Читать книгу Tod auf der Themse - Paul Doherty - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDas schwere Unwetter, das die Südküste Englands verwüstet hatte, war jetzt über die nördlichen Meere zu den eisigen Ländern gezogen, wo fellbekleidete Männer namenlosen Göttern Opferfeuer entzündeten. Von London bis Cornwall ließen sich die Chronisten der Klöster in allen Einzelheiten darüber aus, wieso das Unwetter eine Gottesstrafe gegen ein sündhaftes Königreich gewesen war. Und tatsächlich hatte der Zorn Gottes in den letzten paar Monaten sich unübersehbar ausgetobt. Eine mächtige französische Flotte unter dem Piratenkapitän Eustace, dem Mönch, hatte die Städte entlang der Südküste überfallen und ausgeplündert. Die Einwohner von Rye in Sussex hatten in ihrer Kirche Zuflucht gesucht. Dort hatten sie die französischen Korsaren einfach eingesperrt und das Gotteshaus bis auf die Grundmauern niedergebrannt; ohne auf die Schreie der Eingeschlossenen zu achten, hatten sie gestohlene Karren mit Silber, Teppichen und Lebensmitteln aus den geplünderten Häusern beladen.
Die französische Flotte hatte sich zurückgezogen. London mit seinen Bastionen hatte nun Ruhe, während der graue Herbst in einen eisigen Winter überging. Schiffe lagen auf der Themse vor Anker und zerrten an ihren Trossen. Die Matrosen hatten Urlaub und vergnügten sich in der Stadt; nur Rumpfmannschaften waren an Bord geblieben und riefen die Stunden aus. Auf einem Schiff aber, auf der großen Kogge God’s Bright Light, war alles still. Die Laterne hoch oben am Mast flackerte und blinkte im kalten, grauen Licht der Morgendämmerung. Das Schiff bewegte sich knarrend und schwang an seiner Ankertrosse in der schwarzen, träge fließenden Themse sanft hin und her. Die Kräne auf St. Paul’s Wharf standen regungslos da, und die Türen der Lagerschuppen waren verrammelt und verschlossen. Nur hin und wieder schlich eine Katze auf der Jagd nach fettbäuchigen Mäusen und geschmeidigen Ratten über die Rollen ölgetränkter Taue, die Holzstapel und die dicken, eisenberingten Salzfässer, die hier standen.
Für die Mäuse und Ratten war es eine Nacht des Überflusses gewesen; sie waren von den Müllhaufen heruntergekommen und unter den Türen der Lagerschuppen hindurchgeschlüpft, um dort an Kornsäcken und an großen, saftigen, in Leintücher gewickelten Schinken zu knabbern. Natürlich mußten sie erst einen Spießrutenlauf zwischen all den Katzen hinter sich bringen, die ebenfalls hier jagten. Eine Ratte, wagemutiger als die anderen, huschte auf dem Kai entlang, schlitterte die schimmelfeuchten Stufen hinunter und schwamm auf die Ankertrosse der Kogge zu; ihr öliger Leib dümpelte auf den Wellen des Flusses. Die Ratte war eine eifrige Jägerin, so gewandt und verschlagen, daß sie drei Sommer überlebt hatte und schon grau um die Schnauze geworden war. Vorsichtig benutzte sie die kleinen Krallen wie auch den Schwanz, um am Tau hinaufzukriechen, und dann glitt sie durch die Klüse auf das Deck. Dort verharrte sie, reckte den spitzen Kopf in die Luft und schnupperte. Irgend etwas stimmte hier nicht – mit ihrer empfindlichen Nase witterte sie Schweißgeruch, vermischt mit Parfümduft. Die Ratte war angespannt, und die Muskeln des schmalen, schwarzen Körpers wölbten sich über den Schultern. Die kohlschwarzen Knopfaugen spähten durch den Nebel, der gespenstisch über das Deck wehte; die Ohren lauschten aufmerksam in die Stille und warteten auf das leise Wischen eines Katzenschwanzes oder das rauhe Knarren von Holz, wo ein anderer Räuber über die Planken pirschte. Aber sie bemerkte nichts Ungewöhnliches, und so schlich sie weiter. Dann erstarrte sie jäh, denn jetzt waren Geräusche zu hören -der dumpfe Stoß eines Bootes, das längsseits kam, gefolgt vom Klang menschlicher Stimmen. Die Ratte witterte Gefahr; sie machte kehrt, lief zur Klüse zurück und wieselte die Ankertrosse hinunter. Lautlos glitt sie ins Wasser und schwamm zurück zum Ufer, wo die Zähne eines räudigen Katers sie erwarteten.
Es war ein kleines Marketenderboot, das die Ratte verschreckt hatte, und die Stimmen gehörten einem Matrosen und seiner Begleiterin, einer jungen Dirne vom Fischmarkt bei der Vintry. Der Seemann versuchte, die Hure dazu zu überreden, die Jakobsleiter mit ihm hinaufzuklettern. Ihr blondes Haar war schon vom Flußnebel durchfeuchtet, und die grelle Schminke verlief auf ihrem Gesicht. Er schwankte trunken und einigermaßen gefährlich in dem Boot.
»Komm schon«, lallte er. »Rauf mit dir! Und wenn du mir gefällig warst, kannst du auch die anderen haben. Jeder wird dir eine Münze bezahlen.«
Das Mädchen spähte an der halsbrecherischen Strickleiter hinauf und schluckte heftig. Der Matrose hatte sich bereits großzügig gezeigt und ihr einen ganzen Silbergroschen gezahlt. Jetzt hatte er sie hergebracht, damit sie hier mit ihm und den armen Unglücksraben, die als Schiffswache zurückgeblieben waren, weiterschmuste. Sie sah, wie er eine Silbermünze zwischen den Fingern drehte.
»Heirate und zur Hölle mit dir!« Es war ihr Lieblingsfluch, den sie da hervorstieß. Sie packte die Strickleiter, und während der Seemann hinter ihr seine Hände unter ihre Röcke schob, um sie anzutreiben, kletterte sie über die Reling an Deck. Der Seemann folgte und purzelte neben ihr auf die Planken, schwer atmend, mit einer Mischung aus Flüchen und unterdrücktem Kichern. Das Mädchen stand auf.
»Na los doch!« zischelte sie. »Beim Geschäft kommt’s auf die Zeit an, und Zeit ist Geld. Wo sollen wir es machen?«
Sie schlang die dünnen Arme um den Leib des Matrosen, preßte sich an ihn und fing an, sich zu bewegen. Grinsend packte der Seemann die gefärbten Haare des Mädchens und zog ihren Kopf an seine Brust. Er war hin- und hergerissen zwischen der Erregung in seinen Lenden und dem bohrenden Argwohn in seinem biervernebelten Verstand, daß hier etwas nicht stimmte.
»Das Schiff ist zu ruhig«, knurrte er. »Bracklebury!« rief er dann. »Bracklebury, wo steckst du?«
Das Mädchen wand sich. »Bist du einer von denen, die es gern haben, wenn jemand zuschaut?« flüsterte sie.
Der Matrose schlug ihr klatschend auf den Hintern und spähte in die dunstige Finsternis.
»Verdammt, hier stimmt was nicht«, murmelte er.
»Ach, komm!«
»Verpiß dich, du kleine Nutte!« Grob stieß er das Mädchen von sich, packte haltsuchend die Reling und taumelte über das Deck. »Christus erbarme sich«, hauchte er. »Wo sind die nur alle?« Er schaute an der Schiffswand hinunter, ohne die Hure zu beachten, die leise maulend am Fuße des Mastes saß. Dann spähte er über den vernebelten Fluß. Gleich würde der Morgen dämmern; auf dem Wasser konnte er andere Schiffe erkennen, und er sah auch ein paar Gestalten, die sich auf den Decks hin und her bewegten. Die kalte Morgenluft pustete ihm den Bierdunst aus dem Schädel.
»Sie sind weg«, flüsterte er bei sich.
Er starrte hinunter auf das dunkle, rauhe Wasser der Themse und blickte dann erneut übers Deck. Das Beiboot lag noch vertäut auf den Planken. Ohne auf das Flehen der immer noch am Mast kauernden Dirne zu achten, rannte er zum Achterkastell und stieß die Tür zur Kajüte auf. Die Öllampe an ihrem schweren Haken leuchtete ganz friedlich. Drinnen war alles unberührt, sauber und in bester Ordnung. Der Matrose stand stocksteif und breitbeinig da und wiegte sich mit den sanft rollenden Bewegungen des Schiffes; er lauschte dem Knarren von Spanten und Planken und dachte an die unheimlichen Geschichten, die er und seine Kameraden sich auf mitternächtlichen Wachen erzählt hatten. War hier Magie am Werk gewesen? Waren Bracklebury und die anderen beiden Besatzungsmitglieder weggezaubert worden? Auf natürlichem Wege hatten sie das Schiff jedenfalls nicht verlassen – das Boot war noch da, und das eiskalte Wasser dürfte selbst den verzweifeltsten Matrosen kaum dazu verlocken, die Freuden der Stadt schwimmend zu erreichen.
»Bracklebury!« schrie er, als er aus der Kajüte kam. Aber zur Antwort knarrte und ächzte nur das Schiff. Der Matrose schaute zum Mast hinauf und sah die Nebelschleier, die ihn umwehten. »Was ist denn los?« heulte die Dirne.
»Halt’s Maul, du Luder!«
Der Seemann trat zur Reling. Er wünschte, er wäre nie zurückgekommen.
»God’s Bright Light!« höhnte er bei sich. »›Das helle Licht Gottes‹? Aber dieses Schiff ist verflucht!«
Kapitän Roffel war ein leibhaftiger Teufel gewesen. Jahre der blutigsten Kämpfe auf See hatten den Matrosen abgehärtet, doch selbst in ihm war Mitleid aufgeflackert, als er gesehen hatte, wie skrupellos Roffel mit den französischen Gefangenen umgesprungen war. Doch jetzt war Roffel tot, hingerafft von einer plötzlichen Krankheit. Sein Leichnam war, in Ölhäute gewickelt, an Land gebracht worden, und seine Seele war wahrscheinlich zur Hölle gefahren. Den Matrosen schauderte es, als er sich der Dirne zuwandte.
»Wir schlagen wohl besser Alarm«, sagte er, »was immer das noch nützen mag. Der Satan war auf diesem Schiff!«