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6 RÜCKKEHR
IN DIE VÖLKERGEMEINSCHAFT (1926)

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Die Wirtschaftsverhandlungen in Paris waren nun für eine lange Zeit wieder meine Hauptbeschäftigung. Aber sie waren es nicht ausschließlich. Schon im Mai nahm ich daneben auch noch an den Verhandlungen teil, die zu dem sogenannten Pariser Luftabkommen führten.

Dieses Abkommen war ebenfalls eine Auswirkung der neuen deutschfranzösischen Verständigungspolitik von Briand und Stresemann. Nach den Beschränkungen des Versailler Vertrages wurde die deutsche Zivilluftfahrt nunmehr völlig frei. Motoren und Flugzeuge konnten von jetzt ab in jeder beliebigen Größe gebaut werden. Der Höhenflug unterlag keiner Beschränkung mehr. Zeppelin-Luftschiffe konnten von neuem konstruiert werden, und die Luftschiffwerft in Friedrichshafen wurde nicht demontiert! Es war ein großer Schritt vorwärts.

Noch oft habe ich später an diese Maitage des Jahres 1926 in Paris gedacht, wenn ich mit der Lufthansa über Europa dahinflog. Auf solchen Flügen hoch über den Wolken, in einer Umgebung, in der einen kaum etwas an den Dunst des Lebens auf der Erde erinnert, wenn die Maschine in den stillen oberen Luftschichten sanfter als ein D-Zugwagen ihre Bahn dahinzieht, kommt man leichter zum ruhigen Nachdenken als im Getriebe der Verhandlungen. Selten ist mir der Zusammenhang zwischen dem, was ich in den Gesprächen der Staatsmänner hinter verschlossenen Türen miterlebte, und dem praktischen Leben des großen Alltags klarer geworden als an diesem Beispiel der wiedererstandenen deutschen Zivilluftfahrt. Am Anfang hatten zwei Männer in ernstem Gespräch über das Verhältnis ihrer beiden Länder und über die Beseitigung der Nachkriegsschwierigkeiten in Europa in einem kleinen Hotelzimmer in Locarno gesessen. Bereits einige Monate danach war ihre Vision teilweise zur Wirklichkeit geworden. Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland war im Luftverkehr verschwunden. Der ersten Fluglinie zwischen Berlin und Paris folgten weitere Verbindungen mit allen Hauptstädten Europas. Bis über den Atlantik nach Südamerika reichte später das Streckennetz der Lufthansa.

Ich habe die Fortentwicklung der deutschen zivilen Luftfahrt stets mit Interesse verfolgt. Als Luftpassagier habe ich viele Tausende von Kilometern zurückgelegt und als Dolmetscher an einigen Konferenzen der Vereinigung der Luftverkehrsgesellschaften, der berühmten I.A.T.A., der heute noch bestehenden International Air Traffic Association, teilgenommen, habe auch dort etwas hinter die Kulissen geblickt und gesehen, welche heftigen Kämpfe sich um Flugplätze und Tarife abspielten und was für ein angstvolles Problem die Frage der Haftung des Lufttransporteurs war, über die man sich in dem so stark erweiterten Kreise der heutigen I.A.T.A. auch heute noch immer nicht einig geworden ist.

Im Mai 1926 wurde ich im Anschluß an die Pariser Luftfahrtverhandlungen noch einmal für kurze Zeit nach Genf geschickt, wo die Abrüstungsfrage zum ersten Male nach dem Weltkriege auf internationaler Grundlage in Angriff genommen werden sollte. Ein vorbereitender Ausschuß, dem als deutscher Vertreter der ehemalige Botschafter in Washington, Graf Bernstorff, mit einer ganzen Reihe von militärischen Sachverständigen angehörte, trat am 18. Mai dort zusammen, um das Programm für die internationale Abrüstungskonferenz aufzustellen und die sachlichen Vorbereitungen zu treffen. Im Laufe der Jahre löste eine vorbereitende Sitzung die andere ab, und erst sechs Jahre später, im Februar 1932, kam nach starken französischen Verzögerungsversuchen auf vielfaches Drängen Deutschlands die eigentliche Abrüstungskonferenz zustande. Hier war ich über ein Jahr lang der erste deutsche Dolmetscher, bis das Reich unter Hitler im Herbst 1933 die Abrüstungskonferenz verließ und aus dem Völkerbund austrat.

Nach einem Zwischenabkommen wurden im Sommer die deutschfranzösischen Handelsvertragsverhandlungen vertagt, und ich kehrte nach Berlin zurück. Mein Aufenthalt sollte nur von kurzer Dauer sein.

Am 8. September 1926 um 11.55 Uhr beschloß die Vollversammlung des Völkerbundes einstimmig die Aufnahme Deutschlands und erkannte ihm einen ständigen Ratssitz zu. Damit war das Reich wieder endgültig als diplomatisch gleichberechtigter Partner in den Kreis der Nationen aufgenommen. Noch am Abend desselben Tages reiste ich mit Stresemann und der übrigen Delegation, diesmal ohne Sonderzug, nach Genf. Der Reichskanzler – es war an Stelle Luthers wieder Marx – blieb in Berlin. Als sein Vertreter nahm der Staatssekretär der Reichskanzlei, Dr. Pünder, der später als Oberdirektor der höchste deutsche Beamte in der Bizone war, an der Reise teil. Außerdem waren der Delegation noch Vertreter der politischen Parteien beigegeben worden, wie es von da ab bei den alljährlichen Herbsttagungen des Völkerbundes stets geschah. So erlebte ich Breitscheid von den Sozialdemokraten, den Prälaten Kaas von der Zentrumspartei, den Freiherrn von Rheinbaben von der Deutschen Volkspartei, Professor Hoetzsch von den Deutschnationalen und andere Parlamentarier bei dieser und bei späteren Gelegenheiten auf dem Genfer Parkett. Sie vertraten das Reich würdig und geschickt in den verschiedenen Unterkommissionen der Vollversammlung, und ich habe den meisten von ihnen als Dolmetscher oder Übersetzer zur Seite gestanden.

Schon der Empfang am Bahnhof in Genf war für Stresemann ein persönlicher Triumph. Eine riesige Menschenmenge erwartete die Ankunft unseres Zuges. Nur mit Mühe konnten wir uns einen Weg durch das Gewühl der offiziellen Vertreter, der Journalisten und des internationalen Publikums bahnen. An Locarno gemessen, schien mir allerdings zunächst die Begrüßung etwas kühl. In dem calvinistischen Genf gab es keinen Applaus wie am Lago Maggiore. Hier starrte zunächst alles nur schweigend und gespannt den deutschen Außenminister an, der hier und dort einen Bekannten in der Menge entdeckte und ihm strahlend die Hand reichte. Nur langsam kamen wir vorwärts, denn nun streckten sich Stresemann immer mehr Hände entgegen, er wurde allmählich von allen Seiten angesprochen. Zurufe auf deutsch und französisch flogen ihm entgegen, die Spannung begann sich zu lösen. Als er schließlich die Bahnsteigtreppe erreicht hatte, brach der Beifall los, und die kühle Genfer Atmosphäre verwandelte sich in diesem Augenblick mit einem Male in das strahlende Wetter von Locarno.

Das war auch äußerlich der Fall, denn hell schien diesmal die Sonne in dem sommerlich heißen Genf vom klaren, blauen Himmel herab, während wir über die Montblanc-Brücke zum Hotel Métropole fuhren. Die Märzstürme hatten einer sanften Brise Platz gemacht, und in der Ferne konnten wir, fast zum Greifen nah, den schneebedeckten Gipfel des Montblanc erkennen, an dessen Hängen sich die Sonne auf den Eisflächen der Gletscher spiegelte.

Kaum hatten wir unsere Koffer ausgepackt, begann schon die Arbeit mit Hochdruck. Es wurde wieder eine schlaflose Nacht der Übersetzung, „die Nacht der Nächte“, wie wir diese Vorbereitungen auf große Reden im Sprachendienst nannten. Michaelis und Norden waren auch wieder aus Berlin mitgekommen, und während Gaus, Schubert und andere Delegationsmitglieder am Anfang des „Fließbandes“ noch die letzte Hand an die aus Berlin im Rohbau bereits mitgebrachte Eintrittsrede Stresemanns legten und er selbst die vorbereiteten Texte durchsah und umdiktierte, übersetzten wir drei in der Endstufe dieser Gemeinschaftsarbeit den Text ins Französische. Jeder von uns übernahm ein Drittel, dann traten wir zu einer gemeinsamen Redaktionssitzung zusammen, in welcher der endgültige französische Text fertiggestellt wurde. Jeder las sein eigenes Meisterwerk vor, und die beiden anderen kritisierten. Bei solchen Besprechungen ging es immer sehr lebhaft zu, besonders zwischen den „Veteranen“ Michaelis und Norden, die, jeder in seiner Art, hervorragende Stilisten waren, aber sich nur schwer vom anderen überzeugen ließen. Ich saß als Jüngster dazwischen und war meistens froh, wenn meine „Prosa“ von ihnen nicht allzusehr zerpflückt wurde. Je länger die Nacht sich hinzog, um so erregter wurde die Stimmung bei uns.

„Hier geht es ja zu wie im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages“, sagte einmal Breitscheid morgens um 2 Uhr, als er, durch das Stimmengewirr herbeigelockt, den Kopf zur Tür hereinsteckte, ihn aber beim Anblick der drei kampfeslustigen Dolmetscher erschreckt sofort wieder zurückzog.

Für den ganzen technischen Stab der Delegation fiel die Nachtruhe ebenfalls aus. Bis in den hellen Morgen hinein klapperten die Schreibmaschinen und drehten sich die Vervielfältigungsapparate; so eine wichtige Rede sollte ja unmittelbar, nachdem sie gehalten war, auf deutsch und, wenn möglich, auch auf französisch an die Presse verteilt werden. Das hört sich alles viel leichter an, als es getan ist, denn der Text wird meistens noch in letzter Minute an diesem oder jenem Punkt neu formuliert. Das bedeutet neues Schreiben, neues Vervielfältigen, neues Übersetzen. Alle Beteiligten müssen dabei sehr scharf aufpassen, damit nicht aus Versehen im deutschen oder im französischen Text überholte Stellen stehenbleiben und auf diese Weise der Welt verraten, was der deutsche Außenminister noch im letzten Augenblick geändert hat. Daher sinkt das technische Personal nach so einer durcharbeiteten Nacht meist erschöpft ins Bett und erlebt unmittelbar nichts von dem, wofür es die Nachtruhe opfern mußte.

Nur der Dolmetscher kann nicht ruhen. Durch eine kalte Brause und einen starken Kaffee bringt er sich wieder in Form, um seines Amtes walten zu können. So ging es auch mir an jenem Freitagmorgen, dem 10. September 1926: Ich war dazu ausersehen worden, nach Stresemann die deutsche Einführungsrede von der Tribüne des Völkerbundes herab auf französisch zu verlesen. Vor Michaelis und seinem Temperament hatte man immer noch Angst.

So ging ich denn kurz nach 10 Uhr mit Stresemann und den beiden anderen Hauptdelegierten Deutschlands, Staatssekretär von Schubert und Ministerialdirektor Gaus, zu Fuß in den nur einige hundert Meter neben dem Métropole gelegenen provisorischen Sitzungssaal des Völkerbundes, den sogenannten Reformationssaal. Als wir aus dem kühlen Hotel auf die sommerliche Straße kamen, erwartete uns schon eine Menschenmenge, die das Hotel seit den frühen Morgenstunden belagert hatte, um den deutschen Außenminister zu sehen. Sie gab uns bis zum Völkerbundshaus das Geleit, etwa so wie die Zuschauer in breiter Front neben der aufziehenden Wache Unter den Linden in Berlin mitzulaufen pflegten. Sogar einige unentwegte Autogrammjäger winkten aus der Nähe mit bereitgehaltenem Block und Füllhalter Stresemann zu. Er selbst strahlte, als er sich, umringt von vielen Journalisten und Konferenzbummlern aus aller Herren Ländern, im angeregten Gespräch mit den beiden anderen Delegierten unter dem strahlenden Genfer Himmel auf das Ziel zu bewegte, das er nach der langen Wanderung von London über Locarno und die Hindernisse, die sich noch im Frühjahr so unerwartet vor ihm aufgetürmt hatten, nunmehr in wenigen Minuten erreicht haben würde.

An der Tür des Reformationssaales empfing uns Sir Eric Drummond, der Generalsekretär, und geleitete uns durch ein paar enge, dunkle, überfüllte Räume, die wohl dem entsprechen sollten, was man in den Parlamenten die Wandelgänge nennt. Die Vollversammlung tagte bereits seit einer halben Stunde. Als erster Punkt stand die Aufnahme Deutschlands auf der Tagesordnung. Soeben, genau um 10.35 Uhr, war von dem Präsidenten, dem jugoslawischen Außenminister Nintschitsch, der formelle Beschluß dieses Weltparlaments verkündet worden, daß Deutschland aufgenommen sei.

„Ich bitte die deutschen Delegierten, nunmehr ihre Plätze einzunehmen“, tönte seine Stimme aus dem Lautsprecher in der engen „Wandelhalle“, die eigentlich der Teesalon des mit dem Tagungssaal zusammenhängenden Hotels Victoria war. Der große Augenblick war gekommen.

Eine kleine Tür öffnete sich, die den Blick in einen großen, dunkelgetönten Saal mit mehreren übereinanderliegenden Rängen freigab. Durch das Glasdach drang das helle Sonnenlicht hinein. Die Eingangstür lag etwas erhöht hinter dem Präsidentensitz und der Rednertribüne, so daß man die Delegationen im Saal, dicht gedrängt und erwartungsvoll auf die kleine Tür blickend, erkennen konnte. Die Tribünen waren überfüllt. Die hellen Sommerkleider der Frauen und einige weiße Turbane von Delegierten oder Zuschauern aus Indien oder Arabien leuchteten als bunte Flecken in der Menge auf, die fast regungslos und schweigend dasaß.

Ich sah noch, wie Stresemann sich plötzlich aufrichtete und dann als erster Deutscher im wahrsten Sinne des Wortes über die Schwelle der kleinen Tür hinweg in den Völkerbund eintrat. Bei seinem Erscheinen setzte im ganzen Saal ein wahrer Beifallssturm nach der vorher herrschenden erwartungsvollen Stille ein. Schnell folgten ihm Schubert, Gaus und ein Mitglied des Ministerbüros, der damalige Legationssekretär Feine. Ich selbst bildete das „Schlußlicht“ dieser kleinen Delegation und war somit der fünfte Deutsche, der richtiggehend in den Völkerbund eintrat.

Der Beifall hatte eine wahre Orkanstärke erreicht. Von allen Seiten wurde geklatscht und Bravo gerufen. Nur mit Mühe konnten sich die drei deutschen Delegierten durch die herandrängende Masse der ausländischen Völkerbundsvertreter den Weg zu ihren Plätzen bahnen. Alle wollten ihnen die Hände schütteln und ihnen persönlich zu diesem großen Ereignis Glück wünschen. Inzwischen tobte das Publikum auf den Tribünen, Tücherwinken, Hüteschwenken, „bravo Stresemann“, Zurufe mit fremdländischen Akzentuierungen. Eine Szene, wie sie sich im Völkerbund noch nie abgespielt hatte, und wie ich sie selbst in einem so internationalen Kreise auch nie wieder erleben sollte. Dieser Empfang Deutschlands durch die Völker der Welt war wirklich etwas Einmaliges, um ein später so oft mißbrauchtes Wort hier zu verwenden.

Recht schwer hatte es der Präsident inmitten dieser Begeisterungsstürme, sich für seine Begrüßungsworte Gehör zu verschaffen. Aber es wurde ganz still, als er Stresemann das Wort erteilte und dieser sich unter atemloser Spannung langsam auf die Rednertribüne begab. Feine hatte ihm noch schnell vorher das Manuskript seiner Rede übergeben, das er nun aufschlug und zu verlesen begann.

Zunächst fand sich Stresemann in der ungewohnten Umgebung nicht ganz zurecht. Ich stand mit meinem eigenen Manuskript unter dem Arm etwas unterhalb der Tribüne ganz in seiner Nähe und konnte ihn daher genau beobachten. Ich sah, wie er etwas zusammenzuckte, als der Schall seiner Stimme mit einem blechernen Echo aus den Lautsprechern am gegenüberliegenden Ende des Saales auf ihn zurückstieß. Zwar war vor ihm auf dem Rednerpult eine ganze Batterie von Mikrophonen aufgebaut, so daß er sich wohl hätte denken können, daß eine Lautsprecherübertragung im Saale stattfinden würde; es war uns aber vorher gesagt worden, daß diese Mikrophone lediglich der Rundfunkübertragung dienten. Stresemanns Rede wurde nicht nur von allen deutschen Stationen, sondern auch von vielen ausländischen Sendegesellschaften in Frankreich, England und Amerika übertragen. So hatte er denn geglaubt, mit seiner Stimme allein den Saal füllen zu müssen.

Aber Stresemann fing sich sehr schnell und paßte seine Stimme den technischen Vorrichtungen, je länger er sprach, immer besser an. Nur einige Male zuckte er noch etwas nervös wegen der Blitzlichter der Photographen oder blickte unwillig auf, wenn ein Filmoperateur mit seiner surrenden Kamera ihm allzu nahe kam. Nach einigen Minuten aber fühlte er sich völlig zu Hause und verlas seine Rede, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu versprechen.

„Es kann nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, daß die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinander kehren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zurückwerfen“, mit diesen wenigen Worten umriß Stresemann sein gesamtes politisches Wollen und wies an anderer Stelle auf die Gründe hin, die ihn zu dieser Politik geführt hatten. „Wir sehen ... nach den grundstürzenden Ereignissen eines furchtbaren Krieges ... in vielen Staaten den Niederbruch wertvollster, für den Staat unentbehrlicher geistiger und wirtschaftlicher Schichten.“ Deshalb müsse man auch im internationalen Zusammenleben sein ganz besonderes Augenmerk auf die „Wirtschaft“ lenken, „die die alten Grenzen der Länder sprengt und neue Formen internationaler Zusammenarbeit erstrebt.“

So behandelte er nacheinander die verschiedenen Gebiete, auf denen sich der Völkerbund betätigen sollte. Nach der Wirtschaft kam er auf die Abrüstung, die Friedensverträge, den Weltgerichtshof und den Locarno-Pakt mit den Schiedsverträgen zu sprechen. „Kein anderes Gesetz darf für sie (die Staaten) gelten als das Gesetz der Gerechtigkeit.“ Er schloß mit der „Freiheit, um die jedes Volk ringt wie jedes Menschenwesen“. „Möge die Arbeit des Völkerbundes sich auf der Grundlage der großen Begriffe Freiheit, Friede und Einigkeit vollziehen.“

Beifall tönte beim Schluß seiner Worte auf. Gelegentlich hatten auch während seiner Ausführungen einige Delegierte, die Deutsch verstanden, ihre Zustimmung zu erkennen gegeben. Aber der Applaus am Schluß war nur mäßig, wenn man ihn mit dem verglich, was sich bei Stresemanns Eintritt in den Saal ereignet hatte, und was sich nachher im Anschluß an die große Briand-Rede noch abspielen sollte. Das lag zum Teil sicherlich daran, daß die meisten erst meine französische Übersetzung abwarten mußten, ehe sie verstanden, was er gesagt hatte. Zum großen Teil aber lag es wohl auch an dem etwas akademischen Charakter der Rede, an der zu viele beamtete Köche mitgewirkt hatten.

Schon beim Übersetzen hatten wir das gemerkt; bei der Herstellung der fremdsprachlichen Fassung einer solchen Rede wirft der Übersetzer ganz naturgemäß ein sehr kritisches Auge auf das Original und entdeckt ebenso selbstverständlich sofort seine schwachen Stellen, wenn er sich überlegen muß, wie er diesen oder jenen Gedanken am wirksamsten seinen fremden Zuhörern zu Gemüte führen soll. Die Rede hätte sich vielleicht besser zum Lesen als zum Sprechen geeignet. Diesen Eindruck habe ich bei späteren, vorbereiteten Reden von Stresemann und von anderen deutschen Vertretern noch öfter gehabt. Das lebendige Wort, aus dem Stegreif gesprochen, der Aufnahmebereitschaft der Zuhörer angepaßt und auf sie abgewandelt, ist ein Instrument, das die Franzosen und die Engländer meiner Erfahrung nach besser handhaben können als die Deutschen. Das zeigte sich kurze Zeit darauf mit aller Deutlichkeit, als Briand sprach.

Nachdem Stresemann auf seinen Platz zurückgekehrt war, erhielt ich das Wort zur französischen Übersetzung. Ich fing sehr vorsichtig und verhältnismäßig leise an zu sprechen, um die Lautsprecher nicht zu erzürnen. Damit hatte ich auch Erfolg. Gespannt folgte der ganze riesige Saal. Besonders froh war ich, daß in der französischen Fassung an den Stellen, an denen bei Stresemann geklatscht worden war, auch bei mir Beifall gespendet wurde, und daß am Schluß, als ich erleichtert von der Tribüne herunterging, ein sehr beachtenswerter Applaus die französischen Worte Stresemanns anerkannte. Wäre es anders oder umgekehrt gewesen, so hätte ich hinterher von der Delegation einige unfreundliche Worte zu hören bekommen wegen „wirkungsloser Formulierungen“ oder „langweiligen Vortrags“ und „verpatzter Pointen“. Ich habe später manchmal ausdrücklich die Weisung erhalten, dafür zu sorgen, daß bei dieser oder jener Stelle der Übersetzung applaudiert würde, und habe mir dann oft damit geholfen, daß ich hinter solchen Stellen besonders lange Pausen machte und innerlich den Zuhörern zurief: „Wollt Ihr wohl klatschen“ – was auch meistens half.

Leid tat mir nur der arme Völkerbundsdolmetscher, der hinter mir die englische Fassung der Rede verlesen mußte und dem kaum noch jemand zuhörte, da die meisten entweder auf Deutsch oder auf Französisch alles verstanden hatten, so daß er oft seine Stimme stark erheben mußte, um bei der allgemeinen Unterhaltung und dem Hin- und Herlaufen überhaupt verstanden zu werden. Trotzdem erzielte auch er zum Schluß einen Achtungsapplaus bei den wenigen Delegierten, die nur Englisch verstanden.

Dann betrat Briand die Tribüne, leicht gebeugt, mit etwas struppigem Haar und herabhängendem Schnurrbart. Ein kleiner, unscheinbarer Mann. Aber schon nach den ersten Worten wurde er ein anderer. Als Redner war Briand ein vollendeter Meister. Er sprach völlig ungekünstelt, er kannte keine Rednerpose, jeder im Saal hatte zunächst das Gefühl, als wenn sich Briand mit ihm persönlich unterhielte.

„Nun, meine Herren Spötter“, so apostrophierte der Spötter Briand sarkastisch die Kritiker des Völkerbundes und der Völkerverständigung in allen Ländern, „was sagen Sie jetzt, wo Sie an dieser Sitzung teilnehmen? Müssen Sie nicht selbst zugeben, daß das, was wir heute hier erlebt haben, wenige Jahre nach dem furchtbarsten Krieg, der jemals die Welt durcheinandergebracht hat, während das Blut auf den Schlachtfeldern noch nicht trocken geworden ist, ein wahrhaft erschütterndes Erlebnis darstellt? Hier sehen Sie die gleichen Völker, die sich vordem so hart aneinander gestoßen haben, friedlich zusammensitzen zur gemeinsamen Arbeit am Weltfrieden.“

Allmählich verließ Briand seinen Konversationston, er erwärmte sich, seine Stimme nahm immer mehr jenen volltönenden, dunklen Klang an, der seine Zuhörer oft veranlaßte, sie mit einem Cello zu vergleichen.

„Was bedeutet nun dieser heutige Tag für Deutschland und für Frankreich? Das will ich Ihnen sagen: Es ist jetzt Schluß mit jener langen Reihe schmerzlicher und blutiger Auseinandersetzungen, die die Seiten unserer Geschichte beflecken, es ist Schluß mit dem Krieg zwischen uns, Schluß mit den langen Trauerschleiern. Keine Kriege, keine brutalen Gewaltlösungen soll es von jetzt ab mehr geben. Ich weiß, daß Meinungsverschiedenheiten zwischen unseren Ländern auch heute noch bestehen, aber in Zukunft werden wir sie genau so wie die Einzelpersonen vor dem Richterstuhl in Ordnung bringen. Deshalb sage ich: fort mit den Gewehren, den Maschinengewehren, den Kanonen! Freie Bahn für die Versöhnung, die Schiedsgerichtsbarkeit und den Frieden!“

Mit erhobener Stimme hatte der alte Mann auf der Tribüne diese Worte fast in beschwörendem Tone ausgerufen. Donnernder Beifall antwortete ihm. Minutenlang konnte er nicht weitersprechen. Ruhig und zufrieden gingen seine Augen über die aufgewühlte Versammlung.

Dann blickte er zu Stresemann hin und hob etwas die Hand, um sich Ruhe zu verschaffen. In die lautlose Stille, die darauf eintrat, fielen die nun folgenden Worte wie die Schläge einer tiefen Glocke. „Ihnen aber, meine Herren Vertreter Deutschlands, möchte ich nur noch eines sagen: was Heldentum und Kraft anbetrifft, brauchen sich unsere Völker keine Beweise mehr zu liefern. Auf den Schlachtfeldern der Geschichte haben beide eine reiche und ruhmvolle Ernte gehalten. Sie können sich von jetzt ab um andere Erfolge auf anderen Gebieten bemühen.“ Jetzt war kein Halten mehr. Viele der Delegierten erhoben sich von ihren Sitzen, schrien ihre Begeisterung in irgendeiner Sprache hinaus und brachten dem „Mann mit dem Cello“ eine lang andauernde, überwältigende Ovation dar.

Er sprach dann noch eine ganze Weile weiter, mit tiefem Gefühl, mit Humor und mit Sarkasmus. „Schwierigkeiten gibt es noch reichlich; Herr Stresemann und ich stehen jeder in seinem Land an einem Posten, der uns allzu sehr damit in Berührung bringt. Und diese Schwierigkeiten sind nicht etwa verschwunden, weil er aus der Wilhelmstraße und ich vom Quai d’Orsay in dieses schöne Genf gekommen sind.“

„Wenn Sie aber nicht nur als Deutscher und ich nicht nur als Franzose hierher kommen, sondern wenn wir beide uns daneben auch als Bürger einer höheren, völkerverbindenden Gemeinschaft fühlen, dann werden wir in dieser Atmosphäre des Völkerbundes alle Schwierigkeiten überwinden.“

Als Briand geendet hatte, wollte der Beifall nicht aufhören. Ein kanadischer Delegierter durchbrach alle in Genf sonst üblichen Schranken der Formalität, stieg auf seinen Stuhl und brachte mit wehendem Taschentuch drei Hurras auf den französischen Ministerpräsidenten aus, die von der sonst so ernsten und gesetzten Versammlung mit der Begeisterung einer Schulklasse aufgenommen wurden.

Damit war die erste Sitzung, die wir imVölkerbund erlebten, zu Ende. Sie war für uns alle ein großes Erlebnis, für mich eines der größten während meiner ganzen Laufbahn. Nach den Szenen dieses Vormittags konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß Deutschland nach den Jahren des Krieges und der Unruhe der Nachkriegszeit jetzt endgültig wieder den Anschluß an die internationale Welt gefunden hatte und als ein vollgültiges Mitglied in den Kreis der Nationen aufgenommen worden war. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß wir in vielen Punkten noch durch die Folgen des Krieges behindert blieben, daß die deutsche Rechtsopposition in ihrer Kleinmütigkeit und aus parteitaktischen Erwägungen heraus das Ergebnis der Politik Stresemanns zu verkleinern suchte, und daß eine der bayerischen Regierung nahestehende Zeitung die Aufnahme des Reiches in den Völkerbund in fetten Lettern als „Demütigung Deutschlands“ bezeichnete.

Nach den Ereignissen des 10. September war Deutschland in Genf Trumpf. Die deutsche Delegation stand im Mittelpunkt des Interesses. Stresemann wurde innerhalb und außerhalb des Völkerbundes zum Helden des Tages. Seine Popularität zeigte sich unter anderem auch darin, daß er im Volke vielfach nur mit seinem Vornamen genannt wurde. „J’ai vu Gustave“, konnte man immer wieder von groß und klein in den Genfer Kinos, in der Straßenbahn oder auf den Promenaden sagen hören. Es war für ihn ein Triumph auf diesem sonst so kühlen internationalen Pflaster, wie er wohl selten dort jemand beschieden worden ist.

Die nächsten Tage vergingen wie im Fluge. Die Sitzungen jagten einander, im Plenum, in den Kommissionen und auch im Völkerbundsrat. Diese höchste internationale Instanz tagte damals in einer großen Glasveranda, die zum Hotel National gehörte, in dem das Völkerbundssekretariat seinen Sitz hatte. Etwas erhöht stand hier am einen Ende des länglichen Raumes der hufeisenförmige Ratstisch, an dem Stresemann einige Tage später zum ersten Male Platz nahm.

Im Innenraum des Hufeisens saßen die beiden amtlichen Dolmetscher des Völkerbundes, ein Engländer und ein Franzose, sowie die Stenographen. Die Verhandlungssprachen waren auch hier, wie in der Vollversammlung, Englisch und Französisch. Alles, was auf Französisch gesagt wurde, übersetzte der Engländer sofort ins Englische und umgekehrt. Das Übersetzungssystem war genau das gleiche, wie ich es zuerst im Haag kennengelernt hatte. Jeder Redner sprach so, als fände die Verhandlung nur in einer Sprache statt, ohne Unterbrechung, während der betreffende Dolmetscher sich möglichst genaue Notizen machte und dann die Rede in der Ichform, d. h. so, als spräche der Delegierte wörtlich noch einmal, die Ausführungen in die andere Sprache übertrug. Dieses System ermöglicht zweisprachigen Konferenzteilnehmern sofort eine Kontrolle des Dolmetschers. Gelegentlich kam es vor, daß einer der Delegierten, z. B. wie schon erwähnt, Chamberlain, den Dolmetscher unterbrach, wenn er seiner Ansicht nach diese oder jene Stelle nicht ganz richtig wiedergegeben hatte. Allerdings erfolgten solche Unterbrechungen verhältnismäßig selten, denn die Völkerbundsdolmetscher waren hervorragende Meister ihres Faches. Außerdem hatte der Völkerbund das gleiche System, für das auch Geheimrat Gautier bei schriftlichen Übersetzungen eintrat. Die Dolmetscher übersetzten immer nur in ihre Muttersprache. Insofern war für mich die Aufgabe schwieriger, da ich ja immer nur in eine fremde Sprache übersetzen mußte, denn es war natürlich nicht angängig; zur Übersetzung der oft hochpolitischen Ausführungen des deutschen Außenministers einen Ausländer zu verwenden.

Meine Lage war auch in anderer Hinsicht unbequemer als die der Völkerbundsdolmetscher. Ich konnte schon aus formellen Gründen nicht unter ihnen im Innenraum Platz nehmen, da ja Deutsch keine amtliche Verhandlungssprache war, sondern mußte mich auf ein kleines, sehr unbequemes Stühlchen hinter den jeweiligen deutschen Ratsdelegierten setzen. Mein Schreibpult mußte ich mir in Gestalt eines Aktenköfferchens, das ich auf die Knie legte, selbst mitbringen. Dazu kam, daß ich als kleines Anhängsel der Ratstafel mit meinem Stuhl in den schmalen Gang hineinragte, der hinter den Sitzen der Ratsmitglieder und unmittelbar vor den Stühlen der Sekretäre und Sachverständigen ausgespart war, so daß jeder Vorbeikommende über mich stolperte und ich für die Sekretariatsmitglieder, die dort oben zu tun hatten, immer ein Stein des Anstoßes war. Meine Arbeitsbedingungen waren daher noch ungünstiger als in Locarno.

Zudem herrschte bei den deutschen Ratsdelegierten vielfach immer noch die Theorie des „Sprachautomaten“. Sie machte sich während der Ratsverhandlungen für mich in besonders unangenehmer Weise bemerkbar, denn diese hatten niemals durchgehend ein und dasselbe Thema zum Gegenstand wie eine Konferenz, die zur Lösung eines ganz bestimmten Problems einberufen wird. Der Völkerbundsrat verhandelte an einem Vormittag oft die allerverschiedensten Dinge, vom Kampf gegen das Opium, von Mandatsfragen und Wirtschaftsproblemen bis zum Minderheitenschutz und zum Mädchenhandel. Der Delegierte am Ratstisch, d. h. meistens der Außenminister, wurde vor und während der Sitzung von den Sachreferenten genau informiert, während sie für mich im Drang der Geschäfte keine Zeit fanden und nur hinterher empört waren und behaupteten, ich hätte ihnen mit meiner unzureichenden Übersetzung in diesem oder jenem Punkt ihre Politik für ein ganzes Jahr durcheinandergebracht. Erst später setzte sich die Erkenntnis durch, daß genaue Sachkenntnis beim Dolmetscher eine unerläßliche Vorbedingung ist. Von da ab hatte ich es leichter und konnte reibungslos meine Aufgabe erledigen. Denn auch hier galt ja, wie im Haag, nur der französische oder der englische Text der deutschen Erklärungen, so daß ein witziger Pressechef der Reichsregierung den Nagel auf den Kopf traf, wenn er mich mit den Worten kritisierte: „Heute hat aber der Reichsminister wieder eine recht ungenaue deutsche Übersetzung Ihrer französischen Rede verlesen.“

Unter diesen Umständen waren die ersten Jahre im Völkerbund, vor allem die Ratssitzungen, für mich eine rechte Nervenanspannung. Auf meinem kleinen Stühlchen hockend, den Kopf tief über meine improvisierte Schreibunterlage gebeugt, machte ich fieberhaft Notizen, wenn der deutsche Delegierte, wie mir schien, hoch über mir und von mir weg in den Raum hineinsprach, und mußte mich sehr zusammennehmen, mich nicht durch Nebengeräusche oder durch die sich an mir vorbeiwindenden Sekretäre ablenken zu lassen. Wenn ich dann aufstand, sah ich die gespannten Gesichter der Ratsmitglieder zu mir gewandt; Chamberlain schien in meiner Einbildung immer ein besonders kritisches Gesicht zu machen. Vor der Ratstafel saß etwas tiefer die Weltpresse an langen Tischreihen wie das Publikum in einem Theater vor der Bühne und paßte, wie mir schien, ebenso kritisch auf meine Übersetzung auf wie Chamberlain. Weiter hinten das Publikum mit Lorgnons und Operngläsern, die in der ersten Zeit auch nicht gerade beruhigend auf mich wirkten. Hinter mir glaubte ich die deutschen Sachverständigen manchmal leise Kritik an meiner Übersetzung üben zu hören. Gelegentlich rief mir auch dieser oder jener im allerletzten Augenblick noch schnell etwas zu – hätte er es doch vor der Sitzung getan und mich so gründlich über sein Spezialproblem informiert wie den Außenminister!

Bei diesen Ratssitzungen bewunderte ich übrigens immer von neuem Stresemanns phantastisch schnelle Auffassungsgabe. In kritischen Situationen während der Debatte genügten oft ein paar Worte, die ihm ein deutscher Sachverständiger schnell von hinten zuflüsterte – wobei ich den Hals reckte und die Ohren mächtig spitzte –, um ihn zu langen Ausführungen über einen ihm vorher völlig unbekannten Gegenstand, meist in sehr plastischen und treffenden Formulierungen, instand zu setzen.

So waren denn diese Ratstagungen, die in den ersten Jahren in vierteljährlichem Abstand stattfanden, für mich jedesmal ein richtiggehendes Staatsexamen, und ich war heilfroh, wenn ich am Ende der acht Tage, die diese Sitzungen meistens dauerten, wieder im Zuge saß, um mich an sprachlich weniger aufregende Verhandlungsorte zu begeben.

Die Herbsttagung des Völkerbundes im Jahre 1926 hatte neben den Szenen beim Einzug der deutschen Delegation noch einen zweiten Höhepunkt. Das war ein Ereignis, welches sich in völliger Stille hinter den verschlossenen Türen eines kleinen, unscheinbaren Restaurants in einem verschlafenen französischen Dorf jenseits der Schweizer Grenze abspielte: das Gespräch von Thoiry zwischen Briand und Stresemann, das damals eine Weltsensation war und nach London und Locarno eine weitere Etappe auf dem Wege der Annäherung zwischen den beiden Völkern und der friedlichen Regelung der zwischen ihnen bestehenden Probleme bildete. In noch stärkerem Maße als das Gespräch zwischen Herriot und Stresemann auf der Londoner Konferenz von 1924 war diese Zusammenkunft von einem Geheimnis umgeben, das eines Detektivromanes würdig gewesen wäre.

Der deutsche und der französische Außenminister mußten sich auch im Jahre 1926 vor einer unerwünschten Einmischung ihrer Rechtsopposition in ihre Friedensarbeit schützen. Wären ihre Bemühungen vorzeitig, d. h. im ersten Entwicklungsstadium des langsamen Sichherantastens an die Schwierigkeiten, Gegenstand der öffentlichen. Diskussion im Parlament und in der Presse geworden, so wären sie bei der Kompliziertheit der Fragen, um deren Regelung es sich handelte, mit großer Wahrscheinlichkeit zum Mißerfolg verurteilt gewesen. Daher war diese Geheimhaltung unbedingt notwendig.

So begann der Aufbruch der beiden Minister am Morgen des 17. September 1926 unter höchst geheimnisvollen Umständen. Den wachsamen Augen der Journalisten, welche die Hotelhallen des Métropole und des Hotel des Bergues fast ständig bewachten, konnte natürlich die Abfahrt von Stresemann und Briand nicht verborgen bleiben. Sofort schlossen sich ihnen mehrere Wagen mit Pressevertretern an, denn irgendwie war trotz äußerster Geheimhaltung der Presse doch bekanntgeworden, daß eine Zusammenkunft geplant war.

Plötzlich hielten die Ministerwagen etwas außerhalb von Genf am Seeufer, und Briand und Stresemann begaben sich auf ein Motorboot, um auf das jenseitige Ufer hinüberzufahren. Schon glaubten sie, ihre Verfolger von der Weltpresse auf diese Weise abgeschüttelt zu haben. Einige der Journalisten aber kehrten in rasendem Tempo wieder nach Genf zurück, brausten unter den Flüchen sämtlicher Verkehrspolizisten durch die Stadt hindurch und fuhren das jenseitige Ufer des Sees entlang, so daß sie gerade noch zurechtkamen – als die beiden Außenminister das Motorboot verließen und zwei an der Landungsstelle haltende Wagen bestiegen, die sich sofort in Richtung auf die französische Grenze in Bewegung setzten. Lachend fuhren die Journalisten hinterher. Sie glaubten, nun gewonnenes Spiel zu haben.

Aber auch dieser Fall war in dem Schlachtplan vorgesehen, den Briand und Stresemann einige Tage vorher in einer Ecke jenes dunklen und engen „Wandelganges“ des Hotels Victoria zwischen zwei Sitzungen entworfen hatten. Die französischen Zollstellen an der Grenze waren angewiesen worden, sämtliche ab 9 Uhr früh die Grenze passierenden Autos genauestens auf ihre Papiere zu prüfen. Dadurch würden die beiden Ministerwagen vor etwaigen Verfolgern einen Vorsprung erhalten, der nicht mehr einzuholen war.

Genau so wirkte sich diese Maßnahme an jenem Morgen auch aus. Die beiden Ministerwagen fuhren ungehindert über die Grenze, und die Journalisten mußten zu ihrem Ärger eine hochnotpeinliche und langwierige Zolluntersuchung über sich ergehen lassen, die wohl eine halbe Stunde lang dauerte.

Briand und Stresemann waren ihnen nun doch entkommen. Zwar fuhren ihre Verfolger nach Erledigung der Zollformalitäten noch eine Weile lang kreuz und quer durch die Gegend jenseits der Grenze. Sie telefonierten an verschiedene bekannte Hotels und Speiselokale bis nach Annecy und selbst nach Aixles-Bains, aber es war alles vergeblich. Die beiden Außenminister hatten von dem Grenzübergang aus einen Haken geschlagen, waren in das nicht allzu weit entfernt gelegene Dörfchen Thoiry in die Gastwirtschaft des Père Léger gefahren und unterhielten sich dort im Anschluß an ein ausgezeichnetes Frühstück über zwei Stunden lang. Als sie aber danach vor die Tür des Hauses traten ... begrüßte sie ein mehrstimmiges Oh und Ah der Pressevertreter! Es waren zwar nur ganz wenige, denen der Treffpunkt bekanntgeworden war, aber das genügte, um die Nachricht noch am Abend des Tages in der ganzen Welt als große Sensation zu verbreiten.

Entdeckt wurde das Geheimnis durch einen eigenartigen Zufall. Die Weisung an die französischen Grenzstellen wegen der genauen Kontrolle des Grenzüberganges hatte sich nur auf Autos bezogen. Einer der Journalisten aber, ein Franzose, wenn ich mich recht erinnere, hatte die Verfolgung auf dem Motorrad unternommen und war daher fast so unbehelligt über die Grenze gelangt wie die beiden Minister selbst. Er hatte dann von Thoiry aus einigen Freunden den Tip gegeben, und auf diese Weise war die kleine Journalistengruppe vor dem Hause des Père Léger zustandegekommen.

Bei dem eigentlichen Gespräch von Thoiry war als Dolmetscher nur der Vertraute Briands, Professor Hesnard, anwesend. Von deutscher Seite hatte lediglich Legationssekretär Feine die Fahrt als Begleiter Stresemanns mitgemacht. Ich selbst war in Genf geblieben.

Hesnard erzählte mir aber noch am Abend des Tages ziemlich ausführlich, wie die Unterhaltung verlaufen war, denn er betrachtete mich schon damals durchaus als ein Mitglied der „engeren Familie“, das über kurz oder lang doch mit diesen vertraulichen Besprechungen oder ihrer Fortsetzung befaßt sein würde.

Die Lösungsmöglichkeiten, die von Briand und Stresemann ins Auge gefaßt wurden, beruhten im wesentlichen auf einer beschleunigten Beendigung der Besetzung deutschen Gebietes als Gegenleistung für deutsche Wirtschafts- und Finanzhilfe bei der Sanierung der äußerst ernsten französischen Wirtschaftslage. Briand mochte sich wohl darüber klar sein, daß die besetzten Gebiete in Deutschland als Pfand von Jahr zu Jahr an Wert verlieren würden, und daß daher zu jenem Zeitpunkt ein höherer Preis für ihre Aufgabe zu erzielen sei als später. So wurde denn von der Möglichkeit einer Stützung des französischen Franken durch Flüssigmachung eines Teils der deutschen Eisenbahnobligationen gesprochen. Es wurden auch deutsche Konzessionen im Rahmen der Pariser Handelsvertragsverhandlungen erwogen. Hesnard ließ durchblicken, daß bei diesen finanziellen Erörterungen beide Gesprächspartner, die ja auf diesem Gebiet keine Sachverständigen waren, in recht vagen Begriffen gesprochen hätten. Auch sei nicht klar geworden, ob die zusätzliche finanzielle Last für Deutschland wirklich tragbar sei.

Stresemann hatte aber nicht nur die Räumung des Rheinlandes in die Debatte geworfen, sondern auch von der Rückkehr der Saar zum Reich gesprochen. Er hatte ein paar hundert Millionen Goldmark dafür angeboten. Eng zusammen damit hing ein anderes Geschäft mit Belgien, das ebenfalls wegen seiner schwierigen Finanzlage vielleicht bereit gewesen wäre, Eupen-Malmedy gegen eine Regelung des Problems der im Kriege in Belgien in Umlauf gesetzten Markbeträge zurückzugeben. Darüber hatten schon vorher, zum Teil unter Einschaltung des Reichsbankpräsidenten Dr. Schacht, Verhandlungen stattgefunden, die allerdings von Frankreich mit sehr scheelen Augen angesehen worden waren.

Briand seinerseits brachte neben den finanziellen und wirtschaftlichen Fragen vor allen Dingen Abrüstungsangelegenheiten zur Sprache. Frankreich sei durch die von Zeit zu Zeit immer wieder festgestellten Mängel in der deutschen Abrüstung, vor allem aber durch die halbmilitärischen Verbände, wie den Stahlhelm und andere, sehr beunruhigt, denn durch diese Organisierung seiner wehrfähigen Jugend erhalte sich Deutschland eine große Reservearmee.

Weiter, als Lösungsmöglichkeiten in großen Umrissen anzudeuten, sind Briand und Stresemann wohl damals in Thoiry nicht gegangen. Aber allein die Tatsache, daß überhaupt ein derartiger Ausgleich als etwas praktisch Realisierbares in Erwägung gezogen werden konnte, war schon ein außerordentlich großer Schritt vorwärts. Die Freude und Genugtuung darüber hat wohl beide Gesprächspartner an jenem Nachmittag die Schwierigkeiten aus den Augen verlieren lassen, die sich der praktischen Durchführung ihrer Pläne damals noch entgegenstellten. Daß sie aber durchaus auf dem richtigen Wege waren, ergibt sich daraus, daß 1929 auf der Haager Konferenz eine Lösung im Ausgleich zwischen Reparationen und Rheinlandräumung tatsächlich gefunden wurde, die im großen gesehen den Gedankengängen von Thoiry entsprach.

Voller Begeisterung über die Perspektiven, die sich vor ihm eröffnet hatten, kehrte Stresemann am Spätnachmittag von seinem geheimnisvollen Ausflug wieder nach Genf zurück. „Die Räumung des Rheinlandes ist nur noch eine Frage von Monaten“, rief er einige Tage später in einer Pressekonferenz den deutschen Journalisten zu. Er hatte auf verschiedene Angriffe der Rechtspresse geantwortet und sich dabei in eine Art Kampfstimmung gegen die deutschnationale Opposition hinreißen lassen. Sie wurde ihm in den nächsten Jahren noch oft vorgehalten, denn es zeigte sich, daß die materiellen und politischen Schwierigkeiten, die den in Thoiry in Aussicht genommenen Lösungen entgegenstanden, doch größer waren, als die beiden „unverbesserlichen Optimisten“, wie sich Briand einmal in einer Rede bezeichnete, vorausgesehen hatten. Insbesondere hatten sie wohl die harten Realitäten der finanziellen und wirtschaftlichen Vorbedingungen ihres Planes damals noch nicht klar genug erkannt. Es dauerte noch mehrere Jahre, bis die Dinge zur Lösung reif waren.

Am Tage nach Thoiry kehrte Briand nach Paris zurück. Die großen Tage in Genf waren nun vorüber, und die deutsche Delegation bekam einen Vorgeschmack von der Monotonie der routinemäßigen Völkerbundsarbeit.

Stresemann verließ mit einem großen Teil der „Prominenten“ der Delegation am 22. September nachmittags um 5 Uhr Genf unmittelbar im Anschluß an einen Empfang der ausländischen Presse. „Voller Hoffnung kehre ich nach Deutschland zurück“, waren die letzten Worte, die ich dabei zu übersetzen hatte.

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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