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Zwei

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Zur gleichen Zeit, als Cranston und Athelstan in der Ratcat Alley eintrafen, stolzierte Luke Peslep, Schreiber in der Kanzlei vom Grünen Wachs, in die Schenke »Zum Tintenfaß« an der Ecke der Chancery Lane, um dort zu frühstücken. Für Peslep, einen jungen Mann aus guter Familie und mit noch besseren Aussichten, war die Welt in bester Ordnung. Vor drei Abenden hatte er gut gespeist und sich von einer vorzüglichen Hure unterhalten lassen, und davon fühlte er sich noch immer höchst beschwingt. Und heute morgen war er aufgestanden, hatte sich gewaschen und frische Kleider angelegt, bereit zu einem neuen Tag in der Kanzlei vom Grünen Wachs. Jetzt stand er in der Schankstube des »Tintenfasses« und blickte strahlend in die Runde. Er spähte durch den Raum nach hinten, so glücklich und zufrieden, daß er die Tiere nicht sah, den Straßenköter und die räudige Katze, und auch nicht die Essensreste und den Stalldung auf dem hohen Misthaufen. Ebensowenig bemerkte er den Gestank von den Latrinen am hinteren Ende des Gartens hinter einer struppigen Hecke. Peslep sah nur die Sonne, die sich in den Pfützen spiegelte, und hörte das Schnattern der Gänse, und wenn er die Augen schloß, genoß er den würzigen Duft aus der Küche. Er nahm seinen Stammplatz in der hinteren Ecke ein, und als Meg, die Schankdirne, zu ihm kam, bestellte er seinen gewohnten Krug Ale und dazu geschnittenes Brot, Äpfel und Käse. Und wie immer schob Peslep eine Hand in Megs Miederausschnitt, umfaßte eine ihrer Brüste und drückte sie.

»Jeden Tag reifer, was, Meg? Wird’s nicht bald Zeit zum Pflücken?«

Meg strich sich das Haar aus dem fettglänzenden Gesicht und zwang sich zu einem Lächeln. Sie durfte nicht widersprechen. Peslep bezahlte immer in gutem Silber, und wenn sie protestierte, würde der Wirt ihr nur Backpfeifen verpassen, bis ihr die Ohren brannten.

Peslep kaute an seinem Apfel und lauschte den Geräuschen, die durch die Schenke wehten. In der nahen Kirche sang ein Chor, auf der Straße schwatzten ein paar Frauen, Kinder kreischten, ein fauler Hahn begrüßte den neuen Tag, und ein Hausierer rief seine Ware aus. Aus den Werkstätten neben dem Fleet-Gefängnis kam ein ganzes Konzert von Klängen: Hobeln und Hämmern, Feilen und Schmieden, Sieden und Zischen. Peslep schloß die Augen. Das war das London, das er liebte.

Eine Bettlergilde betrat die Schenke und setzte sich an einen Tisch, um die Münzen zu zählen, die unter den Besuchern der Morgenmesse gesammelt worden waren. Der Anführer ließ ein paar Krüge Wein und heißes Essen kommen. Peslep wußte, daß sie hierbleiben würden, bis das ganze Geld verzecht war und sie sinnlos betrunken auf dem Boden lagen, um von dem hinterhältigen Wirt ausgeplündert zu werden. Einer der Bettler zog eine Flöte aus dem Wams und begann zu spielen, ein zweiter holte eine Laute hervor und schlug ein paar Akkorde an. Die übrigen begannen zu singen und schlugen dabei den Takt auf dem Tisch, daß Krüge und Holzteller klapperten. Peslep lehnte sich zurück und beobachtete sie mit halbgeschlossenen Augen. Er war erfreut über den Lauf seines Lebens: Die bedrohlichen Wolken hatten sich verzogen, und alles würde gut werden. Peslep wollte sich ein neues Haus kaufen, vielleicht nördlich von Clerkenwell.

Er öffnete die Augen, als ein junger Mann hereinkam, die Kapuze über den Kopf gezogen, klirrende Sporen an den Stiefeln, einen Soldatengürtel mit Schwert und Dolch über der Schulter. Er schnippte mit dem Finger und sagte etwas zu Meg, und sie huschte davon und brachte einen Humpen Ale.

Der junge Mann setzte sich. Peslep rümpfte verächtlich die Nase und schaute woandershin. Ein Hofgeck! Einer von diesen jungen Stutzern, die er selbst und seine Kollegen offen beneideten und heimlich wegen ihres Reichtums und ihrer lässigen Manieren bewunderten. Alcest äffte sie sogar nach. Aber eines Tages würde Peslep auch so sein.

In seinem Bauch begann es zu rumoren. Er leerte seinen Humpen.

»Schankwirt!« Er stand auf und schnalzte mit den Fingern.

Der Kerl kam hastig aus seiner Küche und brachte frische Lumpen mit, die er Peslep in die Hand drückte. So ging es jeden Tag: Peslep kam zum Frühstücken, ging dann auf die Latrine und kehrte zurück, um einen letzten Humpen Ale zu trinken, bevor er wieder zur Arbeit ging. Peslep trat in den Hof hinaus und hielt sich die Nase zu, als er am Misthaufen vorbeikam. Die Latrine am hinteren Ende, hinter der spärlichen Hecke, bestand aus einer Reihe von Verschlägen, die man über einem Graben errichtet hatte. Peslep begab sich in einen davon, ließ seine Hose herunter und machte es sich bequem.

Er hielt die Lappen in der Hand, schloß die Augen und dachte an das Geld, das er auf die Seite gebracht hatte. Plötzlich ging die Tür auf. Erschrocken wollte Peslep aufspringen. Er erkannte den jungen Mann, den er in der Schenke gesehen hatte und dessen Schwert jetzt auf seinen Magen zielte.

Peslep konnte nichts tun; das Schwert wurde hineingestoßen, umgedreht und wieder herausgezogen. Peslep wand sich in stechenden Schmerzen, aber der Fremde stieß noch einmal zu und bohrte seine spitze Waffe tief in Pesleps Hals.

Sir John Cranston und Athelstan waren in Draytons Kontor zurückgekehrt, um sich alles noch einmal genau anzuschauen, als heftig an der Haustür geklopft wurde. Beide gingen sie hinauf, um zu öffnen. Athelstan erblickte eine hochgewachsene, elegante Gestalt, von Sonnenlicht umstrahlt. Mit einer juwelenbesetzten Mütze in der Hand trat der Mann ein. Die Sporen an den Fersen seiner Stiefel klirrten musikalisch auf den Bodendielen. Er trug kein Schwert bei sich, aber die eine Hand ruhte auf dem edelsteinfunkelnden Dolch, der im Schwertgurt steckte. Ein Mantel von dunklem Safrangelb war elegant über die eine Schulter zurückgeschlagen. Cranston musterte das gutgeschnittene braune Gesicht mit den spöttischen grünen Augen, und er sah, daß der Bart des jungen Mannes nach der adretten französischen Art gestutzt war. Eine Erinnerung erwachte in ihm.

»Kenne ich Euch, Sir?«

»Ihr seid Sir John Cranston, der Coroner der Stadt?«

»Das will ich aufrichtig hoffen. Aber ich habe Euch etwas gefragt, Sir.«

»Ich bin Sir Lionel Havant und gehöre zum Haushalt Seiner Gnaden, des Herzogs von Lancaster.«

»Ach, einer von John von Gaunts Knaben seid Ihr? Ein Lakai des Regenten?« Breitbeinig stand Cranston da und musterte den Mann von Kopf bis Fuß. Dann streckte er die Hand aus und trat einen Schritt vor. »Oh, nichts für ungut, Mann. Ich kannte Euren Vater, Sir Reginald Havant von Crosby in Northampton.«

Der junge Mann lächelte. Aber dann straffte er sich, als sei ihm wieder eingefallen, weshalb er gekommen war. »Sir John, ich bin erfreut, Euch zu sehen, doch ich komme geradewegs vom Regenten. Er möchte seine fünftausend Pfund Silber haben.«

»Da wird er sich gedulden müssen«, knurrte Cranston. »Ich bin Coroner, kein verdammter Wundertäter!«

Havant schaute Athelstan an, und der verdrehte die Augen zum Himmel.

»Sir Lionel …« Athelstan schaltete sich rasch ein, bevor Cranston sich um Kopf und Kragen reden konnte. »Wir sind noch nicht lange hier. Wir werden bald Fortschritte machen.«

Der junge Ritter nickte.

»Ihr habt eine Botschaft für uns?« fragte Athelstan.

»Ja, woher weißt du …?«

Athelstan deutete auf die kleine Pergamentrolle im Gürtel des Mannes.

»Ach ja.« Havant zog sie hervor. »Sir John.« Er entrollte das Pergament. »Seine Gnaden der Regent ist zudem besorgt um einen seiner Schreiber, Edwin Chapler aus der Kanzlei vom Grünen Wachs. Gestern nacht hat man seine Leiche aus der Themse geholt. Sie liegt jetzt beim Menschenfischer. Chapler wurde seit etwa zwei Tagen vermißt. Seine Gnaden möchte, daß Ihr den Leichnam in Beschlag nehmt, die Gebühr bezahlt und die Todesursache herausfindet.«

»Aber ich bin zu beschäftigt, um mich mit betrunkenen Schreibern abzugeben«, maulte Cranston.

»Er war nicht betrunken, Sir John«, antwortete Havant.

»Chapler wurde ermordet.«

Wenig später marschierte Cranston, begleitet von Athelstan, über die Cheapside und die Bread Street hinunter. Der Coroner wollte zur »Barque des hl. Petrus«. Diesen ziemlich exzentrischen Namen hatte der Menschenfischer seiner »Kapelle«, seinem Leichenschauhaus, gegeben. Cranston drängte sich durch die Menge und bahnte sich seinen Weg durch die betriebsamen Straßen. Ringsherum und über ihnen verdunkelten die zwei- und dreistöckigen Häuser, schmal und aneinandergezwängt, das Sonnenlicht, und die Menschen stießen und rempelten einander in den verkehrsreichen Gassen an. Stände und Läden waren geöffnet. Die Luft hallte vom Geschrei der Ladenjungen, hauptsächlich der Tuchhändler, deren große Karren und Stände mit einer reichen Vielfalt von Stoffen bedeckt waren. Brüsseler Linnen, verschwenderisch bestickt in leuchtenden Farben, englische Tuche und Textilien aus Louvain und Arras. Weiter unten, in den Straßen von Trinity, türmten sich Waren aus aller Welt – vom Libanon bis Venedig – auf den Ständen: Kisten mit Zimt, Säcke mit Safran und Ingwer, Fäßchen voller Feigen, Bitterorangen und exotisch duftender kandierter Zitronenschalen. Man sah Kästen voller Johannisbrot, Mandeln und Muskat, Säcke mit Zucker und Pfeffer, Weinfässer, Schreibtafeln und Schachteln mit Kreide sowie Lederwaren in den verschiedensten Brauntönen. Heringe lagen in offenen Fässern neben Bergen von Obst und Gemüse. Athelstan hätte Sir John zu gern befragt, aber der Lärm war ohrenbetäubend. Immer wieder drohte der Coroner den frechen Lehrjungen mit der Faust, wenn sie herbeisprangen und seinen Arm festhalten wollten; dann brüllte er und schüttelte sich wie ein Bär, der von bissigen Hunden umsprungen wird. Verzweifelt trottete Athelstan hinter ihm drein und versuchte, nicht auf das Geschrei, das Feilschen und Handeln zu achten. Immer wieder stieß er mit Bauern, Handwerkern oder Stadtbürgern zusammen. Hin und wieder stolperte er und mußte sich dann überschwenglich bei irgendeiner Lady entschuldigen, die Arm in Arm mit ihrem Gentleman daherspazierte. Als sie La Réole hinuntergingen und sich der Vintry und den weniger feinen Gegenden der Stadt näherten, hielt Athelstan eine Hand auf seinem Geldbeutel. Quacksalber und Wahrsager hatten hier ihre behelfsmäßigen Stände aufgebaut und lockten die Taschendiebe und Beutelschneider an, die solche Orte stets ebenso schnell umschwärmten wie Bienen den Honig oder – wie Sir John es ätzender zu sagen pflegte – »wie Fliegen den Mist«.

Endlich erblickte Athelstan die Takelage von Schiffen und roch im Morgenwind die frische Schärfe der Luft am Fluß. Cranston, dessen Laune sich verfinstert hatte und der nun immer öfter in tiefen Zügen aus seinem wunderbaren Weinschlauch trank, bog in eine Gasse ein, die zur Barque des hl. Petrus führte. Ein Reliquienhändler kam winselnd heran, mit einer Schachtel in der Hand, die angeblich die Zehennägel des Pharaos enthielt, der Moses verfolgt hatte. Cranston schlug seine Kapuze zurück.

»Oh, der Herr errette uns!« schrie der Mann und rannte wie ein Windhund zurück in die Schatten.

Der Menschenfischer saß auf einer Bank vor seiner Kapelle. Er war umringt von seiner seltsamen Sippschaft -Bettler und Aussätzige, deren Hände und Gesichter von offenen Geschwüren bedeckt waren. Manche waren so entstellt, daß sie Masken trugen. Neben dem Menschenfischer stand Ichthys. Der Junge hatte weder Brauen noch Wimpern; er sah aus wie ein Fisch und konnte auch so schwimmen. Sir John blieb stehen und verbeugte sich, denn er hatte großen Respekt vor dem Menschenfischer.

»Guten Morgen, Sir John.«

»Guten Morgen, meine Hübschen.« Cranston lächelte, und Athelstan machte ein Kreuzzeichen über der Gruppe. Der Menschenfischer erhob sich mit herabhängenden Armen und erwiderte die Verbeugung. »Willkommen in unserer bescheidenen Kirche, Sir John.« Seine wäßrigen Augen richteten sich auf Athelstan. »Und auch du, Bruder Athelstan. Wieder einmal führt der Tod uns zusammen.« »Der Leichnam des Edwin Chapler«, sagte Cranston.

Der Menschenfischer reichte Ichthys seinen Bierhumpen, öffnete die Tür zur Kapelle und winkte Cranston und Athelstan weiter. Drinnen sah es aus wie in einem langgestreckten, schmalen Schuppen. An der hinteren Wand hatte man einen Behelfsaltar errichtet; zwei Kerzenhalter flankierten ein mächtiges Kruzifix. Die Wände rechts und links waren von Gemälden bedeckt, roh skizzierte Holzkohleumrisse, die mit Farbe ausgefüllt waren. Ein Bild zeigte Jonas, wie er vom Wal verschlungen wurde, auf dem anderen sah man Jesus Christus mit seinen Aposteln; sie hatten verdächtig große Ähnlichkeit mit dem Menschenfischer und seinem Zirkel, wie sie so in einer vollbeladenen Barke über den See Genezareth glitten. Es war ein gespenstischer Ort, beleuchtet von Binsenkerzen und Öllampen. An beiden Seiten reihten sich Tische, und auf jedem lag eine Leiche, aus der Themse gefischt, unter einer schmutzigen Leinwand. Die Luft war abgestanden, und trotz der großen Töpfe mit Kräutern, die unter den Tischen standen, roch Athelstan den ekelhaften Dunst der Verwesung. Der Menschenfischer dagegen schien sich hier zu Hause zu fühlen und schwatzte vor sich hin, als er sie voranführte. An einem Tisch blieb er stehen und schlug das Laken zurück. Der Leichnam eines jungen Mannes lag ausgestreckt dort, Haar, Körper und Kleidung vom Flußwasser durchnäßt, die Augen halb offen und das Gesicht von gelblich-fahler Färbung. Athelstan bemerkte die Spuren von getrocknetem Blut an den Mundwinkeln. »Es war kein Unfall«, verkündete der Menschenfischer und drehte den Toten um.

Athelstan bemühte sich, die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen, als er die breiige Wunde am Hinterkopf des jungen Mannes betrachtete.

»Hat er noch andere Verletzungen?« Cranston nahm einen Schluck aus seinem Weinschlauch. Dann bot er Athelstan den Schlauch an, und ausnahmsweise akzeptierte der Ordensbruder das freundliche Angebot und trank einen großen Schluck.

»Ich habe keine sehen können.« Der Menschenfischer streckte die Hand aus. »Drei Shilling, Sir John. Drei Shilling für ein Mordopfer aus der Themse.«

»Im Rathaus wird man dich bezahlen«, antwortete Cranston.

Der Menschenfischer lächelte und zog die ausgestreckte Hand nicht zurück. »Kommt, kommt, Sir John, spielt nicht Katz und Maus mit mir. Wenn Ihr ins Rathaus geht und drei Shilling verlangt, so gibt man Euch drei Shilling. Gehe ich hin, so gibt man mir eins aufs Haupt und wirft mich die Treppe hinunter.«

Seufzend rückte Cranston das Geld heraus.

»Man hat ihm den Hinterkopf eingeschlagen«, sagte der Menschenfischer. »Wir wissen, daß es Edwin Chapler war; wir haben seine Amtssiegel in seiner Börse gefunden. Da es sich um einen königlichen Schreiber handelt, haben wir sie an den Regenten in den Savoy-Palast geschickt.«

»Sonst noch was?« fragte Cranston.

»Ein paar Münzen, aber …« Der Menschenfischer zuckte die Achseln.

Athelstan drehte den Toten wieder um, kniete nieder und flüsterte die Worte der Absolution. Der Menschenfischer wartete geduldig, während Athelstan über dem Gesicht des jungen Mannes ein Kreuzzeichen machte und das Totengebet murmelte.

»Er wurde auf den Hinterkopf geschlagen«, wiederholte der Menschenfischer. »Und nach dem Strömungsverlauf zu urteilen, würde ich sagen, daß er vor drei Abenden von der London Bridge geworfen wurde.«

»Müßte der Leichnam dann nicht blaue Flecken von den Pfeilern und den Befestigungen aufweisen?«

»Nein, Sir John. Der Fluß fließt schnell und wild durch die Bögen der Brücke. Er wurde ganz bestimmt dort hinuntergeworfen, denn als der Tote vom Wasser herumgewirbelt wurde, haben sich Tangfetzen in seinen Kleidern verheddert. Wenn Ihr dort hinunterklettert und Euch die Bögen unter der Brücke anschaut, so werdet Ihr sehen, daß es eine der wenigen Stellen am Fluß ist, wo sich Tang hat ansetzen und halten können.« Der Menschenfischer lachte. »Aber ich spiele mich auf, Sir John. Einer meiner hübschen Knaben dort draußen unterhält sich manchmal mit Harrowtooth, der alten Hexe und weisen Frau, die in einer Hütte am Stadtende der Brücke wohnt. Vor drei Tagen war sie abends in der Kapelle von St. Thomas à Becket und sah dort einen jungen Mann, auf den diese Beschreibung paßt.«

»Natürlich«, sagte Sir John, »und hinter der Kapelle ist ein kleines, abgeschiedenes Plätzchen, das bei Selbstmördern sehr beliebt ist. Um welche Zeit hat die Harrowtooth ihn gesehen?«

»Einige Zeit nach der Vesper. Die Sonne war schon untergegangen. Er war sehr erregt, betete gleich hinter dem Eingang, als wolle er sich eigentlich nicht dort aufhalten.«

»Ich kenne die alte Harrowtooth«, sagte Athelstan. »Ich werde mit ihr sprechen.«

»Was geschieht mit dem Toten?« fragte der Menschenfischer.

»Behalte ihn noch vierundzwanzig Stunden«, sagte Cranston. »Wenn ihn niemand haben will, schickst du ihn an den Pfarrer von St. Mary Le Bow, der soll ihn begraben. Auf dem Friedhof dort gibt es einen Platz …«

»Das geht nicht«, antwortete der Menschenfischer. »Den letzten haben sie zurückgewiesen, und das werden sie immer weiter tun, bis der Friedhof geräumt und ein neues Beinhaus gebaut worden ist.«

Athelstan betrachtete den Leichnam voller Mitleid für ein junges Leben, das so brutal ausgelöscht worden war.

»Bringt ihn nach St. Erconwald«, sagte er. »Wenn ihn sonst niemand haben will, nimmt St. Erconwald ihn auf.«

Athelstan fuhr herum, denn die Tür wurde aufgestoßen. Havant kam hereingerauscht, von der Schar des Menschenfischers protestierend umflattert wie von einem Schwarm Spatzen.

»Um des lieben Herrgotts willen!« hauchte Cranston. »Sagt nicht, ich werde Euch jetzt einmal pro Stunde sehen müssen, Sir Lionel.«

»Eine Serie von Todesfällen, Sir John. Wieder ist ein Schreiber ermordet worden.«

»Liegt er im Wasser?« fragte der Menschenfischer hoffnungsvoll.

Sir Lionel nahm keine Notiz von ihm. »Luke Peslep wurde auf der Latrine der Schenke ›Zum Tintenfaß‹ umgebracht, durch Schwertstiche in Bauch und Gurgel. Der Mörder hat sich in Rauch aufgelöst.«

»Ein Raubmord?« fragte Cranston.

»Man hat ihm nichts genommen – bis auf das Leben. Aber das hier wurde zurückgelassen.«

Havant reichte ihm ein schmutziges Stück Pergament, die Tinte dunkelblau, die Schrift ausladend. Cranston gab das Blatt an Athelstan weiter.

»Meine Augen sind heute morgen ziemlich schlecht.« Das war seine übliche Ausrede, wenn er zuviel getrunken hatte.

Athelstan las im Schein einer Öllampe.

»Zwei Rätsel«, sagte er langsam. »Das erste lautet: ›Ein König kämpfte einst gegen ein Heer. Er schlug es, doch am Ende lagen Sieger und Besiegter am gleichen Ort.‹«

»Was um alles in der Welt soll denn das bedeuten?« fragte Cranston.

»Das weiß Gott allein«, sagte Athelstan. »Und hier ist das zweite: ›Mein erster ist wie aufgeblas’ne Pracht, die vorne knallt und hinten kracht.‹ Hat das Peslep gehört?« fragte er.

»Nein«, sagte Havant. »Der Mörder muß es auf der Leiche liegengelassen haben. Am besten seht Ihr es Euch selbst an.«

Cranston und Athelstan dankten dem Menschenfischer und gingen mit Havant auf die Straße hinaus.

Die Glocken der Stadt läuteten zum Vormittagsgebet. Die Händler und ihre Kunden ignorierten diese Einladung jedoch, machten einfach Pause, um etwas zu essen und zu trinken. Deshalb herrschte jetzt weniger Gedränge, und man kam leichter durch Straßen und Gassen. Dennoch war Athelstan erschöpft, als sie endlich beim »Tintenfaß« ankamen. Havant stürmte mit Riesenschritten voran, und Sir John nahm die Herausforderung begierig an und war wie immer darauf bedacht, zu zeigen, daß er ein kraftvoller Ritter sei, der es mit den Jüngsten und Besten aufnahm.

Vor der Schenke »Zum Tintenfaß« hatte sich eine stattliche Menge versammelt. Bogenschützen aus dem Tower, die den Wappenrock John von Gaunts trugen, hielten sie zurück. Havant schlängelte sich hindurch, sprach mit dem Hauptmann der Garde und führte Cranston und Athelstan dann durch den Schankraum hinaus in einen schmutzigen Hof. Ein Bogenschütze, der an einem Hühnerbein nagte und dabei mit der Schankdirne Meg tändelte, deutete mit dem Daumen nach hinten.

»Er ist da drin«, rief er. »Der Hauptmann hat ihm die Hose hochgezogen, damit er schicklich anzusehen ist. Er meinte, kein Mensch dürfe so gefunden werden.«

Athelstan öffnete die Tür. Peslep hockte zusammengesunken auf der Latrinenbank. Sein Wams war blutverkrustet von der Wunde an seinem Hals und dem tiefen Schwertstich in seinem Bauch.

»Bringt ihn heraus«, sagte Athelstan leise.

Cranston brüllte einen Befehl. Der Bogenschütze holte den Toten mit Athelstans Hilfe heraus und legte ihn auf das Steinpflaster. Athelstan erteilte ihm die Absolution und untersuchte dann die beiden Wunden. Er nahm die Börse des Mannes und leerte sie auf seiner Hand aus: Sie enthielt nichts außer einigen Münzen, einem Stück Bimsstein und einer kleinen Christophorus-Medaille.

Athelstan sprach ein kurzes Totengebet, segnete den Leichnam und stand auf. Der Wirt, das Gesicht in künstliche Trauerfalten gelegt, kam händereibend heraus und verdrehte die Augen zum Himmel.

»Der Herr erbarme sich!« heulte er. »Der Herr sei uns gnädig! Wir werden noch alle in unseren Betten erschlagen!«

»Ach, halt’s Maul«, knurrte Cranston. »Keine Sorge, Wirt – man wird den Leichnam wegschaffen. In einer Stunde kannst du wieder Geld machen. Was ist denn hier passiert?«

»Ich habe einen Läufer zum Tower geschickt«, stammelte der Wirt. »Das ist ja Luke Peslep, Schreiber in der Kanzlei vom Grünen Wachs.«

»Du hast den Jungen nicht zum Tower geschickt«, sagte Meg verächtlich.

»Herr im Himmel, so fasse dich doch!« herrschte Havant ihn an. »Du hast den Jungen in die Kanzlei an der Fleet Street geschickt. Ich war dort, als er eintraf.«

Der Wirt machte eine fahrige Geste, zog einen schmutzigen Lappen aus der fettigen Schürze und wischte sich damit durch das Gesicht. »O Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich! Ihr habt ja recht, Ihr habt ja recht! Ich dachte nur immer, wir sollten zum Tower laufen, vielleicht sind ja die Franzosen gelandet!«

Cranston packte den Mann bei der Schulter und quetschte sie. »Mein lieber Freund!« sagte er. »Ein königlicher Schreiber wurde ermordet, und du blökst hier wie ein Lamm.«

»Ich habe nichts gesehen«, wimmerte der Wirt.

»Zu sehr damit beschäftigt, die Gäste im Auge zu behalten«, bemerkte Meg vielsagend.

Athelstan winkte sie herbei und drückte ihr einen Penny in die schwielige Hand. »Was hast du gesehen, Mädchen?«

Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Peslep kam wie immer her, um zu frühstücken. Wie immer quetschte er mir die Titten, saß da wie ein Fürst und stopfte sich voll, und wie immer ging er nachher hinaus zum Abort, um sich zu erleichtern.«

»Und?«

»Mehr weiß ich nicht. Ich habe niemanden gesehen, der ihm nachging. Simon, der Hüttenmeister, ging hinaus, weil er die Blase vom Bier voll hatte. Wir hörten ihn schreien. Den Rest wißt Ihr.«

»Hast du heute morgen jemanden in der Schenke bemerkt? Einen Fremden?«

Das Mädchen schloß die Augen und legte das Gesicht in Falten. »Ein paar Bettler waren da«, sagte sie. »Ach ja, und ein junger Mann.« Sie öffnete ein Auge und deutete auf Havant. »Er war gekleidet wie Ihr. Gute Kleider. Und er trug einen Soldatengürtel und hohe Lederstiefel mit Sporen.«

Havant lächelte düster. »Aber ich war es nicht?«

»O nein, Sir«, antwortete sie kokett. »Ihr seid ja viel hübscher.«

»Du hast also sein Gesicht gesehen?« fragte Athelstan.

»Er war glatt rasiert«, sagte Meg. »Aber richtig gesehen habe ich ihn eigentlich nicht, Pater. Ich hatte zuviel zu tun.«

Cranston, der schwankend und mit halbgeschlossenen Augen dagestanden hatte, schmatzte jetzt geräuschvoll mit den Lippen. »Ich sage euch was«, begann er. »Wirt!« Er nahm die Münzen, die Athelstan aus der Börse des Toten genommen hatte. »Laß den Verstorbenen wegbringen.«

»Wohin denn?«

»In deine Gemeindekirche.« Cranston packte das Handgelenk des Mannes und drückte es. »Sag dem Pfarrer dort, Sir John Cranston ersuche ihn, den Mann zu beerdigen.«

Der Wirt ging davon, und Meg folgte ihm.

»Warum wart Ihr in der Kanzlei?« fragte Cranston.

Havant zuckte die Achseln. »Auf Befehl des Regenten, Sir John. Ich sollte dort berichten, daß man Chapler tot aufgefunden hatte.«

»Und?«

»Sie waren sehr bestürzt. Und dann kam der Junge aus der Schenke.« Havant schaute in den blauen Himmel hinauf. »Sir John, ich muß gehen.« Er lächelte Athelstan zu, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Schankstube.

Cranston setzte sich auf eine Holzbank und starrte mit düsterer Miene auf die Leiche, während Athelstan den Hof inspizierte.

»Da wirst du nichts finden«, stöhnte der Coroner. »Der hier kam wie ein Dieb in der Nacht.«

Athelstan ging zur Rückseite der Latrine und öffnete dort ein kleines Pförtchen, das in eine schäbige Gasse hinausführte. Er spähte auf und ab. Am hinteren Ende spielten ein paar Kinder mit einer zahmen Kröte unter den Augen einer räudigen Katze, und am anderen Ende führte ein Durchgang zwischen eng beieinanderstehenden Häusern in eine Straße hinaus. Athelstan schloß das Pförtchen, kehrte zu Sir John zurück und setzte sich neben ihn.

»Zu viele Morde«, murmelte der Coroner und rieb sich das Gesicht. »Bruder Athelstan, ich brauche eine Erfrischung.« Er stieß seinem Gefährten den Ellbogen in die Seite, aber der war gedankenverloren. »Worüber denkst du nach, Mönch?«

»Der Ordensbruder, Sir John, ist ratlos: nicht nur angesichts des toten Drayton. Da bekommt Chapler eins über den Schädel und wird in die Themse geworfen, und nun wird Peslep auf der Latrine erstochen.«

»Soll heißen?« fragte Cranston.

»Die Schreiber wurden von jemandem ermordet, der alle ihre Gewohnheiten und Gebräuche kannte.« Athelstan seufzte. »Ich wette, es war Chaplers Gewohnheit, in der Kapelle von St. Thomas à Becket zu beten, und Meg hat uns soeben erzählt, daß Peslep die Angewohnheit hatte, jeden Morgen hierherzukommen.«

»Und der Mörder?«

»Dieser junge Mann«, sagte Athelstan. »Er kam mit seinem Soldatengürtel hier herein. Er wartete, bis Peslep hinausging, und folgte ihm dann. Es dürfte ein Kinderspiel gewesen sein: Peslep sitzt auf dem Lokus, die Hose hängt ihm um die Knöchel – die Tür fliegt auf, ein Stich in den Bauch, ein zweiter in die Kehle, und dann flüchtet der Mörder durch die Gasse. Kommt, Sir John.« Athelstan erhob sich. »Wir werden noch früh genug eine Erfrischung bekommen. Laßt uns in die Kanzlei gehen.«

»Lieber nicht«, sagte Cranston.

»Sir John?«

»Die Morde an den Schreibern sind wichtig, Bruder, aber mir sitzt der Regent im Nacken. Ich will noch einmal in Draytons Haus gehen. Ich will dieses Kontor von oben bis unten durchsuchen.«

»Sir John«, widersprach Athelstan, »wir sind jetzt in der City. Die Chancery Lane ist ganz in der Nähe. Der Mord an Drayton geht auf einen gewieften Verstand zurück, nicht auf einen geheimen Gang. Außerdem …« Er zog das Pergament aus der Tasche. »Weshalb hat man diese Rätsel hinterlassen? Welche Botschaft wollte der Mörder damit übermitteln? Ich glaube, Sir John, daß Peslep und Chapler von einem der ihren ermordet wurden, von einem anderen Schreiber. Also hoch mit Euch, Sir John. Wir haben nicht einmal Mittag.«

Cranston fügte sich widerstrebend und verbarg seine bittere Enttäuschung darüber, daß er nicht ins »Heilige Lamm Gottes« gehen und sich dort eine saftige Fleischpastete bestellen konnte. Sie verließen das »Tintenfaß«, nicht ohne daß Cranston dem Wirt noch einmal seine Anweisungen bezüglich des toten Peslep zubrüllte, und dann wanderten sie durch die Cheapside, an den Shambles vorbei, dem lärmenden Fleischmarkt vor dem Gefängnis von Newgate, und in die Holborn Street. Eine Zeitlang mußten sie warten. Eine reisende Schauspielertruppe hatte Zuschauer um sich versammelt, all die Leute, die sonst auf der Straße herumlungerten oder auf den Kirchentreppen lagerten. Jeder, der auch nur einen Augenblick Zeit hatte, drängte auf ein nahe gelegenes Stück Ödland, um der springenden, feuerschluckenden, seiltanzenden Künstler- und Gauklertruppe zuzuschauen. Auch grellbunt gekleidete Huren hatten sich herangedrängt, und wo Sir John Cranston erkannt wurde, vernahm man den einen oder anderen Pfiff, aber die großmäuligen Burschen, die Falschspieler und Taschendiebe hielten sich wohlweislich von ihm fern.

Endlich gelang es Sir John, brüllend und die schinkengroßen Fäuste schüttelnd, eine Gasse freizukämpfen. Sie kamen an der Herberge des Bischofs von Ely vorbei und gelangten ins Anwaltsviertel. Hier wimmelte es von nüchtern gekleideten Männern in pelzverbrämten Roben, Schreibern und Kanzleidienern in dumpfen Braun- und Grüntönen. Sie bogen in die Chancery Lane ein, und Cranston blieb vor einem großen, schwammfleckigen vierstöckigen Haus stehen. Die Fenster waren staubig, der Putz und das Holzwerk verblaßt und bröckelig.

»So war es schon, als ich noch ein Knabe war«, bemerkte Cranston und ließ den eisernen Türklopfer, der wie ein Federkiel geformt war, niederfahren. Dann hob er den Zeigefinger und wackelte damit vor Athelstans Gesicht. »Ein veritables Haus der Geheimnisse.«

Er wollte noch weitererzählen, als die Tür aufging. Der Mann, der sie begrüßte, trug trotz der Wärme eine pelzverbrämte Robe, die vom Hals bis zu den Pantoffeln reichte. In der einen Hand hielt er ein Augenglas, in der anderen einen Federkiel, und seine Finger waren tintenfleckig. Sein Haar war schütter, sein Gesicht grau und faltig. Seine Augen blickten hell, und die Nase war scharf und spitz wie ein Federkiel. Blutlose Lippen schürzten sich vor Ärger über die Störung.

»Worum geht’s, ihr Herren?« Er kratzte sich den dürren Hals.

»Um Angelegenheiten des Königs«, sagte Cranston und schob ihn beiseite.

»Aber da soll doch – ich bitte um Vergebung, Sir.« Der Mann packte Cranstons Arm.

»Wer seid Ihr?« kläffte der Coroner.

»Tibault Lesures, Meister der Urkunden. Wie könnt Ihr es wagen …«

Cranston ergriff seine Hand. »Sir John Cranston, Coroner der Stadt London, und ich komme auf den ausdrücklichen Befehl des Regenten. Dieser Mönch ist Bruder Athelstan, Pfarrer von St. Erconwald und mein Secretarius.«

»Warum sagt Ihr das nicht gleich?« Lesures streckte den Kopf vor wie ein erbostes Huhn. Er zupfte an dem Bastgürtel, der seine Taille umschlang, und lächelte Athelstan an. »Ihr kommt wegen der Morde?« Er schnalzte mit der Zunge. »Junge Männer, in der Blüte ihres Lebens ermordet. Gewalttätige Zeiten, Pater! Der Satan ist stets ein Mörder, und Kain hat mehr Söhne als Abel. Nun ja, dann kommt.«

Er führte sie durch einen düsteren Korridor, vorbei an Kammern, in denen Schreiber und Kopisten kritzelten, Abschriften oder Entwürfe von Dokumenten anfertigten. Am Fuße der Treppe drehte Lesures sich um. »Die Kanzlei vom Grünen Wachs liegt an der ersten Galerie. An der zweiten liegt die Kanzlei vom Roten Wachs, und an der …«

»Danke«, sagte Cranston. »Ich habe hier schon selbst gearbeitet, Master Tibault.«

»Wirklich?« Lesures wurde sehr freundlich.

»Bitte!« beharrte Cranston.

Lesures führte sie die Treppe hinauf, die Galerie entlang und in einen großen Raum, der behaglicher eingerichtet war als die anderen, an denen sie vorbeigekommen waren. Damastvorhänge und bunte Wandteppiche hingen über dem holzgetäfelten Sockel zwischen Schilden mit den Wappen von England, Frankreich, Schottland und Kastilien. Der Fußboden war aus poliertem Holz. Hohe Pulte und Hocker standen in säuberlicher Anordnung, aber sie waren jetzt leer. Vier Schreiber waren am hinteren Ende eines langen Tisches versammelt, der sich mitten durch das Zimmer erstreckte. Sie standen um eine blonde junge Frau herum, die auf einem Stuhl saß und das Gesicht in den Händen verbarg.

Die jungen Männer blickten auf, als Cranston herankam. Sie waren alle Anfang Dreißig und trugen Wams, Strumpfhosen und weiße Hemden mit sauberen, gestärkten Stehkragen. Sie sahen adrett und ordentlich aus, und alle trugen den Kanzleiring an der linken Hand. Athelstan entsann sich, daß die Kanzlei stets nur die Besten aus den Hallen von Oxford und Cambridge anzuwerben pflegte, junge Männer aus guten Familien. Einige wurden dann Kirchenmänner, während andere, sofern sie die Gunst des Königs gewannen, zu Sheriffs, Gerichtsbeamten oder königlichen Bevollmächtigten aufstiegen.

Lesures machte sie bekannt. William Ollerton, klein und stämmig, das glattrasierte Gesicht von einer Narbe entstellt, die von der Nase zum Mund führte. Sein dunkles Haar war sorgsam eingeölt, und er trug einen Ohrring an einem Ohrläppchen. Ein rechter Stutzer, dachte Athelstan. Robert Elflain war lang und dünn wie ein Speerschaft; sein arrogantes Gesicht war geringschätzig in Falten gelegt, und seine Augen blickten wachsam. Thomas Napham war groß, breit und pausbäckig. Er war nicht so säuberlich frisiert und wirkte nervös, als sei er eifrig darauf bedacht, zu gefallen. Schließlich Andrew Alcest, anscheinend der Anführer der Gruppe: von lockerer Haltung und ziemlich mädchenhaft mit seinem glatthäutigen Gesicht und den großen runden Augen. Dennoch spürte Athelstan bei ihm eine gewisse Bosheit: Hier war ein Mann, der trotz seines unschuldigen Aussehens zum Ränkeschmieden neigte wie eine Katze zum Mausen.

Die Schreiber reichten Sir John und Athelstan die Hand und traten dann beiseite. Die junge Frau, die sie umdrängt hatten, saß immer noch auf dem Stuhl und stützte das Kinn auf den Handballen. Tränenreich lächelte sie Cranston an, der turmhoch über ihr aufragte. Athelstan bemerkte, wie anziehend ihr Gesicht aussah – nicht schön, aber hübsch mit den großen grauen Augen und dem süßen Mund, reizvoll trotz der Tränen, die ihr über die Wangen rollten. Sie sah müde aus. Kastanienbraune Haarsträhnen lugten unter ihrer Wollhaube hervor. Athelstan sah die Schlammspuren an ihrem grauen Mantel, der über der Stuhllehne hing. Ihr Mieder und das hochgeschlossene Kleid waren zerknüllt und staubig wie nach einer Reise. Sie trug einen Ring am Finger und ein silbernes Kreuz an einer Kette um den Hals, aber das war ihr einziger Schmuck. Der Ordensbruder war fasziniert von ihren Fingern, die lang und schlank waren. Er bemerkte die Einkerbungen an den Nägeln und fragte sich, ob sie wohl als Stickerin oder Näherin arbeitete. Cranston starrte weiter glückselig auf sie herab, bis die junge Frau einigermaßen verstört blinzelte und sich hilfesuchend Athelstan zuwandte.

»Sir John Cranston, Mistress«, erklärte Athelstan. »Der Coroner der Stadt. Wir sind hier, um die Morde an Luke Peslep und Edwin Chapler zu untersuchen.«

»Gut!« rief die Frau, und ihre Miene verhärtete sich. Sie erhob sich, ergriff Cranstons Hand und küßte sie, ehe er sie daran hindern konnte. »Ich bin Edwins Schwester, Alison Chapler. Ich habe die Nachricht soeben bekommen, Sir John. Ich verlange Rache und Gerechtigkeit für den Mord an meinem Bruder.«

Tödliches Rätsel

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