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3 SILBERSTREIFEN IN LONDON (1924)

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Das Wort vom „Silberstreifen an dem sonst düsteren Horizont“, mit dem Stresemann im Frühjahr 1924 sehr vorsichtig seiner leisen Hoffnung Ausdruck gab, daß sich aus den Verhandlungen der Reparationssachverständigen eine günstige Wendung in der politischen Entwicklung ergeben werde, ist ihm von seinen Gegnern in Deutschland in der Folgezeit jedesmal höhnisch entgegengehalten worden, wenn ein Rückschlag in der Außenpolitik eintrat. Es wurde ihm eigentlich zu Unrecht zugeschrieben, denn es stammte von einem sehr nüchternen Beobachter der damaligen Entwicklung, dem Staatssekretär Bergmann, der die Reparationsverhandlungen im Auftrage der Reichsregierung führte. Es konnte daher wohl kaum einen Berufeneren geben, um ein derartiges Urteil auszusprechen.

Wir übersetzten den Silberstreifen mit „silver lining“ und waren nicht nur aus sprachlichen Gründen froh, daß dieser Ausdruck auch in der englischen Presse allgemein Eingang fand. Denn auch in England hatte man das Gefühl, daß nun das Dunkel der Nacht allmählich zu weichen begann. An den französischen Ausdruck, der damals gebraucht wurde, entsinne ich mich heute nicht mehr; das mag daran liegen, daß in der französischen Presse bei der damaligen Lage natürlich davon nicht gesprochen wurde. Frankreich blieb zunächst weiter zurückhaltend.

Auch die Londoner Konferenz kam keineswegs ohne mühevolle Vorarbeit zustande. Zwar wurde Poincaré durch den großzügigeren Herriot abgelöst, aber das Mißtrauen in Frankreich konnte auch dieser nicht von heute auf morgen überwinden. Das französische Parlament lag noch zum großen Teil auf der alten Linie Poincarés und wollte das „produktive“ Pfand nicht ohne weiteres aufgeben. Dazu kam, daß die alte Sorge um die Sicherheit als eine schwere Hypothek auf der neuen französischen Regierung lastete. Noch einmal, Gott sei Dank zum letzten Male, schien die Frage der Militärkontrolle ein Hindernis auf dem Wege von der reinen Machtpolitik zur Verständigungspolitik bilden zu sollen.

Herriot hatte sich im Juni mit MacDonald auf dem amtlichen Landsitz der englischen Premierminister in Chequers bei London getroffen, um die Frage der Durchführung des Sachverständigengutachtens über die Reparationsregelung mit ihm zu besprechen. Bei dieser Gelegenheit hatten beide in einem eindringlichen, fast beschwörenden Brief an den Reichskanzler Marx die deutsche Regierung aufgefordert, einer letzten Überprüfung der deutschen Abrüstung durch die alliierte Militärkontroll-kommission zuzustimmen. Das war in der damaligen Atmosphäre für die deutschen Politiker eine schwere Belastung; sie wurde aber trotz heftiger Widerstände im Reichstag übernommen, um der sich anbahnenden vernünftigeren Entwicklung nicht noch in letzter Minute Schwierigkeiten zu bereiten.

So kam denn im August tatsächlich die Londoner Konferenz zustande. Ein schwerwiegender Schönheitsfehler, der in recht unangenehmer Weise an die früheren Verhandlungsmethoden der Alliierten mit Deutschland erinnerte, war dabei allerdings die Tatsache, daß sich die Alliierten zunächst untereinander besprachen und Deutschland erst danach zu den Verhandlungen einluden.

Anfang August übersetzte der Sprachendienst die dem deutschen Botschafter in London von MacDonald übergebene Einladung, die insofern enttäuschte, als sie jede Erörterung der politischen Fragen auszuschließen schien. Sie beschränkte sich darauf, die deutsche Regierung zur Entsendung von Vertretern aufzufordern, „um mit der Konferenz die besten Methoden für die Inkraftsetzung des Dawes-Berichtes zu erörtern, den die alliierten Regierungen ihrerseits als Ganzes angenommen haben“. Aber es zeigte sich auch hier, wie ich dies in späteren Jahren immer wieder erlebt habe, daß die Verhältnisse stärker waren als die Absichten der Menschen. Denn tatsächlich kam es trotz dieser Beschränkung in London zu ausgiebigen politischen Erörterungen zwischen Frankreich und Deutschland, die das Wort vom Silberstreifen wohl rechtfertigten.

Am 4. August um 9 Uhr früh reiste die deutsche Delegation unter Führung von Marx, Stresemann und Luther, dem damaligen Finanzminister, vom Bahnhof Friedrichstraße in einem Sonderzug nach London ab. Es war die erste offizielle Abreise von vielen, die ich von Berlin aus angetreten habe. Ich wurde zunächst unter den Dolmetschern lediglich als „junger Mann“ mitgenommen; Chefdolmetscher war natürlich der Veteran der Konferenzen, Dr. Michaelis. Der Zwischenfall im Haag, dem ich mein amtliches Dasein verdankte, hatte ihm nicht den geringsten Abbruch getan. Er war nach wie vor der große Sachverständige auf sprachlichem Gebiet. Als zweiter Dolmetscher fungierte Dr. Fritz Norden, ein Jurist mit umfassender Bildung, der vor dem Kriege als Rechtsanwalt in Brüssel tätig gewesen war und sich dort nicht nur eine hervorragende Kenntnis der französischen Rechtssprache, sondern auch ein umfassendes völkerrechtliches Wissen erworben hatte. Wieder legte ich mir die Frage vor, was ich, der Anfänger, in diesem Kreis erfahrener alter Beamter eigentlich zu suchen hatte. Ich kam mir in jeder Hinsicht als kleines „Schlußlicht“ dieser gewichtigen Delegation vor. Aber ich war diesmal doch nicht so bedrückt wie auf meiner ersten Reise nach dem Haag. Denn ich fühlte mich als Nummer 3 im Schlepptau der beiden großen Kollegen einigermaßen sicher. Die Hauptarbeit und die schwierigsten Proben würden ja wohl doch von den beiden anderen geleistet werden müssen.

Außerdem wurde ich natürlich durch das Drum und Dran einer solchen Delegationsreise zu sehr in Anspruch genommen, als daß ich mir Sorgen wegen der unmittelbaren Zukunft hätte machen können. Der Bahnhof war von starken Polizeikräften geschützt, denn die Lage in Deutschland war damals innenpolitisch noch so gespannt und die Meinungen über das Dawes-Gutachten und die Londoner Konferenz waren so geteilt, daß man angesichts der ausgesprochenen Feindschaft, die die Rechtskreise Stresemann gegenüber an den Tag legten, mit Demonstrationen und Zwischenfällen, ja mit Attentaten wie im Falle Rathenau und Erzberger rechnete.

Der Sonderzug selbst hatte natürlich nichts gemein mit den prunkhaften „Millionärszügen“, in denen derartige Delegationen in der Zeit nach 1933 zu reisen pflegten. Er bestand aus gewöhnlichen Personenwagen und führte nur einen alten Salonwagen aus der Kaiserzeit für die Mitglieder des Kabinetts.

Daß die Absperrungen in Berlin nicht ganz zu Unrecht erfolgt waren, zeigte sich unterwegs. In Löhne in Westfalen hielt unser Zug gerade in dem Augenblick, als die ganze Delegation im Speisewagen beim Mittagessen saß. Die Menschen sammelten sich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig in dichten Scharen, als sie Marx und Stresemann erkannten, und die Zurufe, die aus ihrer Mitte erschollen, waren wenig freundlich. Sie steigerten sich allmählich zu einem solchen Tumult, daß wir die Sonnenvorhänge herunterließen und froh waren, als der Zug ohne Zwischenfall abfuhr. Es war für mich eine sehr eindringliche Demonstration der Schwierigkeiten, mit denen die damalige politische Führung im Innern zu kämpfen hatte.

An diese Szene habe ich noch öfter gedacht, wenn in späteren Gesprächen zwischen den Staatsmännern davon die Rede war, daß man diese oder jene Konzession, obwohl man ihre Berechtigung anerkannte, der öffentlichen Meinung nicht zumuten könne. Im Gegensatz zu späteren Zeiten hatten die Minister, unter denen ich bis 1933 arbeitete, eine Art Zweifrontenstellung einzunehmen. Zu den Schwierigkeiten dem Ausland gegenüber kamen die Rücksichten auf das Inland, die nicht weniger große Komplikationen mit sich brachten als die außenpolitischen Probleme selbst. Ein erfolgreicher Außenminister mußte gleichzeitig ein guter Kenner und Beherrscher der innerpolitischen Strömungen sein.

Gegen Abend kamen wir nach Holland. Es war dieselbe Strecke, die ich schon vor einem Jahr unter so ganz anderen Umständen zurückgelegt hatte. Aber sie führte diesmal viel weiter, und zwar nicht nur geographisch. Um Mitternacht gingen wir in Hoek van Holland an Bord des holländischen Dampfers, der den regelmäßigen Nachtverkehr nach Harwich in England versieht. Mein gelehrter Kollege Norden erging sich in historischen Betrachtungen über „diesen ersten deutschen Kanzler, der sich über das Meer hinweg ins Ausland begibt.“

Zum ersten Male in meinem Leben betrat ich am anderen Morgen den Boden Englands. An den fahrplanmäßigen Zug nach London wurden für uns einige Wagen angehängt und gegen 9 Uhr morgens trafen wir in London auf der Liverpool Street Station ein. An der gegenüberliegenden Seite des Bahnsteigs hielten die Wagen, die uns ins Hotel brachten. So lernte ich gleich eine jener praktischen Einrichtungen der englischen Bahnhöfe kennen, die jedem vom Kontinent kommenden Reisenden sofort auffallen. Der Straßenverkehr geht bis unmittelbar an die Eisenbahnzüge. Auf unserem Wege zum Hotel kamen wir durch die verkehrsreichsten und um diese Morgenstunde besonders stark durch den Berufsverkehr belebten Straßen Londons.

Michaelis eilte natürlich sofort ins Ritz-Hotel, wo die deutschen Hauptdelegierten untergebracht waren. Norden und ich aber hatten zunächst nichts zu tun und schlenderten daher in den nahe gelegenen Green Park. Hier erlebten wir mitten in dem Häusermeer von London einen regelrechten Sommertag auf dem Lande. Die Bäume des Parkes waren so dicht, daß man die Stadt nur noch wie in der Ferne erkennen konnte. Der herrliche englische Rasen bildete einen wunderbaren, grünen Teppich, ganz in der Nähe weidete sogar eine Schafherde unter Aufsicht eines richtigen Schäfers. Nur die am Rande des Green Parks als muntere, rote Tupfen durch das Grün der Blätter dahineilenden Autobusse vom Piccadilly und das in London allgegenwärtige ferne Brausen des Riesenverkehrs erinnerten uns daran, daß wir uns trotz dieses ländlichen Idylls mitten in der größten Stadt Europas befanden.

So vergingen die ersten Tage in völliger Ruhe. Ich benutzte die Zeit, um mir von den damals noch offenen Oberdecks der Autobusse auf Kreuz- und Querfahrten durch London die Stadt gründlich anzusehen. Da traf ich eines Nachmittags auf einer dieser Besichtigungstouren ein anderes Delegationsmitglied.

„Gehen Sie nur um Gottes willen schnell ins Ritz-Hotel“, rief er mir etwas aufgeregt zu, „Sie werden dort wie eine Stecknadel gesucht.“ Mit einem etwas schlechten Gewissen wegen meiner allzu langen Abwesenheit von der Delegation begab ich mich auf dem schnellsten Wege ins Hotel.

Hier wurde ich sofort zu dem Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, dem späteren Staatssekretär von Schubert, geführt, der bei uns Jüngeren wegen seiner Grobheit einigermaßen gefürchtet war.

„Wie ist das mit Ihrem Französisch?“, fragte er mich in seinem üblichen barschen Ton ziemlich unvermittelt, als ich zu ihm ins Zimmer trat. Da ich über mich selbst kein Werturteil abgeben wollte, erklärte ich nur, daß ich auch für Französisch zuständig sei.

„Dann müssen Sie gleich heute abend zur Konferenz mitkommen“, erklärte er mir darauf um einige Grade freundlicher, „es hat einen unangenehmen Zwischenfall mit Michaelis gegeben, wir werden ihn deshalb ablösen müssen, und Sie sollen an seine Stelle treten!“ Damit war die Unterredung beendet, und ohne daß ich wußte, wie mir geschah, stand ich schon wieder draußen auf dem Korridor. Sehr nachdenklich trat ich den Rückweg in mein Hotel an.

Dort erfuhr ich von Norden und anderen, was es mit dem Zwischenfall auf sich hatte. Das zeigte mir gleichzeitig, was man als Dolmetscher bei solchen Konferenzen über heikle politische Themen für Unheil anrichten kann.

Ich habe schon angedeutet, wie sehr die Franzosen darauf bedacht waren, das Thema der Konferenz auf die Reparationsfrage zu beschränken. Sie wollten unter allen Umständen eine Erörterung der politischen Probleme vermeiden. Auf deutscher Seite herrschte natürlicherweise genau die entgegengesetzte Tendenz. Es handelte sich also für Marx und Stresemann darum, mit allergrößter Vorsicht dieses politische Thema, d. h. im wesentlichen die Ruhrfrage, in der Eröffnungsansprache wie in einer Ouvertüre zunächst mit einigen Takten lediglich aufklingen zu lassen, um es späterhin, in den folgenden Phasen der Verhandlung, als Thema weiterzuentwickeln und schließlich zur eingehenden Beratung zu bringen.

Nach diesem Rezept war nun auch Marx bei seinen Eröffnungsworten verfahren. Er hatte übrigens gleich am ersten Tage durch sein ruhiges, zurückhaltendes Wesen und seine gemäßigte Sprache einen ausgezeichneten Eindruck auf die übrigen Konferenzteilnehmer gemacht. Leise und vorsichtig hatte er in einem Satz bemerkt, es müsse bei der Erörterung der Einzelpunkte des Reparationsproblems im Rahmen des Dawes-Berichtes natürlich auch von der Ruhr gesprochen werden. Michaelis hatte zwar alles genau und richtig übersetzt, aber er hatte sich bei dem Passus über das Ruhrgebiet etwas im Ton vergriffen und, wohl unter dem Einfluß des jeden Deutschen in dieser Frage beherrschenden Gefühls, mit etwas zu viel Nachdruck auf französisch gesagt: „Und von der Ruhr … muß selbstverständlich ebenfalls gesprochen werden“. Ich war zwar bei dem Vorfall nicht zugegen, aber wenn er mit Herriot etwa so gesprochen haben sollte wie mit mir vor einem Jahre in den Twee Steden und im Friedenspalast im Haag, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, warum der französische Ministerpräsident bei diesen Worten meines Kollegen in äußerste Aufregung geriet, die Übersetzung unterbrach und sogar drohte, sofort abzureisen, wenn noch ein einziges Wort von der Ruhr gesprochen würde.

Daß darüber allseitige Bestürzung herrschte, war nicht verwunderlich. Besonders die Engländer, denen auch aus innerpolitischen Gründen an einem Gelingen der Konferenz und an einem außenpolitischen Erfolg der Labourregierung lag, waren äußerst beunruhigt. Sie verlangten die Ablösung des deutschen Dolmetschers.

Ich bin übrigens überzeugt, daß man allerseits froh war, einen Sündenbock in dem unglücklichen Dolmetscher gefunden zu haben, und daß man durch seine Beseitigung gewissermaßen auch den politischen Stein des Anstoßes symbolisch aus dem Wege räumen konnte. Ich habe in späteren Jahren, besonders im Völkerbund, aber auch bei anderen Gelegenheiten diese nützliche Rolle des Dolmetschers als Blitzableiter und Abladeplatz für schlechte Laune noch reichlich kennengelernt.

Die Geschichte war natürlich nach wenigen Stunden in aller Munde. Besonders die Journalisten bemächtigten sich dieses Zwischenfalles, der ja vielleicht besser als viele Worte die Schwierigkeiten beleuchtete, die auf der Konferenz zu überwinden waren. In Berlin erschienen sogar einige Zeitungen mit dicken Überschriften von dem „versagenden deutschen Dolmetscher“, und da der Name diskreterweise nicht genannt wurde, erhielt ich einige Tage später aus Deutschland einige besorgte Anfragen von Freunden, die schon gefürchtet hatten, daß ich bei der ersten Gelegenheit Schiffbruch erlitten hätte. Übrigens hatte auch der englische Dolmetscher, der MacDonalds Rede ins Deutsche übersetzte, bei unserer Delegation einiges Aufsehen erregt. Seine Übersetzung war zwar inhaltlich völlig einwandfrei, aber er war, wie viele Engländer, eine Zeitlang in Dresden in Pension gewesen und sprach daher manchmal reinstes Sächsisch. Schwierige Reparationsfragen in London auf Sächsisch auseinandergesetzt zu bekommen, wirkte aber auf die deutschen Delegierten selbst in den schwierigsten Situationen doch etwas erheiternd. Ein Lächeln huschte dann wohl gelegentlich über die sonst so ernsten Gesichter von Marx und Stresemann. Das hätte unter Umständen bei den übrigen Delegationen zu völlig falschen Rückschlüssen über die Aufnahme gewisser Vorschläge auf deutscher Seite führen können, wenn nicht aus den Antworten sofort der wahre Sachverhalt klargeworden wäre.

Inzwischen aber bereitete ich mich auf den großen Augenblick vor. Nach einem guten Abendessen und einem noch besseren Tropfen fuhr ich mit Marx und Stresemann am Abend dieses für mein Leben so wichtigen Tages zu der um 9 Uhr im englischen Auswärtigen Amt beginnenden Sitzung. Unversehens fand ich mich mit den Großen Europas an einem Tisch. Ich hatte meinen Platz links neben Stresemann, genau dem Premierminister MacDonald gegenüber, der mich manchmal, wenn er sich bequem auf seinem Präsidentenstuhl zurechtrückte und dabei die Beine weit von sich streckte, unter dem Tisch anstieß. Rechts von MacDonald saß der französische Ministerpräsident Herriot, auch heute noch als Präsident der französischen Kammer eine einflußreiche Persönlichkeit, ein großer, vierschrötiger Mann, mit einem fast eckig anmutenden Kopf, aus dem ein Paar gutmütige, forschende Augen gelegentlich einen mißtrauischen Blick auf meinen Nachbarn Stresemann fallen ließen; zur Linken MacDonalds saß der englische Schatzkanzler Philip Snowden. Er war vielleicht die markanteste Gestalt der ganzen Konferenz. Aus seinem hageren Gesicht blitzten ein Paar strenge, ja unerbittliche blaue Augen. Mit seiner Kritik machte er vor niemandem und nichts halt. Er war der Mann der unverblümten Wahrheiten. Von der Politik hielt er anscheinend nichts und von der Diplomatie noch weniger. Mit eiskalter Schärfe, ja vielfach mit einer in dieser Umgebung außergewöhnlichen Grobheit vertrat er seinen Standpunkt. Und meistens stand er dabei auf seiten der Deutschen gegen die Franzosen. Ich sollte Snowdens Art in den nächsten Tagen während der Konferenz und später auch bei anderen Gelegenheiten, wie der zweiten Reparationskonferenz 1929/30 im Haag, noch sehr genau kennenlernen. Rechts neben Herriot sah ich den belgischen Ministerpräsidenten Theunis.

Im Hintergrunde saßen die Berater der Alliierten; sie reichten ihren Ministern oft Zettel mit kurzen Bemerkungen oder Schriftstücke während der Beratungen zu, und man konnte daraus für den Gang der Verhandlungen manches entnehmen, wenn man wußte, wer die Herren in der zweiten Reihe waren und welches Gebiet sie als Sachverständige vertraten. Auch die deutsche Seite hatte ihre Sachberater mitgebracht, die ich hinter mir mit ihren Papieren rascheln und halblaute Bemerkungen austauschen hörte.

Von diesem unerwarteten Zusammentreffen mit den europäischen Staatsmännern war ich nicht so beeindruckt, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Ich war beinahe überrascht, wie selbstverständlich mir nach einigen Minuten meine Umgebung erschien.

Das lag nicht zuletzt an der wenig formellen Atmosphäre, die diese Beratungen kennzeichnete. Ich hatte mir früher immer Verhandlungen zwischen Ministerpräsidenten und Außenministern als eine sehr steife Angelegenheit vorgestellt. Hier aber sprachen die Vertreter der einzelnen Nationen so ruhig und im Gesprächston miteinander, als handele es sich nicht um eine hochpolitische internationale Konferenz, sondern vielmehr um eine Clubversammlung. Wenn man von der Sprache absah, hätte man keinen Unterschied zwischen den deutschen und den anderen Mitgliedern dieses „Clubs“ feststellen können. Das traf jedoch nur auf die äußere Form zu. Inhaltlich merkte man sehr bald, daß das Land, welches Marx und Stresemann vertraten, in dem nur wenige Jahre zurückliegenden Kriege besiegt worden war, und daß die anderen als Fordernde am Tisch saßen.

Ich kam infolge der plötzlichen Ablösung von Michaelis mitten in eine Debatte hinein, die bereits vorher begonnen hatte. Es handelte sich bezeichnenderweise um die Frage der Sanktionen. Das war ein äußerst wichtiger Punkt, denn mit der Begründung, Sanktionen wegen Nichterfüllung von Reparationsverpflichtungen verhängen zu müssen, war ja Poincaré in das Ruhrgebiet einmarschiert. Nun sollte beraten werden, in welcher Weise Sanktionen bei einer Verletzung des Dawes-Planes durchgeführt werden könnten. Ruhig und sachlich hatte Marx die deutschen Einwendungen gegen das erneut auf Grund des Versailler Vertrages in Aussicht genommene Sanktionsrecht vorgebracht. Snowden trat der deutschen Auffassung bei, aber Herriot machte sofort Vorbehalte. Während der Ausführungen von Marx hatte er sich wiederholt an seinen Finanzminister Clémentel und an einen Beamten des Quai d’Orsay, den heutigen französischen Botschafter in London, Massigli, gewandt.

In dem der Konferenz vorliegenden Entwurf über die Sanktionsbestimmungen war vorgesehen, daß im Falle eines „flagrant default“, d. h. einer offensichtlichen Verfehlung Deutschlands, der Sanktionsfall eintreten sollte. Angesichts der Tatsache, daß Poincaré wegen sehr geringfügiger „Verfehlungen“ Deutschlands die Ruhraktion unternommen hatte, war es natürlich der deutschen Seite darum zu tun, von vornherein die Bestimmungen auszuschalten, wonach in Zukunft geringfügige Vorfälle zum Anlaß eines gewichtigen Vorgehens unter dem Vorwand von Sanktionen ergriffen würden.

Daher wurde stundenlang über die Auslegung dieses englischen Ausdruckes hin- und herdebattiert. Snowden ergriff wiederholt das Wort und stellte sich dabei auf den deutschen Standpunkt, indem er nachdrücklich zum Ausdruck brachte, daß im Englischen dieser Ausdruck unter allen Umständen den bestimmten Willen zum Begehen einer Verfehlung bedeute, daß daher eine böswillige Absicht vorliegen müsse. Das war genau der Standpunkt der deutschen Delegation. Wäre Anfang 1923 dem Sanktionsparagraphen eine solche Auslegung gegeben worden, so hätte die Ruhrbesetzung nicht stattfinden können.

An und für sich war diese ganze Diskussion natürlich im Rahmen der größeren Probleme, um die es sich in London handelte, verhältnismäßig belanglos. Mir zeigte sie jedoch, besonders nach dem Zwischenfall Michaelis, welche weittragenden Folgen einzelne Formulierungen im internationalen Verkehr oft haben können, und ich habe mich in der Folge bei meinen Übersetzungen immer an diese ersten Beispiele aus meiner Laufbahn erinnert.

Den ganzen Abend verbrachte die Konferenz mit der Diskussion dieser und ähnlicher Punkte. Eine Einigung wurde in keiner Hinsicht erzielt, und man vertagte sich auf den nächsten Vormittag.

Erleichtert erhob ich mich mit der deutschen Delegation. Meine Aufgabe bei der Übersetzung der Ausführungen von Marx und Stresemann war insofern erleichtert worden, als man mir nur die französische Fassung anvertraut hatte. Ins Englische übersetzte der spätere Generalkonsul Kiep, damals noch Legationssekretär, der nach dem 20.Juli 1944 von der Hitlerjustiz ermordet wurde.

Zum ersten Male sprach an jenem Abend auch Stresemann persönlich mit mir. Er war so freundlich, mir einige anerkennende Worte über meine Arbeit zu sagen, und bat mich, ihn von nun ab bei allen Verhandlungen zu unterstützen. Auch der Reichskanzler deutete an, er sei nach dem Ruhrzwischenfall mit Herriot vom Vormittag sehr erfreut gewesen, daß sich dank meiner ruhigeren Sprache trotz der umstrittenen Punkte und der delikaten Fragen, die auf der Sitzung behandelt worden seien, keine Schwierigkeiten mit Herriot mehr ergeben hätten.

Von nun an fuhr ich regelmäßig mit Marx und Stresemann vor- und nachmittags in die Konferenzsitzungen, die manchmal im britischen Auswärtigen Amt, manchmal auch in den Räumen des englischen Premierministers im Unterhaus stattfanden.

Heute erscheinen mir die damals in den offiziellen Sitzungen behandelten Fragen verhältnismäßig unwichtig gegenüber der politischen Entwicklung, die sich in Privatgesprächen anbahnte. Auch hier spielten sich die wichtigsten Vorgänge außerhalb der Verhandlungsräume ab.

Das Ereignis, das alles andere, was auf der Konferenz sonst noch geschah, an Wichtigkeit übertraf und dessen Rückwirkungen weit über die Lebensdauer des Dawes-Abkommens hinausreichten, war die erste persönliche Begegnung, die hier in London nach dem Weltkriege von 1914 zwischen dem deutschen und dem französischen Außenminister stattfand. Es war das erstemal seit über zehn Jahren, daß sich die außenpolitischen Vertreter dieser beiden Nachbarvölker unter vier Augen in einer fast zweistündigen persönlichen Aussprache gegenübersaßen.

Es war nicht ganz leicht gewesen, diese Begegnung zustande zu bringen. Im Anschluß an jene Abendsitzung, an der ich zum ersten Male als Dolmetscher für Stresemann auftrat, hatte Herriot noch persönlich darum gebeten, daß man keinen Versuch machen möge, eine Besprechung mit dem deutschen Reichskanzler oder dem Reichsaußenminister herbeizuführen. Aber bereits an einem der nächsten Tage hatte er durch einen Vertrauensmann seinen Wunsch übermitteln lassen, mit der deutschen Delegation in Fühlung zu kommen. Daraufhin waren zunächst formelle Höflichkeitsbesuche ausgetauscht worden, die nur von sehr kurzer Dauer waren und bei denen von allem anderen als von Politik gesprochen wurde. Ich hatte allerdings schon bei diesen kurzen Gelegenheiten den Eindruck, daß sich Herriot bemühte, Marx und Stresemann so freundlich wie möglich entgegenzukommen. Er hatte sogar versucht, mit ihnen etwas deutsch zu sprechen, und erschien beide Male aufgeräumt und zugänglich.

Einige Tage später kam durch Vermittlung MacDonalds ein wirkliches politisches Gespräch, zwar nicht mit Marx, der ja als Reichskanzler der eigentliche Gesprächspartner des französischen Ministerpräsidenten gewesen wäre, sondern mit dem Reichsaußenminister Stresemann zustande. Aber da die außenpolitischen Probleme dem Reichskanzler fern lagen, war die Kombination Stresemann-Herriot natürlich die bei weitem günstigere.

Bezeichnend für die Stimmung in Frankreich war es, daß diese Besprechung mit großer Sorgfalt vor der Öffentlichkeit geheimgehalten werden mußte. Es wurde uns gesagt, daß Herriot der öffentlichen Meinung seines Landes gegenüber eine persönliche Aussprache mit dem deutschen Außenminister nicht vertreten könne und daß ihm die Rechtsopposition in der Kammer und sogar innerhalb seines Kabinetts die größten Schwierigkeiten machen würde, wenn über das Zusammentreffen mit Stresemann auch nur das geringste verlaute. In Frankreich sei man natürlich argwöhnisch und werde aus dieser Begegnung den naheliegenden Schluß ziehen, daß in London eben doch nicht nur über die Reparationen verhandelt worden sei, sondern darüber hinaus die als tabu bezeichneten politischen Fragen, vor allen Dingen das Ruhrproblem, behandelt worden seien, entgegen den Zusicherungen, die Herriot vorher in Frankreich hatte abgeben müssen.

So wurde denn diese Unterredung mit einem Geheimnis umgeben, das eines Detektivromanes würdig gewesen wäre. Die Hallen der Delegationshotels waren natürlich Tag und Nacht von der Presse der ganzen Welt belagert. Nicht einen Schritt konnten die Staatsmänner tun, ohne daß es mindestens einem Journalisten sofort auffiel. Wenn einer der Außenminister mit einem der großen Autos, die die englische Regierung ihnen zur Verfügung gestellt hatte, irgendwohin fuhr, folgte ihm meist ein ganzes Rudel von Journalistenwagen; mit einem Geschick, das man sonst nur auf Sechstagerennen im Berliner Sportpalast anzutreffen pflegte, hängten sie sich an das „Hinterrad“ des betreffenden Ministerwagens und verloren es auch im dichten Gewühl der Londoner Straßen nicht mehr.

Um dieser „Verfolgung“ zu entgehen, verließen Stresemann und ich das Hotel zu Fuß durch einen Nebenausgang. Ich glaube, es war sogar die Lieferantentreppe. Wir schlenderten dann gemächlich Piccadilly entlang und blieben an einigen Schaufenstern stehen, um den Eindruck zu erwecken, daß wir nur einen Bummel durch die Straßen machen wollten, sollte uns doch einer der Journalisten aufgespürt haben und uns gefolgt sein. Es war alles genau so, wie es in den Detektivgeschichten beschrieben wird. Es spielten sogar richtige Detektive dabei mit. Das waren die beiden englischen „Inspectors“ von Scotland Yard, die für Stresemanns Sicherheit zu sorgen hatten; sie waren die einzigen, die über unser eigentliches Ziel Bescheid wußten. Sie folgten uns so „unauffällig“, wie das in ihren Dienstvorschriften vorgesehen ist, und wie sie es, besonders in England, durch lange Übung meisterhaft verstehen. Durch nichts unterschieden sich die beiden freundlichen englischen Gentlemen, die im eifrigen Gespräch miteinander scheinbar ihre Umgebung völlig vergessen hatten, von den übrigen Straßenpassanten, ganz im Gegensatz zu ihren kontinentalen Kollegen in Deutschland oder in Frankreich, denen man, damals jedenfalls, am Schlapphut und Regenmantel oder dem ungerollten Regenschirm, wenn nicht gar an einem wachtmeisterlichen Schnurrbart, den Beruf oft sofort ansah.

Im dichtesten Gewühl des Piccadilly Circus erwartete uns ein englischer Wagen, den wir mit einiger Hast bestiegen, und in dem sich nach einigen hundert Metern unsere beiden „Inspectors“ zu uns gesellten. Wir fuhren einmal die große Straße bis zum Buckingham Palace entlang und bogen dann in die Mall ein, wo wir vor dem großen Gebäude des Royal Automobile Club hielten.

Unsere beiden englischen Kriminalpolizisten gingen uns in das Gebäude voran, wechselten ein paar schnelle Worte mit dem uniformierten Portier und geleiteten uns dann zum Fahrstuhl, der sich sofort in Bewegung setzte, ohne auf noch andere gerade vom Eingang herkommende Fahrgäste zu warten. In einem Film hätte diese Szene auch nicht naturgetreuer dargestellt werden können.

In einem der oberen Stockwerke gelangten wir dann nach einigem Hin und Her in ein Zimmer, an dessen Tür das Schild „Private“ hing. Wir gingen hinein, während unsere beiden englischen Begleiter plötzlich verschwunden waren.

Auf unseren Gesprächspartner Herriot brauchten wir nicht lange zu warten. Er erschien schon ein paar Augenblicke nach unserem Eintreffen. Sicherlich war er auf ebenso geheimnisvolle Weise an den Ort unserer Zusammenkunft gelangt wie wir. Er hatte niemand mitgebracht, denn es sollte ja ein Gespräch von Mann zu Mann werden, abseits und außerhalb der diplomatischen Gepflogenheiten. Körperlich machte Herriot wieder den gleichen etwas unbeholfenen Eindruck auf mich wie das erstemal. Er war so ganz anders als das Bild, das ich mir von einem Franzosen gemacht hatte. Er hätte ebensogut ein pommerscher Landwirt sein können mit seinen breiten Schultern, seinem massigen Kopf und seinem riesigen Umfang. In diesem gewaltigen Körper aber steckte ein echt französischer Geist mit all seiner feingeschliffenen Formulierungskunst und seiner scharfen, verstandesmäßigen Durchdringung der Probleme. Herriot hatte ein gutmütiges, offenes Gesicht und richtete seine großen Augen fest und forschend auf Stresemann und mich. Wie bei der ersten Begegnung auf der Konferenz hatte ich auch diesmal den Eindruck, daß von Zeit zu Zeit ein gewisses Mißtrauen in seinen Blicken aufleuchtete. Das geschah zwar immer nur für ganz kurze Zeit, aber es war doch nicht zu verkennen.

Mit einem halben Lächeln reichte Herriot Stresemann und mir die Hand und nickte dabei freundlich mit dem Kopf. Dann ließ er seinen schweren Körper in den dritten Sessel an dem kleinen runden Tisch sinken, streckte behaglich die Beine von sich, holte eine große Pfeife hervor und stopfte sie langsam und bedächtig aus einem noch größeren Tabaksbeutel. Was ich allgemein über Pfeifenraucher bemerkt habe, fiel mir auch hier wieder ein. „Er raucht die Friedenspfeife“, schoß es mir durch den Sinn.

Ehe das Gespräch begann und meine Aufmerksamkeit durch die technische Seite meiner Aufgabe in Anspruch genommen wurde, hatte ich noch ein paar Augenblicke lang so deutlich wie selten das Gefühl, der Eröffnung eines neuen Kapitels, ja eines ganz neuen Buches in der Geschichte der beiden Nachbarvölker, der Deutschen und der Franzosen, beizuwohnen. Fast körperlich wurde mir bewußt, daß in diesem Augenblick von den beiden mir gegenübersitzenden Männern eine unsichtbare, aber trotzdem äußerst reale, scharf trennende Grenze überschritten wurde.

Aus diesen Überlegungen wurde ich durch Stresemanns Stimme herausgerissen, der gleich zu Beginn der Unterhaltung ohne Umschweife auf die Kernpunkte des damaligen deutsch-französischen Verhältnisses zu sprechen kam.

„Gerade Sie als alterfahrener Parlamentarier, Herr Herriot, werden verstehen“, erklärte Stresemann mit einer leicht näselnden, metallisch preußischen Stimme, „daß ich unmöglich vor den Reichstag hintreten kann, um ihm die Annahme des Dawes-Abkommens zu empfehlen, ohne daß über den Hauptpunkt, der die Gemüter in Deutschland seit Anfang des vergangenen Jahres bewegt, die Ruhrfrage und ihre Liquidation, etwas von mir gesagt wird.“

Während ich Herriot diese Worte übersetzte und er mir sehr aufmerksam zuhörte, denn er verstand nur sehr wenig Deutsch, verfolgte ich voll innerer Spannung sein Mienenspiel. Ich war durchaus darauf gefaßt, daß er bei der Erwähnung des ominösen Wertes Ruhr wieder so erregt aufbrausen würde wie in der ersten großen Sitzung der Konferenz. Mit einer gewissen Überraschung stellte ich jedoch fest, daß er völlig ruhig blieb und daß sein Interesse auch bei den nachfolgenden Ausführungen Stresemanns nicht geringer wurde und sich in seinen Mienen keinerlei Ablehnung widerspiegelte. Im Gegenteil, von Zeit zu Zeit nickte er sogar zustimmend oder sagte auf deutsch „Ja“ zu diesem oder jenem Punkt.

Stresemann hatte also offenbar die richtige Taktik gewählt. Als er sah, daß Herriot sich der Erörterung dieser Fragen in einem Gespräch von Mann zu Mann nicht entziehen wollte, ergriff er die Gelegenheit mit beiden Händen und gab Herriot ein umfassendes Bild der politischen Lage in Deutschland. In solchen Situationen erwies sich Stresemann immer als Meister. Je länger er sprach, desto mehr erwärmte er sich für die Gedankengänge, die ihm am Herzen lagen, und um so klarer und eindringlicher wurden die Formulierungen, die er zu den einzelnen Punkten fand.

Er schilderte die Gefühle, die die Ereignisse an der Ruhr im deutschen Volk wachgerufen hatten, und zeigte an einzelnen Beispielen, wie sehr ihm die Rechtsopposition unter Ausnutzung dieser natürlichen patriotischen Aufwallung schon während der Vorverhandlungen über das Dawes-Abkommen immer neue Schwierigkeiten bereitet habe. Deshalb müsse hier in London unter allen Umständen gleichzeitig mit der Reparationsvereinbarung auch die Aufhebung der Besetzung des Ruhrgebietes beschlossen werden.

Stresemann hütete sich als geschickter Politiker wohl davor, in diesem Augenblick auf die Rechtsfrage einzugehen. Denn daß der Ruhreinfall Poincarés eine Verletzung des Versailler Vertrages bedeutete, hatte man nicht nur bei uns in der Pressepolemik gegen Frankreich festgestellt, es war auch in der Note des konservativen englischen Außenministers, Lord Curzon, Anfang des Jahres den Franzosen bescheinigt worden. Wie sich später herausstellte, vertrat auch Herriot den Standpunkt, daß die Ruhraktion zu Unrecht erfolgt war. Daß Stresemann es vermied, dieses für Frankreich ungünstige Moment hier zu erwähnen, zeigte den großen Taktiker im hellsten Licht. Es hat bei so delikaten Verhandlungen keinen Zweck, dem Partner gleich von vornherein sein ganzes, von ihm selbst im Innern vielleicht längst erkanntes Unrecht vorzuhalten und dadurch lediglich eine menschlich verständliche Widerstandsregung hervorzurufen.

Herriot stellte den deutschen innerpolitischen Schwierigkeiten Stresemanns die Opposition im eigenen Lager, in der französischen Kammer und sogar in der eigenen Regierung, besonders von seiten des französischen Kriegsministers, entgegen.

„Ich habe überhaupt nur an der Londoner Konferenz teilnehmen können“, fügte Herriot temperamentvoll hinzu, „weil ich in der Kammer und im Senat versprach, daß hier in London von der Ruhr und von politischen Dingen nicht gesprochen würde. Es sollte nur ein Beschluß über die Durchführung des Dawes-Planes gefaßt werden.“

„Eine eigenartige Konferenz, auf der vom Thema nicht gesprochen werden darf“, warf Stresemann sarkastisch ein, aber Herriot störte sich nicht an diesem ironischen Zwischenruf, sondern fuhr fort: „Dieses Versprechen glaubte ich ohne weiteres abgeben zu können, weil mir MacDonald bei unserer Zusammenkunft in Chequers ausdrücklich versichert hatte, daß die Ruhr auf der Londoner Konferenz mit keinem Wort erwähnt werden würde.“

Stresemann schüttelte den Kopf. „Sie können sich mein Erstaunen vorstellen“, sprach Herriot weiter, „als am zweiten Tage nach Eröffnung der Verhandlungen in London MacDonald mir in einer Verhandlungspause unversehens auf die Schulter klopfte und mich fragte, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt:,Was machen wir nun mit der Ruhr, Herr Herriot?’ Ich wäre fast zu Boden gesunken vor Überraschung.“

Herriot hatte sich warm geredet bei der Schilderung dieses Zwischenfalles und stellte nun in sehr temperamentvoller Weise die Schwierigkeiten dar, auf die er sich in Frankreich gefaßt machen müsse, wenn er trotz des abgegebenen Versprechens Zugeständnisse in der Frage der Ruhrräumung machen würde.

„Die unausbleibliche Folge wäre der Sturz meiner Regierung. Und damit wäre der Sache des Friedens und der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland ein schlechter Dienst geleistet, denn mein Nachfolger wäre entweder Poincaré, der schon jetzt eifrig gegen mich arbeitet, oder ein anderer, ihm geistesverwandter Politiker der Rechten.“

Diese anscheinend unabänderlich negative Reaktion Herriots wirkte auf Stresemann wie ein kalter Wasserstrahl. Jetzt aber zeigte sich seine zweite große Eigenschaft. Er ließ sich auch von einem anscheinend unüberwindlichen Hindernis nicht abschrecken. Beharrlich bemühte er sich immer von neuem, seinem Ziel näherzukommen. Insofern war diese grundlegende Aussprache mit dem französischen Ministerpräsidenten charakteristisch für Stresemanns gesamte Außenpolitik, so wie ich sie in den folgenden Jahren miterlebte.

Er versuchte auf einem anderen Wege bei Herriot Verständnis für die Notwendigkeit und die Möglichkeit eines Nachgebens in der Ruhrfrage zu gewinnen. Dieser hatte im Verlauf seiner Bemerkungen auf das ungeheure Mißtrauen hingewiesen, das in Frankreich immer noch gegenüber Deutschland herrschte, und hatte angedeutet, man müsse zunächst einmal feststellen, ob Deutschland auch wirklich abgerüstet habe, ehe Frankreich auf politischem Gebiet zu Konzessionen bereit sein würde. Herriot hatte die Frage der Militärkontrolle mit der Räumung der Ruhr verbunden und dabei gleichzeitig auf die Befürchtungen Frankreichs wegen der nationalistischen Tendenzen in der deutschen Innenpolitik hingewiesen.

Stresemann erwiderte schlagfertig, das beste Mittel, den nationalistischen Bestrebungen in Deutschland entgegenzuarbeiten, bestehe für Frankreich darin, Deutschland gegenüber eine vernünftige Politik zu verfolgen, wodurch den nationalistischen Elementen das Wasser abgegraben werde. Er zeigte, wie stark in Deutschland die Kräfte seien, die einer deutsch-französischen Verständigung positiv gegenüberstünden. Er wies insbesondere auf die Haltung der deutschen Industriellen hin, die trotz der Agitation Hugenbergs in ihrer großen Mehrheit für die Annahme des Sachverständigengutachtens eingetreten seien. Die Elemente der Vernunft und der Verständigung hielten in Deutschland den nationalistischen Strömungen durchaus die Waage. Es sei das klügste, was Frankreich tun könne, diesen vernünftigen Elementen durch eine geeignete Politik zu einem Übergewicht zu verhelfen.

In diesem Zusammenhang kam Stresemann auf die Gesten zu sprechen, die Frankreich ohne große Opfer Deutschland gegenüber machen könne, und deren Wirkung im Reich sehr nachhaltig sein würde. Auch hierbei handele es sich in erster Linie um die Liquidation des Ruhrunternehmens. Einer der wichtigsten psychologischen Faktoren sei dabei eine Amnestie für die sogenannten Ruhrverbrecher, die von Militärgerichten abgeurteilt worden seien.

In diesem Punkt erklärte sich Herriot ohne weiteres zu einer Geste bereit. Es war charakteristisch für seine menschliche Einstellung und zeigte sein wirkliches Verständnis für die Lage, daß er wörtlich dazu bemerkte: „Ich liebe Frankreich und ich liebe jeden, der für Frankreich kämpft; deshalb habe ich volles Verständnis dafür, daß Deutschland für jeden eintritt, der im Ruhrkampf für Deutschland gekämpft hat.“

Wer das Kernproblem der Liquidation der Ruhrunternehmung auf rein menschlichem Gebiet so klar erkannt hat und es offen zugibt wie dieser Franzose, dachte ich mir bei diesen Worten, der ist in seinem Innern sicherlich ebenso wie Stresemann von der Notwendigkeit überzeugt, gleichzeitig mit dem Dawes-Abkommen auch eine Vereinbarung über die Ruhrräumung zu treffen. Dies genau so offen auszusprechen wie sein Einverständnis in der Amnestiefrage, hinderten ihn wohl nur die Schwierigkeiten im eigenen Lager. Herriot war ein „homme de bonne volonté“, aber er fühlte sich nicht stark genug und war zu sehr in das Spiel der französischen Parteien verwickelt, als daß er sofort eine kühne Initiative hätte ergreifen können, um das von ihm als notwendig Erkannte durchzusetzen.

Zwei Stunden zog sich dieses wahrhaft historische Gespräch in Rede und Gegenrede hin. Immer wieder und mit immer eindringlicheren Argumenten ging Stresemann zum Angriff vor. Man merkte deutlich, wie er mit jedem Male überzeugender auf Herriot wirkte, der sich jedoch stets von neuem hinter der Opposition im eigenen Lager verschanzte; besonders der Name des Kriegsministers Nollet, des früheren Leiters der alliierten Kontrollkommission in Deutschland, fand dabei wiederholt Erwähnung.

Offensichtlich fühlte sich Herriot zu unsicher, um irgend etwas Positives zuzusagen. Während sich das Gespräch immer länger ausdehnte, sank die Temperatur von Viertelstunde zu Viertelstunde merklich. Herriot wurde immer nervöser, weil er die mit steigendem Nachdruck von Stresemann geforderte Räumung des Ruhrgebietes nicht zugestehen konnte, und Stresemann wurde seinerseits immer ungeduldiger, weil er so gar keine konkrete Wirkung seiner Worte verspürte.

Schließlich geriet das Gespräch vollends ins Stocken, minutenlang saßen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Nicht etwa, daß sie sich im Laufe des Gespräches auseinandergeredet und sich persönlich entzweit hätten. Ganz im Gegenteil, menschlich waren sie sich beide sicherlich nähergekommen. Denn sie hatten ohne Umschweife in aller Offenheit nicht als Politiker, sondern als Männer, die um den europäischen Frieden besorgt waren, miteinander geredet, hatten dabei aber erkennen müssen, wie fast hoffnungslos groß die Schwierigkeiten waren, die sich ihnen entgegenstellten.

Am Ende einer solchen Gesprächspause holte Herriot auf einmal tief Luft, so, als habe er sich zu einem schweren Entschluß durchgerungen. Ich fürchtete schon, er wolle Stresemann sagen, er müsse leider einsehen, daß sie beide nicht in der Lage seien, über die Ruhrräumung eine Einigung zu erzielen, und daß es besser sei, die Unterredung abzubrechen.

Zu meiner Überraschung aber trat genau das Gegenteil ein. Irgendwie ungehemmter und befreiter, redete sich Herriot die ganze Abneigung von der Seele, die er von vornherein gegen das Ruhrabenteuer empfunden hatte. Er sei sich darüber klar, daß die jetzige Stimmung in Deutschland, über die sich Frankreich so beunruhige, letzten Endes das Werk Poincarés sei, und er stimme Stresemann durchaus darin zu, daß man durch eine vernünftige Politik die nationalistische Haltung gewisser deutscher Kreise am besten eindämmen könne. In dieser Erkenntnis wolle er daher Stresemann zusagen, daß er sich nach Paris begeben werde, um dort seinen ganzen Einfluß zugunsten einer Räumung des Ruhrgebietes, von deren Notwendigkeit er selbst überzeugt sei, geltend zu machen. Es sei durchaus ungewiß, mit welchem Erfolg er aus Paris zurückkehren werde; vielleicht werde er überhaupt nicht zurückkommen, weil er mit der Möglichkeit rechne, bei dem Vorschlag einer Ruhrräumung oder der bloßen Andeutung, daß er mit Stresemann trotz seiner gegenteiligen Zusage über diese Frage gesprochen habe, gestürzt zu werden.

„Auf jeden Fall verspreche ich Ihnen aber, Herr Stresemann, daß ich alles in meinen Kräften Stehende tun werde, Ihren begreiflichen Wunsch nach irgendeiner Abmachung über die Ruhrräumung zu erfüllen und Ihnen dadurch Ihre Stellung gegenüber Ihren eigenen Landsleuten zu stärken“, fügte er ernst hinzu. Man glaubte ihm ohne weiteres, daß er dieses Versprechen halten würde, sah ihm aber gleichzeitig die Besorgnis an, die er wegen des zu erwartenden Kampfes in Paris hegte.

Bei diesen Worten hellte sich die vorher recht düster gewordene Atmosphäre der Unterredung zusehends auf. Mir fiel das Wort von dem Silberstreifen wieder ein. Es zeigte sich tatsächlich ein erster Hoffnungsschimmer am Horizont. In Deutschland hatte man angesichts der Ereignisse des letzten Jahres und der französischen Politik seit Beendigung des Krieges die Franzosen im Unterbewußtsein immer irgendwie als einer Einigung mit Deutschland abgeneigt angesehen. Nun hatte sich innerhalb von zwei Stunden bei diesem Franzosen, der uns hier gegenübersaß, das Gegenteil herausgestellt. Das war etwas, was mich mit großer Hoffnung für die Zukunft erfüllte. Daß diese Erwartungen nicht unberechtigt waren, zeigten nicht nur die nächsten Tage auf der Londoner Konferenz, sondern auch die nächsten Jahre der deutsch-französischen und europäischen Politik. Dieses wahrhaft historische erste Gespräch bewies mir, daß selbst größte Schwierigkeiten von Männern guten Willens überwunden werden können. Bildete doch diese Aussprache hinter den verschlossenen Türen des englischen Automobilclubs in London den ersten Auftakt zu jener glücklichen Entwicklung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, die gegen Ende der 20er Jahre ihre konkreten Ergebnisse zeitigte. Unbeachtet von der großen Öffentlichkeit wurde in dieser Stunde der Grundstein für das spätere europäische Gebäude gelegt.

Aber auch die „Eingeweihten“, ja selbst die deutsche Delegation in London wußten zunächst nichts davon. Auf dem Rückweg ins Ritz-Hotel, den wir diesmal ohne Umwege im Wagen zurücklegten, erteilte mir Stresemann den Auftrag, eine Aufzeichnung über das Gespräch auf Grund meiner Dolmetschernotizen anzufertigen und mit niemandem, auch nicht mit dem Reichskanzler, über das Vorgefallene zu sprechen. Ich durfte meine Aufzeichnung auch nicht diktieren, sondern mußte sie mit eigener Hand niederschreiben. Stresemann wollte die zarte Pflanze der neuen Verständigungspolitik, die an die Stelle der reinen Gewaltpolitik treten sollte, vor allen schädlichen Einwirkungen schützen. Er selbst war von dem Gespräch hoch befriedigt.

So saß ich denn am Abend jenes Augusttages in einem kleinen Zimmer im obersten Stockwerk des Ritz-Hotels, von dem aus der Blick weit über die Dächer Londons schweifte. Ich war tief beeindruckt von der Aufgabe, die mir anvertraut worden war, von dem plötzlichen Hineingestelltsein in die große Politik, und füllte Seite um Seite meiner ersten außenpolitischen Aufzeichnung, auf die noch unzählig viele andere in den nächsten 21 Jahren folgen sollten.

Als ich 1939 in das Ministerbüro versetzt wurde und in den Panzerschränken des historischen Zimmers der „grauen Eminenz“ in der Wilhelmstraße 76 herumstöberte, fand ich auch diese erste eigenhändige Aufzeichnung wieder. Die reichlich ungelenken Ausführungen, die ich damals als Anfänger in London niedergeschrieben hatte, machten mir deutlicher als vieles andere den ungeheuren Unterschied klar, der zwischen einem Stresemann und den „Staatsmännern“ bestand, für die ich in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg Aufzeichnungen anzufertigen hatte. Und das unerwartete Wiedersehen mit der hoffnungsvollen Zeit zu Beginn der Ära Stresemann bestärkte das Gefühl für die herannahende Katastrophe, das sich mir seit 1933 immer mehr aufgedrängt hatte.

Herriot begab sich tatsächlich an einem der nächsten Tage nach Paris. Der Finanzminister Clémentel und der Kriegsminister Nollet begleiteten ihn. Von der Fühlungnahme zwischen Herriot und Stresemann war auch nicht das geringste in die Öffentlichkeit durchgesickert, aber mit jenem feinen Witterungsvermögen, das ich bei den großen Journalisten, mit denen ich in der Folgezeit so oft zusammengekommen bin, immer bewundert habe, schrieb die englische Presse sehr treffend, daß von Herriots Reise nach Paris Erfolg oder Mißerfolg der Konferenz abhinge. Wie gut die Presse informiert war, ersah ich mit Staunen aus der Meldung einer Nachrichtenagentur, in der klipp und klar ausgesprochen wurde, daß zwischen Herriot und seinem Kriegsminister Nollet ein schwerer Konflikt in der Frage der Räumung des Ruhrgebietes ausgebrochen sei. Nollet habe sich scharf gegen jede derartige Maßnahme ausgesprochen und wolle die Räumungsfrage mit der Militärkontrolle verknüpfen, um auf diese Weise Zeit zu gewinnen.

Daß ich voller Spannung alle Nachrichten aus Paris verfolgte, war nur natürlich. Sprechen durfte ich ja mit niemand über das, was mich bewegte, und so hatte ich um so mehr Zeit zum Nachdenken. Wie recht Herriot in seiner Beurteilung der kritischen Situation seines Kabinetts in Frankreich gehabt hatte, erfuhr ich einen oder zwei Tage nach der Unterredung aus der Äußerung eines französischen Delegationsmitgliedes, mit dem ich in einer Verhandlungspause ins Gespräch kam.

Solche Gespräche waren nicht selten. Die jüngeren Mitglieder der französischen Delegation waren zu mir nicht nur in London, sondern auch bei späteren Gelegenheiten immer außerordentlich freundlich. Ich war nach meiner Arbeit auf der Konferenz gewissermaßen in die „Familie“ der technischen Mitarbeiter der einzelnen Delegationen aufgenommen worden. Genau so wie unsere Chefs trafen auch wir Kleineren und Kleinsten uns in der Folge immer wieder an den verschiedensten Stellen Europas zu gemeinschaftlicher Arbeit. Man wurde immer näher mit den einzelnen Sekretären und Sachverständigen der anderen Delegationen bekannt, man tauschte ungezwungen kritische Bemerkungen über die hohen Minister aus, und es bildete sich eine richtiggehende internationale Kameradschaft zwischen uns heraus. Im Laufe der Zeit gehörte ich mehreren solcher internationalen Familien an, deren Mitglieder sich in fast regelmäßigen Zeitabständen trafen.

Da war zunächst die Reparationsfamilie, wie ich sie zum ersten Male in London kennenlernte. Dann trat später eine allgemein politische Familie in Erscheinung, mit der ich zum ersten Male in Locarno und später beim Völkerbund in Genf auf den regelmäßigen Ratssitzungen und Vollversammlungen zusammentraf. Daneben bestand noch die Wirtschaftsfamilie, deren Mitglieder sich bei den Wirtschaftsverhandlungen und Weltwirtschaftskonferenzen begegneten, und den Abschluß bildete die mit Militärs stark durchsetzte Abrüstungsfamilie. Die Minister mochten kommen und gehen, aber die Sekretäre und die technischen Berater blieben meistens dieselben und bildeten auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden, internationalen Zusammenhalt, der durchaus den Namen einer Familie verdiente.

Daß für mich persönlich außerdem noch ein starker Kontakt zu den Dolmetschern bestand, insbesondere später zu den hervorragenden Könnern des Völkerbundes in Genf, ist selbstverständlich. Aber auch hier fiel mir besonders angenehm das freundliche Entgegenkommen meiner ausländischen Kollegen auf, die mich, den Neuling und den Jüngsten in ihrem Kreise, unterstützten und mir in manchen beruflich schwierigen Augenblicken, an denen es nicht fehlen sollte, Mut zusprachen.

Als damals in London bei solch einer „Familienunterhaltung“ einer der Sekretäre der französischen Delegation so ganz leichthin, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, erklärte: „Wer weiß, ob Herriot überhaupt aus Paris wieder zurückkommt“, konnte ich wegen meines Schweigegebotes das Gespräch natürlich nicht vertiefen und nach dem Warum fragen. Aber ich fürchtete, daß die pessimistische Voraussage von Herriot sich nun doch bewahrheiten würde. Mit Stresemann sprach ich in den ganzen Tagen nicht über die politische Lage oder den Verlauf der Konferenz. Er hatte den Kopf mit anderen Dingen zu voll, und ich war ja auch schließlich nur der Dolmetscher, mit dem er keine tiefgründigen Gespräche führen würde.

Um so erfreuter war ich, als an einem der nächsten Tage ein Kommuniqué über die kritische Sitzung des französischen Ministerrates in Paris herauskam, in dem es hieß, daß das Kabinett dem Ministerpräsidenten Herriot „einmütig seine volle Zustimmung“ erteilt habe, und daß dieser sich bereits auf dem Rückweg nach London befinde.

Die Konferenz hatte inzwischen mehrere Unterausschüsse gebildet, in denen die einzelnen technischen Fragen über die Durchführung des Dawes-Planes beraten wurden. Interessant erschien mir insbesondere der Einfluß, der sich von außenher, von seiten der Bankiers, geltend machte; sie sollten die Gelder für die Deutschland zu gewährende Anleihe aufbringen, welche zur Ingangsetzung des Dawes-Planes notwendig war. Diese nüchternen, unsentimentalen Rechner stellten dafür eine Reihe von Bedingungen auf, die lediglich von wirtschaftlichen und finanziellen Überlegungen diktiert waren und sich in vielen Punkten mit den deutschen Forderungen deckten.

Auch die Bankiers hielten eine völlige Wiederherstellung der Souveränität des Reiches über das Ruhrgebiet für unumgänglich. Sie glaubten, das Risiko einer Anleihe nur dann übernehmen zu können, wenn die Ruhrindustrie wieder völlig frei und ungehindert arbeite und die Wirtschafts- und Finanzlage des Reiches wieder so weit stabilisiert würde, daß auch nach rein wirtschaftlichen Erwägungen eine Hergabe von Kapital vertretbar sei.

Aber gerade diese Außerachtlassung der Imponderabilien schaffte wieder neue Schwierigkeiten. MacDonald erklärte einmal auf einer Sitzung, er werde als Führer einer Arbeiterregierung bei seiner Partei schwer in Mißkredit geraten, wenn sich herausstelle, daß er sich seine Handlungen von Kapitalisten habe vorschreiben lassen, und die Franzosen waren damals über die entgegengesetzte Auffassung dieser nüchternen Finanziers und Wirtschaftler hell empört, ähnlich wie im Jahre 1948 über die Entscheidungen der anglo-amerikanischen Wirtschaftssachverständigen in der Frage des Industrieniveaus und der großzügigeren Behandlung der gleichen Ruhrindustrie, um die es schon 1924 in London ging.

Kurze Zeit nach der Rückkehr Herriots aus Paris kam es zu einer zweiten Unterredung zwischen ihm und Stresemann. Diesmal fand sie im Rahmen der Konferenz ohne große Geheimnistuerei in einem Zimmer des englischen Auswärtigen Amtes statt. Herriot verbreitete sich dabei erneut über die innerpolitischen Schwierigkeiten, die er in Frankreich bei seiner letzten Anwesenheit gehabt habe. Aber er hatte sein Versprechen gehalten. Der Ministerrat hatte ihn ermächtigt, über die Ruhrräumung zu sprechen und sogar feste Abmachungen darüber zu treffen! Es sei nicht leicht gewesen, die französische Regierung und die Vertreter der Parteien zu diesem Zugeständnis zu bewegen. Er habe es mit der Verpflichtung erkaufen müssen, darauf zu bestehen, daß die Räumung erst … in einem Jahr durchgeführt würde.

Das war für Stresemann natürlich ein schwerer Schlag. „Ich muß Ihnen, Herr Herriot, zwar für Ihre Bemühungen in Paris danken. Sie haben das, was Sie mir vor einigen Tagen zusagten, gehalten, aber leider sehe ich keine Möglichkeit, mit Ihnen auf dieser Grundlage weiterzuverhandeln.“ Er erkenne die Schwierigkeiten der französischen Parlamentslage durchaus an. Aber wenn er sich vorstelle, daß er mit dieser Räumungsfrist vor den deutschen Reichstag treten solle, so sei er sicher, daß das ganze Londoner Abkommen abgelehnt werden würde. Die Folgen für Deutschland würden katastrophal sein, aber die Rückwirkungen würde auch Frankreich, ja ganz Europa zu spüren bekommen, Stresemann wurde bei diesen Ausführungen genau so temperamentvoll wie Herriot, wenn er von den Schwierigkeiten im eigenen Lande sprach. Seine Worte überstürzten sich, seine helle Stimme klang laut durch den Raum.

Herriot erwiderte ebenso heftig, daß er gar nicht daran denken könne, kürzere Räumungsfristen zuzugestehen. Er habe ohnehin schon mit Nollet und Foch in Paris die heftigsten Zusammenstöße gehabt; man habe ihm vorgeworfen, seine eigenen Ministerkollegen hintergangen zu haben. Er sei überhaupt nur nach Paris gefahren, weil er eingesehen habe, daß in der Räumungsfrage etwas geschehen müsse. Auch MacDonald habe ihn übrigens genau so wegen der Ruhr bedrängt, aber es sei jetzt, nachdem er mit so vieler Mühe in Paris ein einigermaßen befriedigendes Ergebnis erzielt habe, für ihn eine große Enttäuschung, wenn Stresemann nun erkläre, er könne sich damit nicht zufriedengeben.

Trotzdem versuchte Stresemann noch mehrmals, bei Herriot eine Verkürzung der Räumungsfrist durchzudrücken. Es dürfe sich nicht um Monate, sondern nur um Wochen handeln. Eine andere Lösung könne er gegenüber dem deutschen Parlament nicht vertreten.

Mit einem fast gequälten Gesichtsausdruck wiederholte Herriot seine Einwendungen, und man schien völlig festgefahren zu sein. In dieser Situation kam Stresemann auf einen Ausweg. Er sagte, in Deutschland würde nicht nur der Abschluß der Räumung, sondern auch deren Beginn von großer Bedeutung sein. Er frage daher Herriot, ob die Räumung wenigstens unverzüglich beginnen könne.

Diesen Gedanken griff Herriot sofort mit einer gewissen Erleichterung auf. Er meinte in erheblich ruhigerem Ton, daß sich darüber natürlich reden lasse und erwähnte dabei etwas von einem Räumungsplan, zu dessen Ausarbeitung er bereits Auftrag gegeben habe. Er würde ihn Strese mann in den nächsten Tagen vorlegen.

So hatte denn die beiderseitige Erregung doch ein gewisses Ergebnis gezeitigt. Stresemann konnte jedenfalls für sich buchen, daß er zwei Schritte vorwärtsgekommen war. Er hatte erreicht, daß die französische Weigerung, überhaupt Abmachungen über die Räumung zu treffen, nicht mehr aufrechterhalten wurde und hatte darüber hinaus eine gewisse Aussicht auf einen baldigen Räumungsbeginn gewonnen. Denn es war klar, daß Herriot in diesem Punkt mit sich reden lassen würde.

Als dann die Anleihefrage erörtert wurde und Stresemann von den Schwierigkeiten sprach, die von den Bankiers gemacht würden, brauste Herriot sofort wieder auf. Besonders ärgerlich schien er auf die Amerikaner, zu sein. Ein amerikanischer Bankier, erfuhren wir bei dieser Gelegenheit, habe ihm eine Liste von 25 Bedingungen überreicht, darunter eine ganze Reihe von politischen Forderungen, von denen die Bankiers die Gewährung der Anleihe abhängig machten. Wenn von den Banken der Versuch gemacht werde, sich in die Politik einzumischen, so verzichte er lieber auf den ganzen Dawes-Plan, rief er erregt Stresemann zu.

Über die Räumungsfrage wurde dann noch tagelang verhandelt. Langsam wurden Fortschritte gemacht. Der Kreis der Teilnehmer erweiterte sich. Marx und Luther begleiteten Stresemann. Der Reichsfinanzminister Luther beteiligte sich äußerst aktiv an den Verhandlungen, und zwar nicht nur auf seinem eigentlichen Sachgebiet, sondern auch in den politischen Fragen. Herriot brachte zu den vorerwähnten erweiterten Verhandlungen den belgischen Ministerpräsidenten Theunis und dessen Außenminister, Hymans, mit. Man trat zu sogenannten „Dreiecksbesprechungen“ zusammen. Die Engländer beteiligten sich nicht unmittelbar, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß auf der Konferenz selbst nur vom Dawes-Plan gesprochen würde.

Aber indirekt versuchte Stresemann auch über MacDonald und über den amerikanischen Botschafter, Kellogg, den späteren Außenminister, auf Herriot einzuwirken. Beide versicherten ihm, ihr Möglichstes getan zu haben, konnten aber von keinem Erfolg berichten. Kellogg fügte noch hinzu, er glaube nicht, daß Herriot formell unter die einjährige Räumungsfrist heruntergehen könne, nehme aber an, daß er nach einer Einigung über das Dawes-Abkommen die Räumung doch in Etappen durchführen werde. Es bestehe also Aussicht, daß sie noch in diesem Jahre beginne.

In den nächsten Tagen überstürzten sich die Einzelbesprechungen zwischen den Delegationen Deutschlands, Frankreichs und Belgiens. Dabei wurde um die kleinsten Zugeständnisse in der nunmehr doch im Mittelpunkt der Londoner Konferenz stehenden Ruhrfrage gekämpft. So versuchte z. B. Stresemann, den Beginn der Räumungsfrist vom Tage der Unterzeichnung der Londoner Abmachungen auf den Zeitpunkt der Einigung zwischen den drei Delegationen vorzuverlegen, ein kleiner Unterschied, der aber doch zeigt, wie von deutscher Seite um jeden Fußbreit Gewinn gerungen wurde.

Im Verlauf dieser Verhandlungen beschwor Stresemann mit der Erklärung, er müsse um eine Verschiebung der Konferenz bitten, da er ohne Zustimmung des Berliner Kabinetts und der deutschen Parteien keinesfalls die einjährige Räumungsfrist annehmen könne, eine Krise herauf. Besonders die Belgier schienen über die Entwicklung sehr besorgt zu sein und ließen durchblicken, daß Herriot doch in der Lage sei, mit einer Teilräumung früher zu beginnen. Selbst Nollet versuchte, eine Unterbrechung der Konferenz, die durch die in Aussicht genommene Rückkehr des Finanzministers Luther zur Berichterstattung nach Berlin hervorgerufen worden wäre, zu unterbinden.

Diese „Dreiecksbesprechung“ fand im Garten der Amtswohnung Mac-Donalds hinter dem Hause Nr. 10 Downing Street statt, wo die Augusthitze Londons durch die leise Brise, die vom Green Park herüberwehte, gemildert wurde. Nach einiger Zeit kamen MacDonald und Kellogg hinzu und brachten auch ihrerseits ihre Bedenken gegen eine Vertagung zum Ausdruck. Als Stresemann aber beharrlich bei seinem Standpunkt blieb, daß angesichts der Unnachgiebigkeit der Franzosen eine Rücksprache in Berlin unumgänglich nötig sei, wolle man nicht den ganzen Vertrag in Gefahr bringen, stand Herriot auf, nahm Marx, Stresemann und mich beiseite und erklärte sich überraschenderweise bereit, doch eine Räumung in Etappen vorzunehmen. Er bat allerdings um absolute Diskretion, da er mit dieser Zusage über die ihm von Paris auferlegten Beschränkungen hinausgehe.

Marx und Stresemann gaben erleichtert ihrer Zufriedenheit über diese Zusicherung Ausdruck, erklärten aber gleichzeitig, daß sie wegen des ihnen auferlegten Schweigegebotes im gegenwärtigen Augenblick nicht viel damit anfangen könnten, wo es sich darum handele, die Zustimmung des Berliner Kabinetts und der deutschen Parteien zur Unterzeichnung des Dawes-Abkommens zu erreichen.

Herriot erwiderte nichts darauf, und die drei Staatsmänner kehrten mit mir wieder an den Gartentisch zurück, an dem die übrigen Teilnehmer der Besprechung mit gespannten Blicken auf uns gewartet hatten.

Zu meiner großen Überraschung begann dann Herriot ganz offen von der Geste einer etappenweisen Räumung zu sprechen. Er holte sogar eine Karte hervor, auf der, soweit ich sehen konnte, die Räumung in Etappen schon eingezeichnet war. Nun wurden Marx und Stresemann von allen Seiten bestürmt, die Berliner Reise Luthers aufzugeben und die Zustimmung aus Berlin telegraphisch einzuholen. Sie erklärten sich jedoch lediglich bereit, diese Frage noch einmal zu prüfen. Hätte ich schon eine größere Konferenzerfahrung gehabt, so hätte ich gewußt, daß dies natürlich die Aufgabe des Reiseplanes bedeutete.

Am Abend hörte ich dann aus einer Delegationssitzung, daß die Reise Luthers nun tatsächlich nicht stattfinden würde und daß ein langes Telegramm mit einer Darstellung der gesamten Konferenzlage und des Abkommens, so wie es sich aus den Beratungen bisher ergab, nach Berlin abgegangen sei.

Am nächsten Tage schon antwortete das Auswärtige Amt, in einer unter Vorsitz des Reichspräsidenten Ebert abgehaltenen Kabinettssitzung sei der Delegation grundsätzlich die Genehmigung zur Annahme des Abkommens und der letzten Vorschläge Herriots erteilt worden. Damit war die Krise überwunden.

Trotzdem machte Stresemann in einer weiteren Besprechung noch einen allerletzten Versuch, Herriot zur Verkürzung der ganzen Räumungsfrist zu bewegen. Er drang damit nicht durch, erhielt aber die allerdings recht wertvolle Zusage, daß der Dortmunder Bezirk und einige kleinere Gebietsteile sofort nach Unterzeichnung geräumt werden würden.

Bei dieser Unterredung zeigte Herriot wieder eine starke Erregung. „Ich war stets gegen diese Ruhrbesetzung“, rief er mit erhobener Stimme Stresemann zu. „Als mein Vorgänger Poincaré einmarschierte, hat keiner der Alliierten zunächst Widerspruch erhoben. Jetzt aber, wo ich mich mit der Räumung einverstanden erklärt habe, werde ich von allen Seiten unter Druck gesetzt. Ich komme mir vor wie jemand, der eine steile Treppe hinabsteigt und ein kostbares Gut in den Händen trägt – das ist der Friede. Wenn mir jemand in den Rücken stößt, komme ich zu Fall. Auf mich kommt es nicht an, aber wenn ich stürze, geht auch jenes kostbare Gut in die Brüche: der Friede!“

In den letzten Tagen der Konferenz wurden dann in stunden –, oft nächtelangen Sitzungen die technischen Fragen und die Vertragsformulierungen zum Abschluß gebracht. Meine Arbeit betraf dabei wieder hauptsächlich die französisch-sprachigen Verhandlungen, während Kiep weiter für die englischen Übersetzungen sorgte und Michaelis ausgeschaltet blieb. Eine Fülle von technischen Einzelheiten auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet wurde im Zusammenhang mit dem Dawès-Plan geregelt. Der Plan blieb, so wie wir ihn vor Monaten im Sprachendienst übersetzt hatten, die unveränderte Grundlage.

Das Wesentliche an der Londoner Konferenz war „das, worüber eigentlich nicht gesprochen werden durfte“, die zwischen Frankreich, Belgien und Deutschland getroffenen Sondervereinbarungen über die politischen Fragen, d. h. über die Liquidierung des Ruhrabenteuers. Sie wurden nicht in dem eigentlichen Vertrag niedergelegt, sondern fanden ihren Ausdruck in einem amtlichen Briefwechsel zwischen den beteiligten Delegationen. Als das Wichtigste aber erschien mir damals und erscheint mir heute noch das, worüber überhaupt keine schriftlichen Abmachungen getroffen wurden: die grundsätzliche Abkehr von der Methode des Diktates der Sieger über die Besiegten und die erstmalige Einführung eines neuen Verhandlungsverfahrens, indem sich sämtliche Beteiligten als Gleichberechtigte am Verhandlungstisch gegenübersaßen – wenn auch zunächst nur formell; aber auch das war schon ein großer Fortschritt und die unerläßliche Voraussetzung für die spätere Befriedung. – Nach der überreizten, kriegsähnlichen Atmosphäre, die der Ruhreinmarsch heraufbeschworen hatte, war damit trotz aller sachlichen Einschränkungen ein sehr bedeutender Schritt getan.

Wesentlich ergänzt wurde dieses Verfahren durch die erstmalige Aufnahme des persönlichen Kontaktes in ungezwungener Aussprache zwischen den verantwortlichen Staatsmännern. Was ich dabei auf der französischen Seite erlebte, hatte sich gleichzeitig, zwar in weniger dramatischer Form, aber doch im selben Geist, auch auf der englischen Seite in den Gesprächen abgespielt, die MacDonald und Kellogg mit den Deutschen geführt hatten. Es war tatsächlich die Morgendämmerung einer besseren Zeit in den internationalen Beziehungen am Horizont sichtbar geworden. Der Silberstreifen war trotz aller späteren Rückschläge und Vorbehalte keine Illusion gewesen.

Zu den Problemen, die damals in der Luft lagen, gehörte auch die Kriegsschuldfrage. Bekanntlich wurde Deutschland im Versailler Vertrage die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg aufgebürdet. Bald nach Versailles war in Deutschland und auch in der übrigen Welt Widerspruch gegen diese Schuld these erhoben worden, und zwar auf Grund von Dokumenten, die erst allmählich aus den geheimen Archiven der Kanzleien an die Öffentlichkeit gelangten. Die deutsche Regierung hatte ursprünglich die Annahme des Dawes-Planes dazu benutzen wollen, um gegen die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkriege Stellung zu nehmen. Es bestand die Absicht, diese Erklärung in der Schlußsitzung der Londoner Konferenz abzugeben. Die Schlußrede des Reichskanzlers Marx, die wir vorher übersetzt hatten, enthielt auch einen entsprechenden Passus.

Die deutsche Delegation, der wohl bekannt war, wie scharf die Reaktion der Alliierten auf eine amtliche deutsche Zurückweisung der Schuldthese sein würde, hielt es für erforderlich, zumindest MacDonald vorher zu informieren, um einen Zwischenfall und ein Scheitern der Konferenz im letzten Augenblick nach Möglichkeit zu verhindern. Denn auf dieser These von der Alleinschuld Deutschlands beruhte ja das ganze Gebäude des Nachkriegseuropas, wie es sich aus dem Versailler Vertrag ergab. Letzten Endes bildete sie auch die Grundlage für die mit so vieler Mühe unter Dach und Fach gebrachte Reparationslösung im Dawes-Plan.

So bereitete sich denn Marx darauf vor, MacDonald am letzten Tage der Konferenz, am 16. August, noch unter vier Augen zu informieren. An diesem Tage jagte jedoch eine Besprechung die andere. Es war den ganzen Tag über einfach nicht möglich, MacDonald allein zu sprechen. Immer näher rückte die für 6 Uhr nachmittags im englischen Auswärtigen Amt angesetzte Schlußsitzung. Marx beabsichtigte, MacDonald noch kurz vor deren Eröffnung über sein Vorhaben ins Bild zu setzen. So fuhren wir denn etwas früher in das Foreign Office. Hier stellte sich jedoch heraus, daß die Alliierten bereits seit einiger Zeit in einem anderen Raum unter sich berieten, so daß sich wieder keine Gelegenheit zu einer Aussprache ergab. Die Sitzung der Alliierten zog sich länger, als erwartet, hin; dadurch begann die Schlußkonferenz erst geraume Zeit später als vorgesehen. Natürlich war nun nicht mehr daran zu denken, MacDonald gewissermaßen zwischen Tür und Angel über diesen wichtigen deutschen Schritt ins Bild zu setzen.

Inzwischen hatten wir von einigen nicht an der alliierten Beratung teilnehmenden Engländern gehört, daß in der Schlußsitzung nur die Unterzeichnung des Vertragswerkes vorgenommen werden würde und daß MacDonald als einziger eine Schlußrede halten sollte.

Die drei deutschen Hauptdelegierten berieten sich wegen dieser neuen Lage kurz in einer Ecke des Konferenzsaales. Nun würde ja Marx gar nicht mehr sprechen können und auch seine Erklärung in der Schuldfrage nicht loswerden. Es wurde also beschlossen, die Aktion auf später zu verschieben und die Erklärung bei Annahme des Dawes-Abkommens durch den Reichstag abzugeben. Dies sei, so hörte ich Stresemann sagen, vielleicht ein geeigneterer Augenblick, da er die Gefahr von unangenehmen Reaktionen der Gegenseite praktisch ausschließe.

Wenige Minuten danach war die alliierte Besprechung zu Ende, und die Schlußsitzung der Londoner Konferenz begann. Sie war wie so viele andere Schlußsitzungen, die ich später noch mitmachte, alles andere als feierlich. Monoton verlas Sir Maurice Hankey, der englische Generalsekretär der Konferenz, einige technische Erläuterungen für die Paraphierung des Abkommens„ das in einem vom 16. August datierten Protokoll vorlag. In diesem wurde festgestellt, daß alle beteiligten Regierungen und die Reparationskommission die Annahme des Sachverständigenplans bestätigt und seiner Ingangsetzung zugestimmt hätten. Vier Abkommen zur Durchführung des Planes waren als Anlagen dem Protokoll angeschlossen.

Gleichzeitig mit dem Protokoll und seinen Anlagen wurde ein Schriftwechsel zwischen Frankreich und Belgien einerseits und Deutschland andererseits über die militärische Räumung des Ruhrgebietes veröffentlicht. In diesem wurde zwar die Maximalfrist von einem Jahre beibehalten, in einem zweiten Schreiben Herriots und der Belgier aber wurde die militärische Räumung der Zone Dortmund-Hörde und der seit dem 11.Januar 1923 außerhalb der Ruhr besetzten Gebiete für den Tag nach der Unterzeichnung des Londoner Abkommens vorgesehen.

In einem ebenfalls unter dem Datum des 16. August 1924 veröffentlichten Brief MacDonalds an die Ministerpräsidenten Frankreichs und Belgiens, der dem deutschen Reichskanzler offiziell in Abschrift zugestellt wurde, erklärte dazu noch die britische Regierung, daß sie „mit allem Nachdruck darauf dringe, daß die beteiligten Regierungen jeden nur möglichen Schritt tun, um die Räumung zu beschleunigen, da nach Ansicht der britischen Regierung die Aufrechterhaltung der Besetzung die Durchführung des Dawes-Planes beeinträchtigen und die Abmachungen gefährden könnte, die auf der Londoner Konferenz vereinbart worden sind“.

Mit besonderem Interesse las ich gerade diese Sätze damals am letzten Tage der Konferenz. Zeigten sie mir doch, welch weiten Weg die deutsche Delegation unter Stresemanns Führung seit der Eröffnung der Konferenz zurückgelegt hatte, als „über das eigentliche Thema überhaupt nicht gesprochen werden durfte“.

Nach den nüchternen, technischen Ausführungen von Sir Maurice Hankey ergriff MacDonald das Wort zur Schlußrede. „Meine Freunde!“ redete er die Konferenzteilnehmer an, „ich möchte Sie und uns zum erfolgreichen Abschluß der gemeinsamen Arbeiten beglückwünschen.“ „Könnte sich wohl“, fuhr er fort, „irgend jemand das Unheil vorstellen, das geschehen wäre, wenn unsere Konferenz keinen Erfolg gehabt hätte? Wir haben am heutigen Tage das erste durch Verhandlungen zustande gekommene Abkommen seit dem Kriege erzielt. Wir haben versucht, einander so weit entgegenzukommen, wie es uns die öffentliche Meinung der verschiedenen Länder gestattete.“

In diesem auf Freundschaft und Frieden abgestellten Ton, der MacDonald offensichtlich von Herzen kam, fuhr er noch eine Weile lang fort. Nach einem Ausblick auf die gleichfalls noch durch internationale Vereinbarungen zu lösenden Probleme der interalliierten Schulden, der Abrüstung und der Sicherheit im Rahmen des Völkerbundes schloß er mit folgenden Worten: „Das Allerwichtigste jedoch ist heute, daß wir sicher sind, uns auf dem rechten Wege zu befinden. Ich glaube, daß wir ihn in unseren Beratungen gefunden haben, und, wie lange oder wie kurz die Herrschaft jedes einzelnen von uns sein mag – wir sind nichts als Strohhalme im Wirbel der öffentlichen Gunst –, wir haben allen Grund, stolz darauf zu sein, daß wir das Glück hatten, an dieser historischen Konferenz teilzunehmen, die eben im Begriff ist, so erfolgreich zu enden.“

Wir erwarteten nun, daß zur Paraphierung der Texte geschritten würde, aber zu unserer Überraschung meldete sich noch Herriot zum Wort. Zuerst sah es so aus, als wolle er lediglich im Namen sämtlicher Delegierten MacDonald und der englischen Regierung für deren Gastfreundschaft und für die tatkräftige Mithilfe beim Zustandekommen der Vereinbarungen danken. Dann aber sprach er eine ganze Weile nur Von Frankreich und stellte die schon während der Konferenz vertretenen Thesen wirksam und beredt dar.

„Zwar haben wir nicht alle Fragen lösen können, aber wir sehen schon heute die Morgenröte, die den neuen Tag ankündigt, heraufsteigen und wir können hoffen, daß wir bald das helle Licht des Tages erblicken werden.“

So gut gemeint und zutreffend wohl auch besonders die letzte Äußerung war, so brachte die Tatsache, daß nun doch außer MacDonald einer der Delegationsführer das Wort ergriffen hatte, die deutsche Delegation in einige Verlegenheit. Sollte nun Marx auch seinerseits noch seine vorbereitete Rede halten? Bestand nicht die Gefahr, daß die Erklärung über die Kriegsschuldfrage einen Eklat herbeiführen würde?

Die drei Hauptdelegierten Deutschlands steckten die Köpfe zusammen. Von seinem Platz hinter ihnen beteiligte sich Herr Schubert mit hochrotem Gesicht an der, wie ich aus der Ferne zu bemerken glaubte, offenbar recht erregten Unterhaltung.

Inzwischen hatten sich auch noch die Amerikaner, die Belgier und die Italiener zum Wort gemeldet. Von ihren Ausführungen ist mir heute nichts mehr erinnerlich, was irgendwie bemerkenswert wäre. Nun aber blieb Marx nichts weiter übrig, als seine Rede zu halten. Er meldete sich zum Wort und betonte, welch schweren Entschluß die Annahme des Dawes-Planes für die deutsche Regierung bedeute. Als Jurist begrüßte er die wichtige Rolle, die dem Schiedsgerichtsverfahren in den Abkommen zugewiesen worden sei, und gab zum Schluß seiner Genugtuung über den hohen Geist des Friedens und der Versöhnlichkeit Ausdruck, der auf der Konferenz gewaltet habe. Seine Ausführungen fanden wiederholt lebhaften Beifall, besonders bei den Engländern und Amerikanern. Ich wartete interessiert auf die Aufnahme, die die Distanzierung von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands finden würde, aber ich wartete vergeblich. Marx setzte sich wieder auf seinen Platz. Er hatte die kritischen Sätze weggelassen.

Nach ihm übersetzte Michaelis ins Englische und Französische. Er machte seine Sache hervorragend. Auch den ruhigen Ton von Marx traf er sehr gut. Wieder folgte bei beiden Fassungen starker Beifall, immer ein gutes Zeichen für die Qualität der Übersetzung. Michaelis hatte gut aufgepaßt – auch er ließ den in der vorbereiteten Rede enthaltenen Passus über die Schuldthese weg.

Dann traten die einzelnen Delegierten nacheinander an die Tische auf der einen Seite des großen Sitzungssaales, von dem aus man über den Green Park bis in den Hyde Park hineinsehen konnte. Die Vertragsdokumente wurden paraphiert. Länger als eine halbe Stunde dauerte es, bis der letzte Delegierte seine Initialen daruntergesetzt hatte. Dann schloß MacDonald die Sitzung, und meine erste Großkonferenz war zu Ende.

Noch am selben Abend reiste die deutsche Delegation nach Berlin zurück. Ich selbst glaubte damals die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, im Anschluß an London auch der Hauptstadt Frankreichs einen Besuch abzustatten. „Wer weiß, wann sich eine solche Möglichkeit wieder einmal ergibt“, hatte ich zu dem Leiter des Sprachendienstes gesagt, der mir diese Reise ermöglichte. Darin hatte ich mich gründlich getäuscht. Denn schon im Herbst desselben Jahres begleitete ich die deutsche Wirtschaftsdelegation nach Paris, die dort mit Unterbrechungen drei volle Jahre über einen Handelsvertrag mit den Franzosen verhandelte, so daß ich reichlich Gelegenheit hatte, die Hauptstadt Frankreichs und ihre Bewohner kennenzulernen.

Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945

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