Читать книгу Die Insel der Einsamen - Paul Keller - Страница 6
Das dritte Kapitel.
ОглавлениеDie Sonne war längst in einen fernen blauen Wald versunken, der späte Mond noch tief unter dem Horizont, da band Günther Kajetanen Hände und Füsse, fesselte ihn ausserdem noch mit einem Strick an ein Bein des riesigen Eichentisches in der Fischerhütte, wünschte dem bitterlich klagenden Manne eine geruhsame Nacht und trat hinaus ins Dunkle. Bald glitt der Nachen unhörbar über den Fluss.
In der Nähe der Steintreppe, dort, wo das Erlengebüsch über das Wasser hinaushing, barg Günther den Kahn und setzte den Fuss auf das verbotene Land.
Ein paar Grillen zirpten im Gras, ein paar Unken riefen im Wasser, sonst war tiefe Stille. Selbst die Blätter der Bäume regten sich nicht; nur Nachtschmetterlinge wiegten sich im Reigen auf dem bunten Tanzplatz schlummernder Blumen.
Günther stand eine Zeitlang, ohne sich zu bewegen. Röte zog in sein Gesicht; es wollte eine Scham in ihm aufdämmern, dass er unberufen eingedrungen war in einen so tiefen Frieden. Wie er noch so stand, sprach eine Stimme dicht hinter ihm:
„Warum geht Ihr nicht weiter?“
Günther erschrak so, dass seine Knie ein wenig bebten, und er stiess einen kurzen Schreckensruf aus. Vor ihm stand eine Frau in schwarzem Gewand. Ihr Haupt trug einen Witwenschleier. Sie war noch nicht alt, kaum über dreissig Jahre, und es quollen reiche blonde Haare unter dem Schleier hervor; aber in ihr Gesicht waren tiefe Male von Groll und Herzeleid gegraben, es war hart, und die Augen blickten tot.
„Warum geht Ihr nicht weiter?“ wiederholte sie; „fürchtet Ihr Euch?“
Günther überwand mühsam das peinliche Gefühl, ertappt worden zu sein.
„Verzeiht — verzeiht, dass ich hier — gehört Ihr zu dieser Insel?“
„Ja. Und ich hörte Euch kommen. Warum kamet Ihr hierher?“
„Aus Neugierde!“ gestand Günther.
„Das ist ein guter Grund,“ sagte sie freundlich, „ein guter Grund, wenn man jung ist. Geht nun und seht Euch um, aber lasst Euch nicht erwischen. Ich werde derweil auf den Kahn Obacht geben, dass er nicht entdeckt wird. Denn wenn Ihr auch den Fischer Kajetan ans Tischbein gebunden habt, so wird man ihm diesmal nicht mehr glauben, dass er überfallen worden sei.“
„Ah — hat er das — hat er das schon einmal so gemacht?“ fragte Günther überrascht.
„Er hat es schon zweimal so gemacht,“ sagte sie, und um ihren harten Mund ging ein Lächeln.
„Geht nun,“ fuhr sie fort, immer in mildem Ton; „aber sagt mir erst noch, ob Ihr eine Waffe tragt.“
„Ihr seht es,“ sagte Günther, „ich trage meinen Degen, und ich habe ein Pistol.“
„Ich kann es nicht sehen,“ erwiderte sie; „denn ich bin fast blind. Lasst die Waffen hier zurück!“
„Ich trenne mich nie von meinen Waffen.“
„So wird er Euch zum Duell herausfordern, wenn er Euch trifft.“
„Der Graf?“
„Nein, ein anderer.“
„Wer?“
„Ich nenne seinen Namen nicht. Er wird Euch töten.“
„Ah,“ rief Günther fröhlich; „mich hat noch keiner getötet, der mich zum Zweikampf gefordert hat.“
„Geht!“ sagte sie und machte eine Handbewegung, die eine Verabschiedung ausdrückte.
Günther verneigte sich vor ihr.
„Ich danke Euch für Eure Güte, Madame,“ sagte er und ging.
Ein Waldweg führte dicht am Flussufer hin; Erlengebüsch und Ulmenbäume säumten ihn ein. Der Weg war mit Gras bewachsen, und Günthers Schritt blieb unhörbar. Einmal zuckte er vor einer weissen Gestalt zurück; er erkannte aber bald, dass es eine verwitterte Bacchusfigur war, wohl ein Denkmal aus fröhlicher Zeit. Jenseits des Flusses ging der Mond auf. Es war noch nicht lange nach Vollmond, und so war das Licht ganz hell. Sehr vorsichtig ging Günther, immer im Schatten der Bäume. Bei einer Walddichtung blieb er stehen. Im klaren Mondschein lag eine Wiese, und mitten darauf sassen zwei Männer. Der eine war wie ein Soldat aus Kaiser Josephs Zeiten gekleidet und hielt eine Lanze, deren Schneide sein Kumpan, ein kleines, dürres Männlein im Handwerkerkittel, mit regelmässigem Streichen rieb, wobei das Männlein laut zählte: „90, 91—98, 99, 100!“
„100mal — nun wollen wir sehen, ob sie magnetisch ist!“ sagte das Männchen.
„Ja, das wollen wir sehen,“ erwiderte der Kriegsmann und nahm einen riesigen Schlüssel aus der Tasche, den er an die Klinge der Lanze hielt; der Schlüssel fiel ins Gras.
„Bist wohl verrückt, Lukas?“ schrie der Handwerker; „vielleicht willst du gleich Marzells Ambos an die Klinge hängen! Da sieh her“ — er nahm etwas Feines, Blinkendes aus der Tasche — „da sieh her, wie das hängt, wie ich sie dir magnetisch gemacht habe!“
„Für so einen Stüber gebe ich dir doch meine Tabaksdose nicht,“ knirschte Lukas, der Krieger, unmutig; „da klebe ich mir ja, wenn ich will, mit Spucke viel schwerere Dinge an meine Lanze und brauche deinen Magnet nicht. Streiche sie tausendmal, und ich werd’ mir’s mit der Dose überlegen!“
„Den Buckel werde ich dir streichen, du Lump!“ schrie jähzornig der Kleine. „Entweder du gibst mir augenblicklich die Dose oder ich streich dir die Lanze gegen den Strich und mache sie unmagnetisch.“
Der Kriegsmann das hören, seine riesige Gestalt aufrichten und mit seiner magnetisierten Lanze Reissaus nehmen, geschah alles in drei Sekunden. Der andere drohte in ohnmächtigem Zorn mit seinem Magnetstab hinter ihm her und wünschte alles Unheil der Welt über das Haupt des Betrügers. Dann legte er sich lang ins mondbeglänzte Gras und begann zu schluchzen.
Günther lachte leise. „Das sind ja Kinder,“ dachte er. Der Riese war wohl einer der Polizisten und Inselwächter, von denen Kajetan gesprochen hatte. Der liess sich also bei Mondschein seine Lanze „magnetisch“ machen und hatte keine Ahnung, dass mittlerweile ein Eindringling die verbotene Insel betreten hatte. Mit viel weniger Vorsicht ging Günther weiter. Der Weg führte ins Innere der Insel. Ein Bauernhof wurde sichtbar, ein Bild des Friedens. Das Mondlicht brach sich in den kleinen Fensterscheiben, ein Storch stand schlafend hoch auf dem Dachfirst, ein Hund steckte neugierig den Kopf aus seiner Hütte, zog ihn aber bald zurück. Ein Stückchen weiter lag eine Kuhherde auf der Weide; die schönen buntgescheckten Tiere schliefen oder kauten mit geschlossenen Augen, kaum, dass einmal der Klang einer Glocke verloren durch die Stille klang. Kein Wächter war bei den Kühen; der Hirt schlief in seiner Kammer, der Hund in seiner Hütte.
Nun stieg der Wald bergan. Zwei Hügel hatte die Insel; auf dem einen sollte die Kapelle stehen, auf dem anderen das alte Schlösslein. Welcher von den beiden Hügeln war es? Ein Weg stieg empor. Links und rechts war dichter Wald, der Weg war verwachsen von hohem Gras. Viele Jahre lang war hier keine Sichel, keine Harke mehr tätig gewesen. Dicke Stauden hatten den Weg überwuchert, die breiten Steinstufen, die den letzten Teil bergan führten, waren vom Regen verwaschen oder ganz unter Gras und Gestrüpp vergraben. Das war der Kapellenweg. Da hinauf war jahrzehntelang niemand mehr gegangen als vielleicht ein Jäger auf einsamer Pürsch. In alter Zeit, als die Marmorstufen noch weiss im Sonnenlicht schimmerten, waren hier Scharen frommer Christen singend und betend zur Gnadenkapelle gezogen, Priester und Volk, mit Fahnen und in bunten Gewändern, die Hymnen hatten über die Insel und über das Wasser geschallt, und tausend Herzen waren voll Andacht und Hoffnung gewesen; mancher auch war in tiefer Reue über eine dunkle Stunde im Leben von einer Stufe auf die andere gekniet, um Gnade zu finden und den Frieden des Herzens wiederzuerlangen.
Vergangen, verloren, vergessen! Die Farnkräuter, die zwischen den Stufen wuchsen, waren wie Palmwedel auf dem Grabe einer toten Zeit. Alle, die hier gebetet, gesungen und geweint hatten, waren weit über alle Berge und Hügel der Welt, und die letzte Frau, die hier hinaufeilte, in Todesnot, in Verzweiflung, und der letzte Mann, der ihr folgte, das wilde, schreiende Weh im Herzen und das Messer in der Hand — auch sie waren schon lange still geworden. Wie vergänglich ist der Mensch auf dieser Erde, ein Baum überdauert ihn, die Steinstufe wird hundertmal älter als der Menschenfuss, der sie tritt. Alles stolze Lachen und alles wehe Weinen verweht im Wind, ja, alles was heut gross und trotzig ist und zum Anbeten schön oder zum Verzweifeln schrecklich, ist flüchtiger als der Wind, denn der Wind weht jeden Tag, und was unser ist, ist eine kleine Weile, verschwindet in Vergessenheit und kehrt nie wieder. Kaum, dass aus den Tausend und Millionen Geschehnissen, die auch die kleinste Menschensiedelung hat, einmal eines im Gedächtnis der Menschen stehen bleibt, wie ein altes, totes, nicht mehr gebrauchtes Haus, und mit seinen ruinenhaften Umrissen einen späten Wanderer schreckt oder neugierig macht.
Günther stieg im Andenken an den tollen Grafen, der sein Weib in den Tod hetzte, den Kapellenberg hinauf. Und er fand das alte Kirchlein. Es war ein runder Backsteinbau von geringem Umfang; rechts und links hatte es ein Rundbogenfenster, das spitz zulaufende Dach trug kein Kreuz mehr. Das hatte wohl der Sturm heruntergebrochen. Aber die Fenster waren noch ganz, und die Tür war noch fest. Obwohl Günther überzeugt war, dass die Tür verschlossen sei, drückte er doch fest auf die Klinke. Da gab es einen schrillen Laut, wie den hässlichen Schrei eines Tieres, die Tür sprang auf, und dumpfe Moderluft quoll aus dem Raum, der durch das einfallende Mondlicht gut erhellt war. Günther wich erst ein wenig zur Seite, dann nahm er den Hut ab und trat in die Kapelle. Rechts und links standen zwei Reihen von Bänken, steif und feierlich, wie offene Särge. Im Hintergrund war der Altar. Über den Altartisch war ein schwarzes, arg verstaubtes Tuch gebreitet, das leere Tabernakel stand offen, die eine Hälfte seiner kleinen Tür war ausgebrochen, vier Leuchter lagen umgeworfen mit ihren gelben Kerzen auf dem Altar, eine alte Lampe ohne Licht hing von der Decke herab. Das Altarbild an der Wand war von tiefem Staub bedeckt, es war kaum noch zu erkennen, dass es eine Madonna darstellte; aber das Kreuz stand noch auf dem Altar, schief vornübergeneigt war es, als ob es die Last des sterbenden Heilands nicht länger ertrage.
Günther stand inmitten der Kapelle still. Schwere Gedanken bedrückten ihn. Das war die Kirche der Einsamen, war die Kirche des alten Grafen da unten, das Denkmal an das schreckliche Geschehnis, das seine Jugend und sein Leben verdüsterte, da der Vater die Mutter erschlug und die Kapelle entweiht wurde. Wurde auch sein Herz entweiht, war es auch so ein verlassener Tempel Gottes, in dem die Leuchter umgefallen waren und das Tabernakel leer stand, in dem alles, was fromm, lieb und gut war, unter Staub und Moder vergraben wurde? War es so ganz entgöttert, so ganz verloren, oder war noch unter Staub und Schutt ein heiliges Erinnern in ihm wie ein altes Bild; stand noch ein windschief Kreuzlein in seinem öden Raum?
Der junge Mann wandte sich rasch zum Gehen, und wie er die Tür schloss, war es wieder wie ein hässlicher Schrei, und dann war alles still. Ein fahrender Händler hatte Günther von der Blutkapelle erzählt und auch, dass jene unglückliche Frau bei ihr begraben sei. Ihr Grab würde nicht zu finden sein, meinte Günther. Vielleicht hatten die Leute der Sünderin keinen Hügel gegönnt, oder wenn sie doch einen gewölbt hatten, so würde er versunken sein, verwaschen vom Regen, zertreten von rohem Volk.
Langsam ging Günther um die Kapelle und blieb erstaunt stehen, als er einen Grabhügel sah, der ganz frisch schien; ein Strauch von roten Rosen blühte an seinem Kopfende, und zwei Kränze von ganz frischen Blumen lagen auf ihm.
Wer pflegte dieses Grab? Wer dachte in Liebe der Toten, die darin schlief? Günther nahm den Hut ab. Eine kleine Weile stand er noch in dieser wundersamen Welt, dann stieg er den Kapellenweg rasch wieder hinab. Er hatte nun das Gefühl, dass er die Insel verlassen müsse, und wollte zur Landungsstelle zurückkehren, liess sich aber durch ein zweites Bauerngehöft, das dem ersten ähnlich war, irreführen und geriet tiefer in die Insel hinein.
Von fernher kam ein leises Singen. Günther ging dem Klang nach. Er hörte bald, dass es eine gute, wohlgeschulte Stimme war, die da durch die Stille der Nacht sang. Noch unterschied er nicht die Worte des Liedes, aber wenige Schritte weiter sah Günther die Sängerin. Sie lehnte am alten Liebesbrunnen, der seinen hölzernen Arm hoch in die Luft streckte. So war also auch die Sage vom Sänger und seinem Edelliebchen kein blosser Traum, so war wirklich der grause Brunnenschacht vorhanden, über dem ein gefangenes Edelkind in eigener Todesnot den vielgetreuen Buhlen sterben sah? Ja, sass nicht dort selbst jenes schöne Mädchen im hohen Gras, ganz dicht am Brunnen? Das Mondlicht spielte mit prangendem Blondhaar, das lang herniederrann und in goldenen Wellen auf den Wiesengrund flutete. Musste es nicht jenes Schätzelein sein, um das es sich lohnte, jung zu sterben, war solche Schönheit zweimal auf der Welt?
Das Lied war aus, die letzten Worte sprachen vom Scheiden. Die Sängerin, die am Brunnen lehnte, strich sich die grauen Haare aus der Stirn und wandte sich zu dem Mädchen:
„Am besten wäre es, du hörtest niemals Lieder, Klotildis!“
„Warum?“
„Das Singen macht nur unglücklich. Wenn man ganz ruhig und friedlich ist, braucht man nur singen zu hören, und es ist aus mit der Ruhe. Man wird unruhig, man bekommt Sehnsucht. Ich wollte, ich hätte niemals einen Ton singen gehört.“
„Aber du singst so schön. Das ist, weil du es gelernt und auf dem Theater gesungen hast.“
„Rede nicht davon!“
„Warum erzählst du mir nie vom Theater?“
Die Sängerin trat dicht vor das Mädchen und sagte mit viel Bitterkeit:
„Weil es das Elendeste ist von der ganzen Welt. Weil es junge Menschen anlockt, die voller Ideale, voll königlichen Hochsinns sind, Menschen, die ausgezeichnet sind mit Gütern, die andere nicht haben, und nie mit Geld bezahlen, nie durch Fleiss erwerben können, und weil das Theater diese Menschen zwingt, tausendmal ihre Seele zu enthüllen vor unreinen Augen, sich zu verkaufen und sie selbst langsam schlecht macht. Immer aus Not!“
Das Mädchen zuckte die Achseln. Mit gleichmütiger Stimme sagte es:
„Ich denke, so, wie du vom Theater redest, so ist es doch überall in der Welt. Mein Vater sagt: Die Menschen können nur sich selbst lieben; selbst wenn sie einmal etwas Gutes tun, lieben sie doch nur sich selbst; denn sie glauben, dass sie einen Lohn dafür bekommen. Und wenn sie anständig oder ehrlich sind, sind sie es bloss, weil sie Strafe erhalten, wenn sie es nicht sind. Der Eigennutz ist die Wurzel, aus der der ganze Baum des Lebens wächst, den Satz sagte mir mein Vater oft; man sollte nur Lohn und Strafe aus der Welt wegnehmen, und wir hätten lauter wilde Tiere.“
Die grauhaarige Sängerin strich dem Mädchen über den Scheitel.
„Wie ist das traurig, dass ein junges, schönes Kind so spricht! Dass es so früh die Wahrheit weiss!“
Klotildis erhob sich; der Mond beleuchtete ihr Gesicht, das von reiner Schönheit und Frische war. Sie lachte und sagte:
„Traurig — wieso? Ich mache mir gar nichts daraus. Ich rede auch gar nicht gern von solch dummen Dingen. Du hast mich bloss darauf gebracht, weil du vom Theater sprachst. Was geht mich all das an? Was geht es dich an? Wir leben auf der Insel und haben damit nichts zu tun. Wir sind draussen! Aber weisst du, manchmal möchte ich doch in die Welt und einmal diese wilden Tiere sehen.“ Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: „Wir hier auf der Insel haben ja nicht mal richtige wilde Tiere — nur ein paar Füchse. Ich schiesse nie einen Fuchs tot; die Füchse sind mir viel lieber als die zimperlichen Rehe oder gar die albernen Hasen. Wie ich das erste Mal hätte einen Fuchs schiessen können, war ich vierzehn Jahre alt. Ich hatte ihn gut vor der Büchse; aber er beschlich gerade einen Hasen, der in seiner Todesstunde nichts besseres vorhatte, als sich seine Löffel zu putzen. Da dachte ich: Friss ihn erst, dann werde ich dich schiessen. Und er frass ihn! Er zerkrachte ihm erst das Genick, dann riss er ihm den Leib auf, trank sein Blut —“
„Klotildis!“
„O, ich habe geschaut! Und dann, wie er satt war, wollte ich ihn schiessen; aber ich dachte, vielleicht fängt er wieder mal einen Hasen. wenn ich’s sehe, und ich liess ihn leben.“
„Kind! Kind! Wenn das nur gut tut!“
Die Sängerin fasste Klotildis an der Hand, und sie gingen noch ein paar Schritt näher auf Günther zu, der hinter einer Hecke stand. Die Wangen glühten dem jungen Mann. Er war ein Lauscher. Aber — wenn es auch erbärmlich, wenn es gemein gewesen wäre, er hätte sich nicht von seinem Platze rühren können. Nein! Deutlich hörte er in der tiefen Stille des späten Abends jedes Wort.
Dann aber wandten sich die Frauen, gingen Arm in Arm über die hellbeleuchtete Wiese und ihre Stimmen waren nicht mehr deutlich zu vernehmen. Günther schaute ihnen nach und rührte sich noch immer nicht vom Platze.
Plötzlich knackte es im Gesträuch. Ehe sich Günther umwenden konnte, fühlte er, dass sich zwei riesige Pranken um seinen Hals legten, und eine mächtige Stimme brüllte:
„Ich hab’ einen! Ich haaab’ einen! Zu Hilfe! Ich hab’ einen gefangen!“
Günther machte sich mit einem kräftigen Ruck frei und sah sich Lukas, dem Mann mit der magnetisierten Lanze, gegenüber. Dieser fuhr fort zu brüllen und fasste Günther aufs neue. Im Kämpfen gerieten beide auf die offene Wiese, stolperten über des Polizeimanns grosse Lanze und wälzten sich bald darauf im Grase.
Mit einem langgezogenen schrillen Freudenschrei stürmte Klotildis über die Wiese.
„Wen hast du? Wer ist das?“
„Ich — ich weiss nicht —“ keuchte der Polizist; „ich habe halt einen — ich halte ihn fest — oooh —“
Günther befreite sich mit einer geschickten Wendung und stand auf den Füssen Er hielt die Lanze in der Hand und drohte dem sich ebenfalls erhebenden Kriegsmann.
„Vergreif’ dich nicht mehr an mir, oder ich jage dir die eigene Lanze durch den Leib, du Esel!“
Da grunzte der Polizeimann halb drohend, halb überrascht und furchtsam, dann schrie er:
„Ich hole den Oberst! Ich hole den Oberst!“ und jagte auf seinen Riesenbeinen davon.
Günther sah ihm nach, machte dann eine Verneigung vor Klotildis und sagte:
„Ihr habt keine gute Polizei hier, Komtesse. Aber es ist selbstverständlich, dass Ihr mir gegenüber gar keines Schutzes bedürft.“ Er warf die Lanze ins Gras. Klotildis bückte sich blitzschnell und ergriff die Waffe.
„Nun bleibt stehen,“ sagte sie drohend, „oder Ihr sollt sehen, wer die Lanze durch den Leib bekommt, Lukas oder Ihr!“
Sie hielt ihm die Klinge dicht vor die Brust. Günther machte eine lässige Wendung, entwand ihr die Lanze mit leichter Mühe, schleuderte sie weit von sich und sagte lächelnd:
„Gebt Euch keine Mühe! Ich bin kein Hase, und Ihr seid kein Fuchs.“
„Ooh — ooh — er hat gehorcht — hörst du, Wanda, er hat gehorcht — pfui!“
„Eine Waldwiese ist kein Boudoir, gnädiges Fräulein!“
„Wie konntet Ihr Euch erdreisten, diese Insel zu betreten?“ herrschte sie ihn an.
„Ich bin ein Wandersmann,“ sagte er gemütlich; „und die Welt ist frei. Selbst des Kaisers Gärten stehen offen.“
„Aber diese Insel steht nicht offen, Ihr werdet es büssen!“
„Nun, so werde ich es büssen!“
„Wenn Ihr einen Kahn hier habt, wie ich vermute, so macht, dass Ihr fortkommt,“ riet ihm nun die Sängerin; „es ist streng verboten, die Insel zu betreten, und Ihr setzet Euch der grössten Gefahr aus. Es war unrecht von Euch, dass Ihr hierher kamet!“
„Es war vielleicht unrecht, aber ich fürchte mich nicht,“ sagte Günther; „und ich werde die Insel nur auf Befehl dessen verlassen, dem sie gehört.“
„Sie gehört meinem Vater!“ rief Klotildis zornig.
„Nun wohl, Komtesse, so werde ich warten, bis ich mit Eurem Vater gesprochen habe.“
„Er ist frech,“ sagte Klotildis verdutzt, „komm, Wanda, wir wollen ihn stehen lassen und sehen, ob er dann nicht von selber fortläuft.“
Sie ging mit ihrer Freundin zurück zum Brunnen. Günther blieb ruhig auf seinem Platz. Da schallte das Geschrei des Polizisten durch den Wald:
„Er kommt! Der Oberst kommt! Haltet ihn! Haltet den Kerl! Der Oberst kommt!“
Der Soldat stürzte keuchend aus dem Walde, fand seine Lanze, stellte sich drohend vor Günther auf und sagte:
„Ich lass dich nicht entkommen, du Bursche!“
Günther nickte ihm lachend zu.
„Ja, wenn du willst, kannst du mich wohl an deine magnetische Lanze kleben!“
In diesem Augenblick trat eine hohe Gestalt aus dem Gebüsch. Ein Fünfziger mit energisch geformter Nase, starkem Kinn, dunklen, sehr ausdrucksvollen Augen und angegrautem Haar.
„Was geht hier vor? Wer seid Ihr? Was wollt Ihr auf dieser Insel?“
Er stellt die drei Fragen in schneller, herrischer Weise. Günther blieb ruhig. Er sagte:
„Ehe ich Euch Antwort gebe, möchte ich Euch fragen, ob Ihr der Besitzer dieses Geländes seid.“
„Nein!“
„Nun, so geht es Euch nichts an, warum und wieso ich hier bin, es sei denn, dass Ihr etwa als angestellter Nachtwächter ein Recht auf Eure Fragen hättet.“
Hei, flog der Degen des Schwarzen aus der Scheide.
„Wehre dich, du unverschämter Bursch!“
Darauf hatte Günther gewartet. Er hatte auf der Hochschule als einer der rauflustigsten Gesellen gegolten und lag im Nu im Anschlag.
Wieder schrillte ein Schrei über die Wiese, und Klotildis flog herbei und stellte sich mit blitzenden Augen dicht neben die Kämpfenden.
„Weiber weg!“ rief der Oberst und fuhr mit mächtigen Streichen seinen Gegner an. Der war ein Meister der Fechtkunst. Nach zwei Minuten schon klaffte dem Oberst eine tiefe Wunde über die Wange.
„Weiter!“
Abermals Minuten ergrimmten Kampfes. Dem Obersten rieselte das Blut vom Schädel.
„Weiter! Bursch, dich lohnt es abzustechen!“
Die Klingen klirrten, die Kämpfenden keuchten, das Mädchen stiess kurze, erregte Schreie aus, die Sängerin rang die Hände, der Polizist stand vorsichtig abseits, kein Erfolg hüben noch drüben, aber immer wilder wurde die Kampflust, immer kühner wurden Angriff und Abwehr. Nach langen Minuten erwies es sich, dass der Oberst die stärkeren Nerven hatte; kurz nachher sass seine Klinge in Günthers rechter Lunge.
„So! — So ficht ein Nachtwächter!“ rief der Sieger mit grimmer Freude. Dann beugte er sich über den Bewusstlosen.
„Es ist ein guter Kerl!“ sagte er voll Anerkennung, selber völlig erschöpft; „ruft den Grafen!“
„Kerl,“ schrie er den fassungslos dastehenden Polizisten an, „hol den Grafen, lauf schnell, oder ich schlag’ dich krumm und lahm!“
Da schulterte der Polizist Lukas seine Lanze und raste davon.
„Ist er tot?“ fragte Klotildis und beugte sich mit weit geöffneten Augen über Günther.
„Nein!“ sagte der Oberst; „der Stich sitzt hoch, dicht unter der rechten Schulter.“ Er öffnete Günther das Wams und drückte ein weiches Tuch auf die Wunde. —
Da kam eine langsam über die Wiese — die Blinde. Als der Oberst sie gewahrte, richtete er sich auf und stand stumm und steif. Die Blinde kam heran, beugte sich tief über den Verwundeten, suchte mit dem letzten Licht, das ihre Augen noch hatten, nach der Wunde, richtete sich dann empor und fragte mit hasserfüllter Stimme:
„Habt Ihr wieder einen auf dem Gewissen?“
Der Oberst lachte spöttisch.
„Jawohl, Madame! Es hat mich wieder einmal nach Menschenblut gelüstet, und so habe ich diesen unschuldsvollen Jüngling, der mir mit freundlichen Worten entgegentrat, über den Haufen gestochen. Ich empfehle ihn Eurer Pflege.“
Damit wandte er sich um und ging davon. Die Blinde kniete bei dem Verwundeten. Auch Klotildis kniete sacht nieder. Es war aber von ihrem Gesicht viel mehr Neugierde als Mitleid zu lesen.
„Was wird mit ihm?“ fragte sie gespannt.
Die Blinde antwortete auf die Frage nicht.
„Holt eine Trage,“ sagte sie.
Die Sängerin und Klotildis brachten bald eine der Tragen, wie sie zum Fortschaffen des Heues verwandt werden und zahlreich auf der Insel umherstanden. Sie legten den Verwundeten darauf.
„Nach dem Schusterhaus,“ gebot die Blinde, „das ist am nächsten.“
Klotildis und die Sängerin mussten je einen Holmen vorn an der Trage fassen, die hinteren beiden Holmen nahm die Blinde. So ging der stille Transport über die Wiese.
Inzwischen kam der Polizist Lukas angetrabt. Schon von weitem schrie er:
„Der Graf lässt sagen — ins Schusterhaus! Er kommt gleich mit dem Verband!“
Klotildis rief zurück, Lukas solle nicht so brüllen, er sehe doch, dass sie einen Schwerkranken trügen, und es sei ganz selbstverständlich, dass es zum Schusterhaus gehe.
Da kam Lukas mit seinen Siebenmeilenbeinen vollends heran, schulterte die Lanze und gab den Frauen und ihrer Last das Ehrengeleite.
Der Schuster, ein dürres Männlein mit eisgrauem Ziegenbart und spiegelblankem Schädel, fuhr aus seinem kleinen Haus heraus, und als er sah, was für einen stillen Gast er bekam, füllten sich seine treuherzigen Äuglein mit Tränen.
Günther wurde vorsichtig auf das Bett gelegt. Bald darauf kam der Graf. Er war von hoher Erscheinung und trug einen langen schwarzen Rock.
Schweigend beugte er sich über den Verwundeten, untersuchte seinen Zustand nach Art der Ärzte, legte einen Verband an und setzte sich dann an das Bett.
„Bis morgen früh bleibe ich hier!“ sagte er. „Wer pflegt ihn dann?“
„Ich!“ sagte die Blinde, die ganz in den Schatten getreten war, als der Graf eintrat.
Er nickte schweigend.
Zu seiner Tochter Klotildis und der Sängerin, die Hand in Hand an der Wand lehnten, sagte er nach einer Weile:
„Gehet nach Haus!“
Sie gingen. Und so war der Graf mit der Blinden bei dem Kranken allein. Der Schuster sass im Nebenzimmer auf einem Schemelchen und harrte geduldig, ob ein Befehl an ihn ergehen werde. Draussen wurde es finster; der Mond verschwand hinter den Wolken, die Grillen und die Unken schwiegen. Ein müder Nachtwind sang ums kleine Haus, darin ein junges Leben mit dem Tode rang.
Tiefe Stille. Nur ein wenig abseits vom Schusterhaus hörte man einen leise zählen: 888, 889, 890!
Der Polizist Lukas hatte die Gelegenheit benutzt, dem Schuster den Magnetstab zu entwenden, und strich damit seine Lanze.
Tausendmal!