »Allerdings hat noch niemand eine Lösung angeboten – nicht einmal eine falsche.«

Gaunt wandte sich an den italienischen Edelmann. »Mylord«, sagte er seidig, »Ihr habt die Herausforderung ausgesprochen, und Sir John hat den Handschuh aufgehoben. Wir warten mit angehaltenem Atem auf Euer Geheimnis.«

Galeazzo, Fürst von Cremona, schob seine seidenen Ärmel zurück und stand auf; seine Gewänder umwallten ihn und verströmten einen zarten, köstlichen Duft, der in England unbekannt war.

»Euer Gnaden, mein König, Mylord Lancaster und Ihr anderen edlen englischen Lords und Barone – die üppige Gastlichkeit meines Gastgebers hat uns tief beeindruckt und wird nie vergessen werden.«

Galeazzo stützte sich auf den Tisch, warf Cranston einen bedeutsamen Blick zu und schaute dann in die Halle. Seine Rede war makellos, wenngleich seine milde Stimme von einem leichten Akzent gefärbt war.

»Ich will Eure Zeit nicht verschwenden. Es ist schon spät, und wir haben alle viel getrunken.« Er bewegte die Hände, und das strahlende Licht ließ die Ringe an seinen Fingern blitzen wie Sterne. »Sir John Cranston hat meine Wette angenommen, die Herausforderung, ein Problem zu lösen, das noch niemand hat ergründen können – nur ich allein, und ich habe die Lösung niedergeschrieben und das Dokument versiegelt. Ärzten in Paris habe ich das Problem vorgelegt, Rechtsanwälten in Montpellier und Professoren in Köln und in Nantes. Doch ohne Erfolg.« Galeazzo hielt inne und holte tief Luft. »Vor vielen Jahren besaß meine Familie ein Herrenhaus in der Nähe von Cremona – ein großes, dreistöckiges Gebäude von hohem Alter und unheimlichem Ruf. Einmal, als Kind, verbrachte ich die Weihnachtszeit dort bei meiner alten Tante, der Eigentümerin.« Lächelnd schaute er sich in der Gesellschaft um. »Wo es auch sein mag, und in welchem Ruf der Ort auch steht – wenn das Weihnachtsscheit im Kamin brennt und wir Italiener die Geburt Christi feiern, dann wird am Abend ein Bankett veranstaltet.« Er lachte. »Nicht so üppig wie dieses hier, aber wie es der Brauch will, muß jeder Gast, wenn erst der Weinkrug die Runde macht, eine Geistergeschichte erzählen.

Ich erinnere mich gut an jenen Abend. Es war das kälteste Weihnachtsfest seit Menschengedenken. Ein beißender Nordwind trieb den Schnee in Böen von den Alpen herunter, und die Villa war durch tiefe Schneewehen und vereiste Straßen völlig abgeschnitten. Dennoch, wir hatten warme Feuer und reichlich zu essen, und wir feierten in dieser Zeit der Schatten. Draußen war kein Laut zu hören, nur das Seufzen des Windes und das unheimliche Heulen der Wölfe, die zur Jagd von den Bergen herabkamen.«

Galeazzo verstummte und schaute in die Runde. Cranston bewunderte sein Geschick: Die Zuhörer waren sich der prunkvollen Halle und des englischen Sommerabends nicht mehr bewußt; alle dachten an ein einsames, gespenstisches Landhaus im fernen Cremona. Trotzdem war der Coroner unruhig und besorgt. Er wünschte, der italienische Edelmann würde endlich zur Sache kommen, damit sein eigener listiger Verstand sich dem dargebotenen Problem widmen könnte.

»Als das Geschichtenerzählen zu Ende war, wurde meine ehrwürdige Tante von einem der Gäste ausgefragt: Ob es in diesem Haus nicht Gespenster gebe? Erst wollte sie nicht antworten, aber als die Gäste darauf beharrten, erzählte sie von der scharlachroten Kammer – einem Raum unter dem Dach, den man verriegelt und verrammelt hatte, weil jeder, der dort schlief, eines gewaltsamen, geheimnisvollen Todes starb.« Galeazzo machte eine Pause und trank aus einem perlmuttverzierten Kelch.

»Mylords, Ihr könnt Euch denken, was geschah. Alle waren voll des Weines und brannten vor Neugier, die befriedigt werden mußte. Um es kurz zu machen: Meine Tante wurde bedrängt, den Gästen das Gemach zu zeigen. Diener wurden herbeigerufen, Fackeln entzündet, und dann führte meine Tante uns aus der Halle und die große Holztreppe hinauf. Ich war noch ein kleiner Junge und blieb unter all den anderen unbemerkt. Nun, ich wußte, daß das oberste Stockwerk des alten Hauses immer verschlossen war, aber jetzt öffneten die Dienstboten Schlösser und nahmen Ketten ab, und meine Tante führte uns eine kalte, steile Treppe hinauf.« Er hörte auf zu reden und schüttelte den Kopf. »Ich werde nie vergessen, wie die Ratten quiekend davonwieselten und das Mondlicht auf die Stäubchen in der Luft schien. Wir erklommen die Treppe und bogen um die Ecke. Die Gäste wimmelten durcheinander, und in ihrer Erregung schwang jetzt auch Angst, denn es war furchtbar kalt und dunkel. Diener eilten voraus und zündeten die Fackeln an, die an den Wänden befestigt waren; der Korridor erwachte zum Leben, und aller Augen richteten sich auf die Tür an seinem Ende. Verriegelt und mit Ketten und Vorhängeschlössern gesichert, zog sie uns an wie ein furchtbarer Fluch.« Wieder verstummte Galeazzo, nahm einen Schluck Wein und lächelte Cranston kurz an.

»Die Tür wurde aufgeschlossen, und wir betraten eine kleine, vollkommen quadratische Kammer. Ein Tisch stand da, ein Schemel, ein Kamin, ein kleines Gitterfenster war in der gegenüberliegenden Wand, aber beherrscht wurde die Kammer von einem großen, vierpfostigen Bett. Als meine Tante befahl, Fackeln anzuzünden und Kerzen hereinzubringen, stockte uns der Atem. Wahrhaft lodernd erwachte der Raum zum Leben. Glaubt mir, alles – der Fußboden, die Decke, die Wände, der Teppich, das Bett – war leuchtend scharlachrot, wie mit frischem Blut getränkt.« Galeazzo brach ab, beugte sich vor und wählte eine Weintraube aus einer Schale.

»Das Geheimnis!« schrie einer der Gäste. »Was ist mit dem Geheimnis?«

Cranston schaute über den Tisch. Gaunt saß zusammengesunken da, die Augen halb geschlossen, und ein leises Lächeln spielte auf seinem Gesicht, als wisse er schon, was als nächstes kommen würde. Der junge König saß wie jedes Kind mit runden Augen und offenem Mund da. Aber Galeazzo war ein geborener Geschichtenerzähler und spielte noch ein Weilchen mit seinem Publikum. Langsam kaute er auf seiner Weintraube.

»Jetzt«, sagte er, »beginnt das Geheimnis. Einer der Gäste forderte meine Tante heraus. Er erklärte, er werde eine Nacht in dieser Kammer verbringen, vollbewaffnet. Er werde nichts zu trinken und nichts zu essen mitnehmen. Eine gründliche Durchsuchung ergab, daß keine geheimen Gänge oder Falltüren vorhanden waren. Danach wurde das Zimmer gereinigt und das Bett mit frischen Kissen und Leintüchern versehen. Kohle wurde heraufgebracht, und man zündete im Kamin ein Feuer an. Wir alle überließen den jungen Mann, diesen überaus törichten jungen Mann der Nacht und seinem Schlummer.

Der nächste Morgen zog wolkenlos herauf; die Sonne schien, und leichtes Tauwetter setzte ein. Also zogen wir vor dem Frühstück alle hinaus, denn in der Gegend von Cremona ist Schnee ein seltenes Phänomen. Wir unternahmen einen munteren Spaziergang, und jemand fragte, wie es wohl dem jungen Mann ergehen mochte. Wir wußten, daß die scharlachrote Kammer sich an der Vorderseite des Hauses befand, und als wir hinaufschauten, sahen wir, daß er zu uns herunterstarrte. Wir winkten und gingen wieder ins Haus. Erst als wir gefrühstückt hatten, fiel uns auf, daß der junge Mann immer noch nicht erschienen war. Diener wurden zu der Kammer hinaufgeschickt. Kurz darauf kam einer von ihnen zurück; sein Gesicht war weiß und seine Augen voller Grauen. Er schrie, meine Tante solle kommen, und wir alle folgten ihnen. Wir betraten das scharlachrote Gemach. Das Feuer im Kamin war erloschen. Im Bett hatte jemand geschlafen, aber der junge Mann stand am Fenster.

Ich lüge nicht, Ihr Herren: Der Mann war tot. Er stand mit offenem Mund und starren Augen da, wie wir ihn von unten gesehen hatten. Er hatte versucht, das Fenster zu öffnen, und die Fingernägel tief in den Rahmen gegraben. Ich kann nur sagen, Ihr Herren, sein Gesicht drückte abgrundtiefes Entsetzen aus. Einer der Gäste, ein Arzt, bestätigte, daß etwas Böses, etwas Furchtbares das Herz des jungen Mannes vor Angst hatte stehen lassen.«

Galeazzo war am Ende; er wandte sich Sir John zu. »Ihr habt alles verstanden, Lord Coroner?«

»Ja, Mylord.«

»Ihr habt Fragen?«

»War das Zimmer in Unordnung?«

»In keiner Weise!«

»Gab es irgendwelche Geheimgänge oder Tunnel?«

Cranston stellte seine Fragen mit lauter Stimme, damit jeder in der Halle sie hören konnte, und Galeazzo antwortete in gleicher Weise. Der Italiener wandte sich der versammelten Gesellschaft zu und winkte.

»Ich schwöre bei der Ehre meiner Mutter, niemand hat diesen Raum betreten. Es gab keine verborgenen Türen oder Fenster. Es wurde nichts zu essen und nichts zu trinken serviert. Die Kohlen kamen aus dem Keller, und die Kerzen, die der junge Mann mit in die Kammer nahm, hatten vorher unten in der Halle gebrannt.«

Cranston starrte ihn ungläubig an und wünschte sich wieder einmal Athelstan her.

»War es ein Dämon, irgendein böser Geist?«

»Ah!« Galeazzo, Fürst von Cremona, wandte sich an die Halle.

»Mylord Coroner fragt, ob die Kammer vielleicht von irgendwelchen Dämonen besessen war. Meine Tante befürchtete das und schickte nach einem heiligen Priester aus der nahen Kirche, damit er den Raum segne und exorziere. Der ehrwürdige Pfarrer kam gegen Ende des Tages. Er versah jede Ecke des Raumes mit seinem Segen und einem Exorzismus, aber ohne sichtbares Resultat. Also ließen wir ihn dort; er sagte, er werde beten, und verschloß die Tür hinter uns.«

Galeazzo drehte sich um und lächelte, als er Cranstons Gesicht sah. »Mylord Coroner, Ihr ahnt sicher schon, was als nächstes geschah. Erst am späten Abend bemerkte meine Tante, daß der ehrwürdige Pfarrer nicht wieder herausgekommen war; also brachen Diener die Tür auf und fanden den Priester tot am Boden – und in seinem Gesicht lag der gleiche Ausdruck des Grauens wie auf dem des jungen Mannes, der am Morgen gestorben war.« Galeazzo hielt inne, um sich in den Ohs und Ahs seiner Zuhörer zu sonnen.

Gaunt befingerte seine Unterlippe; der junge König hatte seinen verhaßten Onkel inzwischen ganz vergessen und beobachtete den italienischen Edelmann aufmerksam.

»Mylord«, rief er jetzt mit schriller Stimme, »was geschah dann?«

Galeazzo lächelte. »Meine Tante gab sich damit nicht zufrieden. Sie ließ zwei aus ihrem Gefolge kommen, abgehärtete Kriegsmannen, der eine ein guter Schwertkämpfer, der andere ein Armbrust-Experte aus Genua. Mit Gold wurden sie dazu überredet, eine Nacht in der Kammer zu verbringen, und bezogen noch am selben Abend Posten. Die Tür blieb unverschlossen, denn man hatte sie aufbrechen müssen, um den Leichnam des Priesters zu entdecken. Der Schwertkämpfer schlief auf dem Stuhl, der Genuese im Bett. Mitten in der Nacht wurden wir alle von einem schrecklichen Schrei geweckt.

Diesmal durfte ich nicht mitkommen, aber später erzählte mir meine Tante: Als sie die scharlachrote Kammer betrat, fand sie den Schwertkämpfer am Boden; ein Armbrustbolzen hatte sich tief in seine Brust gebohrt, und der Genuese, der seine Waffe noch immer umklammert hielt, lag hingestreckt neben ihm. Er war tot, genau wie die anderen, aber etwas Böses in diesem Raum, eine dämonische Macht, schloß meine Tante, hatte diesen Soldaten gezwungen, seinen Kameraden zu ermorden, bevor er selbst zugrunde gegangen war.«

Unvermittelt klatschte Galeazzo in die Hände. »Meine Tante hatte getan, was in ihrer Macht stand. Die Toten wurden fortgebracht, Messen gelesen und die scharlachrote Kammer wurde wieder verschlossen und verriegelt. Die Jahre vergingen, ich wuchs zu einem jungen Mann heran. Dann, eines Tages, hörte ein Archivar aus einem Kloster in der Nähe von der schrecklichen Geschichte. Er bat meine Tante um eine Audienz und erklärte, er könne das Geheimnis um die scharlachrote Kammer lösen.« Galeazzo zuckte die Achseln. »Euer Gnaden, liebe Gäste, weiter kann ich nicht berichten.« Er schüttelte den Kopf, als die Gäste zornig murrten; sie fühlten sich um eine gute Geschichte betrogen. »Den Rest überlasse ich dem feinsinnigen Verstand des Lord Coroner.« Er schaute Cranston geradeheraus an. »Sir John, habt Ihr noch Fragen?«

Cranston schüttelte ungläubig den Kopf. »Vier Menschen starben in diesem Raum, und niemand war hineingekommen? Man hatte ihnen weder Speise noch Trank gebracht? Und als sie zu zweit waren, hat der eine den anderen ermordet?«

Galeazzo lächelte und nickte.

»Unglaublich!«

»Mylord Coroner«, erklärte Cremona so laut, daß alle ihn hören konnten, »was ich Euch erzähle, ist die Wahrheit!«

Plötzlich sprang der junge König auf. »Die Herausforderung ist ausgesprochen und angenommen!« rief er mit heller Stimme. »Aber, lieber Onkel und Mylord von Cremona, Gerechtigkeit muß sein. Wieviel Zeit hat Sir John, dieses Geheimnis aufzuklären?«

»Zwei Wochen«, antwortete Galeazzo. »Heute in zwei Wochen werde ich in diese Halle zurückkehren, und Sir John muß seine Lösung präsentieren.«

Cranston lächelte den jungen König an, der ihn öffentlich unterstützte. »Woher soll ich wissen, daß die Lösung, die ich vorschlage, die richtige ist? Nichts für ungut, Mylord, aber es kann ja sechs Lösungen geben, die alle richtig sind.«

Galeazzo streichelte seinen seidigen schwarzen Schnurrbart.

»Nein, Sir John«, murmelte er und wandte sich fingerschnippend an einen Gefolgsmann, der hinter ihm stand. »Die Dokumente!«

Der Knappe reichte sie herüber. Eines war eine Pergamentrolle, die Galeazzo an Cranston weitergab.

»Eine Darstellung des Geheimnisses. Darin findet Ihr, was ich berichtet habe.« Er hob ein viereckiges Stück Velin in die Höhe, das mit vier purpurroten Wachsklecksen versiegelt war. »Hier ist die Lösung.« Cremona reichte das Dokument dem König. »Euer Gnaden, ich vertraue sie Eurer Obhut an, damit der Verdacht auf falsches Spiel gar nicht erst aufkommen kann.«

Beifälliges Murmeln erhob sich. Der junge König klatschte entzückt in die Hände, und Gaunt grinste Cranston an.

»Zwei Wochen, Mylord Coroner«, knurrte Gaunt und packte Cranston beim Arm. »Keine Sorge, Sir John. Wenn Ihr die Wette verliert, werde ich die Schuld bezahlen.«

Cranston begriff, in was für eine schreckliche Falle er getappt war, und sein Gesicht wurde lang. Es ging nicht bloß um den Verlust des Goldes oder die Schmach der verlorenen Wette – und verlieren würde er, das war klar –; aber Gaunt hatte das Ganze als raffiniertes Mittel benutzt, um seinen italienischen Gast zu erfreuen und, was wichtiger war, sich den Coroner zu verpflichten. Cranstons Wort hatte Gewicht beim Bürgermeister, bei den Sheriffs und den führenden Abgeordneten der Stadt London. Der Coroner war ein Mann, der wegen seiner Integrität und unverhohlenen Kritik am Hof geachtet wurde. Wenn er Gaunts Geld annähme, stände er in der Schuld des Regenten, und binnen eines Jahres würde jedermann ihn für Gaunts Kreatur halten. Cranston kochte innerlich vor Wut. Er mußte eine vernichtende Antwort herunterschlucken; seine Finger umklammerten die Tischkante, bis sie weh taten, und er war taub für die Gespräche ringsum. Er sah dem Regenten in die Augen, hielt seinem Blick stand und holte tief Luft.

»Mylord Lancaster, ich danke Euch für Eure Großzügigkeit, aber ich werde Euer Geld nicht brauchen. Ich werde das Geheimnis lösen.«

Gaunt lächelte und tätschelte seinen Arm.

»Natürlich, Sir John. Und es wird mir eine Freude sein, Eure Lösung zu hören.«

Gaunt wandte sich ab und begann ein Gespräch mit seinem jungen Neffen. Cranston konnte nur dasitzen, kochend vor Wut über sich selbst und die Gerissenheit des Fürsten.

Eine Stunde später endete das Bankett. Cranston ließ sich von einem Pagen seine Biberpelzmütze und den wollgefütterten Mantel geben und stapfte durch die Straßen zur nächsten Schenke. Dort verlangte er einen Tisch für sich allein, zwei gute Kerzen und den größten Krug Ale, den die Taverne aufzubieten hatte. Eine Stunde lang las er immer wieder die Darstellung des Geheimnisses, die Cremona ihm gegeben hatte, und je häufiger er sie las, desto tiefer wurde seine Niedergeschlagenheit. Voll von Ale und Selbstmitleid verließ er schließlich die Schenke und machte sich trübselig auf den Heimweg. Nicht einmal die Aussicht auf Maudes liebes Gesicht oder seine beiden Kleinen, Francis und Stephen, konnte seine finstere Stimmung heben.

Bruder Athelstan stand früh auf. Es war eine klare Nacht gewesen, und er hatte mit Vergnügen den Himmel studiert, während Bonaventura, der zunehmend fette Kirchenkater, neben ihm hockte und ihn neugierig beäugte. Nachher hatte Athelstan sein Teleskop und die Sternenkarten in die einzige verschließbare Kiste im kleinen Pfarrhaus gelegt und war dann hinüber nach St. Erconwald gegangen, um, immer noch begleitet von Bonaventura, die Vesper zu beten. Danach war er wieder nach Hause gegangen, um ein wenig helles Bier zu trinken und ein Stück Brot, mit Honig bestrichen, zu essen, Bonaventura seine Milch zu geben und zu Bett zu gehen.

Bruder Athelstan war zufrieden mit sich; leise sang er ein Lied aus Kindertagen, während er sich wusch, rasierte und sein schwarzweißes Gewand anlegte. Der getreue Bonaventura reckte sich neben ihm, gähnte und leckte sich den Schnurrbart mit seiner kleinen rosaroten Zunge in hoffnungsvoller Erwartung eines Tellers Fisch und eines Schälchens Milch. Athelstan zog das kleine Handtuch glatt und legte es über den hölzernen Waschständer; er bückte sich, streichelte den Kater und kraulte ihn sanft zwischen den Ohren, bis Bonaventura vor Behagen schnurrte.

»Ihr werdet fett, Master Kater. Je länger ich Euch ansehe, desto mehr muß ich an Cranston denken.«

Bonaventura schien zu grinsen und schmiegte sich an ihn.

»Du wirst wirklich fett, Bonaventura«, wiederholte Athelstan.

»Ich werde dich heute morgen nicht füttern. Du wirst dir dein Frühstück jagen müssen.«

Athelstan schaute sich in seiner kleinen, kärglich eingerichteten Schlafkammer um. Er strich die Roßhaardecke über dem Bettgestell glatt, kippte sein Waschwasser zum Fenster hinaus und sprang zurück, als er draußen ein wütendes Grunzen hörte. Er schaute hinaus; die fette Sau, die Ursula, der Schweinehirtin, gehörte, spähte zu ihm herauf. Athelstan fluchte leise und warf die Fensterläden zu. Er haßte das verdammte Schwein; es schien eine beinahe dämonische Intelligenz zu besitzen. Sobald der Kohl und das andere Gemüse, das Athelstan sorgfältig aussäte, zu sprießen begann, kam das verfluchte Tier und tat sich daran gütlich.

»Ob Huddle mir wohl einen Zaun bauen würde?« dachte Athelstan und zuckte die Achseln. Dann wiederum – für Huddle hatte er anderes zu tun, und den Raubzügen des Schweins in seinem kleinen Gemüsegarten zum Trotz empfand Athelstan einen sanft wärmenden Triumph. Heute, am sechsten Sonntag nach Ostern im Jahr 1379, würden die Arbeiter mit dem Umbau des Chores beginnen. Sie würden den Lettner abbauen, die gesprungenen, vollgesogenen Steinplatten herausreißen und neue verlegen, sorgfältig behauen und schwarz und weiß gestrichen. Athelstan war es gleich, daß Sonntag war; das war der beste Tag zum Arbeiten und äußerst angemessen für den Beginn eines neuen Versuchs zur Verschönerung des Gotteshauses.

Sein Liedchen summend, vergewisserte er sich, daß die Truhe mit den astrologischen Karten und dem Teleskop fest verschlossen war. Dann ging er die wacklige Treppe hinunter zur Küche. Bonaventura folgte ihm mit hochgerecktem Schwanz so ehrerbietig wie ein Ministrant in der Heiligen Messe. Die Küche war so kahl wie Athelstans Schlafkammer; sie enthielt nur ein paar Schränke, einen Tisch und einige Stühle. Ein kleines Feuer glomm noch im Herd und erwärmte langsam einen Topf mit Suppe, die Athelstan seit Freitag kochte. Benedicta hatte ihm geraten, Fleischbrühe nicht wegzuwerfen, sondern sie zu kochen, zu würzen und ein paar Tage sieden zu lassen, bis sich eine überaus appetitliche Suppe ergäbe. Athelstan, ein hoffnungsloser Koch, war entzückt von den würzigen Düften, die jetzt die Küche erfüllten. Er ging in die kleine Speisekammer, schnitt ein Stück Brot ab und schenkte sich einen Becher verdünnten Wein ein. Bonaventura folgte ihm und blickte flehentlich hoch.

»Keine Milch, Bonaventura«, sagte Athelstan knapp.

Der Kater schnurrte und rieb sich an seinem Bein.

»Also gut«, gab Athelstan nach. Er nahm einen irdenen Krug und goß ein wenig Rahm in eine Schale auf dem Boden. Er bewunderte Bonaventuras schwarze Geschmeidigkeit, als dieser Lord der Gassen, dieser einohrige König der Katzen, zierlich seine Milch aufschleckte. Bonaventura liebt seine Milch, dachte Athelstan, wie Cranston seinen Wein liebt. Der Bruder ging geistesabwesend zurück in die Küche, setzte sich auf einen Schemel und starrte in die ersterbende Glut des Feuers. Wie es dem braven Coroner wohl ergehen mochte? Athelstan hatte mit der Einladung des Regenten ebensowenig anfangen können wie Sir John, denn Cranston war kein Freund der höfischen Partei.

»Hoffentlich ist er vorsichtig«, murmelte Athelstan. Er schaute in seinen Weinbecher und lächelte. Der Coroner hatte einen großen Wanst, einen großen Mund und ein großes Herz, aber Athelstan fürchtete, daß Cranstons unverblümte Ehrlichkeit ihn eines Tages in Gefahr bringen könnte. Er schloß die Augen und sprach ein kurzes Gebet für Cranston und seine Frau, die zierliche, stille Lady Maude, den einzigen Menschen, den Cranston wirklich fürchtete. Athelstan schüttelte den Kopf; es wunderte ihn, daß eine so zerbrechliche Lady derart stämmige Zwillinge wie Francis und Stephen hatte gebären können. Gewiß, sie hatte bei der Entbindung große Schmerzen gelitten und hinterher ein wenig Fieber gehabt, aber jetzt sah Lady Maude jünger aus als zuvor, und Cranston stolzierte umher wie ein Pfau. Der Ordensbruder lachte leise bei sich, als er daran dachte, wie er vor nur wenigen Wochen die Zwillinge in dem kleinen Taufbecken gleich hinter dem Eingang von St. Erconwald getauft hatte. Die Jungen hatten sich die Seele aus dem Leib gebrüllt, und Athelstan hatte nur mühsam ernst bleiben können, denn die beiden glichen einander wie zwei Erbsen aus derselben Schote. Niemand konnte daran zweifeln, daß es Cranstons Söhne waren: rotgesichtig, brüllend, kahlköpfig, rülpsend und furzend, wenn sie nicht gerade nach den großzügigen Brüsten einer inzwischen erschöpft aussehenden Amme heulten. Während der ganzen Zeremonie hatte Cranston, der strahlende Vater, leicht vorwärts und rückwärts geschwankt und hin und wieder ein Schlückchen aus seinem wundersamen Weinschlauch genommen – so genannt, weil dieser anscheinend nie leer wurde. Die Taufe hatte in einem Chaos geendet, als Ursulas Sau in die Kirche gekommen und Bonaventura auf Cranstons Schoß gesprungen war. Cecily, die Kurtisane, hatte eine Ohrfeige von der Frau des Mistsammlers Watkin bekommen, die behauptete, das Weib mache ihrem Mann schöne Augen. Die ganze Zeit hatten Lady Maudes Verwandte und Sir Johns vornehme Bekannte aus der Stadt vor Entsetzen die Mäuler nicht zubekommen und den Mummenschanz begafft, der ihnen vorgeführt wurde.

Dennoch hatte der Tag ein gutes Ende genommen; in Cranstons Garten hinter seinem großen Haus auf der anderen Seite des Flusses war ein kleines Bankett abgehalten worden. Viele Gemeindemitglieder waren eingeladen gewesen, und Athelstan hatte in seinem ganzen Leben noch nicht so viel gelacht; zur Krönung des Ganzen war Cranston sehr betrunken auf einem Misthaufen eingeschlafen, in jedem Arm ein schlummerndes Baby.

Athelstan schrak hoch, als Bonaventura ihm, lautlos wie ein Dieb, auf den Schoß sprang.

»Na los, Kater«, murmelte er. »Wir müssen die Messe lesen, Gebete sprechen.«

Er griff nach dem kleinen Schlüsselbund, der an seinem Gürtel baumelte, und ging hinaus, um die Kirche aufzuschließen. Die Sau grunzte ihm freundlich zu, als er vorbeikam, und kaute weiter fröhlich seinen Kohl. Bonaventura bedachte das Schwein mit einem verächtlichen Blick und folgte seinem Herrn hinüber zur Kirche. Crim, einer von Watkins, des Mistsammlers, zahlreicher Brut, wartete auf der Kirchentreppe.

»Du willst Meßdiener sein, Crim?«

»Ja, Pater.«

Athelstan schaute das halb gewaschene Gesicht an. Der Junge war ein boshafter Engel, aber heute morgen wirkte er besorgt, ja schuldbewußt, und wollte Athelstan nicht in die Augen sehen. Der Ordensbruder achtete nicht weiter darauf. Schließlich hatten Crims Eltern ständig Streit. Wahrscheinlich hatte es zu Hause Ärger gegeben. Er schloß die Kirchentür auf und ging hinein. Crim und Bonaventura schlüpften hinter ihm herein. Athelstan lehnte sich an den Taufbrunnen und schaute sich beifällig um. Ja, diese bescheidene Pfarrkirche wurde allmählich schön; die Deckenbalken waren verstärkt, das Dach neu gedeckt worden, so daß es den winterlichen Stürmen und Regenfällen widerstanden hatte. Der Boden des Kirchenschiffs war jetzt eben und sauber gefegt, und Huddle, der Maler, ein junger Mann von unbestimmter Herkunft, aber mit einem gottgegebenen Talent für das Malen und Radieren, füllte jede verfügbare Fläche an Wänden und Säulen mit farbenfrohen Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament. Sämtliche Fenster waren jetzt mit Horn- oder Glasscheiben verschlossen, und Athelstan war entschlossen, die Gunst irgendeines mächtigen Wohltäters zu erlangen, der buntes Glas für die Kirche bezahlen würde.

Aber St. Erconwald war mehr als nur ein Haus des Gebets. Hier trafen sich die Gemeindemitglieder, um Geschäfte zu machen oder die großen liturgischen Feste zu feiern. Junge Leute kamen, um sich trauen zu lassen; sie ließen ihre Kinder taufen und sich von ihren Sünden lossprechen, und wenn Gott sie rief, wurden sie im großen Gemeindesarg aufgebahrt und für den letzten Segen vor den Lettner geschoben.

Athelstan trommelte mit den Fingern auf den Holzdeckel des Taufbrunnens und summte die Melodie des Liedes, das er eben gesungen hatte. Anfangs hatte er die Pfarrei gehaßt, denn die schmutzige Kirche hatte ihn abgestoßen; aber mittlerweile hatte er gelernt, sie zu lieben, sie und die bunten Gestalten, die ihn umgaben und sein einsames Leben mit der Dramatik des ihren belebten. Crim war an die Tagträumereien seines Pfarrers gewöhnt; er galoppierte durch das Kirchenschiff wie ein Pferd, und Athelstan erinnerte sich plötzlich an Philomel, das ehemalige Schlachtroß, das jetzt sein Reitpferd und beständiger Gefährte war.

»Gott beschütze uns«, murmelte er. »Der alte Herr wird schon die Stalltür niedertreten!«

Eilig verließ er die Kirche und lief um das Haus herum zu dem kleinen Schuppen, in dem ein Stall für Philomel eingerichtet worden war. Der alte Gaul wieherte und schüttelte den Kopf, als Athelstan erschien, und trat sanft mit dem Huf gegen die Tür. Athelstan gab ihm rasch eine Mischung aus Hafer und Kleie zu fressen und warf ihm ein wenig Heu in den Stall. Seinem schwerfälligen Wiegegang und seinen langsamen Bewegungen zum Trotz hatte Philomel großen Appetit.

Als Athelstan in die Kirche zurückkam, saß Leif, der einbeinige Bettler, auf den Stufen.

»Guten Morgen, Pater.«

»Guten Morgen, Leif. Wie geht es Sir John?«

Der Bettler kratzte sich am Kopf, und sein Pferdegesicht wurde noch ernster.

»Der Lord Coroner ist nicht in guter Stimmung«, antwortete er. »Ich habe ihm erzählt, daß ich zum Betteln über die Brücke wollte, und da schickte er mich mit einer Botschaft her. Er hofft, Euch heute abend zu sehen.«

»Oh, verflixt!« murmelte Athelstan.

»Pater«, drängte Leif flehentlich, »ich habe Hunger, und es war ein weiter Weg.«

»Die Haustür ist offen, Leif. Über dem Feuer hängt ein Topf Brühe, und in der Speisekammer ist Wein. Bediene dich.«

Leif brauchte keine zweite Einladung; obwohl er nur ein Bein hatte, sprang er wie ein Windhund auf und lief zum Haus. Athelstan sah ihm nach und dachte an Cranston. Wieder ein Mord? fragte er sich. Oder war es etwas Privates?

»Wen kümmert das?« fragte er den Kater. »Es wird ein schöner Sonntag werden.« Athelstan kniff die Augen zusammen und spähte zum Himmel. Vielleicht wurde es Zeit, daß er den wahren Grund für seine glückliche Stimmung zugab – er war nicht aufgefordert worden, an der Sitzung des Generalkapitels der Dominikaner zu Blackfriars teilzunehmen. Dennoch fühlte er einen feinen Stich des Bedauerns. Schließlich würden ein paar alte Freunde dasein … aber eben auch William de Conches, der Ober-Inquisitor aus Avignon; er würde die Debatte über die neuen Lehren des brillanten jungen Theologen Bruder Henry aus Winchester verfolgen.

»Wenigstens das bleibt mir erspart«, murmelte Athelstan.

»Mit wem redet Ihr, Pater?« fragte Crim und schob den Kopf durch die Kirchentür.

Athelstan zwinkerte ihm zu. »Mit Bonaventura. Vergiß nicht, in dieser Katze steckt mehr, als man auf den ersten Blick sieht.«

Athelstan ging durch das Kirchenschiff und am Lettner vorbei, beugte das Knie vor dem flackernden Ewigen Licht und begab sich in die kleine Sakristei. Er wusch sich noch einmal Hände und Gesicht, klopfte ein bißchen Stroh aus Philomels Stall von seiner Kutte und begann, die goldenen Gewänder anzulegen; die Kirche feierte ja immer noch in der Pracht der Osterzeit.

Er fuhr zusammen, als die Tür an der Rückseite der Kirche krachend aufgestoßen wurde. Doch nicht Cranston? dachte er. Aber es war nur Mugwort, der Glöckner, der in seinen kleinen Alkoven ging und anfing, die Glocke zur Messe zu läuten. Crim sauste wie eine Fliege zwischen Sakristei und Altar hin und her und bereitete alles für die Messe vor. Wasser für das Lavabo, Wein und Hostien für Opferung und Wandlung, das große Meßbuch mit dem entsprechenden Lesezeichen für diesen Tag, ein Tuch, an dem Athelstan sich die Hände trocknen konnte. Auf ein feierliches Kopfnicken des Priesters hin wurden Kerzen zu beiden Seiten des Altars aufgestellt; die Dochte wurden geputzt und angezündet – zum Zeichen dafür, daß die Messe gleich beginnen würde.

Athelstan ging zur Sakristeitür und schaute in die Kirche hinaus. Dies würde das letzte Mal sein, daß er die Messe im alten Chor las. Er hatte die Erlaubnis des Bischofs von London bekommen, den Altar und den Chorstein zu entfernen und Huddles Lettner für eine Weile abzubauen, so daß der alte Chor aufgerissen und mit neuen Steinplatten ausgelegt werden konnte. Er sah zu, wie Mugwort am Glockenseil riß; das verzerrte Gesicht des Mannes leuchtete vor Freude, während er die Glocke läutete wie ein verrückt gewordener Geist. Athelstan grinste bei sich. Ob die Leute zur Messe kamen oder nicht, wenn Mugwort fertig wäre, würde jeder im Umkreis von einer Meile wissen, daß Sonntag war und Zeit zum Gebet.

Nach und nach kamen seine Gemeindemitglieder herein. Der erste war Watkin, der Mistsammler, Küster der Kirche und Leiter des Gemeinderates: ein furchterregender, stämmiger Mann; sein Gesicht war voller Warzen, aus seinen Nasenlöchern wuchsen schwarze Haare, der Blick war scharf und ausdrucksstark. Hinter ihm kam seine noch furchterregendere Frau; ihr Gang erinnerte Athelstan immer an einen Ritter in voller Rüstung. Die Flamin Pemel war die nächste; ihr weißes Gesicht war halb irre, und ihre Augen blickten starr, während sie mit sich selbst über dies oder jenes brabbelte. Ranulf, der Rattenfänger, folgte mit zweien seiner Kinder. Athelstan mußte ein Grinsen hinter der vorgehaltenen Hand verbergen, denn die Kinder waren schwarz gekleidet wie der Vater und trugen Teerkappen, die ihre blassen, verkniffenen Züge verbargen; alle drei sahen genauso aus wie die Nagetiere, die Ranulf fangen sollte. Der Mann merkte, daß Athelstan ihn ansah, und grinste wissend, und der Priester erinnerte sich an sein Versprechen: Wenn der neue Chor fertiggestellt wäre, würde St. Erconwald die Zunftkirche der neugebildeten Gilde der Rattenfänger werden.

Noch mehr Pfarrkinder kamen, geführt von Huddle, dem Maler, mit dem verträumten Ausdruck auf seinem kindlichen Gesicht. Der Künstler – was er konnte, hatte er sich selbst gelehrt – ging geradewegs zu seinem neuesten Gemälde; es war eine leuchtend farbige Darstellung von Daniel in der Löwengrube. Als nächstes kam Tab, der Kesselflicker, der immer noch an den Folgen des Ale zu leiden hatte, das er am Abend zuvor im Übermaß getrunken hatte. Pike, der Grabenbauer, kam, anscheinend als Anführer einer Zwergenarmee. Irgendwie hatte es sich ergeben, daß er die Verantwortung für seine eigene große Brut und für Tabs Sprößlinge zu tragen hatte.

Athelstan beobachtete Pike aufmerksam. Er wußte, daß der Grabenbauer mit radikalen Bauernführern innerhalb und außerhalb der Stadt befreundet war, von denen bekannt war, daß sie unablässig Aufruhrpläne schmiedeten. Was Athelstan indessen größere Sorgen machte, war der Umstand, daß Pike zusammen mit der blonden, liebreizenden Kurtisane Cecily einen Anschlag auf Watkins Stellung als Vorsitzender des Gemeinderates plante. Athelstan seufzte, denn wenn das geschähe, würde ein wütender Machtkampf losbrechen.

Die Witwe Benedicta kam, bekleidet mit einem hellblauen Rock und weißem Schleier über dem nachtschwarzen Haar. Athelstans Herz klopfte ein bißchen schneller, und er schlug die Augen nieder, denn er liebte die Witwe mit einer unschuldigen Leidenschaft, die manchmal beide in Verlegenheit brachte.

Benedicta schloß die Tür und winkte ihm zu; dann trat sie hastig beiseite, als die Tür wieder aufgestoßen wurde und Ursula, die Schweinehirtin, gefolgt von ihrer bösartig dreinblickenden Sau, hereingewatschelt kam.

»Ich schlachte das verfluchte Schwein!« knurrte Athelstan leise. »Ich schlachte es, und dann esse ich ein Jahr lang Schweinebraten.«

Ursula aber lächelte ihm zuckersüß zu und hockte sich neben einen Pfeiler, und die Sau quetschte sich zwischen sie und Watkin. Athelstan mußte sich schon wieder auf die Lippe beißen, denn das Schwein hatte eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Küster.

Ursula war meistens die letzte; also ging er zum Fuße des Altars, schlug das Kreuzzeichen und begann mit dem großen Mysterium der Messe. Seine kleine Gemeinde, die flüsternd dagesessen hatte, versammelte sich jetzt am Lettner und schaute aufmerksam zu, als der Priester begann, bei Gott für sie zu bitten.

Sakristei des Todes

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