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4 MORGENRÖTE IN LOCARNO (1925)

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In seinem Schlußwort auf der Londoner Konferenz hatte Herriot zwar schon die Morgenröte erblickt, die den neuen Tag ankündigte, aber die Wirklichkeit sah in den Wochen, die unmittelbar auf die Konferenz folgten, erheblich anders aus. Die Überschwenglichkeit der Stimmung unter den Delegierten, als die mühevolle Arbeit der Londoner Tage und Nächte nun endlich ihren Abschluß gefunden hatte, war den harten Realitäten des politischen Lebens in Frankreich und Deutschland gewichen.

Ich selbst wurde einige Zeit nach meiner Rückkehr aus Paris Mitglied einer Delegation, die in Koblenz mit den Alliierten über die Anwendung der Londoner Beschlüsse auf die Liquidation des Ruhrabenteuers zu beraten hatte. Der Unterschied zwischen der freundlichen Atmosphäre in London und der herablassend feindlichen Haltung, die die Vertreter der alliierten Besatzungsbehörden in Koblenz den deutschen Delegierten gegenüber einnahmen, wirkte auf mich wie ein kalter Wasserstrahl. Ich erfuhr hier zum ersten Male, wie weit der Weg von den obersten Spitzen eines Landes bis zu den unteren Organen ist. Hier in Koblenz herrschte noch der Geist Poincarés in reinster Form. Mit der Zigarette zwischen den Lippen blickten uns unsere französischen und belgischen Gesprächspartner mit eisiger Ablehnung an, und auch die Engländer verhielten sich nicht viel freundlicher.

Es war ein eigenartiges Gefühl für mich, im eigenen Lande von Ausländern als unerwünschter, höchstens geduldeter Gast behandelt zu werden, wenn ich mit den übrigen Delegierten das von den Besatzungsbehörden in Koblenz zum Verhandlungsort bestimmte Gebäude des Oberpräsidiums betrat. Nicht wie in London am runden Tisch saßen hier die Deutschen als Gleichberechtigte den anderen gegenüber. Hier war wieder alles streng nach Siegern auf der einen Seite des Tisches und Besiegten auf der anderen eingeteilt. Dem entsprach auch der Geist, in dem die Verhandlungen geführt wurden. Es war eine eigenartige „Morgenröte“. Mit unendlicher Mühe und Geduld mußte hier von deutscher Seite den Besatzungsvertretern Schritt für Schritt erneut das abgerungen werden, was in London unter den Großen beschlossen worden war.

Nach drei Wochen Koblenz wurde ich eines Tages überraschend nach Paris zur deutschen Handelsvertragsdelegation versetzt und verschwand damit für lange Zeit aus Berlin. Diese deutsch-französischen Wirtschaftsverhandlungen waren ebenfalls ein Kind der Londoner Konferenz. Ganz unbemerkt neben den großen Ereignissen war hier eines Nachmittags im Hyde Park Hotel, dem Sitz der französischen Delegation, in einer Besprechung zwischen Stresemann und Staatssekretär Trendelenburg aus dem Reichswirtschaftsministerium auf deutscher Seite und Herriot, Clémentel und dem Ministerialdirektor Seydoux von der Außenhandelsabteilung des französischen Außenministeriums der erste Schritt zur Ausgestaltung der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen getan worden. Er führte 1927 nach dreijährigen Verhandlungen zu dem großen deutschfranzösischen Handelsvertrag, der nicht nur für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Nachbarländern, sondern auch für die gesamte Wirtschaftsentwicklung Europas von ausschlaggebender Bedeutung wurde. In diesen jahrelangen Verhandlungen, über die später noch mehr zu sagen sein wird, wurde auch der Grundstein für die Industrievereinbarungen gelegt, die in den 20er und 30er Jahren die privatwirtschaftliche Struktur einer ganzen Reihe wichtiger Industriezweige Europas bestimmten.

Zunächst aber gab mir Paris Gelegenheit, die Schwierigkeiten zu beobachten, die Herriot in Frankreich zu überwinden hatte, um die Londoner Beschlüsse, und besonders die so schwer erkämpfte Ruhrlösung, durchzuführen.

In der Kammer fand Herriot oft recht scharfe Worte gegen Deutschland; er schien plötzlich ein anderer Herriot zu sein als der Mann, den ich von der Londoner Konferenz her in Erinnerung hatte. „Er kämpft um die Existenz seiner Regierung“, erklärten mir die Franzosen von der Handelsdelegation. Ich verstand beim Lesen der wilden Vorwürfe, die wegen seiner Zugeständnisse in der Ruhrfrage in großen Teilen der Pariser Presse gegen ihn erhoben wurden, jetzt die Bedenken besonders gut, die er in London Stresemann gegenüber wegen der innerpolitischen Opposition in Frankreich geäußert hatte. Hier in Paris konnte ich mir auf einmal die in London etwas eigenartig wirkende Unruhe und sein gelegentliches temperamentvolles Aufbrausen erklären. Er hatte damals schon gewußt, was für ein Sturm sich bei seiner Rückkehr nach Frankreich erheben würde.

Genau derselbe Sturm entstand auch in Deutschland gegen Marx und Stresemann wegen der Londoner Vereinbarungen. Nur mit Mühe wurde das Dawes-Abkommen im Reichstag durchgebracht. Eine etwas eigenartige Rolle spielten dabei die Deutschnationalen, die sich auf Veranlassung der Parteileitung bei der Abstimmung in Neinsager und Jasager teilten, um ihren grundsätzlich ablehnenden Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, trotzdem aber die Regierung nicht zu gefährden, wodurch den Sozialdemokraten der Weg ins Kabinett frei geworden wäre. Diese Farce war natürlich ein gefundenes Fressen für die Pariser Kabarettisten, wie überhaupt von Paris aus die Vorgänge in Deutschland in einer ganz neuen Perspektive erschienen und manches klarer zu erkennen war als von Berlin aus.

Anfang Februar 1925 wurde ich eines Abends überraschend auf die deutsche Botschaft bestellt. Auf Weisung des Staatssekretärs von Schubert, der mich persönlich zu allerstrengstem Stillschweigen verpflichtete, mußte ich noch am selben Abend in der Botschaft eine Note übersetzen. Sie sollte trotz der Abwesenheit des Botschafters unverzüglich Herriot übergeben werden. Das Schriftstück umfaßte nur wenige Seiten. Es war aber eines der für die politische Entwicklung der nächsten Zeit wichtigsten Dokumente. Es handelte sich um den deutschen Vorschlag, welcher der im Oktober des Jahres stattfindenden Konferenz von Locarno zugrunde lag und dort zu dem sogenannten Rheinpakt und den Schiedsverträgen führte, durch die das Reich endgültig als moralisch gleichberechtigter Partner wieder in den Kreis der europäischen Nationen aufgenommen wurde.

„Deutschland könnte sich auch mit einem Pakt einverstanden erklären, der den gegenwärtigen Besitzstand am Rhein garantiert, indem die am Rhein interessierten Staaten sich gegenseitig verpflichten, ihren Besitzstand in diesem Gebiet zu achten und gemeinsam die Erfüllung dieser Verpflichtung garantieren“, so lautete u. a. dieser Vorschlag. Weiterhin war darin die Rede von einer Garantie der Entmilitarisierung des Rheinlandes und von Schiedsvereinbarungen zwischen Deutschland und den an einem solchen Pakt teilnehmenden Staaten.

Während ich diesen gewichtigen Text übersetzte und mir dabei allmählich klar wurde, warum ich so eindringlich auf seine Geheimhaltung verpflichtet worden war, kam der deutsche Geschäftsträger, Botschaftsrat Forster, von Zeit zu Zeit ins Zimmer, um nachzusehen, ob ich denn immer noch nicht fertig sei. Er war etwas aufgeregt, denn auch er war sich der Wichtigkeit des Augenblicks voll bewußt, wenn wir natürlich auch noch nicht ahnen konnten, welche Folgen sich aus diesem äußerlich so unscheinbaren Dokument ergeben sollten. Kaum hatte ich die letzte Seite beendet, als er die Note schon in seine Mappe steckte und sich in feierlichem Anzug mit Zylinder und schwarzem Mantel auf den Weg zu Herriot machte.

Ich blieb noch eine Weile in dem kleinen Zimmer der Botschaft nachdenklich sitzen. Wieder einmal war mir, wie so oft noch in späteren Jahren, eine Schweigepflicht auferlegt worden, und ich scheute mich etwas vor den neugierigen Fragen meiner Kollegen in der Botschaft und in der Wirtschaftsdelegation. Mir war in jenem Augenblick schon klar, daß es sich bei dieser Note um einen bedeutsamen deutschen Beitrag zur Lösung der sogenannten Sicherheitsfrage handelte, die neben den wirtschaftlichen Problemen (Reparationen) damals wie heute eines der Hauptthemen der internationalen Politik war.

Unwillkürlich gingen meine Gedanken zurück zu der Zeit um 1919, als Frankreich unter dem noch frischen Eindruck des ungleichen Stärkeverhältnisses gegenüber Deutschland begreiflicherweise nach Möglichkeiten Ausschau hielt, seine Sicherheit zu gewährleisten. So hatte es das linke Rheinufer als Zukunftssicherung verlangt. Auf der Pariser Friedenskonferenz hatten sich aber England und Amerika dieser Forderung, welche die Schaffung eines neuen Elsaß-Lothringens auf deutscher Seite bedeutete, widersetzt und nach langem Hin und Her Frankreich als Ersatz einen Garantievertrag angeboten. Im englischen Parlament war dieser Vertrag von dem Beitritt der Vereinigten Staaten abhängig gemacht worden. Als sich dann der amerikanische Kongreß ablehnend verhielt, fiel die Garantie völlig ins Wasser, und Frankreich hatte weder das linke Rheinufer noch den Schutz Englands und Amerikas erhalten.

Poincaré hatte mit seiner Ruhrbesetzung und der Förderung des Separatismus erneut den Versuch gemacht, Frankreichs Sicherheit durch Vorverlegung seiner Einflußgrenze nach Osten sogar noch über das linke Rheinufer hinaus zu festigen. Dieser Plan war aber am Widerstand der Deutschen und an der Ablehnung Englands gescheitert. Durch die Londoner Abmachungen von 1924 war Frankreichs Bemühungen in dieser Richtung praktisch ein unüberwindlicher Riegel vorgeschoben worden. Das hatte naturgemäß zu jenen Stürmen der Entrüstung gegen Herriot geführt, deren Niederschlag ich selbst in Paris in der Presse und in der Kammer miterlebt hatte. Zweifellos aber waren Herriot in London von den Engländern, genau so wie seinerzeit auf der Pariser Konferenz, Ersatzlösungen angeboten worden. Das hatte sich im Herbst 1924 auf der jährlichen Vollversammlung des Völkerbundes bestätigt, als von MacDonald das sogenannte Genfer Protokoll „zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten“ in einer aufsehenerregenden Rede vorgeschlagen wurde, der Herriot natürlich wärmstens sekundierte. In diesem Protokoll wurde die Sicherheitsfrage auf eine breite internationale Basis gestellt und nicht mehr allein durch das Versprechen Englands, Frankreich bei einem Angriff zu Hilfe zu kommen, gelöst.

Wieder aber hatte es im englischen Parlament Schwierigkeiten gegeben. Auch die englischen Dominions hatten sich gegen jede automatische Hineinziehung in europäische Streitigkeiten gewehrt, so daß dieser Versuch, Frankreichs Sicherheitswünsche zu befriedigen, ebenso fehlschlug. Das war die Lage im Februar 1924.

Auch auf deutscher Seite hatte man schon frühzeitig erkannt, daß viele der politischen Schwierigkeiten mit Frankreich behoben und dessen immer wieder hervortretende Bemühungen, seine Grenzen auf Kosten Deutschlands nach Osten vorzuschieben, abgewendet werden könnten, wenn man seiner begreiflichen Sorge um die Sicherheit auf andere Weise entgegenkäme.

So hatte die Regierung Cuno Ende 1922 zu diesem Zweck bereits vorgeschlagen, daß Deutschland und Frankreich gemeinsam mit anderen am Rhein interessierten Mächten sich gegenseitig verpflichten sollten, eine Generation lang ohne eine vorherige Volksbefragung keinen Krieg gegeneinander zu führen. Diese Verpflichtung sollte unter die Garantie der Vereinigten Staaten gestellt werden. Der Vorschlag wurde jedoch mit Hohn von Poincaré zurückgewiesen und war in seiner Begrenzung auf eine Generation und der etwas verdächtig wirkenden Verbindung des Krieges mit einer Volksbefragung auch nicht gerade glücklich formuliert gewesen.

Das alles kannte ich nur vom Hörensagen, d. h. ich hatte es in der Presse oder in Büchern gelesen. Eine persönliche Erinnerung war mir jedoch bei der Übersetzung der deutschen Note ebenfalls in den Sinn gekommen. Im September 1923 hatte Stresemann als Reichskanzler in Stuttgart eine viel beachtete außenpolitische Rede gehalten, die auch im Sprachendienst für die Auslandspresse übersetzt worden war, und zur Sicherheitsfrage folgendermaßen Stellung genommen:

„Da der Alpdruck Frankreichs vor einem etwaigen deutschen Angriff, so völlig töricht er uns erscheinen mag, noch heute weite Kreise der französischen öffentlichen Meinung beherrscht, haben unsere Botschafter und Gesandten in Paris, London, Rom und Brüssel mitgeteilt, daß Deutschland bereit sei, dem Sicherheitspakt der am Rhein interessierten Mächte beizutreten, sei es, daß er sich auf Abmachungen über die Vermeidung eines Krieges bezöge, sei es, daß er die Garantierung des gegenwärtigen Besitzstandes am Rhein zum Gegenstand hätte. Außerdem sei Deutschland, zur Bekundung seines Friedenswillens, bereit, mit allen Staaten Schiedsgerichtsverträge zu schließen, wie wir dies mit der Schweiz und Schweden bereits getan haben.“

Als ich mich an diese Sätze erinnerte, war mir an dem Februarabend auf der Botschaft in Paris, auch ohne daß ich im einzelnen über die Entstehungsgeschichte der deutschen Note unterrichtet war, sofort klar, daß der geistige Urheber Stresemann sein müsse, der mit jener Hartnäckigkeit, die ich in London so deutlich erlebt hatte, immer wieder von neuem versuchte, auf dem Wege der Befriedung Frankreichs vorwärtszukommen. Mir war damals unbekannt, daß Stresemann bei seinen Bemühungen von dem englischen Botschafter in Berlin, Lord D’Abernon, starke Anregungen empfangen hatte und daß dieser auch die ursprünglich recht ablehnende Haltung des damaligen Außenministers, Austen Chamberlain, ins Gegenteil zu verwandeln gewußt hatte.

Voller Spannung wartete ich in den nächsten Tagen auf ein Echo von Herriot. Der einzige, mit dem ich darüber sprechen konnte, war Botschaftsrat Forster; der aber konnte mir auch nichts sagen, denn Herriot hatte sich darauf beschränkt, die Note mehr oder weniger kommentarlos entgegenzunehmen und ihre Prüfung zuzusagen.

So kam mir dieser Vorgang allmählich wieder aus dem Sinn. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde von den Wirtschaftsverhandlungen gefangengenommen. Sie brachten mir sehr viel Arbeit. Nacheinander zogen sämtliche Sparten der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen auf industriellem und landwirtschaftlichem Gebiet an mir vorüber. Ich assistierte deutschen und französischen Wirtschaftsführern mit berühmten Namen wie Thyssen, Vögler, Citroën, Duchemin und Prominenten des Comité des Forges, die als Sachverständige zur Beratung über den sie besonders angehenden Verhandlungsabschnitt herangezogen wurden. Der weitaus wichtigere Teil der damaligen Pariser Gespräche waren jedoch die ebenfalls unter meiner Mitwirkung geführten privaten Unterhaltungen zwischen den deutschen und französischen Industriellen, die den Grundstein für die Zusammenarbeit in vielen Industrien legten und den Kristallisationspunkt für spätere mehrseitige Industrieverständigungen in Europa bildeten. Wenig berührt von den politischen Schwankungen, waren diese Abmachungen zwischen den einzelnen Industrien bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein wichtiger Faktor des europäischen Wirtschaftslebens und seiner Stabilisierung.

Ich mußte mich fast wie in der Schule auf jede dieser Verhandlungen genauestens vorbereiten, lernte den deutschen und den französischen Zolltarif beinahe auswendig und gewann einen recht guten Überblick über die Praxis des Warenaustausches zwischen den europäischen Ländern. Von der Schwerindustrie bis zur weichen Faßseife, von den aus Südfrankreich in Eiltransporten nach Hamburg und Berlin verfrachteten frischen Blumen bis zu den Kämpfen um die Weinzölle, von Lederwaren bis zu feuerfesten Steinen war alles in meinem Repertoire enthalten. Von Politik und Sicherheit hörte ich kein Sterbenswörtchen mehr.

Erst als ich im Sommer während einer mehrmonatigen Verhandlungspause nach Berlin zurückkam, konnte ich feststellen, daß das in der Februarnote gemachte deutsche Paktangebot inzwischen Gegenstand eines eingehenderen Meinungsaustausches auf schriftlichem Wege zwischen Deutschland, Frankreich und England gewesen war. Bei meiner Rückkehr waren die Dinge so weit gediehen, daß sich in London ein Juristenausschuß mit der Ausarbeitung eines genauen Vertragsentwurfes beschäftigte. Das später bei vielen Konferenzen als stabiles Element in Erscheinung tretende Dreigestirn der Kronjuristen Deutschlands, Frankreichs und Englands, Gaus, Fromageot und Hurst, hatte hier die letzte Hand an die Vorbereitungen für die Konferenz gelegt, die Oktober 1924 in einem damals noch völlig unbekannten kleinen Kurort der Südschweiz am Lago Maggiore, in Locarno, stattfand und diesen Namen innerhalb von wenigen Tagen weltbekannt und zu einem Symbol für die Friedenshoffnungen Europas machte. Die Morgenröte, von der Herriot ein Jahr vorher gesprochen natte, brach mit den herrlichen Herbsttagen in Locarno an.

Am 2. Oktober fuhr ich zum zweiten Male in einem Sonderzug als Mitglied einer großen Delegation von Berlin ab. Das äußere Bild dieser Abreise ähnelte mit den starken polizeilichen Absperrungen des Bahnhofs wegen der Attentatsfurcht, den zahlreichen offiziellen Persönlichkeiten und ausländischen Diplomaten, die sich zur Verabschiedung eingefunden hatten, dem unserer Abfahrt nach London im August des vergangenen Jahres. Nur bestand diesmal der Zug aus Schlafwagen, denn die Reise würde erst am nächsten Nachmittag südlich der Alpen enden.

Die beiden Hauptdelegierten Deutschlands waren Stresemann und Luther, der inzwischen Reichskanzler geworden war. Unter den Dolmetschern fehlte Michaelis, dem man seine Entgleisung in London doch nicht verziehen hatte. Außer mir war für die Übersetzungen nur noch Dr. Norden mitgekommen, der mir unterwegs interessante Einzelheiten über die Entstehungsgeschichte dieser Konferenz zu berichten wußte. Er hatte überall im Auswärtigen Amt Freunde und Bekannte, betrieb das Dolmetschen mehr oder weniger zwangsweise nur als Nebentätigkeit und gehörte im übrigen zu einem Referat der Rechtsabteilung. Er war immer ausgezeichnet im Bilde.

So erfuhr ich von ihm, daß zunächst auf die Februarnote überhaupt keine Reaktion erfolgt war. Norden erzählte mir, daß D’Abernon schon Ende Dezember in einem Gespräch mit dem Staatssekretär von Schubert von dem Plan einer deutschen Initiative erfahren und ihn sofort aufgegriffen habe und daß die erste Anregung zunächst Chamberlain unterbreitet worden sei. Dieser habe sie jedoch ziemlich brüsk abgelehnt, weil sie zu seinen eigenen Plänen im Widerspruch stand. Erst daraufhin habe man sich von deutscher Seite in aller Eile entschlossen, direkt an Frankreich heranzutreten, und habe am 9. Februar die Note übergeben, die damals durch meine Hände gegangen war. Herriot hatte die ganze Angelegenheit ruhen lassen, war inzwischen gestürzt worden, und erst sein Nachfolger Briand hatte die Frage wieder aufgenommen. Allerdings hatte sich Frankreich erst im Juni zu einer ausführlichen Gegenäußerung mit allerhand Abänderungsvorschlägen herbeigelassen. Erst so, erzählte mir Norden, sei es auf dem Wege über die Juristenbesprechung in London zur Konferenz von Locarno gekommen.

In Deutschland herbstelte es im Oktober schon ziemlich stark, in den höheren Lagen der Alpen standen die Bäume völlig kahl da und die Landschaft sah so aus, als bereite sie sich auf den nahen Winter vor. Das änderte sich mit einem Schlage, als wir auf der anderen Seite des Gotthard-Tunnels in den Schweizer Tessin hineinfuhren. Hier hatte man den Eindruck, mitten im Hochsommer zu sein, und je weiter wir nach Süden kamen, desto stärker wurde das Gefühl, daß sich die Jahreszeit nach rückwärts bewegte.

Über Bellinzona fuhr unser Zug auf einer kleinen Nebenstrecke bis nach Locarno. Die Hauptdelegierten waren von der letzten Station aus schon im Wagen vorausgefahren. So stießen wir auf dem kleinen Bahnhof von Locarno bei den Journalisten und den internationalen Schlachtenbummlern der großen Konferenzen, die sich in Massen auf dem Bahnsteig drängten, auf arg enttäuschte Gesichter.

In dem etwas außerhalb von Locarno, in Minusio, gelegenen Hotel Esplanade war die ganze Delegation geschlossen untergebracht. Am nächsten Tage trat ich dann zum ersten Male in Gegenwart von Luther und Stresemann als Dolmetscher auf einem Empfang der ausländischen Presse im Esplanade Hotel in Aktion. Luther machte einige Ausführungen über Deutschlands Friedensbestrebungen, von denen mir heute wohl deshalb keine Einzelheiten mehr in Erinnerung sind, weil ich als Dolmetscher dabei nicht in Aktion zu treten brauchte. Das gleiche gilt für Luthers erste Unterhaltung mit Briand in Ascona, die von den Journalisten viel beachtet wurde. Um so deutlicher erinnere ich mich aber an das, was Stresemann der Presse sagte, und zwar weil es Sowjetrußland betraf, dessen Haltung gegenüber den Bemühungen der damaligen Westmächte, mit Deutschland in Locarno zu einer Einigung zu gelangen, sowie ganz allgemein gegenüber dem Völkerbund schon damals genau so argwöhnisch war wie heute gegenüber den Westmächten und den Vereinten Nationen.

Wenige Tage vor der Abreise der deutschen Delegation nach Locarno hatte sich der sowjetische Volkskommissar für Auswärtiges, Tschitscherin, in Berlin eingefunden und eine damals viel beachtete Unterredung mit Stresemann gehabt, aus der sich allerlei sensationelle Kombinationen in der Presse ergaben. Seitdem die Welt durch den Abschluß des Vertrages von Rapallo zwischen Deutschland und Sowjetrußland am 17. April 1922 auf der Konferenz von Genua verblüfft worden war, wurde alles, was sich zwischen den Sowjets und der deutschen Republik abspielte, mit Aufmerksamkeit und Mißtrauen von den Westmächten verfolgt.

Stresemann wies in dieser ersten Pressekonferenz von Locarno die sehr aufmerksam mitschreibenden Journalisten darauf hin, daß er sich mit Tschitscherin im wesentlichen über den Handelsvertrag zwischen Deutschland und Rußland unterhalten habe, und daß daran keinerlei Sensation zu suchen sei. Mit einer gewissen Betonung fügte er hinzu, daß man wohl in Rußland eine Zeitlang gefürchtet habe, Deutschland werde in Locarno eine vollkommene Umstellung seiner Politik vornehmen und sich ausschließlich nach Westen orientieren, „Für uns gibt es keine Option zwischen Ost- und Westpolitik. Wir wollen nach beiden Seiten gute Beziehungen unterhalten“, erklärte Stresemann in diesem Zusammenhang. Die Journalisten stürzten hinaus an die Telefone, und die erste große Meldung aus Locarno ging in die Welt, noch ehe die Konferenz eigentlich begonnen hatte.

Am nächsten Vormittag, am 5. Oktober 1925, wurde dann die Konferenz bei herrlichem Sommerwetter in dem schmucklosen Sitzungssaal des kleinen Rathauses eröffnet. In diesem Raum stand in der Mitte ein großer viereckiger Tisch, um den herum sich die Hauptdelegierten zwanglos auf recht unbequemen Holzstühlen gruppierten. An jeder Seite des Tisches hatten 4 bis 5 Personen Platz, so daß nur die Hauptdelegierten am Tisch selbst sitzen konnten, alles andere aber sehen mußte, wo es auf einem Stühlchen im Hintergrund unterkam. Zu beiden Seiten dieses Tisches, der fast den ganzen Raum füllte, stand noch je ein schmaler, kleiner Tisch, an dem eigentlich nur zwei Personen Platz hatten, der aber immer von Sekretären und Sachverständigen, die ihre Akten ausbreiten wollten oder etwas zu schreiben hatten, belagert war. An dem kleinen Tisch hinter den deutschen Delegierten hatte auch ich mir einen Platz „erobert“. Es war, wie sich später zu meinem Leidwesen herausstellte, ein akustisch sehr ungünstiger Standort, da Stresemann und Luther, die ich zu übersetzen hatte, immer von mir weg sprachen und ich alle Mühe hatte, ihnen zu folgen, wenn etwa an dem gleichen Tisch noch jemand mit Papieren raschelte oder gar eine geflüsterte Unterhaltung stattfand. Links neben der deutschen Delegation saßen die Italiener; die Engländer nahmen unter Führung von Austen Chamberlain die noch an der linken Breitseite freien Plätze ein. Den Deutschen gegenüber saßen die Franzosen Briand, Berthelot und Fromageot. An der rechten Seite des Tisches hatten die Belgier Platz genommen, die von Außenminister Vandervelde geführt wurden. Auch Gaus und Staatssekretär Kempner von der Reichskanzlei hatten sich auf dieser Seite noch an den Tisch gezwängt, wodurch der Kreis zur deutschen Delegation wieder geschlossen wurde.

In den Endphasen der Konferenz, als auch die Tschechoslowakei und Polen hinzugezogen wurden, war die Enge noch größer, denn der kleine, stets lächelnde Dr. Benesch und der immer mißmutig dreinblickende polnische Außenminister, Graf Skrzynski, wollten natürlich auch am Tisch der Großen sitzen. Es war also, technisch gesehen, eine sehr improvisierte Konferenz, die da im Rathaus von Locarno zusammentrat. Sie hielt keinen Vergleich mit der wohl vorbereiteten Veranstaltung vom Vorjahre in London aus, wo neben dem geräumigen Hauptsitzungssaal noch viele andere Räume zur Verfügung standen, wo die Dolmetscher ihre Plätze am großen Tisch unmittelbar neben ihren Delegierten hatten, wo die Sekretäre und Sachverständigen in Ruhe arbeiten konnten und sich der ganze technische Apparat einer solchen Zusammenkunft schon nach den ersten Stunden völlig eingespielt hatte.

Hier in Locarno, das merkte man auf Schritt und Tritt, war man auf dem Lande. Es war fast rührend zu sehen, wie sich die Stadt, vom Bürgermeister bis zum geringsten Einwohner, bemühte, den Konferenzteilnehmern das Leben angenehm zu machen, und wie weit entfernt von diesem Ziele sie in den technischen Einrichtungen blieben.

Rührend in seiner Einfachheit, aber gerade vielleicht deshalb um so überzeugender, wirkte inmitten dieser Versammlung der Großen Europas auch der Bürgermeister des kleinen Städtchens, der in wohlgesetzten Worten auf französisch die Teilnehmer begrüßte und sich dann unter vielem Lächeln und Händedrücken sichtlich voll Stolz über seine Teilnahme an dem historischen Augenblick zurückzog.

Nun waren die Staatsmänner unter sich, denn die Besprechungen fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Einen Vorsitzenden gab es nicht. Chamberlain hatte nur im Namen der Konferenz dem Bürgermeister gedankt. Von da ab fanden die Beratungen trotz des viereckigen Tisches im Stile einer englischen „Round Table“-Konferenz als ein Gespräch völlig gleichberechtigter Teilnehmer statt. Ohne Umschweife würde die sachliche Aussprache über die einzelnen Artikel des von den Juristen in London vorbereiteten Vertragsentwurfes begonnen. Luther und Stresemann benutzten sofort die Gelegenheit, deutsche Abänderungsvorschläge vorzubringen und kurze Begründungen dafür abzugeben. Es verlief alles sehr nüchtern und geschäftsmäßig. Selbst bei den Punkten, über die in den nächsten Tagen noch recht erregte Aussprachen stattfinden sollten, kam es zu keinen Zwischenfallen.

Dabei handelte es sich einmal um die Frage, in welcher Weise der Osten, d. h. Polen und die Tschechoslowakei, in das Sicherheitssystem eingeschaltet werden sollten. Vor allem in Polen waren gegen den Rheinpakt erhebliche Bedenken laut geworden. Deutschland wollte unter keinen Umständen die viel umstrittene Ostgrenze mit dem polnischen Korridor und die Gebietsabtretungen in Oberschlesien formell anerkennen, wie es dies in seinem Angebot vom 9. Februar mit der Westgrenze getan hatte. Das hatten die Polen natürlich herausbekommen. Die polnische Presse tobte, das polnische Parlament protestierte, und das polnische Auswärtige Amt hatte sich um Hilfe an seinen Verbündeten Frankreich gewandt. Es lag also reichlicher Zündstoff in diesem Problem. Aber am ersten Tage kam es noch zu keiner Explosion. Briand bemerkte nur mit sarkastischem Lächeln, daß dieses Ostproblem der erste rheumatische Anfall sei, den die Konferenz erleide.

Eine weitere große Schwierigkeit war der von den Alliierten geforderte Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Damit in Zusammenhang stand die Kriegsschuldfrage, die die deutsche Delegation schon auf der Londoner Konferenz hatte vorbringen wollen. Sie war schließlich vor Annahme der Dawes-Gesetze unter recht aufregenden Umständen in einer Erklärung der Reichsregierung vorgebracht worden, in der es hieß, daß „die uns durch den Versailler Vertrag unter dem Druck übermächtiger Gewalt auferlegte Feststellung, daß Deutschland den Weltkrieg durch seinen Angriff entfesselt habe, den Tatsachen der Geschichte widerspricht. Die Reichsregierung erklärt daher, daß sie diese Festlegung nicht anerkennt.“

Kurz vor Abreise der deutschen Delegation nach Locarno wurde die Auffassung der Reichsregierung in dieser Frage den anderen Ländern noch offiziell zur Kenntnis gebracht, wodurch die Konferenz selbst fast in Gefahr geraten wäre. „Es kann kein Zweifel sein“, erklärte die deutsche Regierung, „daß überall da„ wo bei den politischen Auseinandersetzungen so grundlegende Fragen wie der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund zur Erörterung gelangen, der Standpunkt zu wahren ist, daß Deutschland niemals einen politischen Akt vollziehen kann, der als Anerkennung irgendwelcher eine moralische Belastung des deutschen Volkes in sich schließender Feststellungen anzusehen wäre. Das wird … bei einem etwaigen Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, aber auch dann, wenn es nicht dazu kommen sollte, den Signatarmächten des Versailler Vertrages, denen gegenüber die jetzige mit den bevorstehenden Verhandlungen zusammenhängende Erklärung nicht abgegeben ist, unmittelbar zum Ausdruck gebracht werden. Das ist nichts anderes als ein selbstverständlicher Ausdruck der Überzeugung, daß sich die Mitglieder der Völkerbundsgemeinschaft nicht nur äußerlich, sondern auch moralisch als gleichberechtigt anerkennen müssen, wenn sie das Friedensziel des Völkerbundes verwirklichen wollen.“

Das war der reichlich explosive Hintergrund der ‚Erwähnung dieser Frage hier auf der ersten Sitzung. Als sich Stresemann zu diesem Punkt äußerte und gerade das Wort „Kriegsschuldfrage“ aussprach, hustete jemand in meiner Nähe, so daß mir die folgenden Worte des deutschen Außenministers unverständlich blieben. Auf sie aber kam es in diesem Augenblick ganz besonders an. Es handelte sich darum, ob er diese Frage jetzt zur Diskussion stellen wollte, oder ob sie etwa, wie in London, wieder vertagt werden würde. Ich befand mich in einer scheußlichen Lage. Irgend jemanden fragen konnte ich natürlich in der Eile nicht. Hätte ich meine französische Übersetzung unterbrochen und Stresemann, der ein ganzes Stück vor mir saß, schnell noch einmal gefragt, wäre die Aufmerksamkeit der ganzen Konferenz gerade auf diesen delikaten Punkt gelenkt worden, der möglicherweise – und hier stand mir sekundenlang die Szene mit den aufgeregt diskutierenden drei deutschen Delegierten in der Schlußsitzung in London vor Augen – jetzt, im Anfangsstadium der Besprechungen, nur sehr vorsichtig und andeutungsweise vorgebracht werden sollte. Ich nahm also mein Herz in beide Hände und sagte auf französisch die Worte so, wie ich nach meiner Kenntnis der Sachlage glaubte, daß sie Stresemann gebraucht hätte, d. h. ich gab eine Ankündigung der deutschen Stellungnahme zu dem Problem. Scharf beobachtete ich dabei Stresemann und Luther von hinten. Jeden Augenblick darauf gefaßt, daß sie sich wütend nach mir umdrehen würden, und daß es einen Eklat mit mir geben würde, ähnlich dem, dem der arme Michaelis in London zum Opfer gefallen war.

Aber es geschah nichts. Stresemann qualmte ruhig dicke Wolken aus seiner Zigarre, und Briand rief lediglich spöttisch, aber nicht weiter erregt über den Tisch: „Hoffentlich bekommen wir davon keinen Schlaganfall.“

Diese Zwischenrufe Briands charakterisierten die ungezwungene Atmosphäre, die damals unter den Großen Europas am Konferenztisch von Locarno herrschte und die viel dazu beitrug, auch den umstrittensten Fragen ihre Schärfe zu nehmen. Der heitere Spott, mit dem viele Klippen in Locarno umschifft wurden, ging fast immer von Briand aus, der sich nicht etwa nur gegen die Deutschen wandte, sondern auch den steifen Austen Chamberlain genau so aufs Korn nahm wie Stresemann und Luther. „Wenn Sie noch weiterreden, werden wir alle anfangen zu weinen!“, hatte er einmal in einer Vollsitzung zu Luther gesagt, als dieser in seiner etwas formellen Beamtenart über die schwierigen Verhältnisse in Deutschland berichtete. Luther hatte sich dabei ärgerlich zu Briand umgedreht, und dieser machte ein so komisch erschrockenes Gesicht, daß Stresemann darüber in laut schallendes Gelächter ausbrach und sich nun seinerseits von Luther einen mißbilligenden Blick zuzog. Briand bestimmte den Ton und die Atmosphäre dieser Tage und trug meinen Beobachtungen nach gerade dadurch viel zum Gelingen des Werkes bei.

Leicht „angeschlagen“ sank ich nach diesem gefahrlichen Intermezzo in der Übersetzung der Kriegsschuldfrage wieder auf meinen Platz und war heilfroh, daß sämtliche Punkte, die in dieser Sitzung von den deutschen Delegierten vorgebracht worden waren, nicht weiter diskutiert, sondern den juristischen Sachverständigen überwiesen wurden.

In seinem ausgezeichneten, aber mit stark englischem Akzent vorgetragenen Französisch erklärte Chamberlain: „Irgend jemand muß ja auf dieser Konferenz arbeiten, also lassen wir die Juristen arbeiten, laissons travailler les juristes.”

Dieser Ausspruch, der für viele Konferenzen als Motto gelten könnte, wurde in den nächsten Tagen noch oft von mehreren Seiten wiederholt. Trotzdem aber ruhten auch die Außenminister nicht. Schon am nächsten Tage, nachdem wegen einer Erkältung Stresemanns die Vormittagssitzung auf den Nachmittag verschoben werden mußte, begann eine große Diskussion zwischen Briand und Stresemann über die polnische und tschechoslowakische Frage.

Geschickt schob Stresemann gleich zu Beginn die Initiative Briand zu mit der Begründung, daß Deutschland zu diesem Punkt keinerlei Vorschläge eingebracht habe. So nahm denn Briand zu längeren Ausführungen das Wort, die in dem Gedanken gipfelten, daß Frankreich mit Polen und der Tschechoslowakei Bündnisverträge abgeschlossen habe, die es nicht außer acht lassen könne. „Es wäre unehrenhaft, wenn wir uns diesen Verpflichtungen entziehen würden.“

Nun ging Stresemann zum Angriff vor. Er erinnerte daran, daß Deutschland in der Sicherheitsfrage schon mehrfach Initiativen ergriffen habe. „Jedesmal aber ist uns Frankreich mit einem Nein entgegengetreten.“ Man habe deutscherseits vermutet, daß diese negative Einstellung mit den Bündnissen Frankreichs im Osten zusammenhänge und habe sich daher jetzt bereit erklärt, mit Polen und der Tschechoslowakei Schiedsverträge abzuschließen, durch welche ein gewaltsames Vorgehen Deutschlands gegen die beiden Länder zu einer eventuellen Grenzkorrektur ausgeschlossen würde. Das sei doch bereits eine völlig genügende Sicherheit. Dazu käme noch eine weitere Garantie. Die Alliierten hätten den Wunsch geäußert, Deutschland als Mitglied im Völkerbund zu sehen. Für das Reich sei ein Eintritt in diese mit Versailles eng zusammenhängende Institution ein schwerer Entschluß. Darüber würde noch zu sprechen sein. Trotzdem aber habe sich auch hier Deutschland nicht ablehnend verhalten. Somit bestünden für den Frieden im Osten zwei wesentliche Sicherheiten. Warum verlange Frankreich nun noch mehr? Weshalb wünsche es außerdem noch ein besonderes Durchmarschrecht durch Deutschland für den Fall, daß der Völkerbund beschließe, den Oststaaten bei einem Angriff zu Hilfe zu kommen, und wie stelle sich Herr Briand dieses Durchmarschrecht eigen dich im einzelnen vor?

Bei diesen Fragen Stresemanns wurde ich wieder durch meinen akustisch sehr ungünstigen Platz behindert. Ich konnte nicht genau verstehen, was er an einzelnen Stellen ausführte, aber ich hatte diesmal nicht den Vorteil wie am Vortage, die komplizierte Sachlage genau zu kennen. Es war damals noch nicht üblich, bei den großen politischen Delegationen die Dolmetscher zur sachlichen Vorbereitung an den internen Beratungen teilnehmen zu lassen. Sie wurden noch als eine Art Sprachautomat angesehen, in den man auf der einen Seite etwas hineinredete, das auf der anderen Seite mechanisch in der gewünschten Sprache wieder herauskam. Die Schwierigkeit des Verdolmetschens komplizierter juristisch-politischer Ausführungen war den politischen Delegationen noch nicht bewußt geworden. Deshalb geriet ich an diesem Morgen bei einigen Punkten, besonders bei den Fragen wegen des Durchmarschrechtes, erheblich ins „Schwimmen“.

Ich merkte sofort an der Unruhe bei Ghamberlain, daß etwas nicht in Ordnung war und sah, noch während ich sprach, wie er Luther einen Zettel herüberschickte, auf dem er sich, wie ich nach Schluß der Sitzung erfuhr über meine Übersetzung beschwert hatte. Als ich fertig war, griff er dann auch sofort ein und ergänzte meine Ausführungen mit den Worten: „Monsieur Stresemann a encore dit…“, und ergänzte auf französisch, was seiner Ansicht nach Stresemann außerdem noch gesagt hatte. Später erlebte ich, wie Chamberlain auch bei anderen Dolmetschern im Völkerbundsrat, oft mit den gleichen Worten, deren Übersetzungen korrigierte. Er war bei ihnen deshalb nicht gerade beliebt, weil seine Verbesserungen oft keine Verbesserungen waren und man sich des Eindruckes nicht erwehren konnte, daß er hauptsächlich demonstrieren wollte, wie scharf er aufpaßte, und wie gut er fremde Sprachen beherrschte. Besonders die französischen Dolmetscher in Genf hatten es bei ihm nicht leicht.

In meinem Falle aber hatte er mit seiner Korrektur durchaus recht gehabt, und ich war ihm innerlich dankbar, daß er die Sache so ruhig und kavaliersmäßig erledigt hatte. Nach der Sitzung bekam ich dann einige „schräge“ Bemerkungen von Gaus wegen meiner ungenügenden Übersetzung zu hören. Aber Luther und Stresemann sagten kein Wort. Es wurde nur beschlossen, daß ich in Zukunft auch zu den internen Besprechungen herangezogen werden sollte. Durchgeführt wurde aber dieser Beschluß trotzdem nicht. Ich war eben zu jung und unbedarft und hätte wohl auch insofern durch meine Anwesenheit gestört, als sich, wie ich hörte, in diesen internen Besprechungen manchmal Meinungsverschiedenheiten zwischen Luther und Stresemann über die zu befolgende Taktik ergaben, die die beiden Hauptdelegierten lieber unter sich regelten. Auch meine Anregung, mir einen akustisch günstigeren Platz, wie in London, am Konferenztisch selbst neben den Delegierten zu geben, blieb unberücksichtigt, weil dann Gaus oder Kempner ihre Plätze hätten aufgeben müssen, und dazu waren sie natürlich aus Prestigegründen nicht bereit. So blieb es denn während der Hauptsitzungen im Rathaussaal bei den alten Schwierigkeiten, aber ich hatte mich allmählich doch so an die unangenehmen Verhältnisse gewöhnt, daß ich bis zum Ende der Konferenz ohne allzu große Pannen und ohne weitere Ausstellungen von seiten Chamberlains durchkam. Sehr wohl fühlte ich mich natürlich in meiner Lage nicht. Die englische Delegation hatte das Richtige getroffen, als sie verständnisvoll meine Lage mit der eines Mannes verglich, der auf sehr dünnem Eis Schlittschuh läuft. „Skating on thin ice“, sollte auch in der Folge in Genf noch des öfteren eine meiner Sportleistungen sein.

Ein Trost lag für mich darin, daß Professor Hesnard, der vertraute Mitarbeiter Briands, der in Locarno dessen Ausführungen oft ins Deutsche übersetzte und auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes an genau so einem kleinen Tischchen hockte wie ich, ähnliche Schwierigkeiten hatte, und, obwohl er als engster politischer Mitarbeiter des französischen Außenministers sachlich ganz anders im Bilde war als ich, manchmal auch erheblich „schwamm“. Aber Chamberlain ließ ihn in Ruhe, denn er verstand zwar Deutsch, konnte sich jedoch keineswegs mit der gleichen Leichtigkeit in dieser Sprache ausdrücken wie auf französisch und schon aus diesem Grunde nicht korrigierend eingreifen.

In jener Nachmittagssitzung ging inzwischen die Diskussion über die Ostfragen weiter, ohne daß es zu irgendwelchen Zusammenstößen kam. Eine Einigung wurde allerdings auch nicht erzielt, und schließlich endete alles mit einer Überweisung an die unglücklichen Juristen.

In den nächsten Tagen stand die Frage des Eintritts Deutschlands in den Völkerbund und die Kriegsschuldfrage im Vordergrund der Erörterungen und führte zu heftigen Rededuellen zwischen Stresemann und Briand, in die Chamberlain immer wieder vermittelnd eingriff.

In der Frage des von den Alliierten gewünschten Eintritts Deutschlands in den Völkerbund hatte man sich deutscherseits von vornherein dagegen gewandt, daß das Reich trotz seiner Abrüstung die gleichen Verpflichtungen auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet wie die anderen hoch gerüsteten Mitglieder übernehmen sollte, wenn der Völkerbund im Falle eines Angriffs auf eines der Mitglieder Sanktionen beschlösse. Deutschland hatte verlangt, daß es angesichts der ihm durch den Versailler Vertrag auferlegten militärischen Schwäche von diesen Verpflichtungen ausgenommen und ihm eine Sonderstellung, ähnlich der der neutralen Schweiz, eingeräumt würde. Dies hätte natürlich auch jedes Durchmarschrecht der Völkerbundstaaten durch Deutschland zum Zwecke der Hilfeleistung an ein angegriffenes Mitglied ausgeschlossen. Der praktische Fall, der damals in Erinnerung an den russisch-polnischen Krieg allen bei diesen Erörterungen vorschwebte, war ein neuer polnisch-russischer Konflikt. Angesichts des ohnehin schon bestehenden Argwohnes Rußlands gegen eine Westorientierung Deutschlands wollte das Reich hier keineswegs Verpflichtungen übernehmen, die es in einen Konflikt mit der Sowjetunion hätten bringen können.

Aus dieser Sachlage heraus entwickelte sich schon in den nächsten Tagen ein außerordentlich lebhafter Meinungsstreit zwischen Briand und Stresemann. „Deutschland beansprucht, als Großmacht in den Völkerbund aufgenommen zu werden, und kann daher unmöglich alle Rechte für sich in Anspruch nehmen, ohne auch gleichzeitig sämtliche Pflichten zu übernehmen“, hatte Briand mit Nachdruck erklärt. Um die deutschen Befürchtungen zu beschwichtigen, hatte er damals interessanterweise das Reich auf den Gebrauch des Veto-Rechtes hingewiesen, durch welches es jederzeit einen einstimmigen Beschluß des Völkerbundsrates in Sanktionsangelegenheiten gegen einen Angreiferstaat verhindern könnte. Er hatte also mit anderen Worten Deutschland geraten, im Völkerbund das gleiche zu tun, was Sowjetrußland heutzutage über zwanzigmal im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der dem damaligen Völkerbundsrat entspricht, getan hat: durch den Gebrauch des Vetos unbequeme Beschlüsse einfach zu verhindern.

Aber Stresemann verhielt sich in Locarno dieser Anregung gegenüber anders als Molotow und Wyschinski in jüngster Zeit in den Vereinten Nationen. „Ein solches Verfahren lehne ich ab“, rief Stresemann temperamentvoll in den Saal. „Wenn wir im Falle eines russischen Angriffs die Sowjetunion als Angreifer bezeichnen, so stehen wir mit dem ganzen Schwergewicht unseres moralischen Ansehens auf Seiten des Völkerbundes, trotzdem diese Haltung für Deutschland schwerste politische Folgen haben kann.“ Wenn Briand von einer gewollten Nicht-gleichberechtigung Deutschlands gesprochen habe, so weise er das mit aller Entschiedenheit zurück. Die Ungleichheit zwischen dem Militarismus der Alliierten und der Machtlosigkeit des Reiches sei von Deutschland sicherlich nicht gewollt. Er müsse in aller Offenheit den Alliierten sagen, daß sie das Prinzip der Abrüstung gegen Deutschland übertrieben hätten. „Welch ein Widerspruch, wenn man auf der einen Seite die deutsche Reichswehr zu einer reinen Grenzpolizei machen will, andererseits aber die militärische Mitwirkung dieser Grenzpolizei an einem Kriege verlangt.“

Nach den Darlegungen Stresemanns, die fast dreiviertel Stunden in Anspruch nahmen und von mir in längeren Abschnitten übersetzt wurden, trat eine Stille ein wie nach einem heftigen Sturm. Der Reichsaußenminister hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Er war in eine ziemliche Erregung geraten, und seine Lautstärke hatte sich zu meiner Freude so erhöht, daß ich mühelos folgen konnte, da auch sonst im ganzen Raum atemlose Stille herrschte, niemand umherlief oder mit Papieren raschelte, und alle, auch diejenigen, die nicht Deutsch verstanden, wie gebannt zu Stresemann hinsahen. So kam ich denn sehr gut mit meiner Arbeit voran. Ich habe überhaupt die Erfahrung gemacht, daß sich „Krach“ meistens leichter übersetzen läßt als vage Schalmeienklänge.

Von vielen Seiten hörte ich nach der Sitzung, daß Stresemanns Ausführungen die Grenze des politisch Möglichen gestreift hätten, daß sie aber doch in einer Form vorgebracht worden seien, die selbst bei Briand große Hochachtung für den Menschen Stresemann hervorgerufen hätte.

Während sich die Arbeit allmählich auf kleinere Gruppen und in die Hotelzimmer der Delegierten verschob, wurde die Kriegsschuldfrage noch auf einer Vollsitzung der Konferenz erörtert. Auch hierbei nahm Stresemann kein Blatt vor den Mund. Er hielt u. a. den Alliierten vor, daß sie selbst im Jahre 1919 den Eintritt des Reiches in den Völkerbund abgelehnt hätten, und betonte dann nachdrücklich, daß Deutschland zwar seine internationalen Verpflichtungen anerkenne, aber nicht in dem Sinne, daß es dabei eine moralische Schuld auf sich nehme. Ausdrücklich betonte Stresemann, daß die Reichsregierung ihre in der Kriegsschuldnotifizierung gemachten Erklärungen aufrechterhalte.

Wieder hatte ich den Eindruck, daß Stresemann bis an die Grenze des Möglichen gegangen war, und erwartete nach dem, was ich über dieses heikle Thema wußte, eine heftige Reaktion bei Briand und auch bei Chamberlain.

Mir war übrigens im Verlaufe der Konferenz wiederholt aufgefallen, daß Chamberlain sich Stresemann gegenüber außerordentlich kühl verhielt. Das mag an den persönlichen Gegensätzen der beiden Charaktere gelegen haben, denn man konnte sich tatsächlich keinen größeren Kontrast vorstellen als den starrnackigen Stresemann mit seinen lebhaften Augen und den hageren Engländer mit seinem unbeweglichen, monokelbewehrten Gesicht. Wenn Chamberlain überhaupt in Erregung geriet, was bei seinem „Fischblut“ selten genug vorkam, fuhr er lediglich mit den Händen wie eine Windmühle in der Luft herum. Aus manchen Äußerungen, die er im Laufe der Debatten und der Einzelgespräche tat, gewann ich den Eindruck, daß er nur sehr bedingt ein Freund Deutschlands war. Sein Herz gehörte Frankreich. Das sagte er auch ganz offen. Seine Delegation und andere Engländer behaupteten, er sei manchmal französischer als die Franzosen selbst.

Aber hier in der Kriegsschuldfrage schwiegen sowohl Briand als auch Chamberlain. Plötzlich aber meldete sich der belgische Außenminister, der Sozialist Vandervelde, zum Wort. Er war außerordentlich schwerhörig und trug auf der Brust als Hörhilfe ein kleines Mikrophon, dessen Rückkopplung manchmal bei den unpassendsten Gelegenheiten leise zu pfeifen begann, so daß sich die Umsitzenden erstaunt zu ihm umdrehten. Ich hatte mit Vandervelde insofern meine besondere Mühe, als er immer behauptete, ich spräche nicht laut genug. Oft bat er mich, beim Übersetzen unmittelbar neben seinen Platz zu treten, damit er besser verstehen könne, aber das genügte meistens auch noch nicht. Zum Zeichen, daß ich lauter sprechen sollte, hielt er sich die Hand ans Ohr und veranlaßte mich dadurch manchmal zum Vergnügen der übrigen Delegation, mit einer Stentorstimme auf ihn einzuschreien und ihm die delikatesten diplomatischen Formulierungen mit der Stärke eines Großlautsprechers in sein mikrophonbewehrtes Ohr zu brüllen. Erst dann lächelte er befriedigt hinter seinem dicken Kneifer und hatte den akustischen Anschluß an die Vorgänge auf der Konferenz wiedergewonnen.

Auch diesmal hatte ich mich neben ihn stellen müssen. Daß ich lauter sprach als sonst, fiel nicht weiter auf, denn Stresemann hatte es auch getan. „Herr Stresemann hat soeben die Frage aufgeworfen, wer den Krieg heraufbeschworen habe“, waren die ominösen Worte, mit denen der belgische Außenminister seine Ausführungen begann. „Aber das steht ja ganz deutlich im Versailler Vertrag“, fuhr er fort und erhöhte damit die über dem Raum lagernde Spannung außerordentlich. Jeder der Anwesenden fühlte, daß es zu einer Explosion kommen mußte, wenn Vandervelde so fortfuhr. Chamberlain trommelte nervös auf die Tischplatte. Er sah wohl bereits die Konferenz an der Kriegsschuldfrage scheitern. Als Vandervelde zu dem nächsten Satz ansetzte und dabei wieder mit dem Versailler Vertrag anfing, unterbrach ihn Chamberlain und sagte, daß Stresemann diese Frage keineswegs aufgeworfen habe. Jetzt mischte sich auch Briand ein, sichtlich in dem Bemühen, die Situation zu retten, und erklärte, soweit er verstanden habe, sei lediglich von dem Memorandum die Rede gewesen, das Deutschland zur Frage seines Eintritts in den Völkerbund nach Genf gerichtet habe. In diesem Dokument sei allerdings auch von der Kriegsschuld die Rede gewesen.

Stresemann nahm den Ball geschickt auf: er habe nur auf die Stelle in dem deutschen Völkerbundsmemorandum angespielt, in der wörtlich ausgeführt werde, daß Deutschland eine moralische Schuld nicht übernehme. Vandervelde, der die ganze Sache keineswegs mit der Absicht, Schwierigkeiten zu machen, aufgebracht hatte, sondern dessen Intervention mehr aus einer bei schwerhörigen Leuten gelegentlich in Erscheinung tretenden Unbeholfenheit heraus entstanden war, erklärte darauf, daß er zu dem Thema nichts mehr zu sagen habe! Das erleichterte Aufatmen der ganzen Konferenz war fast akustisch wahrnehmbar. Die Kriegsschuldfrage wurde danach nicht wieder angeschnitten. Durch ihr Schweigen hatten England und Frankreich meinem Gefühl nach die deutsche These anerkannt.

Auch über die Frage der Beteiligung an Völkerbundssanktionen, wenn Deutschland Mitglied der Genfer Institution geworden sei, wurde einige Tage später, nach gründlicher Vorarbeit der Juristen, auf einer Motorbootfahrt auf dem Lago Maggiore ein Kompromiß abgeschlossen. Diese Fahrt auf dem herrlich blauen See in der zauberhaften Landschaft der Südschweiz war alles andere als ein Vergnügungsausflug. Fast von Anfang an saßen die Außenminister in der Kabine und sprachen über sehr ernsthafte Dinge. Dabei kam auch nach langem Hin und Her ein Kompromiß über die Sanktionsbeteiligung zustande. Die Alliierten würden in einer offiziellen Note an Deutschland eine Auslegung des die Sanktionen betreffenden Artikels XVI der Völkerbundssatzung geben, in der sie ausdrücklich zusichern wollten, daß auf die militärische und geographische Lage Rücksicht genommen werden würde.

Damit waren in der Kriegsschuld- und in der Sanktionsfrage zwei große Schwierigkeiten, die dem Vertragsabschluß entgegenstanden, an Bord der „Orangenblüte“ aus dem Wege geräumt worden. Diese Fahrt war zum Teil unternommen worden, um den Außenministern Gelegenheit zu geben, einmal völlig ungestört durch die Presse, die im Rathaus und in den einzelnen Hotels ihre Schritte und ihre Mienen stets argwöhnisch überwachte, ungestört auch von allzu vielen technischen Mitarbeitern im freien Gespräch von Mann zu Mann die Grundprobleme zu erörtern.

Stresemann brachte auf dieser Fahrt unumwunden seine Ansicht zum Ausdruck, daß nach Abschluß des Locarno-Vertrages die Besetzung des Rheinlandes durch alliierte Truppen völlig überflüssig sei; der Schutz, den diese Besetzung darstellen sollte, sei ja durch den Vertrag und die Verpflichtungen, die Deutschland mit ihm übernehmen würde, sichergestellt. Er meldete hiermit erstmalig eine Forderung an, die erst viel später auf der Haager Konferenz im Sommer 1929 erfüllt wurde und die Räumung der besetzten Gebiete fünf Jahre vor dem im Versailler Vertrag vorgesehenen Datum zur Folge hatte. Noch eine ganze Reihe anderer deutscher Forderungen und Wünsche wurde auf dieser Fahrt erörtert. Dabei handelte es sich um die Räumung der Kölner Zone, Erleichterungen im Besatzungsregime und die Rückwirkung all dieser Abmachungen auf die Verhältnisse im Saargebiet, „wo die Abstimmung natürlich auch vorverlegt werden muß“, wie Stresemann erklärte. Auch die Wiederzulassung Deutschlands zur Zivilluftfahrt wurde hier zum ersten Male in vorsichtiger Form zur Sprache gebracht.

Briand reagierte nicht, wie man es hätte erwarten können, mit Heftigkeit auf diese für die damaligen Verhältnisse recht weitgehenden Wünsche. Er verhielt sich ausweichend. „Das ist eine recht kühne Wunschliste“, charakterisierte er seinen ersten Eindruck. Zur Regelung all dieser Fragen sei eine neue Konferenz notwendig, die sicherlich sehr viel länger dauern werde als Locarno. Damit sollte er recht behalten. Denn tatsächlich waren von jener Zeit ab diese Probleme ein ständiges Gesprächsthema bei den Zusammenkünften zwischen Briand und Stresemann. Erst viele Jahre später sollten sie ihre Lösung finden.

An jenem Tage wurde jedoch auf dem Lago Maggiore die Diskussion darüber in einer freundlichen und hoffnungsvollen Atmosphäre eröffnet. Briand und Chamberlain zeigten sich auch im allgemeinen nicht unzugänglich. Besonders Briand gab zu verstehen, daß er in diesen „Rückwirkungen“ des Locarno-Abkommens nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zeigen werde, daß er wirklich für den Frieden zwischen Frankreich und Deutschland eintrete. Er drückte sich dabei ähnlich aus wie Herriot in London. Nur sprach er abgeklärter als dieser und dramatisierte die Widerstände, die er in Frankreich voraussah, nicht, sondern behandelte sie, wie es seiner Art entsprach, mit Sarkasmus und Spott.

So gingen denn alle Teilnehmer dieser Fahrt auf der „Orangenblüte“, an der als einzige nicht offizielle Persönlichkeit Frau Chamberlain teilgenommen hatte, in einer sehr zuversichtlichen Stimmung wieder in Locarno an Land. Das Eis war bei dieser Gelegenheit endgültig gebrochen. Es fanden nun keine großen Rededuelle im Rathaussaal mehr statt. Was noch zu erledigen war, wurde zwischen den Hauptdelegierten in Besprechungen zu dritt oder zu viert in ihren Hotels geregelt. Auch für mich war die Arbeit dadurch leichter geworden. Ich hatte keine Hörschwierigkeiten mehr, denn ich saß bei diesen Gesprächen mitten zwischen den Außenministern am Teetisch oder an der Mittagstafel. Die Hauptlast der eigentlichen Formulierungsarbeit lag nach wie vor bei den drei Juristen, zu denen sich der Belgier Rolin als Vierter hinzugesellt hatte.

In der Zwischenzeit hatten die beiden Vertreter der Tschechoslowakei und Polens, Dr. Benesch und Graf Skrzynski, eine etwas unglückliche Rolle gespielt. Sie saßen gleichsam antichambrierend in ihren Hotels herum, denn sie wurden weder zu den Besprechungen der Großen noch zu den Sitzungen der Konferenz hinzugezogen. Erst in den letzten Tagen nahmen sie als Beobachter an einigen Vollsitzungen, und zwar auf Anregung von Chamberlain, teil. Die ganze Zeit über hatten sie allerdings mit ihrem Bundesgenossen Frankreich Fühlung gehalten, um wenigstens auf diese Weise ihre Interessen indirekt wahrnehmen zu können.

Auch Mussolini war unter dem Schutz seiner Leibgarde für kurze Zeit von Italien herübergekommen. Er hatte vorher versucht, für die Brenner-Grenze eine ähnliche Garantie zu bekommen, wie sie Frankreich für seine Ostgrenze erhalten sollte, denn er fürchtete, daß durch das Locarno-Abkommen Grenzen erster und zweiter Klasse in Europa entstünden. Er war aber mit dieser Forderung nicht durchgedrungen.

Dem italienischen Botschafter in Berlin, der Stresemann einmal auf diese Frage ansprach, hatte der Außenminister erwidert, daß dieser Wunsch seitens Italiens eigentlich einer Billigung des Anschlusses von Österreich an Deutschland gleichkäme: erst dann sei ja der Brenner eine deutsch-italienische Grenze, für die Deutschland eine Garantie geben könne.

Auf der Konferenz selbst betätigte sich Mussolini nicht. Er war mehr eine journalistische Sensation und verschwand ebenso schnell wieder, wie er gekommen war. Ich war bei der kurzen Besprechung, die er mit Reichskanzler Luther hatte, nicht zugegen. Um so ausgiebiger habe ich ihn dann nach 1935 in den Besprechungen mit Hitler und Göring, an denen ich fast ausnahmslos teilnahm, kennengelernt.

Aus den Einzelbesprechungen der Staatsmänner in Locarno und aus der Arbeit der Juristen entstand dann allmählich das Vertragswerk, das am 16. Oktober 1925 in demselben kleinen Rathaussaal paraphiert wurde, in dem auch die Eröffnungssitzung und die Vollsitzungen der Konferenz stattgefunden hatten.

Es handelte sich dabei um acht Dokumente, und zwar um einen Garantievertrag zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien, in dem sich Deutschland und Belgien sowieDeutschland und Frankreich gegenseitig verpflichteten, niemals gegeneinander Krieg zu führen und alle Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu schlichten. Dieser Vertrag enthielt außerdem ein von England und Italien garantiertes, gegenseitiges Versprechen, den Gebietsstand und die Grenzen zwischen Deutschland und seinen beiden westlichen Nachbarn zu respektieren. Deutschland übernahm weiterhin die Verpflichtung, das im Versailler Vertrag festgelegte Gebiet als entmilitarisierte Zone zu achten. Wann die Beistandspflicht Englands oder Italiens zugunsten Deutschlands oder Frankreichs und Belgiens auf Grund des Vertrages wirksam würde, sollte der Völkerbundsrat entscheiden. Die einzige Ausnahme, in der eine sofortige Aktion erfolgen konnte, war der Fall einer Invasion in das Gebiet eines der garantierten Länder oder eine Verletzung der Bestimmungen über die entmilitarisierte Zone durch Deutschland.

Dies war übrigens die Bestimmung, die Frankreich eine Sofortaktion ermöglicht hätte, als Hitler am 7.März 1936 unter Bruch des Locarno-Abkommens in die entmilitarisierte Zone einmarschierte.

Zu diesem eigentlichen Locarno-Abkommen gehörten als Nebenverträge die gleichzeitig abgeschlossenen Schiedsabkommen zwischen Deutschland und Belgien und Deutschland und Frankreich, die die Verfahrensregeln bei der friedlichen Beilegung aller Streitigkeiten, wie sie im Hauptabkommen festgelegt worden war, im einzelnen bestimmten. Dazu kamen noch Schiedsverträge zwischen Deutschland und Polen und Deutschland und der Tschechoslowakei mit ähnlichen Bestimmungen über die friedliche Regelung aller Meinungsverschiedenheiten, die zwischen diesen Ländern entstehen könnten. In diesem Falle war also keinerlei Garantie des Gebietsstandes oder der Grenzen ausgesprochen worden. Dagegen hatte sich Deutschland mit Erfolg gewehrt. Grenzveränderungen waren also nicht ausgeschlossen. Sie mußten aber ohne Gewaltanwendung durchgeführt werden, wie dies, zum mindesten der Form nach, der Tschechoslowakei gegenüber später durch das Münchener Abkommen zwischen England, Frankreich und Deutschland im Jahre 1938 geschah.

Schließlich wurden noch zwei Verträge zwischen Frankreich und Polen und Frankreich und der Tschechoslowakei paraphiert, in denen sich diese Länder gegenseitig eine Garantie für die Einhaltung der Verpflichtungen gaben, die Deutschland ihnen gegenüber übernommen hatte. Es handelte sich mit anderen Worten darum, daß Frankreich als Garant für die deutsch-polnischen und deutsch-tschechoslowakischen Verträge eintrat. Darin lag eine Einschränkung der Bündnisverträge Frankreichs mit diesen beiden Ländern insofern, als die Beistandspflicht Frankreichs nicht mehr, wie früher, allgemein gehalten war und für jede Art von kriegerischer Verwicklung galt, sondern jetzt nur noch für den Fall eines nicht provozierten Angriffs auf Polen oder die Tschechoslowakei in Anspruch genommen werden konnte. Dieser Bündnisfall ergab sich 1939 für Frankreich, als Hitler nach Polen einmarschierte.

Alle diese Verträge nebst einem Schlußprotokoll lagen nun zur Paraphierung auf dem großen Tisch vor uns. Das Schlußprotokoll wurde als einziges Schriftstück verlesen. In ihm waren u. a. die Wünsche berücksichtigt, die Deutschland in bezug auf seine Mitgliedschaft im Völkerbund geäußert hatte, wie sie im Artikel X des Locarno-Abkommens als Bedingung für dessen Inkrafttreten festgelegt war. Außerdem fand hier auch die allgemeine Abrüstung Erwähnung, die schließlich auf der großen Abrüstungskonferenz scheitern sollte, an der ich in den 30er Jahren teilnahm und bei der ich im Jahre 1933 den dramatischen Austritt Deutschlands aus der Konferenz und aus dem Völkerbund miterlebte.

Über die „Rückwirkungen“ aus dem Locarno-Abkommen, die Stresemann auf der Konferenz so energisch gefordert hatte, war im Protokoll selbst nichts vorgesehen. Sie fanden in vorsichtiger Form in Briands Schlußrede ihren Platz und wurden tatsächlich in späteren Jahren Wirklichkeit. Die letzte dieser Rückwirkungen war die Befreiung des gesamten Rheinlandes im Jahre 1930.

Die Paraphierung dieser zahlreichen Dokumente durch die Hauptdelegierten der an der Konferenz beteiligten Länder nahm bei den engen räumlichen Verhältnissen sehr lange Zeit in Anspruch. Wieder ging es dabei, wie in London, wenig feierlich zu. Manchmal wurde man direkt an ein etwas überfülltes Schreibzimmer eines großen Hotels erinnert.

Danach begann erst die eigentliche Schlußsitzung, die wohl das Eindrucksvollste war, was ich jemals in meiner langen Laufbahn erlebt habe. Seit mittags war der ganze Ort auf den Beinen, denn bereits am Tage vorher war die endgültige Einigung bekanntgeworden, und die kleine Stadt hatte zur Feier dieses Ereignisses ihren schönsten Festschmuck angelegt. Die Fahnen der beteiligten Länder prangten an vielen Häusern. Girlanden zogen sich durch die Straßen, an Transparenten war allenthalben das Wort „Pace“ zu lesen. Gegen Abend schon war die Stadt auf eine primitive, aber gerade deshalb um so überzeugender wirkende Weise illuminiert worden. Auf den Hotels erschien, aus elektrischen Glühbirnen gebildet, an vielen Stellen auch wieder das Wort „Pace“, das wie ein großes Losungswort in diesen Schlußtagen über der Konferenz und über Europa zu stehen schien. Mit südlichem Temperament gaben die einfachen Leute ihre Freude über das Friedenswerk zu erkennen. Selbst in den kleinsten Häusern waren zur Feier des Tages an den Fenstern ein paar Kerzen angezündet, die die Gefühle der Bewohner in rührender Weise zum Ausdruck brachten.

Die Schlußsitzung spielte sich in einer unvergeßlichen Atmosphäre der Hoffnung und des guten Einvernehmens ab. „Es gibt von jetzt ab weder Sieger noch Besiegte“, hatte Chamberlain schon am Vortage auf einem Pressefrühstück erklärt, und dieser Gedanke war das Leitmotiv der kurzen Schlußreden, die damals gehalten wurden.

„Mit Locarno muß eine neue Epoche anfangen, sonst ist es eine leere Geste gewesen“, erklärte Briand. „Weder Sieger noch Besiegte“, wiederholte Chamberlain. „Wir haben die Verantwortung für dieParaphierung der Verträge übernommen, weil wir glauben, daß nur auf dem Wege friedlichen Nebeneinanderlebens der Völker jene Entwicklung gesichert werden kann, die für keinen Erdteil so wichtig ist wie für das große europäische Kulturland“, hatte Stresemann ausgerufen. „Locarno ist nicht das Ende, sondern der Anfang einer Periode vertrauensvoller Zusammenarbeit“, hatte Chamberlain noch einmal zum Schluß nach der Paraphierung unter dem brausenden Beifall aller Anwesenden verkündet.

Durch die an dem warmen Oktoberabend weit geöffneten Fenster des kleinen Saales drang der Beifall auf den Vorplatz hinaus, auf dem sich schon seit Stunden eine erwartungsvolle, dicht gedrängte Menge versammelt hatte. Sie nahm ihn auf, und bald wurde im Saal jede Unterhaltung durch das brausende Rufen und Beifallsklatschen unmöglich gemacht, das von draußen hereindrang. Im selben Augenblick begannen die Glocken von Madonna del Sasso zu läuten und am Ufer des Sees stiegen die ersten Raketen eines großartigen Friedensfeuerwerkes auf. Stürmisch verlangte die Menge die Delegierten zu sehen. Luther, Stresemann, Briand und Chamberlain traten auf den schmalen Balkon. Der Beifall wuchs zum Orkan.

Ich konnte die ganze Szene von einem anderen Fenster des Saales aus gut überblicken. Gleichzeitig bemerkte ich auch, daß sich die Vertreter der kleineren Mächte, wie von einem Magnet angezogen, möglichst unauffällig auf die Balkontür zu bewegten, um sich auch ihrerseits der jubelnden Menge zeigen zu können. Mit der unbekümmertsten Miene der Welt gingen sie im Gespräch mit anderen Konferenzteilnehmern, die offensichtlich dasselbe Ziel verfolgten, langsam, wie zufallig, auf den Balkon zu, um dann dicht vor dem Ziel den Gesprächspartner unvermittelt stehen zu lassen und mit einem strahlenden Siegerlächeln auf den Balkon hinauszustürzen.

Nachdem auf diese Weise auch die „Kleinen“ zu ihrem Recht gekommen waren, fand im Saal die allgemeine Verabschiedung statt, und unsere Delegation verließ das Haus. Als wir mit Stresemann und Luther die wenigen Stufen der kleinen Freitreppe hinabstiegen, brauste der Beifall der Menge erneut auf. Dann wurde es plötzlich ganz still. Alle Männer nahmen den Hut ab und bildeten ein schweigendes, ergriffenes Spalier, durch das wir, tief beeindruckt, zu unseren Wagen gingen, um ins Esplanade zurückzufahren.

Aus dem sonnigen Süden kehrten wir zurück in den kalten Norden. Hier war der Bahnhof wieder abgesperrt, aber nicht wegen jubelnder Menschenmengen. Die Deutschnationalen hatten in ihrer großen Presse Sturm gegen das Abkommen gelaufen. Wir hatten schon im Zuge ihre wütenden Angriffe gegen Luther, vor allem aber gegen Stresemann in den Zeitungen lesen können. Wieder verbreitete sich die Attentatsfurcht in der Delegation, und die Namen Rathenau und Erzberger tauchten wieder in den Gesprächen auf. Auf dem Potsdamer Bahnhof erwartete uns das Diplomatische Corps, und der englische Botschafter Lord D’Abernon richtete im Auftrage Chamberlains an Luther und Stresemann folgende Worte: „Ich bin ausdrücklich von Herrn Chamberlain beauftragt, Sie zum Erfolg der Konferenz in Locarno zu beglückwünschen … Der deutschen Regierung wird immer die Ehre bleiben, die Initiative ergriffen zu haben, welche zum Vertrag von Locarno geführt hat.“

In den nächsten Wochen wurde der Vertrag dann trotz der Obstruktion der Deutschnationalen, die ihre Minister aus dem Kabinett zurückzogen und Stresemann wüst beschimpften, vom Reichstag angenommen und fand bei der großen Mehrheit des deutschen Volkes aufrichtige Zustimmung. Allenthalben herrschte das Gefühl, welches durch die Haltung des offiziellen und inoffiziellen Auslandes noch bestätigt wurde, daß Deutschland nunmehr wieder als moralisch Gleichberechtigter in den Kreis der europäischen Nationen aufgenommen worden war. Jeder, der wie ich, viel im Auslande zu tun hatte, merkte im Kleinen wie im Großen diesen Stimmungsumschwung fast täglich. Es war tatsächlich ein neuer Geist auch im persönlichen Verkehr mit den Ausländern eingezogen, und in dieser Beziehung war der später sooft bespöttelte „Geist von Locarno“ durchaus eine Realität.

Auch auf dem Gebiete der Politik hat er, wenn auch für die begreiflicherweise ungeduldigen Deutschen nicht immer schnell genug, seine Wirkung getan. Ich habe das persönlich auf den Konferenzen und Besprechungen der folgenden Jahre sehr genau miterlebt. Wenn man sich heute die Kritik vergegenwärtigt, welche damals die Rechtsparteien an Locarno und an Stresemann übten, und damit die Ergebnisse vergleicht, die Jahr um Jahr durch den Geist dieses Vertrages erzielt wurden und schließlich dazu führten, daß das gesamte besetzte Gebiet fünf Jahre vor der festgesetzten Zeit von der Besatzung befreit wurde, dann kann man über den Kleinmut und die Kurzsichtigkeit der damaligen Opposition eigentlich nur lächeln.

Sein Ende fand Locarno an jenem 7. März 1936, an dem Hitler in selbstherrlicher Unkenntnis der psychologischen Realitäten durch seinen Einmarsch in die entmilitarisierte Zone das Rheinland zum zweiten Male „befreite“ und damit ein weiteres Glied an die Kette jener Uber-raschungsaktionen fügte, die letzten Endes zu einer erneuten Besetzung, diesmal des ganzen Reichsgebietes, durch die vier Alliierten des Zweiten Weltkrieges geführt haben. In dieser „Befreiungsaktion“ wurde er zum Unglück der beiden Vertragspartner von Locarno, Deutschland und Frankreich, zum Unglück Europas und der ganzen Welt, unterstützt durch die Haltung derselben Mächte, die damals im Rathaus von Locarno ihre Unterschrift unter einen Vertrag setzten, der das gewaltsame Vorgehen eines Friedensstörers wie Hitler unmöglich machen sollte.

Unbegreiflich wie an jenem schwarzen Tage im März 1936 ist mir auch heute noch die Passivität Frankreichs und Englands, denen auf Grund der am Lago Maggiore getroffenen Regelung sehr wohl die Möglichkeit gegeben gewesen wäre, durch ein sofortiges Einschreiten der Tollkühnheit des „Staatsmannes“ Hitler einen energischen Riegel vorzuschieben und damit dem Lauf der Geschichte eine andere Richtung zu geben. Hitler selbst hat in meiner Gegenwart einmal erklärt, daß die 24 Stunden nach dem Einmarsch in das Rheinland zu den aufregendsten seines ganzen Lebens gehort hätten. „Wären die Franzosen damals nach Deutschland eingerückt, so wie ich es während dieser 24 Stunden für möglich hielt, dann hätte ich mich mit Schimpf und Schande wieder zurückziehen müssen.“ Ich kann mir keinen stärkeren Beweis für die friedensichernden Qualitäten der Vertragsbestimmungen von Locarno vorstellen als diesen Ausspruch des deutschen Diktators.

Derselbe Botschaftsrat Forster, der am 9. Februar 1924 das von mir übersetzte Locarno-Memorandum Herriot überreicht hatte, vertrat übrigens in einem Bericht, zu dem er kurz vor der geplanten Aktion Hitlers vorsorglich aufgefordert worden war, von Paris aus die Auffassung, daß die Franzosen marschieren würden. Er wurde selbstverständlich sofort danach kaltgestellt, als sich seine Voraussage nicht erfüllte. „Wenn Frankreich nur im geringsten auf seine Sicherheit bedacht ist, dann muß es jetzt unbedingt handeln“, so hatten auch wir damals im Auswärtigen Amt argumentiert. Durch das Ausbleiben der von Vielen erwarteten Folgen der Rheinlandaktion Hitlers stieg dessen Prestige genau so, wie das Ansehen derjenigen sank, welche die Entschlossenheit Frankreichs und Englands falsch eingeschätzt hatten.

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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