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Das zweite Kapitel.

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Der Fischer Kajetan feierte seinen Namenstag. Deshalb arbeitete er nicht. Wenn er nicht den Namenstag hatte, arbeitete er auch nicht. Es war eine schöne Gleichmässigkeit in seinem Leben.

Falls Kajetan überhaupt einmal etwas tat, tat er es nur zu seiner Unterhaltung. So, wenn er seinem Knecht Befehl gab, wie er die Fischreusen auslegen, oder wie er einen Pfahl oder eine Planke teeren, oder zu welchem Preise er die Barsche und zu welchem die Schleien verkaufen sollte. Der Knecht beachtete diese Befehle niemals, aber Kajetan hatte das Gefühl, er sei ein tüchtiger Mann seines Gewerbes, überall vonnöten und überall die wichtigste Person.

Am Morgen dieses schönen siebenten Augusttages nun lag Kajetan im Grase am Ufer des Flusses, ganz in der Nähe seiner Fischerhütte, blies den Rauch seiner Pfeife in die sonnenblaue Luft, blinzelte manchmal schläfrig über die Wasserfläche nach der Insel hinüber und gähnte oder betrieb einen lässigen Kampf mit einer Brummfliege, die seine grosse Spitzbubennase bedrohte. So befand er sich wohl und hatte nur den einen Wunsch, dass der Knecht nicht allzuspät aus der Stadt zurückkommen und ihm die bestellte Flasche Wacholderschnaps bringen möge.

Die Luft war still, die Sonne schien warm, das Wasser gluckste träumerisch am Ufer, und Kajetan schlief ein. Als er aber kaum zwei Stunden geschlafen hatte, rüttelte ihn eine kräftige Hand an der Schulter, und eine lachende Stimme sagte:

„Heda, Mann, tut Euch keinen Schaden; denn Eure Nase singt ein so lautes Lied, dass sie heiser werden wird, und es wäre schade um ihre schöne Stimme.“

„Meine Nase geht Euch nichts an,“ sagte Kajetan verschlafen und rieb sich die Augen. „Wer seid Ihr?“

„Dieser oder jener,“ erwiderte der Fremde leichthin, „ich möchte nur gern hinüber nach der anderen Seite — ins Klösterliche — und da ich vermute, dass Ihr der Fährmann seid, so muss ich Euch zu meiner Betrübnis aus dem wohlverdienten Schlummer wecken.“

„Hinüber ins Klösterliche?“ wiederholte Kajetan gähnend. „So wartet, bis mein Knecht aus der Stadt zurück ist, er kann nicht mehr lange sein.“

„Ja, könnt Ihr selbst mich denn nicht hinüberfahren?“ fragte der Fremdling. „Ich sehe doch, dass Euer Kahn leer steht und dass Ihr auch Zeit habt!“

„Zeit! — Zeit hat jeder! Aber seht, mein Knecht ist ein fauler Bursche. Er tut den langen lieben Tag nichts, und ich sehe nicht ein, warum ich eine Arbeit, wenn es wirklich einmal eine solche gibt, für ihn verrichten sollte.“

„Das ist richtig, edler Meister!“ erwiderte der Fremdling belustigt und setzte sich zu Kajetan ins Gras. „Man soll sich nie überstürzen. Wenn die Menschen alles doppelt so langsam täten, als sie es tun, gäbe es doppelt mehr glückliche Leute auf der Welt.“

Kajetan sah ihn beifällig an und dachte bei sich: dieser ist ein Mann von Bildung, den du über dies und das ausfragen kannst. So sagte er:

„Bleibt immer ein wenig bei mir. Es liegt sich gut hier. Und wenn Ihr mir einen Gefallen tun wollt, so erzählt mir was. Wir leben hier so einsam und verlassen, dass wir nicht das mindeste von dem wissen, was in der Welt vorgeht.“

„Kommt Ihr nicht manchmal nach der Stadt?“

„Nein, bis nach der Stadt sind es anderthalb Stunden Weg, und ich sehe nicht ein —“

„Ihr seht nicht ein,“ unterbrach ihn der andere, „warum Ihr dahin nicht lieber Euern Knecht gehen lassen sollt. Da habt Ihr ganz recht!“

„Ja,“ sagte Kajetan; „er ist sowieso ein fauler Bursche, er soll nach der Stadt gehen, nicht ich!“

„Erzählt er Euch denn nichts, wenn er zurückkommt?“

„Keine Spur! Er ist sehr dumm und heimtückisch. Ich sehne mich immer nach Neuigkeiten; aber es ist niemand da, der mir etwas erzählt. Wir sind ja hier wie verschollen. Alle Leute, die in den Dörfern hier herum und in der Stadt leben, sind sehr dumm und schlecht. Da freut man sich, wenn einmal einer kommt, der in der Welt herum ist. Das seid Ihr doch? Denn so seht Ihr aus! Ihr könnt nicht aus der Gegend sein!“

Der Fremde, ein starker schöner Jüngling in schmucker Wandertracht, nickte mit dem Kopf und sagte, ja, er sei weit her und es passiere schon so allerlei draussen in der Welt, und wenn es Herrn Kajetan recht sei, wolle er ihm gern einige pläsierliche Neuigkeiten zum besten geben.

Darauf erzählte der Fremde der Reihe nach, dass die Griechen mittels eines hölzernen Pferdes die Stadt Troja erobert hätten, dass eine andere Stadt, namens Pompeji, von einem feuerspeienden Berg zerstört worden sei, und dass ein Mönch, namens Berthold Schwarz, das Schiesspulver erfunden hätte.

Kajetan hatte gespannt zugehört und sagte zum Schluss: „Von all dem erzählt mir mein Knecht, der Halunke, kein Wort und hat es gewiss doch auch schon gehört.“

„Ein Mönch — soso, ein Mönch macht das Pulver?“ fuhr er fort. „Dann gehöre ich zu seiner Kundschaft; denn ich habe auch eine Flinte und schiesse auf tausend Schritt eine Möwe im Fluge. Ich sollte sogar drüben Jäger werden.“

Er wies mit seiner Tabakspfeife hinüber nach der Insel, die im blendenden Glast der höher steigenden Sonne lag. Der Fremdling lauschte auf.

„Da drüben auf der Insel solltet Ihr Jäger werden? Wolltet Ihr denn nicht?“

„Nein,“ sagte Kajetan, „es geht mir dort zu stupid zu.“

„Aber Ihr seid bekannt auf der Insel?“

Kajetan lächelte hochmütig.

„Ich heisse Kajetan und bin der Vertrauensmann des Grafen Raimund, und ohne mich gäbe es diese Insel gar nicht.“

„Wieso?“

Kajetan zuckte die Achseln.

„Ja, wieso! Eine Insel ist eigentlich keine Insel, müsst Ihr wissen. Und zwar warum? Weil Wasser darum herum ist und weil man auf dem Wasser fahren kann. Was nützt eine Insel, wenn jeder, dem es einfällt, auf seinem Kahne hinfahren kann oder wenn die Leute, die auf der Insel wohnen, von ihr herunterkönnen?“

Der Fremde sann diesen Worten nach, ohne ihren tieferen Sinn zu begreifen.

„Erklärt es mir näher,“ bat er.

„Das will ich tun,“ sagte Kajetan, „denn Ihr habt aus dem, was Ihr wisst, auch kein Geheimnis vor mir gemacht. Diese Insel ist die Insel der Einsamen, und die Leute, die darauf wohnen, heissen Pessimisten.“

Der junge Mann sah verdutzt auf den armseligen Fischer.

„Pessimisten? — Woher habt Ihr dieses Wort?“

Kajetan lächelte wieder.

„Ja, ich behalte mir viel in meinem Kopf, auch dieses schwere Wort! Und ich hab’s von einem, der drüben auf der Insel wohnt. Der war früher ein Dichter, und jetzt ist er mein Freund. Er war der grösste unter allen Dichtern; aber die Leute kauften immer die Bücher von anderen Dichtern, die nichts taugen, und seine Bücher kauften sie nicht. Da wurde er ein Pessimist.“

Kajetan machte eine kleine Pause; dann fuhr er fort:

„Allen Pessimisten ist es so ergangen. Sie waren gut und tüchtig; alle anderen Menschen waren schlecht und dumm; aber den Dummen ging’s gut und den Klugen ging es schlecht; und da wurden sie eben Pessimisten.“

„Seid Ihr auch einer?“ fragte der andere mit einem schiefen Seitenblick.

„Natürlich bin ich einer,“ rief Kajetan und räkelte sich wieder lang ins Gras. „Oder haltet Ihr mich etwa für einen Dummen? Wenn ich kein Pessimist wäre, hätte mich der Herr Graf nicht angestellt, dass ich seine Insel bewache.“

„Ah, Ihr seid der Inselwächter?“

„Was sonst? Eine Insel ist eigentlich keine Insel, müsst Ihr wissen. Denn warum?“

„Weil Wasser drum ist,“ fiel der andere ein.

„Ja, so, das sagte ich Euch schon. Nun, wer soll verhindern, dass Leute auf die Insel fahren, die dort nichts zu suchen haben? Ich verhindere es! Wer soll verhindern, dass die Leute, die auf der Insel sind, herunterkönnen? Ich verhindere es!“

„So ist die Insel ganz abgeschlossen von der Welt?“

„Vollständig! Und zwar nicht nur durch das Wasser, sondern durch mich!“

Der andere lachte.

„Diese Insel ist also ein Stück Land, das ringsum von Meister Kajetan umgeben ist?“

„Nein, nicht ringsum. Wie könnte ein einzelner Mann eine so grosse Insel bewachen, selbst wenn er einen Knecht hat? Es gibt nur eine Landungsstelle auf der Insel, alles andere ist flaches Sandufer.“

„Die Insel ist hübsch gross!“

„O, sie ist über viertausend Schritte lang und an den breitesten Stellen an die zweitausend Schritte breit. Sie hat viele Berge, Wälder, Felder, Gänse-, Kuh- und Schafherden, Ziegen, Hasen und Hühner.“

„Wieviel Menschen wohnen darauf?“

„Achtzehn — ohne die Weiber.“

„Wieso ohne die Weiber? Zählen die Weiber nicht mit?“

„Nein, denn alles Unheil kommt vom Weibe.“

„Das habt Ihr wohl auch wieder von dem Dichter?“

„Ich habe es von ihm; aber ich weiss es auch von selbst.“

„Habt Ihr eine Frau?“

Kajetan zog mit der Hand eine Linie durch die Luft.

„Gehabt! — Futsch!“

„Gestorben?“

„Nein, ausgerückt!“

Der Fremde sah Kajetan mitleidig an. Der hatte die Stirn in finstere Falten gelegt.

„Mit ihrem Vater ist sie ausgerückt,“ knirschte er. „Er hat sie wieder nach Hause geholt, als ich sie kaum zwei Jahre lang hatte. Er sagte, sie müsse bei mir zu viel arbeiten!“

Der andere lächelte abermals.

„Das ist Pech. Und so seid Ihr also ein Pessimist geworden?“

„Jawohl, da bin ich ein Pessimist geworden und habe mir einen Knecht halten müssen, den ich nicht nötig hatte, als die Frau noch da war.“

„Wie lange lebt denn der Graf schon auf der Insel?“

„An die acht Jahre. Seine Tochter ist jetzt achtzehn.“

„Eine Tochter hat er auch?“

„Sie heisst Klotildis.“

„Ist sie schön?“

„Nein, keine Frau ist schön. Der Dichter sagt, die Schönheit der Weiber ist Schwindel. Und Klotildis braucht auch nicht schön zu sein, denn es gibt niemand etwas darauf. Der Dichter sagt, sie ist ätherisch, das soll heissen, sie ist sehr mager.“

Kajetan schloss die Augen. Von dem vielen Reden schien er müde geworden zu sein, und namentlich das Thema über die Weiber hatte ihn sehr gelangweilt. Nach einer halben Minute schon begann seine Nase die Einleitungstakte zu einer grossen Symphonie. Darauf wollte sich nun der andere nicht einlassen; er rüttelte also Kajetan und sagte:

„Schlaft nicht, lieber Meister, sondern erzählt mir lieber noch ein wenig von der Insel.“

Kajetan gab verdrossen zur Antwort:

„Ich kann mich nicht zu Tode reden. Ihr habt mir das Neueste von der Welt erzählt, und ich habe Euch von der Insel erzählt, also sind wir quitt. Jetzt will ich schlafen; denn ich bin müde und habe ausserdem heute den Namenstag.“

„Der Tausend!“ rief der andere, „den Namenstag habt Ihr? Das trifft sich gut. Da sollten wir ein Fest feiern.“

Er bastelte an seinem Reisegepäck herum und reichte Kajetan eine kleine Flasche hin.

„Da, nehmt das zum Angebinde! Lasst es Euch gut bekommen: es ist edler Burgunder.“

Kajetan war mit einem Male wieder munter. Er bedankte sich und sagte dann:

„Ich habe es bald gemerkt, dass Ihr ein Mann von Bildung seid, hätte es aber gern, wenn Ihr mir Euren Stand und Namen nennen wolltet. Ihr wisst, wer ich bin, und ich weiss nicht, wer Ihr seid, und also steht die Wage schief.“

Der Fremdling erhob sich sogleich, machte eine zierliche Verneigung und hub an:

„Gestattet demnach, edler Meister Kajetan, grosser Admiral dieser Inselflotte, dass ich mich vorstelle: Ich heisse Günther, Freier von Echtelfingen, bin der vierte Sohn meines Herrn Papa und meiner Frau Mama, stamme aus der Gegend zwischen Köln, Rom, Konstantinopel und Danzig und habe mein Leben lang nichts getan als Allotria, indem ich nämlich Jurisprudentia studierte, mit welch lächerlichem Zeitvertreib ich eben fertig geworden bin. Darauf bin ich in die Welt gezogen, um nach Herzenslust zu wandern, und habe vorläufig keinen anderen Plan, als hinüber ins Klösterliche zu fahren, wenn sich dazu durch die Rückkehr Eures Knechtes eine Gelegenheit bieten wird.“

Kajetan hatte aus dem ganzen Wortschwall nur das eine behalten, dass sein Gast und Nachbar ein Edelmann sei; er sprang also mit einer für ihn ganz unpassenden Geschwindigkeit empor, zog seine Zipfelmütze ab, so dass sein dicker, struppiger, schon etwas angegrauter Schädel in Erscheinung trat, stammelte eine Entschuldigung und erbot sich, Herrn Günther augenblicklich selber hinüber ins Klösterliche zu rudern.

Doch Günther nahm ihm die Mütze, zog sie ihm eigenhändig wieder über die Ohren, gab ihm einen sanften Stoss, der Kajetan einlud, wieder im Grase Platz zu nehmen, und sagte:

„Machen wir nur keine Faxen, lieber Freund; ich bin froh, dass ich bei Euch bin, und habe es gar nicht so eilig, fortzukommen. Ruht Euch erst ein wenig aus, sammelt Euern Geist und erzählt mir dann noch etwas von dieser geheimnisvollen Insel, um derentwillen ich in diese sehr entfernte Gegend gekommen bin.“

„Wisst Ihr schon etwas von der Blutkapelle?“ fragte Kajetan leise.

„Ja, davon hörte ich in den Herbergen weiter den Strom hinauf. Und ich hörte auch, Graf Raimund, der nun diese Insel besitzt, sei der Sohn jenes Mannes, der seine Frau an der Schwelle des Heiligtums erschlug.“

Kajetan wälzte sich mit einem Ruck nahe an Günther heran und hielt ihm seine mächtige Pranke auf den Mund.

„Pst! Um Gottes Willen — das darf niemand sagen. Das ist bei schwerster Strafe verboten. Wenn Ihr darauf zu sprechen kommen wollt, so mache ich nicht mit.“

Der Fischer flüsterte es und machte ängstliche Augen.

„Vom Herrn Grafen soll niemand sprechen, auch nicht von dem, wie er lebt und was er tut.“

„Und was tut er?“ fragte der andere unbekümmert.

„Das sage ich nicht,“ erwiderte Kajetan. „Nehmt Euren Wein zurück und lasst mich in Ruh.“

„Oho, Meisterchen, jetzt werdet Ihr unfreundlich. Wenn Ihr mir also nichts vom Grafen erzählen wollt, so erzählt mir wenigstens von den anderen Leuten, die auf der Insel wohnen.“

Aber Kajetan war misstrauisch geworden. Er berief sich darauf, dass er der Vertrauensmann des Grafen sei und dafür zu sorgen habe, dass das Leben auf der Insel ein tiefes Geheimnis bleibe.

„So — so,“ sagte der andere und sonst kein Wort mehr. Nach einer Weile hörte Kajetan neben sich ein leises Klingen. Er wandte den Kopf und sah zu seinem gewaltigen Erstaunen, dass der andere eine ganze Anzahl goldener Dukaten auf das grüne Gras gezählt hatte.

„Was macht Ihr?“ fragte er beinahe atemlos.

„Ich zähle mein Geld,“ sagte der andere lässig; „es muss noch auf einen Monat ausreichen.“

„So reich seid Ihr?“

Günther antwortete nicht. Er raffte das Gold zusammen und füllte es in einen ledernen Beutel. Dann stand er auf.

„Lebt wohl,“ sagte er; „Euer Knecht ist mir zu lange; ich werde versuchen, weiter unterhalb über den Fluss zu kommen; wenn nicht eher, dann in der Stadt, wo ja eine Brücke ist.“

„Herr, ich will Euch ja doch hinüberrudern.“

„Das nehme ich nicht an,“ sagte Günther; „es liegt mir auch nichts daran. Etwas anderes wäre es, wenn Ihr mich zur Nachtzeit einmal nach der Insel rudern wolltet. Da solltet Ihr ein paar stattliche Goldfische von mir zu fangen bekommen.“

„Herr, das darf ich nicht. Ihr dürft die Insel nicht betreten.“

„So — aber der Dichter, Euer Freund, durfte es doch wohl. Oder ist er vom Himmel geschneit?“

„Ihr seid kein Pessimist.“

Herr Günther lachte fröhlich.

„Nun, ein so arger Pessimist wie Ihr seid, bin ich immerhin auch. Also könnt Ihr es schon wagen.“

„Ich darf es nicht, Herr. Die Insel nimmt keine neuen Bewohner mehr auf, und Besuche sind ganz und gar verboten.“

„So wird sie nach und nach aussterben?“

„Das soll sie! Es sind nur ältere Eheleute auf der Insel, die keine Kinder mehr bekommen, und das Heiraten ist verboten. Der frühere Jäger fing eine Liebschaft mit der Tochter des Wasserweibes an. Die Mutter zeigte sie selber beim Inselgericht an, und die beiden Sünder wurden verbannt.“

„Was ist aus ihnen geworden?“

„Zugrunde gegangen sind sie. In die grosse Stadt gezogen, geheiratet, drei Kinder gekriegt und Arbeit von früh bis spät.“

„Das ist ja eine scheussliche Geschichte!“ sagte Günther.

„Ja, und seit der Zeit ist die Insel ganz abgesperrt, kein Mensch darf mehr hinüber oder herüber, keine Zeitung, kein Brief kommt hin.“

„Brauchen sie nicht manchmal einen Arzt, gehen sie nicht zur Kirche?“

„Der Herr Graf kennt alle Wissenschaften und kuriert die kranken Leute selber. Zur Kirche gehen sie nicht, denn sie sind Pessimisten.“

„Aber sie haben doch Bedürfnisse; sie brauchen doch Geräte, Instrumente, Kleider, Nahrungsmittel.“

„Die Insel bringt alles in Hülle und Fülle, was der Mensch braucht: Getreide, viel Obst, Wild, allerhand Tiere; und auch für das andere ist gesorgt, denn sie haben drüben einen Schneider, einen Schmied, einen Schuster, einen Leinwandweber, einen Müller, fünf Bauern und zwei Polizisten.“

Günther wiederholte langsam die Aufzählung und sagte:

„Das sind mit dem Grafen zusammen dreizehn Männer. Ihr sprachet aber von achtzehn.“

„Ja, da ist noch der Dichter, der Oberst, der Gärtner, der Hühneraugenschneider und der Narr.“

„O,“ rief Günther, „das ist eine gediegene Kumpanei! Wozu brauchen sie so notwendig einen Hühneraugenschneider?“

„Alle Pessimisten haben Hühneraugen,“ sagte Kajetan tiefsinnig.

„Und wer macht die feineren Arbeiten, so zum Exempel, wenn eine Uhr entzwei gegangen ist?“

„Sie brauchen keine Uhr,“ erklärte Kajetan. „Kein Mensch braucht eine Uhr. Wenn die Sonne steigt, ist Vormittag, wenn sie fällt, ist Nachmittag, und wenn sie gar nicht da ist, ist Nacht.“

„Was seid Ihr für glückliche Leute,“ seufzte Günther. Er schwieg eine Weile; dann sagte er:

„Der Herr Graf hat gewiss viele Bücher. Gibt er davon auch den anderen zu lesen?“

Kajetan schüttelte energisch den Kopf.

„Auf der ganzen Insel gibt es nicht ein einziges Buch. Habt Ihr gesehen, was in den Büchern für schwarze Reihen sind? Die Menschen nennen das Buchstaben. Ich aber sage Euch: das sind Heerlinien von Gauklern und Verbrechern, die darauf losmarschieren, die Menschen zu belügen und zu betrügen, ihnen das, was sie selbst an Gold in sich haben, gegen Blech und Scherben einzutauschen. Die Leute, die nicht lesen können, sind gegen sie gefeit; die anderen aber kriegen sie alle unter, und diejenigen, die die Klügsten sein wollen, zu allererst.“

„Mann,“ rief Günther bewundernd, „was habt Ihr für ein Gedächtnis; denn das habt Ihr doch auch wieder von dem Dichter!“

„Nein, das habe ich vom Herrn Grafen, der manchmal eine Andacht hält, bei der ich dabei sein darf. Die meisten auf der Insel können gar nicht lesen.“

„Auch des Grafen Tochter nicht?“

„Klotildis? Nein, die kennt keinen Buchstaben.“

Günther schlug die Hände zusammen.

„Sagt einmal, Meister Kajetan, ganz im Vertrauen: ist der Graf ganz klar im Kopf?“

Wieder fuhr Kajetan mit seiner Hand erschrocken nach dem Mund des Sprechers, der längst wieder bei ihm im Grase lag.

„Pst! Um Gottes willen! Ihr seid ein gefährlicher Mensch. Euch erzähle ich auch nicht ein Wort!“

Er äugte furchtsam nach der Insel hinüber, als könne er von dort beobachtet werden.

Nach einer Weile fragte Günther:

„Wie haltet Ihr es eigentlich mit dem Gelde, Meister Kajetan?“

Kajetan seufzte.

„Ich halte es gar nicht mit ihm, denn ich habe keines. Die Leute auf der Insel dürfen kein Geld haben, sie brauchen auch keines. Ich aber dürfte es haben und brauchte es auch; aber ich bekomme keines. Seit drei Tagen seid Ihr der erste Mensch, der um einen Dreier über den Fluss gesetzt sein will, und da ist nicht einmal der Knecht zu Hause. Was ist das für ein elendes Geschäft!“

„Ihr verkauft doch die Fische!“

„Lieber Herr, verkauft einmal Fische, wenn durch die ganze Welt dieser Fluss läuft, aus dem sich jeder selber sängt, was er an Fischen braucht. Der Fischfang bringt kaum so viel, dass ich meinen Knecht erhalten kann, der sehr viel isst und jährlich acht Taler Lohn will.“

„Was bekommt Ihr denn als Inselwächter?“

„Nichts! Alle Jahre drei geschlachtete Schweine, zwei Kähne voll Kartoffeln, zwei Kähne voll Obst und Kohl, sonst eben Hasen, junge Ziegen, Tauben, mal einen Hammel oder ein Kalb, sonst nichts, rein nichts.“

„Das ist ein Hungerleben!“ rief Günther mitleidig. „Da kenn’ ich Euch einen Mann auf den Besitzungen meines Vaters, der lebt ganz anders als Ihr. Er ist ungefähr Eures Alters und Eurer Statur, nur dass er — wie ich gleich bemerkte — viel ungeschickter und dümmer ist als Ihr. Aber was für ein Leben hat er. Er ist Zollwächter. Den ganzen Tag sitzt er in einem Lehnstuhl vor seinem schönen Zollhaus, raucht Tabak und hat die Füsse auf einem gepolsterten Schemelchen. Der Schlagbaum sperrt die Strasse ab, und wenn eine feine Kutsche kommt, springt der gnädige Herr selbst heraus, nimmt den Hut ab und sagt: „Bitte, Herr Zollwächter, lasst mich durch!“ Der Zollwächter hält die Hand auf, in die der gnädige Herr ein Silberstück legt, dann macht der Knecht die Schranke auf, der gnädige Herr steigt in den Wagen, grüsst und fährt davon, und der Knecht macht die Schranke wieder zu.“

Kajetan riss die Augen auf.

„Oh! Oh!“ Mehr brachte er nicht heraus.

„Kommt noch besser,“ fuhr Günther gleichmütig fort. „Zu dem Zollhaus gehört eine Wirtsstube. Abends erscheinen die Bürger der Stadt, der Zollwächter setzt sich zu ihnen an den Tisch, und dann geht es ans Geschichtenerzählen. Was nun überhaupt in der Welt passiert, wird erzählt. Zum Exempel, die Geschichte von den Griechen und dem hölzernen Pferde wusste unser Zollwächter schon vor drei Monaten; der Kuchenbäcker hatte sie mitgebracht. Natürlich wird viel getrunken: Wacholder, Kümmel und auch Wein. Und der Wirt hat alles umsonst.“

Kajetan warf sich weit hintenüber und strampelte mit den Beinen. Günther betrachtete ihn und sagte:

„Das erzähle ich Euch so nebenher. Was habt Ihr auch für ein Interesse an dem Zollwächter meines Vaters!“

Kajetan keuchte.

„Ist er noch gesund?“ fragte er.

„Wer? Mein Vater?“

„Nein, der Zollwächter! Hat er nicht die Gicht oder die Wassersucht oder ist er nicht wenigstens so alt, dass er bald sterben muss?“

„Nein, er ist ganz gesund, und wie ich Euch schon sagte, nur ebenso alt wie Ihr.“

„So — na dann —!“

Kajetan hieb die Faust ins grüne Gras und rührte sich nicht mehr.

Auch Günther sagte nichts mehr. Er nahm aus seinem Felleisen ein Fernrohr, schob es auseinander und suchte die Küste der Insel ab. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Kajetan diesen Vorgang bemerkte und eine Menge höchst verwunderter Fragen tat. Günther gab ihm kurze, konfuse Auskünfte und sagte am Schluss:

„Lieber Admiral, ich weiss jetzt, wo Eurer Insel verwundbare Stelle ist. Ringsum ist flache Sandküste, wo kein Kahn heran kann. Aber dort, wo am Strande die hohen Ulmen stehen und gleich dahinter der Eichenwald aufsteigt und links das Erlengestrüpp am Ufer hinläuft, da ist die Landungsstelle. Ich sehe deutlich, dass ein Eisenzaun am Ufer ist, der übrigens so niedrig ist, dass ein Schulbube darüber springen kann. Dahinter führt eine Steintreppe empor.“

„Das ist ein Teufelsrohr,“ rief Kajetan; „gebt es her, ich muss auch einmal durchsehen.“

„Mit nichten!“ erwiderte Günther zurückhaltend, „denn erstens wisst Ihr genau, wie es da drüben aussieht, und dann habe ich mir als Lebensgrundsatz auserwählt: Wer mir seinen Kahn nicht leiht, dem leihe ich mein Fernrohr nicht. Von diesem Grundsatz gehe ich niemals ab.“

Wie er das kaum gesagt hatte, stiess er einen erstaunten Ruf aus.

„Da! — Da kommt jemand über die Steintreppe herunter ans Ufer. Eine Frau! Eine Frau mit einem Pferd —“

Kajetan riss ihm das Rohr vor den Augen weg und riss ihn selbst um ins Gras.

„Um des Himmels willen, Herr, haltet Euch still; bleibt liegen — sonst sind wir verloren — das ist sie — das ist Klotildis — Klotildis mit ihrer Fuchsstute!“

Günther schob den Fischer ohne Mühe beiseite, blieb aber liegen.

„Das ist Klotildis! Sie hat Augen scharf wie das Sonnenlicht. Wenn sie Euch sieht und mich beim Inselgericht anklagt, verliere ich mein Brot!“

Kajetan weinte, als er das sagte.

„Bleibt liegen, edler Herr!“ fuhr er in kläglichem Tone fort; „wenn sie Euch auch wirklich schon gesehen hätte, kann sie immer noch meinen, es sei mein Knecht, der auch manchmal neben mir liegt, weil er ein so fauler Bursche ist.“

Günther beachtete ihn gar nicht. Halb aufgerichtet hielt er ununterbrochen sein Fernrohr nach der Insel gerichtet.

„Ah, nun geht sie fort! Was war das für ein schönes Bild!“

Neben ihm der Fischer redete, schalt, jammerte; Günther hörte nicht darauf. Er lag auf dem Rücken und sah in den blauen Himmel. Drüben über dem Wasser lebte ein Dornröschen; er hatte es gesehen, und nun sollte ihn gewiss kein Stachelwald aufhalten, bis zu der Holden vorzudringen.

„In dieser Nacht werde ich nach der Insel hinüberfahren,“ sprach er vor sich hin. „Schweigt, lieber Nachbar, lasst mich reden! Ich werde mir, noch ehe der Mond hochsteigt, den Kahn des Fischers Kajetan losbinden und hinüberrudern. Sollte mich besagter Kajetan daran hindern wollen, so würde ich ihn nehmen und mit dem Kopfe drei Minuten lang unters Wasser halten, bis er genug getrunken hätte, um stille zu sein. Sollte er sich als vernünftiger Mann erweisen, so würde ich ihm drei goldene Dukaten in seinem Kahn hinterlassen, wenn ich am Morgen zurückkehre.“

Kajetan lugte angstvoll den Waldrand entlang, von da sein Knecht kommen musste. Nach einiger Zeit kam wirklich ein Mann daher, dem Kajetan eilends entgegenlief. Es war aber nicht sein Knecht, sondern ein Landstreicher von sehr zerlumptem Aussehen, der ihm mit halbtrunkener Stimme entgegenrief:

„Seid Ihr der Fischer Kajetan?“

„Der bin ich.“

„Dann soll ich Euch schön grüssen von Eurem Knecht. Er lässt Euch sagen, Ihr wäret ein altes Faultier, und er käme nicht mehr zu Euch zurück.“

„Was? — Nicht mehr zurück — und — mein Geld — und — und mein Wacholder?“

„Der Wacholder war gut,“ schrie der Landstreicher und verschwand eilends im Gebüsch, als er Günther bemerkte.

Kajetan warf sich lang hin, dort, wo er stand, schlug mit Händen und Füssen auf die Erde, heulte und schrie:

„Ich habe keinen Knecht — ich habe kein Geld — ich habe keinen Wacholder und ich hab’ doch den Namenstag.“

„Da habt Ihr immerhin etwas!“ sagte Günther vom Ufer her.

Er liess den Mann jammern und weinen und schürte so lange seine Verzweiflung, bis Kajetan sagte:

„Nehmt den Kahn, fahrt hinüber. Mir ist alles gleich — alles gleich — ich muss ja jetzt doch verhungern!“

Nach einer Weile aber kam die Furcht wieder, und er sagte:

„Wenn Ihr nun durchaus hinüber wollt, so tut mir wenigstens den Gefallen und bindet mir vorher Hände und Füsse zusammen.“

„Ah,“ sagte Günther, „damit Ihr, wenn es doch herauskommt, die Ausrede habt, Ihr seiet überfallen und überwältigt worden.“

„So ist es,“ sagte der kluge Mann, „und damit der Herr Graf einsieht, dass ich nicht allein bleiben kann, sondern wieder einen Knecht haben muss.“

„Ich will nach Eurem Wunsche tun und Euch so fest binden, dass auch der Ungläubigste einsehen muss, dass Ihr das unschuldige Opfer einer Gewalttat geworden seid!“

Die Insel der Einsamen

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