Читать книгу Sakristei des Todes - Paul Doherty - Страница 7
ZWEI
ОглавлениеAls die Messe vorbei war, lud Athelstan die Mitglieder des Gemeinderats in sein Haus ein. Mugwort und Crim blieben zurück, um den Altarraum leer zu räumen – Altartücher, Kerzen, Blumen und Gefäße mußten fortgetragen werden –, denn die Arbeiter, die Athelstan beauftragt hatte, warteten schon an der Kirchentür und wollten ihr Werk beginnen. Als die Versammlung sich niedergelassen hatte, servierte Athelstan den Gemeinderäten Becher mit Wein; dann sprach er ein Gebet zum Heiligen Geist und eröffnete die Sitzung. Binnen weniger Minuten hatten sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet; offenbar waren am Abend zuvor eine Menge Pläne geschmiedet worden.
Unterstützt und gefördert von der verschmitzt grinsenden Cecily und der rotgesichtigen Ursula, begann Pike, der Grabenbauer, eine ätzende Attacke gegen Watkin; der Stein des Anstoßes war die Frage, ob Kinder auf dem Friedhof spielen durften oder ob man sich dort einen neuen Zaun leisten könne. Natürlich griff Watkins Frau ein, und der Streit wurde noch bissiger. Athelstan lehnte sich zurück und betrachtete ungläubig die intensive Leidenschaft der Streitenden, die diskutierten wie Rechtsanwälte am Königlichen Oberhofgericht, wenn es um Leben und Tod ging. Huddle grinste bloß verträumt. Tab wechselte dauernd die Seiten, während Leif, der Bettler, auf einem Schemel am Herdfeuer saß und den Mund so voll mit Athelstans Suppe hatte, daß er nur gelegentlich eingriff, um Watkins Frau, die er von Herzen verabscheute, Beschimpfungen an den Kopf zu werfen. Benedicta biß sich auf die Unterlippe und grinste Athelstan an.
Gegen Mittag wurde Athelstan allmählich ärgerlich; er spürte, daß alle erschöpft waren, und machte der Debatte rasch ein Ende. Er bewirtete seine Gäste mit Schüsseln von der Suppe, die Leif immer noch schlürfte, während er abwechselnd Cecily lüstern angaffte und Watkins Frau lautstark beschimpfte.
Eine Zeitlang herrschte Stille. Athelstan und Benedicta nutzten die Gelegenheit, um in die Sonne hinauszugehen und den kleinen Garten zu inspizieren. Der Ordensbruder wollte nicht nur der erhitzten Atmosphäre entrinnen; auch Benedictas Schweigen beunruhigte ihn. Sonst griff sie immer ein, wenn es hoch herging, und goß Öl auf die Wogen, oder sie bekam einen Lachanfall wegen der Beleidigungen, die ausgetauscht wurden. Benedicta behauptete immer, der wahre Grund für die Machtkämpfe im Gemeinderat sei der, daß Watkins Frau Cecily nicht ausstehen könne und Pike, der Grabenbauer, Watkin verabscheute, weil sie beide eifersüchtig den Verdacht hatten, daß Watkins Friedhofsspaziergänge mit der jungen Kurtisane nicht immer etwas mit Gemeindeangelegenheiten zu tun hatten.
Draußen blieb Athelstan neben Benedicta stehen und lauschte dem zunehmenden Aufruhr in seinem Haus und dem Scheppern und Krachen in der Kirche, wo die Arbeiter jetzt die alten Steinplatten herausrissen.
»Was ist los?« fragte er.
Benedicta blickte auf. Er sah die Träne, die ihr über das olivfarbene Gesicht rann, und auch, daß ihre dunklen, ruhelosen Augen in Tränen schwammen. Waren sie blau oder violett? dachte Athelstan. Benedicta erinnerte ihn immer an ein Bildnis der Jungfrau Maria, das er einmal in einem Buntglasfenster gesehen hatte. Sie war von der gleichen, heiter gelassenen Schönheit, auch jetzt, wo sie Sorgen hatte. Athelstan berührte sanft ihre Schulter.
»Was ist?« fragte er noch einmal und verschloß die Ohren vor dem Zank in seinem Haus und dem Lärm der Handwerker in der Kirche.
»Pater, Ihr wißt, daß ich seit drei Jahren Witwe bin.« Athelstan nickte.
»Nun …« Benedicta blickte zur Seite und biß sich auf die Lippe. »Ich habe Nachricht aus Frankreich.« Sie holte tief Luft. »Es kann sein, daß er noch lebt.«
Verblüfft machte Athelstan einen Schritt rückwärts. »Dein Mann war Kapitän eines Schiffes. Ich dachte, er sei auf See umgekommen?«
»Ja. Er hatte einen Kaperbrief und war auf Kaperfahrt im Englischen Kanal. Er wurde von einem französischen Kriegsschiff angegriffen und versuchte, nach Calais zu entkommen, als plötzlich ein Unwetter losbrach und sein Schiff mit der ganzen Besatzung unterging. Aber jetzt habe ich Nachricht bekommen, daß er vielleicht in Gefangenschaft geraten ist.«
»Wie denn?«
»Ein Bekannter, ein Tagelöhner, ist vor kurzem aus Frankreich zurückgekommen, nachdem der Waffenstillstand erneuert wurde. Er behauptet, er hätte meinen Mann in einem Gefangenenlager in der Nähe von Boulogne gesehen.«
Sie verschränkte die Finger ineinander. »Was soll ich tun, Pater? Ich kann nicht nach Frankreich, denn dadurch würde eine schlimme Situation womöglich noch schlimmer; und dem Rat eine Petition zukommen zu lassen kann Monate dauern.«
Athelstan holte tief Luft und stählte sich gegen geheime Wünsche und Gedanken.
»Die Dominikaner haben ein Kloster in Boulogne«, sagte er.
»Ich werde ihnen heute abend schreiben und Cranston bitten, einen der königlichen Kuriere den Brief überbringen zu lassen. Cranston wird ihm sicheres Geleit verschaffen können.« Athelstan lächelte. »Wir heißen nicht umsonst Dominikaner, Benedicta. Wir sind buchstäblich das Haus des Herrn. Wenn dein Mann noch lebt, dann wird dieses Haus einschreiten und vielleicht an die französischen Behörden appellieren. Womöglich wechselt etwas Wertvolles den Besitzer – und binnen eines Monats könnte dein Mann wieder zu Hause sein.«
Er tätschelte sanft ihre Schulter und bekam Gewissensbisse ob des reinen Wohlgefühls, das ihre Nähe ihm bereitete. Benedicta wandte sich ab, als wolle sie ihr Gesicht verbergen; dabei berührte eine Strähne ihres Haars Athelstans Wange, und er roch den Duft ihres Parfüms. Über die Schulter hinweg lächelte sie ihn an.
»Ihr geht besser wieder ins Haus, Pater«, sagte sie leise.
»Watkins Frau hegt Mordgedanken!«
Athelstan verstand den Wink und kehrte zurück in sein Haus. Benedicta hatte recht; die Suppe hatte ihnen lediglich neue Kraft gegeben, und jetzt war die Gruppe aufgestanden; alle brüllten, und niemand hörte zu. Athelstan klatschte laut in die Hände, so lange, bis alle verstummt waren. Er schaute sie streng an.
»Wir haben alle das Sakrament genommen«, verkündete er, »und den Friedenskuß ausgetauscht; also werden diese Streitereien jetzt aufhören. Wenn wir wieder zusammenkommen, verlange ich eine Abstimmung über den Friedhof, und wenn eine Mehrheit zustande kommt, ist unsere Entscheidung getroffen.« Er schaute zu dem Bettler hinüber, der immer noch auf seinem Schemel hockte. »Leif!« rief er. »Hör auf, meine Suppe zu essen. Die soll für einen Monat reichen!« Er streckte die Hand aus. »Und ihr übrigen, geht auf eure Plätze, setzt euch und haltet den Mund!«
Er ging in die Speisekammer und holte eine Flasche Wein, ein Ostergeschenk von Cranston. Er goß jedem ein kleines Schlückchen ein. Seine Gemeindemitglieder bedankten sich murmelnd, und heimlich grinsten sie und zwinkerten einander zu, denn es kam sehr selten vor, daß ihr Gemeindepfarrer die Geduld verlor. Auch Benedicta kam wieder herein, und alle gingen zu ihren Plätzen. Nach einer kurzen, witzigen Rede, in der sie zur Einigkeit aufrief, lenkte Athelstan das Gespräch geschickt auf die Vorbereitungen für das Fronleichnamsfest.
»Die Kinder«, erklärte er, »werden ihr Stück im Kirchenschiff aufführen.«
»Und es gibt eine Prozession«, fügte Watkin hinzu.
»Und vielleicht ein neues Bild?« wollte Huddle erwartungsvoll wissen. »Gleich neben der Tür, Pater. Christus und die Speisung der Fünftausend.«
Athelstan lächelte und hob die Hand. »Eins nach dem anderen, Huddle.«
»Was wichtiger ist«, warf Cecily mit engelhafter Miene ein, »wir müssen einen Vorhang zwischen dem Pfeiler und der Wand vor dem Chor spannen. Vergeßt nicht, Pater, Ihr müßt uns vor dem großen Festtag die Beichte abnehmen und die Absolution erteilen.«
Athelstan schloß die Augen. Seinen Pfarrkindern die Beichte abzunehmen, hätte er gern vermieden, denn er wußte, was unweigerlich herauskam. Am Ende würde Watkins Frau zu ihm kommen, um ihn über die Sünden ihres Mannes auszufragen, und natürlich würde Athelstan sie beruhigen müssen, ohne dabei aber zu lügen oder das Beichtgeheimnis zu verletzen. Benedicta, die seine bange Sorge gespürt haben mußte, kam ihm eilig zu Hilfe mit der Idee, am Mittwoch vor Fronleichnam ein Blumenfest zu veranstalten, und sie waren mitten in einer friedlichen Diskussion, als die Tür aufgerissen wurde und einer der Arbeiter hereingestürzt kam.
»Pater! Pater! Kommt schnell!« Die Augen des Mannes waren angstvoll geweitet. Schweißperlen rannen ihm über das staubige Gesicht.
»Was gibt es?« rief Watkin. »Ich bin hier der Küster und Vorsitzende des Gemeinderates …«
»Halt’s Maul, Fettsack!« schrie der Arbeiter. »Pater, Euch brauchen wir. Ihr müßt kommen.« Erregt fuchtelte er mit den Händen. »Bitte kommt. Wir haben die Steinplatten weggenommen …« Der Mann schluckte und starrte in die Runde. »Wir haben die Steinplatten unter dem Altar weggeräumt und eine Leiche gefunden.«
Athelstan überlief es kalt; er schlug mit der Faust auf den Tisch, um den Aufruhr zu beenden. »Eine Leiche?« fragte er.
»Unter unserem Altar?«
»Na ja, Pater, um ehrlich zu sein, da liegt ein Skelett, makellos geformt. Liegt einfach da! Es hält ein kleines hölzernes Kruzifix in der Hand.«
Angeführt von ihrem Priester marschierten die Ratsmitglieder aus dem Haus hinaus und in die Kirche; alle Feindschaft war vergessen. In der Kirchentür blieb Athelstan plötzlich stehen, und die ganze Gruppe rumpelte und stolperte ineinander.
»O nein«, stöhnte er.
»Keine Sorge, Pater«, erklärte Watkin fröhlich. »In einer Woche ist das alles wieder in Ordnung.«
Athelstan starrte das Chaos an. Der Lettner war abgebaut, und der Altarraum sah aus wie ein Bauhof. Die alten Steinplatten waren zu unordentlichen Haufen gestapelt, und als sie jetzt durch das Kirchenschiff nach vorn gingen, sah Athelstan das große Loch dort, wo der Altar früher gestanden hatte. Die anderen Bauarbeiter umstanden jetzt dieses Loch und schauten hinunter in die Dunkelheit. Der Mann, der ihn geholt hatte, anscheinend der Vorarbeiter, winkte Watkin und die übrigen wichtigtuerisch zurück.
»Ihr seht, Pater«, begann er und schaute sich Zustimmung heischend unter seinen Kollegen um, »der Altar stand auf einer Steinplatte, die ihrerseits auf einem Block ruhte, unter dem sich Kies und Erde befanden. Nun« – der Mann räusperte sich und wischte sich mit dem Handrücken über den staubigen Mund –, »wie Ihr befohlen habt, wollten wir den Boden des Altarraums absenken und haben deshalb einen Teil der Erde entfernt. Tja, und unter dem Altar brach der Boden einfach ein, und das da haben wir gefunden.«
Umdrängt von seinen Pfarrkindern, trat Athelstan an den Rand der Grube, während einer der Arbeiter behutsam hineinkletterte und eine Segeltuchplane entfernte. Athelstan schnappte verblüfft nach Luft. Dort ruhte ein Skelett, und in den knochigen Fingern hielt es ein kleines Kruzifix, dessen Holz schon ganz verrottet und weich aussah. Die Handgelenke waren gekreuzt, die Beine lagen ausgestreckt nebeneinander.
»Das ist ein Märtyrer!« erklärte Watkin plötzlich, als gebe er einen großen Triumph bekannt. »Pater, schaut, es ist ein Märtyrer! St. Erconwald hat seinen eigenen Heiligen, eine kostbare Reliquie!«
Athelstan schloß die Augen und murmelte ein Gebet. Das letzte, was er wollte, war eine Reliquie. Er glaubte nicht, daß Gottes Wille von Knochensplittern oder Fleischresten abhing.
»Woher weißt du, daß es ein Märtyrer ist?« fragte er matt.
»Jemand könnte die sterblichen Überreste auch einfach hier verscharrt haben.«
Seine Gemeindemitglieder starrten ihn erbost an; sie waren wild entschlossen, sich nicht um ihren Heiligen und Märtyrer bringen zu lassen.
»Natürlich ist es ein Märtyrer.« Pike ergriff das Wort, unversehens in schöner Eintracht mit Watkin. »Hört, Pater, Ihr habt doch schon manchen Leichnam gesehen; man schmeißt sie einfach in ein Loch und läßt sie da liegen. Der hier ist aber sorgfältig hingelegt worden, mit dem Kopf nach Osten.«
»Und das Kreuz!« krähte Ursula triumphierend. »Vergeßt das Kreuz nicht!«
»Das stimmt, Pater«, erklärte Benedicta leise. »Wem auch immer dieses Skelett gehören mag, und wer er oder sie auch war – diese Person wurde jedenfalls mit Respekt hier begraben und zum Zeichen der Ehrerbietung mit dem Kreuz versehen.«
Athelstan schaute hilflos in die Runde.
»Concedo«, murmelte er auf Lateinisch. »Ich gestehe, daß die Möglichkeit besteht. Aber wer ist es, und warum hier?«
»Das ist ein Märtyrer«, erklärte Mugwort. »Und wißt Ihr was, Pater, wahrscheinlich wurde er von den Persern getötet.«
»Von den Persern, Mugwort? Die Perser waren noch nie in England.«
»Doch, waren sie doch!« schrie Tab, der Kesselflicker. »Ihr wißt doch, Pater – dieselben Mistkerle, die Jesus ermordet haben. Als sie ihn umgebracht hatten«, fuhr der Kesselflicker fort, »kamen sie her, töteten jeden armen Hund, der an Jesus glaubte, und plünderten die Klöster aus.« Selbstbewußt schaute er sich um. Er war stolz auf das bißchen Schulbildung, die er besaß, und konnte nie der Gelegenheit widerstehen, damit zu prahlen.
»Römer«, widersprach Athelstan. »Die Römer sind in England eingefallen. Ja, und als der christliche Glaube sich hier verbreitete, töteten sie die, die an Christus glaubten. Männer wie St. Alban, dessen heiliger Leichnam nördlich von London in einer eigenen Kirche liegt.« Er sah die Enttäuschung in Tabs Augen. »Aber vielleicht hast du recht, Tab. Die Wikinger, die viel später kamen, waren tatsächlich in London. Sie haben ebenfalls Christen ermordet, und weiß Gott, dies könnte eines ihrer Opfer sein.« Er schaute in die Grube.
»Aber wir wissen nicht, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Also«, fuhr er fort, »Pike, Huddle, Watkin, nehmt das Skelett vorsichtig heraus.« Er deutete durch das Kirchenschiff zum Gemeindesarg, einer großen Eichenholzkiste, die in einem der Querschiffe stand. »Legt die Gebeine dort hinein, und dann wollen wir sehen, was wir finden können.«
Die auserwählten Gemeindemitglieder hoben das Skelett langsam und ehrfürchtig an, als sei es der heiligste Gegenstand unter der Sonne, und die übrigen, auch die Bauarbeiter, knieten nieder und bekreuzigten sich. Alle schraken auf, als Bonaventura, der sich in die Kirche geschlichen hatte, plötzlich erkannte, daß die weggeräumten Bodenplatten Ratten und Mäuse aufgestört hatten, und nun wie ein Geschoß aus schwarzem Fell quer durch den Chor sauste, um sich auf seine Beute zu stürzen.
»Na los!« drängte Athelstan.
Das Skelett wurde auf der Segeltuchplane aus der Grube gehoben. Athelstan achtete nicht auf das Protestgeflüster seines Gemeinderates; er untersuchte die Gebeine und bemerkte, wie zart und weiß sie waren. Behutsam drehte und wendete er Schädel und Rippen, aber er fand keine Spur von Gewalt.
»Seltsam«, murmelte er.
»Was denn, Pater?«
»Nun, ich bin kein Arzt, aber gar so alt kann das Skelett nicht sein. Seht doch, wie fein und fest die Knochen noch sind. Ich vermute, es handelt sich um eine Frau, und nach allem, was ich aus der römischen Märtyrologie noch weiß, sind die meisten eines barbarischen Todes gestorben, durch Kreuzigen, Hängen, Pfählen oder Enthaupten. Dieses Skelett aber ist unbeschädigt.«
Er hätte den Schädel gern noch etwas genauer betrachtet, aber die Pfarrkinder drängten sich jetzt allzu dicht um den Sarg. Er winkte Tab. »Geh hinunter und hol den Büttel, Master Bladdersniff«, befahl er. »Du wirst ihn in einer der Bierschenken finden.« Athelstan betrachtete noch einmal das Skelett. »Und dann Culpepper, den Arzt. Sein Haus steht an der Ecke der Reeking Alley. Er mag alt sein, aber er ist erfahren.«
Dann scheuchte er alle zur Kirche hinaus und befahl den Arbeitern, weiterzumachen und die verlorene Zeit aufzuholen. Eine Zeitlang standen die Gemeindemitglieder noch draußen in der Sonne und plauderten aufgeregt, während Athelstans Stimmung sich immer weiter verdüsterte. Ihm schwante, was nun passieren würde. In Scharen würden die Leute zur Kirche strömen; man würde Wunder erwarten, sich um Reliquien balgen, und die alltägliche Ruhe in seiner Pfarrei wäre dahin. Die Fälscher würden folgen, die Ablaßhändler aus Avignon und aus Rom, erpicht darauf, die Angst der Menschen zu Geld zu machen. Dann die Reliquienhändler, wie immer die Taschen voller Müll, und die Reliquienkäufer – Leute, die gutes, hartes Silber für die Fingerglieder eines Heiligen oder für einen Splitter vom Schädel bezahlten. Und schließlich die professionellen Pilger und anderen religiösen Eiferer, die ihr Leben in einem Zustand ähnlich dem der Hysterie verbrachten.
Athelstan entfernte sich von der Gruppe, und Benedicta folgte ihm. Er blieb stehen und sah sich nach der Kirche um.
»Wie alt ist das Gebäude?« fragte sie; sie ahnte, woran er dachte.
Athelstan schaute zu den schmutziggrauen Mauersteinen des verwitterten Kirchturms hinauf.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte er. »Aber zur Zeit König Stephens hat eine große Feuersbrunst hier jedes Haus dem Erdboden gleichgemacht. Die Kirche kann also frühestens unter der Herrschaft seines Nachfolgers, König Heinrich II., entstanden sein.« Athelstan nagte an seiner Lippe und versuchte, sich an seinen Geschichtsunterricht zu erinnern. »Das war vor ungefähr zweihundert Jahren.« Er lächelte die Witwe an. »Und bevor du fragst, Benedicta: Es gibt keine Karten und Bücher – sie sind alle verschwunden. Ich bin ja erst seit kurzem hier, und bevor ich kam, wurde diese Kirche von reisenden Kuraten oder Wanderpriestern betreut.«
»Und davor?« fragte Benedicta.
Athelstan erinnerte sich vage an die Skandalgeschichten, die er gehört hatte, und schaute hinüber zu seinem Gemeinderat.
»Watkin!« rief er. »Auf ein Wort, bitte!«
Der Küster kam geschäftig herüber, sein Gesicht glänzte vor Aufregung.
»Hör mal, Watkin«, sagte Athelstan knapp, »wir dürfen in dieser Sache nicht den Kopf verlieren. Was weißt du über die Geschichte dieser Kirche? Vor allem über euren letzten Pfarrer?«
Der Mann kratzte sich am Kopf, befingerte die große Warze an seiner Nase und schaute Athelstan betreten an. »Nun, Pater, die Kirche war immer schon hier.«
»Und euer letzter Pfarrer?«
Watkin bog die Mundwinkel nach unten. »Ein seltsamer Kerl, Pater.«
»Wie meinst du das?«
Wieder kratzte sich Watkin am Kopf und schaute zu Boden, als suche er dort etwas. »Na ja, er hieß William Fitzwolfe, war einer von Euern Wanderpredigern, ein Gauner und ein Stutzer. Er benutzte St. Erconwald als Spielhalle und hielt hier sonderbare nächtliche Versammlungen ab.«
»Zum Beispiel?«
»Ihr wißt schon, Pater – die Galgenmänner.«
»Du meinst Zauberer?«
»Ja, Pater. Aber dann ist er verschwunden und hat alle Akten und Bücher der Kirche mitgenommen. Es hieß, das Erzdiakoniegericht sucht ihn, weil er sich mit Frauen vom Schlage der jungen Cecily eingelassen hat.« Watkin scharrte mit seinen großen, schmutzigen Stiefeln. »Er war ein schlechter Mensch, Pater. Er soll hinter viel Bösem hier gesteckt haben: falsche Maße in den Schenken, die Beschäftigung von Meerjungfern.« Er warf einen Seitenblick auf Benedicta. »Prostituierte, Huren … so nennen wir sie.«
»Wie lange ist das alles her?« fragte Benedicta.
»Oh, ungefähr fünf Jahre. Ist das alles, Pater?«
Athelstan nickte und sah seinem Sakristan nach, als er davonwatschelte.
»Tja, Benedicta, da hast du eine Antwort. Keine Akten, keine Bücher, keine Geschichte.« Er zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht hat das Skelett etwas mit Fitzwolfes frevelhaftem Treiben zu tun.«
Benedicta sah ihn scharf an. »Das bezweifle ich. Einer wie Fitzwolfe, wahrhaftig ein König der Schurken, hätte unzählige Stellen gewußt, um einen Leichnam zu verstecken. Bis zum Fluß, Pater, sind es schließlich nur ein paar Schritte. Nein, entweder wurde der Leichnam hier begraben, bevor die Kirche gebaut wurde, oder …«
»Oder bei ihrem Wiederaufbau hierhergelegt«, unterbrach Athelstan sie. »Concedo, Benedicta, deine Logik ist unangreifbar. Und das bedeutet, ich muß herausfinden, wann die Kirche gebaut wurde und ob die Steinplatten schon einmal ausgetauscht worden sind. Cranston wird uns dabei helfen müssen. Aber bitte« – er wechselte das Thema -, »sag mir doch den Vornamen deines Mannes. Und wie sah er aus?«
Benedicta blinzelte und schaute weg. »Er hieß James. Er war groß, von mittlerer Statur, blond. Er trug das Haar dicht und lang, hatte einen Schnurrbart und eine Narbe von einem Messerschnitt unter dem rechten Auge.«
Athelstan dankte ihr, und eine Zeitlang standen sie noch da und überlegten, wie die Pfarrgemeinde wohl reagieren würde. Dann kam der Kesselflicker mit dem wichtigtuerischen, kurzsichtigen Bladdersniff und dem weißhaarigen, fröhlich blickenden Culpepper zurück.
»Was ist los, Pater?« Der Büttel reckte den Kopf vor wie eine wütende Gans; seine Augen waren schmal, seine Lippen geschürzt.
Athelstan seufzte und zog es vor, den dicken, erstickenden Bierdunst zu ignorieren, der den Kerl wie ein Parfüm umwallte.
»Ich brauche Euch, Master Bladdersniff, und Euch, mein guter Doktor, denn man hat einen Leichnam gefunden – oder, besser gesagt, ein Skelett. Kommt mit.«
Sie gingen zurück in die Kirche. Bladdersniff inspizierte leicht schwankend das Skelett; er schnüffelte und murmelte vor sich hin. Schließlich richtete er sich auf, schob die Daumen unter den breiten Gürtel und verkündete: »Es ist tot, und es ist ein Skelett!«
Cecily und Benedicta fingen sofort an zu kichern. Der Büttel warf einen mißtrauischen Blick auf Pike, der hinter ihm stand und jede seiner Bewegungen so akkurat nachahmte, daß selbst Athelstan wegschauen mußte. Der Arzt Culpepper war eine größere Hilfe. Er hockte sich nieder und untersuchte das Skelett gründlich.
»Keine Spuren von Gewalt«, stellte er fest. »Die Knochen sind zart, glatt und frisch.«
»Also ist es erst vor kurzem begraben worden?« fragte Athelstan hoffnungsvoll.
»Ah, nein.« Der alte Arzt schaute Athelstan aus tränenden Augen an. »Ihr kennt die Londoner Tonerde, Pater. Die kann einen Knochen schön frisch halten. Gott weiß, wann dieses arme Ding begraben wurde. Aber eines kann ich Euch doch sagen: Dies ist das Skelett einer jungen Frau.«
»Woher wißt Ihr das?«
»Eine bloße Vermutung. Aber angesichts der Feinheit der Knochen, der Konturen der Rippen, der Arme und Beine, denke ich, daß ich recht habe.«
Athelstan bedankte sich bei beiden und beharrte noch einmal darauf, daß jedermann die Kirche verlasse; er scheuchte sie vor sich her wie eine Bäuerin eine Schar Hühner und rief den Arbeitern zu, sie sollten weitermachen. Draußen befahl er Watkin, niemanden hineinzulassen. Seine Gemeinde versammelte sich um Bladdersniff und Culpepper und bestürmte sie mit eifrigen Fragen. Benedicta berührte Athelstans Hand.
»Alles wird gut, Pater. Dieses Geheimnis wird sich bestimmt sehr bald lösen.«
Er umfaßte ihre warmen Finger. »Ich danke dir. Benedicta. Und du sei auch beruhigt. Ich werde diesen Brief nach Boulogne schreiben.«
Er ging wieder in sein Haus und verriegelte die Tür hinter sich. Bonaventura kam auch; er sprang durch das offene Fenster, offenbar stolz wie ein Pfau nach seiner erfolgreichen Jagd in der Kirche. Eine Zeitlang saß Athelstan nur da und dachte über das Geschehene nach; er bedauerte, daß sein Seelenfrieden so abrupt gestört worden war. Endlich seufzte er und nahm Tintenhorn und Pergamentrollen herunter. Er beendete gerade die letzte Fassung seines Briefes an die Dominikaner in der Nähe von Boulogne, als es leise an der Tür klopfte.
»Herein«, rief er.
Dann fiel ihm ein, daß er sich eingeschlossen hatte; er stand auf und zog den Riegel zurück. Halb erwartete er, Benedicta zu sehen, aber zu seiner Überraschung stand Cranston da und schaute ihn düster an. Athelstan trat erstaunt zurück und winkte ihn herein. Cranston kam wie ein Schlafwandler in die Küche. Da stimmt etwas nicht, dachte Athelstan. Der große, dicke Coroner erschien sonst immer wie ein Unwetter aus dem Norden: lautstark und mit viel Gepolter.
»Sir John, es ist eine Freude, Euer liebreizendes Antlitz zu sehen.«
»Quatsch!« knurrte Cranston und ließ sich auf einen Schemel fallen. »Hat dieser faule Halunke, der Leif, dir meine Botschaft gebracht?«
Athelstan setzte sich ihm gegenüber. »Lady Maude?«
»Der geht es gut.«
»Und die zwei Kerlchen?« Athelstan benutzte das Wort, mit dem Cranston seine Zwillinge oft bezeichnete.
»Lustig und hungrig.« Der Coroner wischte sich den Schweiß von der Stirn und schob sein fettes, rotes Gesicht näher an Athelstan heran. Der Ordensbruder zuckte zusammen, als er den Zorn in den eisblauen Tiefen der Augen erblickte.
»Sir John, Ihr seid aufgebracht. Einen Becher Wein?«
»Scheiß auf so was!« fauchte Cranston. »Was ich brauche, ist ein großer Krug Ale. Laß uns in eine Schenke gehen.«
Athelstan war einverstanden; aber innerlich stöhnte er.
»Was schreibst du da?« Cranston deutete mit seinem dicken Finger auf den Brief.
Der Bruder erklärte es ihm, und Cranston grinste durchtrieben.
»Dann ist Benedicta vielleicht keine Witwe mehr?«
»Sir John, Ihr tut mir unrecht.«
»Aye.« Cranston steckte den Brief ein. »Ich lasse das verdammte Ding versiegeln und überbringen. Dann kommt ihr Mann zurück, und du kannst eine andere anhimmeln.«
Athelstan schluckte eine voreilige Antwort herunter, und Bonaventura sprang auf das Fensterbrett. Der Kater warf einen Blick auf den Coroner, und Athelstan hätte geschworen, daß Bonaventura in diesem Moment grinste, wenn ein Tier überhaupt grinsen konnte. Der alte Kater sprang hinaus und kam mit einer großen Ratte im Maul wieder herein. Er glitt durch die Küche und legte Cranston die grausige Trophäe vor die Füße wie eine Rose oder einen Silberbecher. Der Coroner verzog das Gesicht und zog die Füße weg.
»Hau ab, Bonaventura!« grollte er, aber das Entzücken des Katers über den Anblick des fetten Coroners stieg offenbar noch, und er rieb sich an Sir Johns stämmigem Bein.
»Na, jetzt langt’s«, murmelte Athelstan.
Er stand auf, faßte das tote Nagetier beim Schwanz und trug es, gefolgt von einem aufmerksamen Bonaventura, nach draußen, wo er es ins Gras warf. Er ging noch einmal hinein, wusch sich die Hände, und verließ dann, begleitet von dem immer noch vor sich hin murrenden Cranston, das Haus. Sie gingen an der Kirche vorbei.
Zwei von Watkins Kindern standen dort Wache, aber Athelstan sah zu seinem Schrecken, daß zahlreiche Menschen sich versammelt hatten, die aufgeregt durcheinanderredeten und auf die Kirchentür deuteten.
»Was ist los mit diesen faulen Halunken?« knurrte Cranston.
»Das sag ich Euch später, Sir John.«
In der Schenke war es ruhig; die Bewohner der häßlichen Gassen und engen Behausungen von Southwark genossen anscheinend das schöne Wetter, entweder unten am Fluß oder in ihren kleinen Gärten. Der einarmige ehemalige Pirat, dem die Schenke gehörte, begrüßte Sir John wie einen lange vermißten Bruder und ignorierte die finsteren Blicke und gemurmelten Flüche.
»Ale!« brüllte Cranston schließlich. »Gutes, schweres Ale mit einer schönen Krone! Nicht deine Themse-Brühe.« Er warf dem Burschen eine Münze zu, die der geschickt auffing.
»Und für dich, Bruder, einen Becher verdünnten Wein?«
»Nein, Sir John; heute ist schließlich Sonntag. Ich trinke Ale wie Ihr; ich denke, ich werde es brauchen.«
Der Schankwirt hörte, was er sagte. Seine Augenfältchen vertieften sich vor Freude über die Aussicht auf weitere Kundschaft. »Aye, Pater«, sagte er, »wir haben die Geschichte alle schon gehört. St. Erconwald wird berühmt.«
»Was für eine Geschichte?« fragte Cranston leise, als sie unter dem Fenster Platz genommen hatten, wo es Licht und eine leichte Brise gab.
Athelstan holte tief Luft und berichtete kurz, was wenige Stunden zuvor in der Kirche gefunden worden war. Cranston hörte bis zum Ende zu.
»Und was hältst du davon, Mönch?«
»Ordensbruder, Sir John. Vergeßt nicht, ich bin ein Ordensbruder.«
»Wen kümmert das?« kläffte der Coroner. »Glaubst du, es sind die Überreste eines Heiligen?«
Athelstan wartete, bis der Wirt ihnen das Ale gebracht hatte.
»Nein, dazu ist die Kirche nicht alt genug. Aber daß keine Unterlagen mehr da sind, ist natürlich nicht hilfreich. Der letzte Pfarramtsinhaber hat sich mit allem, was er tragen konnte, aus dem Staub gemacht. Vielleicht kennt Ihr ihn, Sir John? William Fitzwolfe?«
Cranston trank seinen Krug halb leer und rieb sich die fleischige Nase. Athelstan beobachtete ihn erwartungsvoll. Es gab keinen Schurken in London, über den Cranston nichts wußte. Der Coroner pustete die Wangen auf.
»Ah ja, ich erinnere mich an den Dreckskerl. William Fitzwolfe, seines Amtes enthoben und exkommuniziert. Seit fünf Jahren steht er auf der Liste der Leute, mit denen ich gern ein Wörtchen reden würde. Der Bursche soll sich in der Stadt versteckt halten.«
»Ich brauche die Chroniken der Kirche«, sagte Athelstan.
»Ich muß wissen, was dort vorher stand und wann der Altarraum mit Steinplatten ausgelegt wurde.«
»Dabei kann ich dir helfen«, sagte Cranston. »Die Gemeindebehörden haben ihre eigenen Archive. Ich werde einen Schreiber, der gerade nichts zu tun hat, ein bißchen herumstöbern lassen; mal sehen, was er findet.«
»Und Fitzwolfe?«
»Nun, wenn er ein entlassener Priester ist, der sich des Sakrilegs und jedes anderen Verbrechens gegen die Gesetze schuldig gemacht hat, dann wird eine Belohnung auf ihn ausgesetzt sein. Ich, mein geliebter Ordensbruder, werde diese Belohnung erhöhen und meine Truppe von Informanten wissen lassen, daß derjenige, der diesen Spitzbuben zur Strecke bringt, meine Gunst gewinnt. Ich kenne diese Halunken besser als du; die brauchen das.«
»Sir John, Ihr seid sehr großzügig.«
»Quatsch! Du hast noch gar nicht gefragt, weshalb ich gekommen bin.«
»Wieder ein Mord?«
»Nun, ja und nein.« Cranston grinste boshaft. »Jetzt habe ich dich neugierig gemacht. Aber laß uns noch mal zu deiner albernen kleinen Kirche zurückgehen, bevor ich dir das Drum und Dran erzähle. Es wird bald dunkel, und ich möchte gern einen Blick auf dein mysteriöses Skelett werfen.«