Читать книгу Sympathy For The Devil - Paul Trynka, Paul Trynka - Страница 7
ОглавлениеNeue Welten werden oft in den profansten Umgebungen erträumt. Nur wenige Einwohner von Cheltenham, einem vornehmen und gepflegten Kurort mit Heilquelle, hätten sich jemals ihre Stadt als Wiege für ein radikal neues musikalisches Manifest vorstellen können. Doch wie sich herausstellte, herrschte hier eine undurchsichtige Realität, da sich hinter den täuschend makellosen Fassaden unzählige Geheimnisse verbargen. Brian Jones war ein typischer „Cheltonian“. Als er sein Umfeld verließ, hatte er mehr musikalische Geheimnisse aufgedeckt, als irgendjemand hätte erahnen können. Zurück blieben auch die geheim gehaltenen Kinder und der von ihm verursachte Liebeskummer, Ereignisse und Begebenheiten, die damalige Vorstellungen weit übertrafen.
Das Wort „beschaulich“ scheint mit beinahe schon monotoner Regelmäßigkeit mit Cheltenham in Verbindung gebracht zu werden. Und ja, möglicherweise ist es ein angemessenes Adjektiv, wenn man folgende Begriffe in die Bedeutung integriert: geheimnisvoll, fremdländisch, futuristisch, moralisch verkommen, elegant, dekadent und künstlerisch fruchtbar. Nahezu all diese Wörter erfassen das frühe Leben von Lewis Brian Hopkins Jones, einem Jungen, dessen Bestimmung mehr als bei allen anderen von seinem Umfeld und der Erziehung diktiert wurde. Er war der Sohn eines ehrgeizigen Mannes, der an vorderster Front bei der Entwicklung einer weltverändernden Technologie mitarbeitete. Lewis Blount Jones lässt sich genau wie sein Sohn, der denselben ersten Vornamen trug, als Genie beschreiben. Dennoch bestimmten Geheimnisse, Repressionen und die traditionell britische Steifheit sein Leben. Dieses Erbe sollte das Leben von Lewis Jones Jr. sowohl positiv als auch negativ bestimmen.
Jeder gerade erst eingetroffene Besucher der Stadt wird augenblicklich von der klaren Schönheit der strahlend weißen Gebäude im Stil der Regency-Architektur überwältigt. Eine lange und ausladende Promenade verläuft südlich von der Hauptstraße aus (wo sich Brians Grammar School befindet) bis hin zu einem Komplex von Gebäuden am Lansdown Crescent und Montpellier Walk. Es sind fast ausschließlich graziös anmutende Geschäfte und Cafés, eingerahmt von Karyatiden – Säulen, ähnlich denen der Akropolis, die betörende Frauen darstellen. Über die Straße hinweg erstrecken sich die penibel manikürten Rasenflächen der Imperial Gardens, vor denen das Queens Hotel steht. Ein wenig die Straße hinab liegt der Pump Room, ein weiteres Juwel georgianischer Architektur, inspiriert vom Pantheon. Die Regency-Terrassen, ein beispielloses Modell für ausgewählten Geschmack und Diskretion, verlaufen in alle Richtungen. Doch das alles ist „lediglich eine Fassade“, wie Barry Miles, Gründer des Underground-Magazins International Times und der Indica Gallery, erklärt, der Cheltenham 1962 entfloh. Die vermeintlich kunstvollen Steinfassaden vieler Gebäude bestehen tatsächlich aus billig bemaltem Stuck, die Innenräume sind instabil und feucht, schnell von auf Profit ausgerichteten Baufirmen hochgezogen. Mit dem exklusiven Ladies’ College, den Kunst- und Musik-Veranstaltungen, den gut situierten Durchschnittsbewohnern – viele von ihnen erlebten noch die Kolonialzeit – war das Nachkriegs-Cheltenham das Zentrum der Schicklichkeit und des Konservatismus. Doch dahinter verbarg sich eine Brutstätte der Intrigen und Laster.
Diese von Geheimnissen dominierte Grundstimmung intensivierte sich zu Beginn der Fünfziger und erreichte einen landesweiten Bekanntheitsgrad, da Cheltenham von nun an die Zentrale für die Schnüffler vom GCHQ (Government Communications Headquarters) war – ein Mittelpunkt der britischen Geheimdienstbehörde, die von Bletchley umgezogen war und zwei von der Regierung erworbene, große Grundstücke in der Stadt in Beschlag genommen hatte. Man errichtete moderne Apartmenthäuser, in denen sich mysteriöse Gestalten herumtrieben, viele von ihnen Europäer und multilingual. Wenn ein Passant sie beim gelegentlichen Umtrunk in einem der exklusiven Weinhäuser der Stadt entdeckte, fiel ihm beim Vorbeigehen schnell ein Sicherheitsausweis ins Auge.
Die James-Bond-Atmosphäre verstärkte sich zusätzlich durch die Gloster Aircraft Company, Erbauer des ersten strahlengetriebenen Jagdflugzeugs in Großbritannien, der Meteor: Die streng geheimen Prototypen verbargen sich in einem Gebäude an der Cheltenham High Street. Ab Mitte der Fünfziger produzierte Gloster die Javelin, einen glänzenden und futuristisch wirkenden Deltaflügler und Abfangjäger. Gloster und Rotol, eine Firma, an der Rolls Royce Anteile hielt und die als Joint Venture mit der Bristol Aeroplane Company fungierte, waren die führenden Arbeitgeber der Stadt und zogen Wissenschaftler und Ingenieure aus dem ganzen Land an, darunter Brian Jones’ Vater.
Neben dem Status des Zentrums der modernsten Geheimdienste war Cheltenham weltweit zugleich das Zentrum der ältesten Geheimdienste, denn die Stadt beherbergte verschiedene Kasernen der US-Air Force. Die Anwesenheit des amerikanischen und britischen Militärpersonals bedingte einen unaufhaltsamen Zustrom von Prostituierten. Einer Aussage nach verbargen sich hinter den eleganten Regency-Fassaden insgesamt 47 Bordelle. Bis in die Sechziger war die Bayshill Road, nur zwei Straßen von der Promenade entfernt gelegen, das Jagdrevier für die damals sogenannten Bordsteinschwalben, die jeden vorbeischlendernden Mann dreist fragten, ob er „etwas Geschäftliches abwickeln wolle“. Das Queens Hotel dominierte die Haupteinkaufsstraße der Stadt und wurde für den Teenager Brian Jones, zu der Zeit noch formal und korrekt im glatt gebügelten Hemd mit Krawatte, zu einem wichtigen Anlaufpunkt und Treffpunkt. Während der Woche des Cheltenham-Pferderennens entledigte man sich kurzfristig der Gäste aus der Kolonialära, um Platz für die besessenen Spieler und einschüchternden irischen Gangster zu schaffen, die bis zum frühen Morgen Karten spielten und sich mit hochkarätigen Callgirls umgaben, für die das Festival einen wichtigen Eckpfeiler im jährlichen Arbeitskalender darstellte. Sogar das politische Establishment präsentierte sich von einer anrüchigen Seite. Charles Irving, der beliebteste Bürgermeister der Stadt, später Liebling der Tory-Ikone Margaret Thatcher, ließ sich von einem malvefarben gekleideten Chauffeur in einem Ford Thunderbird durch die Straßen fahren. Der Anblick war einem Zeitzeugen nach „so tuntig, dass man es gar nicht glauben konnte“.
Die möglicherweise besten Beweise für Cheltenhams Jekyll-und-Hyde-Charakter lassen sich auf den Seiten der kultivierten und würdevollen Tageszeitung Gloucestershire Echo finden. Die Echo fokussierte militärische und religiöse Themen, wobei die grundsätzliche Einstellung voller Stolz die Werte der High Church of England widerspiegelte. Ihre Leser sahen sich oftmals schockierenden Wutpredigten ausgesetzt, die anprangernd auf die lasche Moral der Stadt abzielten. 1956 beklagte sich Reverend Ward über „eine immanente Tendenz, eine besondere Form des Bösen, die in Cheltenham ausgeprägter ist als in den meisten Städten dieses Landes“, damit auf die Zahl unehelicher Geburten anspielend, die, abgesehen von London, nirgendwo höher waren. Besorgte Bürger gaben detailliertere Untersuchungen in Auftrag, um zu ergründen, ob denn nun die Amerikaner oder die Iren für die entsetzliche Statistik verantwortlich waren. Die Zahlen belegten, dass die Briten selbst verantwortlich zeichneten! In späteren Jahren wunderten sich Brians Bandkollegen bei den Stones oft darüber, wie ein sexuell so unersättlicher Mann aus einer Stadt wie Cheltenham kommen konnte. Sie hätten schwerlich erahnen können, dass er ein Musterbeispiel für einen „Cheltonian“ war.
Lewis Blount Jones, ein talentierter Absolvent der Ingenieurwissenschaften der Leeds University, ergatterte 1939 eine Anstellung bei der prestigeträchtigen Firma Rotol und heiratete kurz darauf Louisa Simmonds. Das Paar richtete sich in der Eldorado Road ein, in einem gedämpft düster wirkenden roten Ziegelsteinhaus nahe dem Stadtzentrum. Genau hier wuchs der junge Lewis Brian Hopkins Jones auf, geboren am 28. Februar 1942 im Cheltenham’s Park Nursing Home. Schon bald war er nicht mehr alleine, denn seine Schwester Pamela erblickte am 3. Oktober 1943 das Licht der Welt. Nur zwei Jahre später erschütterte eine Tragödie die Familie, denn Pamela verstarb am 14. Oktober 1945 an den Folgen von Leukämie. Lewis und Louisa redeten niemals über den Tod ihres Kindes. Der Schicksalsschlag wurde zu einem weiteren Geheimnis Cheltenhams. Im darauf folgenden Sommer, am 22. August, kam Brians zweite Schwester auf die Welt – Barbara, die ihm das ganze Leben lang ähnlich sehen sollte.
Circa 1950 zog die Familie in die Hatherley Road, aus heutiger Perspektive die Quintessenz einer charakteristischen Vorstadt. Eine neue Doppelhaushälfte mit Garage und einer modernen Küche, dazu noch in einer idyllischen Umgebung gelegen, wirkte während der Entbehrungen der Nachkriegsjahre wie das Symbol eines hohen Status. „Es war eine angesehene und renommierte Gegend“, erinnerte sich Roger Jessop, der direkte Nachbar. „Die Häuser waren als individuelle Einzelgebäude konzipiert und sehr begehrt. Die Anwohner hier gehörten überwiegend zur Mittelschicht.“
Lewis Jones sollte später den Generationenkonflikt symbolisieren – die Kluft, die sich zwischen den Generationen öffnete, als Jungen wie Brian Jones die Pubertät erreichten. Brian gestaltete sein Leben in eklatanter Opposition zu den Werten des Vaters, der verklemmt war, dominierend agierte und niemals, niemals das Wort „Liebe“ benutzte. Doch Lewis war alles andere als ein alter verknöcherter Kauz. Während Brian sich zur Verkörperung einer kulturellen Revolution entwickelte, verkörperte Lewis die technologischen Innovationen. Seine Aufgaben bei Rotol beinhalteten die Arbeit an den fortschrittlichsten Propellern und Düsentriebwerken der Zeit. Nicht nur besaß er ein beneidenswertes Domizil in der Vorstadt, er verfügte zusätzlich über ein Auto und ein Telefon, beides seltene Besitzgüter in den frühen Fünfzigern. Doch das war typisch für eine neue Generation britischer Ingenieure, die weltweit die Entwicklung des Radars bestimmten, des Düsentriebwerks und der Militärelektronik. „Er zeigte sich weitsichtig, besorgt über die Zukunft des britischen Ingenieurwesens und verfasste schlüssig argumentierende Berichte für Zeitungen, in denen er empfahl, diesem Gebiet eine höhere Priorität einzuräumen“, erzählt Roger Jessop.
Der junge Keith Richards sah Hurricanes und Spitfires fliegen, welche die wenigen noch vorhandenen Dorniers aus Kent vertrieben. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ihre Propeller von Rotol stammten, wie auch die wichtigsten Motorteile für Großbritanniens richtungweisende Düsenjäger. Vergleichbar mit dem GCHQ und der Firma Dowty (mit der Rotol später fusionierte), bot Rotol für einen „Cheltonian“ einen angesehenen Arbeitsplatz. Lewis hatte sich großen Respekt erworben und wurde schließlich Abteilungsleiter der wichtigen Abteilung für Flugtüchtigkeit. „Er war ein gut erzogener Gentleman“, meint Kollege Robert Almond, „eher formell, so wie sich die Menschen in jenen Tagen eben gaben.“ Linda Partridge, eine andere Angestellte von Dowty Rotol, beschreibt ihn als „angenehm, ein sehr netter und sanfter Mann“. Lindas Brüder kannten Brian gut und wiesen auf die Ähnlichkeiten der beiden hinsichtlich des Aussehens und der Körpergröße hin – kleine Füße, zarte Musikerhände, durchschnittliche Größe – nicht zu vergessen eine gewisse Schüchternheit.
Louisa Simmons war Lewis in Südwales begegnet. Beide verbanden religiöse Erfahrungen, denn sie wurden in der Tradition der walisischen Methodistenkirche erzogen. Die meisten noch verfügbaren Berichte über Brians Mutter stammen von seinen Teenager-Freundinnen, wie zum Beispiel Pat Andrews, die Louisas Haushalt als „Leichenhalle“ beschreibt, düster und bedrückend. Doch zu diesem Zeitpunkt verursachte Brians eigenwilliges Verhalten schon schwere Spannungen innerhalb der Jones-Familie.
In den Fünfzigern kannte man Louisa – eine dünne, ordentlich gekleidete Frau mit einer praktischen, mittellangen Frisur – in den Kreisen der Cheltenhamer Mittelschicht. Sie und ihr Ehemann zeichneten sich durch ein ernsthaftes und stets engagiertes Sozialverhalten aus, nahezu vergleichbar mit dem viktorianischen Lebensstil. Das Paar war stolz auf seine walisischen Wurzeln, und sie engagierten sich in der lokalen Cymmrodorion-Gruppe, die Gesprächsrunden und Vorträge über die walisische Geschichte und Kultur organisierte. Laut des Familienfreundes Graham Keen wirkte die walisische Kirche durch eine starke Präsenz in Cheltenham: „Nach dem Zusammenbruch des Kohlebergbaus gab es ab 1917 eine große wirtschaftlich bedingte Abwanderung aus Wales.“ Grahams Eltern, Marian und Arthur, kannten die Jones’ gut, und zwar aus walisischen und an Musik interessierten Kreisen. Sie teilten dasselbe Ethos der ständigen Weiterentwicklung, jedoch mit einem grundlegenden Unterschied: „Nach Auffassung der Kirche durfte man weder trinken noch rauchen“, erklärt Graham. „Doch es bestand eine gewisse Flexibilität, beeinflusst durch den gesunden Menschenverstand.“ Grahams Vater Arthur genoss seinen gelegentlichen Drink, ohne zu befürchten, dass er sich damit Verdammnis und Höllenfeuer einhandelte. Die Keens beobachteten aber, dass die Haltung der Jones’ „geradezu fundamental“ war.
Louisa erfreute sich eines unverkennbaren Charakterzuges: der Begeisterung für die Musik. Obwohl sie eine viel beschäftigte Hausfrau war, gab sie Klavierunterricht und mischte sich unter die lokale Kunstszene. In den späten Vierzigern gehörte sie der Cheltenham Townswomen’s Guild an, eine urbane und künstlerisch gewandtere Gruppe als das konservative Women’s Institute. Sie zählte zudem zu den regelmäßig anwesenden Mitgliedern des Guild Choir, geleitet von Marian Keen. Die beiden arbeiteten an Kompositionen von Elgar, Vaughan Williams und Chorarrangements moderner Komponisten im Haus der Keens an der Old Bath Road oder in der Congregational Church an der Priory Terrace. Die kleine Gruppe wurde bei den Veranstaltungen der Gilde oder bei lokalen Künstlerwettbewerben schnell zu einer kleinen Attraktion. Als Louisas Chor einen Pokal beim Cheltenham Festival of Performing Arts gewann – beurteilt von einer professionellen Jury –, war sie noch monatelang sehr stolz auf diesen Triumph.
Die Musik stellte darüber hinaus die Grundlage für eine der innigsten Freundschaften von Louisa dar, nämlich mit Muriel Jessop, Rogers Mutter, die gleich nebenan wohnte: Beide Familien besaßen ein Klavier, und so verbrachten Louisa und Muriel in dem einen oder anderen Haus viele Stunden mit dem Einüben leichter Klassik und diverser Gesangsduette (Debussy, Gilbert and Sullivan). Damit gewappnet traten sie bei Wettbewerben im Rahmen des Cheltenham Music Festivals oder ähnlicher Veranstaltungen auf. „Sie wurden von den Darbietungen der Profis übertroffen. Es gelang ihnen jedoch immer eine ehrenwerte, wohl gebildete Aufführung, wie sie Ladies der Mittelschicht gebührt“, erzählt Roger. Louisa besaß ein Grammophon, was in den Fünfzigern eher ungewöhnlich war, wie auch das moderne Haus, der Wagen und das Telefon. Im ganzen Gebäude erklang ständig Musik.
Trotz der Generationenkluft war der junge Brian eindeutig als Sohn seiner Eltern erkennbar – leise sprechend, mit einem unüberhörbaren Akzent der Mittelschicht und schon von frühem Alter an fasziniert von der Musik.
Die Jones’ ließen sich nach Angaben der Nachbarn als ruhig und pedantisch beschreiben. Sie hielten ihre Einfahrt sauber und waren die ersten, die zur Tat schritten, wenn es Probleme mit Lärmbelästigung oder leichten Fällen von Vandalismus in der Gegend gab. „Man konnte sich kaum eine klassischere britische Familie aus der Mittelschicht vorstellen“, erinnert sich Roger Jessop. „Das meine ich nicht abfällig.“ Die Jessops standen den Jones’ nahe und empfanden sie als „reserviert, aber freundlich“. Sie pflegten entgegen den heute üblichen Gewohnheiten keine sozialen Kontakte – weder Dinner-Partys noch Pub-Besuche – doch Rogers Vater Frederick, ein Erdkundelehrer an der Grundschule für Jungen, half dem zehnjährigen Brian bei den Hausaufgaben, während Lewis Roger bei Mathematik und den Ingenieurwissenschaften verwandten Problemen unterstützte. Lewis erwies sich als geduldiger und logisch ausgerichteter Lehrer. Er bearbeitete eine Aufgabe methodisch und erfreute sich an der Eleganz einer korrekten mathematischen Lösung.
Dem jungen Brian Jones sah man sicherlich den Sohn eines Wissenschaftsfanatikers an. Er vermochte sich sprachlich adäquat auszudrücken und war selbstsicher. Mit seiner Hornbrille und dem Lächeln, bei dem eine Zahnlücke sichtbar wurde, wirkte er jedoch unbeholfen. Einem Lehrer nach verhielt er sich gewissenhaft und ernst, beinahe „schon übertrieben tugendhaft“. „Er war schon ‚nerdy‘“, erklärt Roger, der sich daran erinnert, wie Brian sich an einen hohen Aussichtspunkt nahe der Dean-Close-Privatschule zurückzog, die er damals besuchte. Dort verbrachte er die Zeit mit dem sogenannten „Trainspotting“, dem Sammeln der Nummern von Lokomotiven und Eisenbahnzügen.
Einige Menschen bemerkten allerdings schon früh die Sensibilität, die ihn von seinen pflichtbewussten und konventionellen Eltern unterschied. Trudy Baldwins Familie besuchte zusammen mit den Jones’ die Gottesdienste in der St. Philips und der St. James Church, wo Brian, gekleidet in eine makellose weiße Robe, ab dem Alter von zehn Jahren im Chor sang. Die beiden Familien entwickelten eine engere Beziehung, und Trudy, einige Jahre älter als Brian, beaufsichtigte die Jones-Kinder regelmäßig als „Babysitter“. Sie erinnert sich gut an den jungen Brian, besonders daran, dass er ihr die Geschichte einer verstorbenen Schwester enthüllte, von denen die Baldwins niemals etwas gehört hatten: „Brian erzählte mir von einem anderen Kind der Familie – einer Schwester, die verstorben war, und zeigte mir Fotos von ihr. Mir das mitzuteilen, schien ihm ein dringliches Bedürfnis zu sein, als wäre es ein Thema, über das man bei ihnen nicht redete. Meine Eltern standen ihnen nahe, aber ich glaube nicht, dass sie je etwas davon erfuhren. Es muss schrecklich gewesen sein, so etwas zu verbergen.“
Wie viele Cheltenhamer blickt Trudy Baldwin auf ihre Erziehung zurück und wundert sich, wie streng und gefühllos das alles war, bestimmt von Respektbezeugung und emotionaler Unterdrückung. Den Eltern zu gefallen, wurde mit Freude und Anerkennung honoriert. Diesem Reglement war auch Brian Jones unterworfen, zu Hause und auf der Dean Close, wo die großen im gotischen Baustil errichteten Gebäude sich über das Grundstück erstreckten. Ohne sich großartig zu bemühen, zählte er zu den klügsten Schülern seines Jahrgangs, vor allem in den Fächern Englisch und Französisch, aber er konnte auch in der Mathematik mit guten Ergebnissen punkten.
Brians konventionelles und leicht weltfremdes Erscheinungsbild wurde von den zahlreichen Interessen begleitet, die er mit dem Vater teilte, insbesondere der Faszination hinsichtlich des Ingenieurwesens. Im Alter von ungefähr zehn Jahren erhielt er von seinen Eltern eine teure, technisch erstklassige grüne Miniaturdampfmaschine, an der er versunken und konzentriert herumtüftelte und sie mit Methyl-Alkohol antrieb. Die Begeisterung für Maschinen hielt bis zur Pubertät an: Man konnte ihn oft dabei beobachten, wie er die Regale für Spielzeug-Lokomotiven im Modellgeschäft an der High Street durchstöberte oder wie er sich mit seinem Freund Tom Wheeler auf dem Fahrrad davonmachte, um einen Nachmittag mit dem „Trainspotting“ zu verbringen. Wenige Jahre später interessierte ihn und seine Freunde John Appleby und Tony Pickering das Straßenbahnnetz in Derbyshire. Sie verbrachten Stunden mit dem Sandstrahlen von Karosserien und dem Schaufeln von Schotter für die Strecke.
Der pflichtbewusste Schüler erwies sich auf der Dean Close auch bei den traditionellen Sportarten als hervorragend. Das traf speziell auf das Kricket zu. Vater Lewis fuhr den dunkel lackierten Wolsely oft aus der Einfahrt, damit Brian und Roger Schläge und Werfen mit dem Ziel Garagentor üben konnten. Brian verbrachte einige Zeit bei den Jessops, besonders als er sich für die „Eleven-Plus“ vorbereitete, die übliche und für einige Schüler einschüchternde Prüfung, welche über die Eignung für Cheltenhams altehrwürdige Grammar School entschied. Mit Absolventen wie Handley Page, Gründer der berühmten Luftfahrtgesellschaft, war diese zweifellos ein angeseheneres Bildungsinstitut als Dean Close. Brian, aktiv und intelligent, erschien wie die Verkörperung eines Jungen von der Grammar School, der etwas im Leben erreichen würde. Doch Roger erkannte die ersten auftauchenden Probleme hinter der für Angehörige der Mittelschicht symptomatischen Fassade: „Brian war ein guter Werfer. Wir spielten oft Kricket in der Einfahrt. Doch dann begann er zu husten und zu keuchen. Er litt an Asthma, einer extremen Ausprägung der Krankheit. Es reichte immer noch, um im Schulteam zu spielen, da er sich zwei Runden lang hielt, doch er verfügte nicht über die Ausdauer, um ein komplettes Spiel zu überstehen. Ich glaube, das erfüllte ihn mit Verbitterung.“
Möglicherweise lag die Entscheidung zum Kauf einer Klarinette in Brians Asthma begründet: Ein Blasinstrument zu spielen, war in den Fünfzigern für an der Krankheit leidende britische Kinder eine Standardtherapie. Andere Behandlungsmethoden waren hingegen primitiv – das Anblasen eines Tischtennisballs, damit er sich in verschiedene Richtungen bewegte, oder die Inhalation von Dampf aus einer Pfanne kochenden Wassers erwiesen sich mehr oder weniger als Placebos. Das Klarinettenspiel war der einzige positive Aspekt der damals selten vorkommenden Erkrankung, die sich beängstigend und darüber hinaus isolierend auswirkte.
Mühelos absolvierte Brian die Prüfung und schrieb sich am 8. September in der Cheltenham Grammar School ein, ein einschüchterndes und bedrohliches Gebäude, dessen viktorianische Turmspitzen und Zinnen die Hauptstraße dominierten. Das Institut nahm Schüler aus Cheltenham und den Vororten auf, und es bestand eine strikte Hackordnung: Ältere Schüler waren wichtiger als jüngere und die „Überflieger“ – nachdem man die akademischen Fähigkeiten am Ende des ersten Halbjahres geprüft hatte – erfuhren gegenüber der schwächeren Leistungsgruppe eine Bevorzugung. Den Neuzugängen wurde wiederholt die Tradition der Schule eingepaukt, die bis in elisabethanische Zeiten zurückreichte. Darüber hinaus drückte man die Köpfe der nervösen Ankömmlinge in einem alten Verbindungsritual im zentralen Innenhof unter einen Wasserhahn.
Der elfjährige Brian zählt zu einer kleinen Gruppe von Jungen, die sich von den Schikanen unbeeindruckt zeigten. Er war für sein Alter schon weit entwickelt, einer von nur zwei Jungs, die von der Dean Close kamen und sich leicht in einer solchen Gesellschaft zurechtfanden. Tatsächlich stach er sogar hervor: Er war blond, entspannt, im Hinblick auf seinen Bildungsstand den meisten seiner Altersgruppe weit voraus und sah „wie ein Engel“ aus, wie Philip ‚Pip‘ Price erzählt, ein Freund aus dem siebten Jahrgang, der an einem angrenzenden Tisch saß. „Das war mein erster Eindruck, ganz einfach wegen der blonden Haare und dem lächelnden Gesicht.“ Viele Schüler plagten sich mit den neuen Fächern ab, doch für Brian schien es eine lockere „Wochenendkreuzfahrt“ zu sein. Man hatte schnell den Eindruck, als bereiteten ihm die Unterrichtsstunden Freude. Während Dr. Arthur Bell, der im selben Jahr zur Schule kam, Brian später als einen „grundsätzlich sensiblen und verletzlichen Jungen“ charakterisierte, teilten Pip und die anderen diese Auffassung nicht. „Ich würde ihn nicht als schüchterne Person beschreiben. Zumindest nicht bezüglich seines Verhaltens in der Stadt und bei Leuten, die er kannte.“ Verglichen mit den meisten Kindern aus Cheltenham war er selbstbewusst, zeigte oft auf und half anderen Schülern.
In den Nachkriegsjahren nahmen Grammar Schools Jungen aus einem breiten sozialen Hintergrund auf, womit Brian und die Klassenkameraden für eine neue Mobilität zischen den Schichten standen. Doch bevor sie das System definieren oder es unterminieren konnten, mussten sie sich anpassen. Jungen, die aus Cheltenhamer Arbeiterfamilien stammten, krönten ihre Laufbahn in steter Regelmäßigkeit als Doktoren oder Professoren. Mit Nachdruck wies man darauf hin, wie viele Schüler Stipendien in Oxford und Cambridge erhielten. Die Väter eines großen Teils der Schülerschaft arbeiteten bei Dowty oder dem GCHQ – eine Elite, offensichtlich auf den Erfolg hin programmiert, kluge Jungen, denen die Lehrer wohlgesinnt waren.
In jenen Jahren hinterließ auch L. B. Jones einen starken Eindruck bei seinen Lehrern. „Überaus fähig“, steht auf einem der internen Bewertungsbögen, „mit eindeutigen Anzeichen von Brillanz“. In einer Schule, die eine landesweite und rigorose Auswahl betrieb, stellte so eine Aussage eine signifikante Anerkennung dar. „Er war ein schlauer Kerl“, bestätigt Colin Dellar, der sich ungefähr Anfang 1954 mit Brian anfreundete, „und auch selbstbewusst. Daran besteht kein Zweifel.“ Roger Jessop, dessen Vater an der Grammar nun den Rang eines stellvertretenden Schulleiters bekleidete, rechnete Brian zu einer Gruppe, die „auf eine intellektuelle und rigorose Art lernten. Er stand an oberster Stelle der Einserkandidaten, zu denen sehr, sehr schlaue Menschen gehörten. Ihnen wurde der Zugang bei Oxbridge noch mit einem Sternchen erleichtert. Man konnte Brians Ehrgeiz förmlich sehen.“ Frederick Jessop schätzte den Jungen, der nur eine Tür entfernt wohnte, gerade weil er sich durch den „kämpferischen Ehrgeiz“ auszeichnete, den die Schule förderte. Roger zufolge war sein Vater innerhalb der ersten Jahre an der Grammar mit Brian „sehr zufrieden“.
Doch das sollte nicht von langer Dauer sein.
Viele Jahre danach sprach Lewis Jones bei der BBC über seinen Sohn. Die Erzählung durchzogen verwirrende Aussagen, denn Lewis ahnte kaum etwas davon, was tatsächlich in Brian vorgegangen war. Die beiden, die sich in vielerlei Hinsicht ähnelten, trennte die Kluft zwischen den Generationen, die in ihrem speziellen Fall einem jähen Abgrund gleichkam. Der öffnete sich 1956, und der Grund lag beim Jazz, oder – um genauer zu sein, bei Jazz und Sex.
Der Rundfunkmoderator Alistair Cooke erinnert sich an den Tag, an dem seine Mutter ihn beim Hören einer Platte von Louis Armstrong ertappte: Sie brach in Tränen aus, beschämt darüber, die Klänge zu hören, die ihre Generation als „verkommene und erniedrigende Negermusik“ betrachtete. Für Jungen wie Brian und seine Freunde Graham und John Keen stellte die Musik eine „Offenbarung“ dar. Doch sogar die Keen-Brüder, die verhältnismäßig aufgeklärte Eltern hatten, „mussten darüber schweigen und es damals dabei belassen. Es wurde als ein schlechter Einfluss gesehen“.
Doch Brian schwieg nicht. Jazz und andere Genres schwarzer Musik, die in dem Jahr im Bewusstsein der Teenager in Großbritannien nahezu explodierten, sollten ab dieser Zeit der Fokus seines Lebens sein. Letztendlich wirkte sich auch die Art, wie die Eltern mit dem neuen, gefürchteten Phänomen umgingen, maßgeblich auf die Ausprägung seines Lebenswegs aus.
Viele britische Jugendliche entdeckten 1956 Jazz oder Rock ’n’ Roll. Es war das Jahr Null, symbolisiert von der Veröffentlichung des James-Dean-Films … denn sie wissen nicht, was sie tun, der die Ikonografie der jugendlichen Rebellion definierte. Brians zukünftigen Bandkollegen nach spürte man die geradezu seismischen Erschütterungen auch in Dartford, Kent. „Es war der Anfang einer Teenager-Kultur, und von dem Zeitpunkt an teilte sich unsere Klasse in musikalische Fraktionen auf“, erzählt Dick Taylor, ein zukünftiger Stone. Dicks Klassenkamerad, der Musterschüler Mick Jagger, war schon längst ein „Yankophiler“, allgemein für seine Besessenheit vom Baseball bekannt. Er ließ sich von der neuen Musik vereinnahmen wie auch der Freund Bob Beckwith. Jedoch zeigten sich Dicks und Micks Eltern hinsichtlich der Obsession nachsichtig und waren erfreut, dass ihre Söhne plötzlich mit einer Gitarre im Wohnzimmer auftauchten und Krach machten. Das traf auch auf einen gewissen Keith Richards zu, dem Dick drei Jahre später auf der Sidcup-Kunsthochschule begegnete. Doch in der Beziehung zwischen Brian und seinen Eltern öffnete der Beginn „degenerierter“ Musik einen Spalt, der sich drei Jahre darauf zu einer unüberbrückbaren Kluft vergrößert hatte. Viele Zeitzeugen haben Berichte über Brians unterkühlte und lieblose Erziehung als Kind gehört. Für die Jahre, in denen er die Pubertät erreichte, liegen direkte Quellen vor. Falls seine Eltern eine gewisse Zuneigung oder gar Liebe zeigten, dann lag die Bedingung dafür im absoluten Befolgen ihrer Regeln. „Das mit psychologischer Genauigkeit festzumachen ist schwierig“, kommentiert John Keen, „doch meine Mutter kannte seine recht gut – und ich bin der festen Überzeugung, dass ihn seine Eltern nicht mit der Liebe behandelten, die den meisten anderen Kindern zukommt.“
Die Cheltenham Grammar verfolgte die Entwicklung der Schüler Jahr für Jahr. Ihre Beurteilung über die Entfremdung des brillanten, selbstsicheren Kindes, das im Kirchenchor sang, ein Kaninchen hielt, ein strebsamer Pfadfinder und Mitglied des Gloucester Youth Club (Railway Section) war, wirkt erschütternd. Schon im Sommer 1955 bemerkte Brians Klassenlehrer Jim Dodge eine Verhaltensänderung seines Schülers. Ihm fiel auf, dass Brian „unter einem dominierenden Vater leidet und sich zur Kompensation angeberisch verhält“. Mr. Dodge war laut den Erinnerungen ehemaliger Schüler ein scharfsinniger und weltoffener Mann. Er hatte mit seiner Aussage ein Schlüsselelement der Psyche des jungen Brian deutlich angesprochen. „In der Familie herrschten ständig Spannungen“, erläutert Roger Jessop. „Ich hätte es gehasst, wenn Lewis mein Vater gewesen wäre. Was auch immer [Brian] machte – es war nicht richtig für ihn.“ Verglichen mit den meist neutral ausfallenden Einschätzungen einiger Berichte ist Dodges Dokumentation von Brians Psyche von großem Wert. Jährlich folgten neue Einschätzungen, dass Brian ein schlauer Schüler sei, aber eine „einfühlsame und vorsichtige Behandlung“ benötigt. Doch seine Lehrer lernten niemals, wie man mit diesem Jungen hätte umgehen sollen.
Neben der Musik und der Hormonflut eines Teenagers gab es noch einen zusätzlich erschwerenden Faktor: Brians Asthma. Die Krankheit sollte der letzte Nagel zu dem Sarg sein, in dem seine Zukunft als ausgezeichneter Absolvent der Grammar School zu Grabe getragen wurde. In dem ersten und eventuell zweiten Jahr konnte er sich noch beim Sport behaupten. Dann stieg er einfach aus der Sportlerclique aus, wie Roger Jessop zu berichten weiß, der morgens meist mit Brian zur Schule fuhr. „Oft war er nicht fit genug für reguläre Spiele. Ich glaube, er hasste sich dafür und entwickelte einen Komplex. Er hatte nicht die Kraft, um die ihm von der Natur auferlegten Beschränkungen zu überwinden.“ Sogar Brians Lehrer bemerkten die Gesundheitsprobleme: Im Sommer 1956 gab es 15 krankheitsbedingte Fehltage und darüber hinaus Kommentare, dass er schlecht schlief.
Auf der Cheltenham Grammar School spielten Jungen, die es zu etwas brachten, entweder Kricket oder Rugby – nur sie waren einer Erwähnung in der jährlichen Schulzeitung würdig. Brians gesundheitliche Probleme machten ihn zu einem Außenseiter. Roger Jessop gehört zu den zahlreichen Schülern, die einen engen Kontakt untereinander pflegten und später in angesehenen Berufen ihre Spuren hinterließen. Nach den ersten Jahren der gemeinsamen morgendlichen Fahrten zur Schule schlugen er und Brian unterschiedliche Wege ein. „In den ersten Jahren war er beliebt. Das hing mit seinen schulischen Leistungen zusammen und dem Vermögen, bei den Hausaufgaben zu helfen. Jedoch verlor er bei den meisten sehr schnell seinen Status. Als er abging, war er meiner Meinung nach nicht sonderlich angesehen.“
Hätten Brians Eltern jemals das Rauschen im Blätterwald der britischen Zeitschriften wahrgenommen, die ab Mitte der Fünfziger gegen den korrumpierenden Einfluss des Rock ’n’ Roll oder des „Beatnik Horror“ wetterten (letzteres schrieb die Sunday Times), wäre ihnen ihr Leben wie eine exemplarische Fallstudie vorgekommen. Ihre mangelnde Flexibilität besiegelte möglicherweise den Niedergang der Familie. Louisa vertraute sich gelegentlich der Chorfreundin Marian Keen an und beklagte sich darüber, dass Brian außer Kontrolle geraten sei. Diese wiederum – nachdem man ihr verraten hatte, dass ihre Söhne von Louis Armstrong geradezu besessen waren – hielt ihr Fähnchen in den Wind und erlaubte ihnen das Jazz-Hören. „Meine Eltern konnten sich anpassen“, berichtet John Keen. „Ich hatte das Gefühl, dass Brians Eltern hingegen starrsinnig reagierten und schnell alles ablehnten, was außerhalb des ihnen Angenehmen lag.“ Als Resultat verwandelte sich Brian Jones innerhalb von zwölf Monaten in ein „wildes Kind“, wie man das mit der Cheltenham-Begrifflichkeit kategorisierte. Wenn seine Schulkameraden von dieser Phase erzählen, gebrauchen sie schnell ähnliche Wörter und Beschreibungen, von denen einige häufig in seinem Leben wiederkehrten, wie zum Beispiel „einen Komplex haben“ oder „rebellisch“. Von dem Zeitpunkt an wird er fast ausschließlich als Musiker dargestellt, den man ständig mit einer Klarinette oder einer Gitarre sah. Ein Interviewpartner benutzte einen Terminus, der erst später auftauchte: „The Devil.“
Als Brian von der Musik wie von einem Blitzschlag getroffen wurde, schien alles zusammenzukommen. Höchstwahrscheinlich war Bill Haley, dessen „Rock Around The Clock“ sich im November 1955 bis an die Spitze der UK-Charts vorarbeitete, der erste Vorbote eines neuen Lebensstils. Unverzüglich versuchte sich Brian der Wurzeln der von ihm geliebten Musik bewusst zu werden. Er beschäftigte sich mit den eher rauen Country-Platten, die den Rock ’n’ Roll beeinflussten, darunter Johnny Cash und – wie wir sehen werden – Tennessee Ernie Ford. Gemeinsam mit dem jüngeren Musikfan Phil Crowther kam er 1956 zum Skiffle, dem Jahr, in dem sich Lonnie Donegan über eine Reihe von Hits freuen durfte. Donegan inspirierte Tausende britischer Kids – darunter natürlich John Lennon und Paul McCartney – dazu, sich in dem „Do-It-Yourself“-Genre zu versuchen. Über den Umweg Donegan erfuhr Brian Jones von einem gewissen Leadbelly, dessen Musik in den verschiedenen Kaffeehäusern Cheltenhams lief. Vermutlich liegt hier die Inspiration zur Anschaffung einer Gitarre ungefähr im Winter 1956. In den Cafés hing Brian mit neuen Bekannten ab. Er lernte von ihnen mehr über den traditionellen und den modernen Jazz von Count Basie und Duke Ellington, über Charlie Parker und, circa in den späten Fünfzigern, Cannonball Adderley. Er „verschlang“ die Musik förmlich wie ein Besessener – als wäre sie ein Kodex für eine neue Existenzebene. Und das war sie natürlich auch.
Musik bedeutete einen Weg des Eskapismus und zugleich eine Form der Therapie, denn ein weiteres Adjektiv beschreibt Brian zu dem Zeitpunkt: einsam. Pat, seine Freundin aus dem Jahr 1960, erinnert sich an die Einsamkeit. Das Gefühl der Isolation, die Klaustrophobie, die den jungen Brian zu Hause überkam, stellte sich als Initialzündung heraus, die ihn zum Ausbruch aus den beengten Verhältnissen bewog. Mick Jagger, Dick Taylor und all die anderen spielten ihre Musik in den Wohnzimmern. Brian hingegen schnallte sich die Gitarre auf den Rücken und setzte sich aufs Fahrrad. Die Kluft zwischen Lewis Jones und seinem Sohn bedingte in den folgenden Jahren, dass Brian sich eine Spielpraxis aneignete, die weit über der der Stones lag – und möglicherweise auch der anderen aufstrebenden Bluesgitarristen Großbritanniens.
Cheltenham, das öde, ach so gesetzte und konservative Cheltenham, mauserte sich nun zu einer Spielwiese des musikalischen Experimentierens. Sogar eine kleine Jazz-Clique fand sich zusammen im beliebten Haus an der Priory Street 38, wo die nachsichtige Mutter Mrs. N. E. Filby ihren Töchtern Jane und Ann die Eröffnung eines Club-Cafés im Keller gestattet hatte. „Es begann mit vier Jungs aus der Grammar School, einer Band mit John Picton als Leader“, plaudert Jane. „Eigentlich waren es alles Freunde meiner Schwester, die aber zuerst oben ihre Hausaufgaben machten. Dann kamen Freunde der Freunde hinzu, doch es war niemals öffentlich.“ Innerhalb von ungefähr einem Jahr schauten Musiker vorbei, wenn sie während einer Tour in der Stadthalle auftraten, darunter Lonnie Donegan und der Bandleader und Posaunist Chris Barber. Ende 1956 stellte der winzige Club praktisch das zweite Zuhause für Bill Nile dar, dessen Delta Jazzmen zu den heißesten Attraktionen der Stadt gehörten. Schon im Alter von 15 Jahren zählte Brian zu den Stammgästen. „Ich sah ihn Anfang 1957 im Filbys“, erzählt Graham Keen, der damals mit Ann Filby ausging. „Er hatte eine Gitarre mitgebracht. Allerdings kann ich mich nicht an sein Spiel erinnern. Ich weiß noch genau, welchen Bammel er hatte, rechtzeitig zu Hause zu sein, denn seine Mum und sein Dad bestanden darauf, dass er um 22 Uhr da war.“
Brians Interesse, der beste Schüler der Klasse zu sein, mag sich 1957 vollkommen in Luft aufgelöst haben – laut den Lehrern zeichnete er sich nur noch durch eine „faule Grundhaltung“ aus –, jedoch richtete er die ausgeprägte Eigenschaft des Fokussierens auf die Musik. Zu Hause verbrachte er Stunden mit dem Hören von Platten auf dem Familien-Grammofon. Brian lernte die Riffs, Akkorde und Sounds mit einer leidenschaftlichen Hingabe, die ihn schon bald von anderen abheben sollte. In der Grammar hatte sich eine kleine Gruppe von Jungen getroffen, die unter der Aufsicht des Lehrers Bill Neve in der Mittagspause Sessions arrangierte. Neve ließ störrisches Verhalten auf keinen Fall durchgehen – wenn Brian Widerworte gab, verpasste er ihm eins hinter die Ohren –, doch in musikalischer Hinsicht zeigte er sich offen und flexibel. Er erlaubte den Jungs die Gründung einer Jazzband, geleitet von dem Klarinettisten Colin Partridge. Der Bandleader kam gut mit Brian klar, der mit einer Gitarre bei den Sessions auftauchte. Für ihn war es offensichtlich, dass er intensiv geübt hatte. „Er spielte schon eine längere Zeit und hatte die richtige Musik gehört, obwohl mich das Gefühl beschlich, dass seine Vision sich nicht nur auf Jazz beschränkte.“ Zumindest nicht auf Partridges Vorstellung vom Jazz, der einen puristischen New-Orleans-Revival-Stil anstrebte, ähnlich wie ein Bunk Johnson. „Es wirkte alles verbohrt, war überhaupt nicht Brians Stil“, erklärte der Sänger der Band Dave Jones, der mit seinem Namensvetter noch in der Zukunft spielen sollte. Partridge meint zusammenfassend: „Meinem Eindruck nach war er ein Einzelgänger.“
Das stimmte auch, zumindest nach der Begrifflichkeit der Kids des Establishments. Während Brian durch die Musik neue Beziehungen aufbaute, verschwanden die alten Freunde – oder er vergraulte sie, darauf bedacht, die zu schockieren, die er als Langeweiler oder als zukünftige Aktenschieber betrachtete. Colin Dellar zählt zu den Freunden, die sich in Feinde verwandelten. Er saß anfänglich in der Strebergruppe neben ihm. „Wir waren zwei Jahre lang Freunde. Und dann hatte sich das mit der Freundschaft erledigt. Zum Ende hin glich das alles zwei Gangs – der Jones-Gang und der Dellar-Gang. Ich sagte meist, dass die Dellar-Gang für das Gute stand, während die Jones-Gang das Böse symbolisierte.“ Dellar zufolge begann der Bruch, als er den Jones’ einen Besuch in ihrer Doppelhaushälfte abstattete. Drinnen wirkte alles blitzblank und gepflegt, doch Brian schien Spaß daran zu haben, seiner Mutter eine möglichst große Unordnung zu hinterlassen. „Er sagte: ‚Damit hat sie erst mal was zu tun!‘“ Freunde von Brian interpretierten das als typisches Schuljungen-Gebaren, das darauf abzielte, zu schockieren. Falls es so war, funktionierte es. Doch gerade Dellar dachte, dass Brian etwas „Teuflisches“ anhaftete.
Die Fehde der beiden verwandelte sich nicht in einen gewalttätigen Konflikt, doch es gab ständige Verbalattacken. Einmal zog Dellar einen besonders befriedigenden Coup ab. Schülergruppen mussten sich gegenseitig die Geschichtstexte bewerten, und seiner Gruppe gelang es, sich Brians Essay unter den Nagel zu reißen. „Da er ein äußerst intelligenter Junge war, fiel seine Arbeit dementsprechend aus. Doch wir überzeugten den Geschichtslehrer, ihm eine schlechte Note zu geben. Das war der reine Spaß.“
Brians Gegenangriff war so verschlagen wie effektiv. Während ihres vierten Jahres an der Schule wandelte der stellvertretende Schulleiter Frederick Jessop würdevollen Schrittes den Flur entlang, als er plötzlich eine Reihe Obszönitäten hinter seinem Rücken hörte. Unverzüglich rannte er die Treppe hinauf, um des Missetäters habhaft zu werden, doch wer auch immer es gewesen sein mochte, war verschwunden. Mr. Jessop war sich sicher, Dellars Stimme erkannt zu haben, woraufhin er den Schüler zur Rede stellte. „Er zeigte sich mir gegenüber hochgradig verärgert, aber ich hatte gar nicht gerufen – sondern Brian Jones.“ Doch der stellvertretende Direktor glaubte ihm nicht. Nach dem Vorfall in der Oberstufe der Grammar School musste sich Dellar ein ganzes Jahr darüber ärgern, nicht mehr Vertrauensschüler zu sein. Später erfuhr er, dass der Direktor Dr. Bell „all die Geschichten über mich vom stellvertretenden Schulleiter erfahren hatte. Der behauptete, dass ich all diese Dinge gesagt hätte. Das war aber Brian Jones gewesen, der sich damit revanchierte. Letztendlich erkannten sie, dass Brian meine Stimme imitiert hatte, und so wurde ich doch noch Vertrauensschüler – ein Jahr später als alle meine Freunde. Brian hat mir das angetan!“
Dellar stellte eine Ausnahme hinsichtlich seiner Antipathie gegenüber Jones dar, doch viele der anderen Jungs bemerkten beim zukünftigen Stone einen völligen Respektverlust, ja, sogar einen Hass gegenüber Autoritäten. „Er verhöhnte das Establishment“, bestätigt sein Klassenkamerad Ian Standing. „Ihn umgab ständig eine Aura der schlummernden Aggression oder Sturheit. Es mag zwar alles eine Art Fassade gewesen sein, war jedoch eindeutig spürbar. Keine Frage, er widersetzte sich Autoritäten.“ Ein oder zwei Jungs provozierten die Lehrer, doch wie Mitschüler Robin Pike hervorhob, „konnte man zwar ungebührliches Verhalten feststellen, doch keine direkten Beleidigungen der Lehrer. Es waren noch die Fünfziger, einhergehend mit körperlicher Züchtigung, womit sich eine gewisse Angst erklären lässt.“
Brian Jones zog eine Prügelstrafe förmlich auf sich, deutlich sichtbar im Februar 1957, als Bill Haley, der dickliche Rock ’n’ Roller mit der Entenschwanzfrisur, seine zusätzlichen Termine für eine Großbritannien-Tournee bekannt gab, darunter auch ein Konzert in Cheltenham. Haley war damals zur Ikone der Jugendrebellion erkoren worden – vermutlich, weil es zu dem Zeitpunkt keinen Besseren gab. Am 22. Februar standen die Teenager in einer langen Schlange vor dem Ticket-Kontor, um Eintrittskarten zu ergattern, was einen empörten Aufschrei in der Stadt provozierte. Die Stadtverwaltung ergriff eine paranoide Angst vor unruhestiftenden Jugendlichen, insbesondere Teddy Boys, die schon für einige wütende Schlagzeilen in der Lokalzeitung gesorgt hatten und die Veranstaltungshalle nicht betreten durften. Die Polizei ließ die Menge nicht aus den Augen, und das Gloucester Echo druckte ein Foto der sich außerhalb des Gaumonts drängelnden Rock ’n’ Roll-Fans. Schon bald machten Gespräche über einen Jungen von der Grammar School die Runde, der im Hintergrund stand. „Er trug eine Schuluniform, und es war Brian Jones“, erzählt Robin Pike. „Es ist schwierig, die Tragweite des Ereignisses zu erklären. Man hatte mir strengstens verboten, dorthin zu gehen, da der Verkauf während der Schulzeiten stattfand. Es war wirklich schockierend, ein Schlüsselerlebnis.“
Brian bekam seine Karte und besuchte das Konzert allein. Die Show wurde aber zu einer Enttäuschung – keine Krawalle und merkwürdig formelhafte Ansagen eines Bill Haley, dessen Band zu allem Überfluss auch noch mit einem Akkordeonisten auftrat.
Brian hatte sich schon zu einem autarken Menschen entfaltet, obwohl er gerade erst 15 Jahre alt geworden war. Er verhielt sich zuvorkommend und freundlich, stieg sogar vom Fahrrad ab, um sich mit Robin Pike zu unterhalten, als die beiden kurz vor Weihnachten Prospekte austrugen. Doch auf Pike wirkte es seltsam. „Er gab sich außerordentlich freundlich – und das war an sich schon merkwürdig.“ Bei Freundschaften, die auf gemeinsamen Interessen beruhten, gab sich Brian richtig Mühe. Er besuchte zum Beispiel Phil Crowther, um mit ihm an Songs zu arbeiten. Hinsichtlich anderer Lebensbereiche hatte Brian sich jedoch merklich von der Masse abgenabelt.
Einigen fiel auf, wie sehr er sich in dieser Zeit veränderte. Carole Woodcroft und June Biggar, die auf ihrem Weg zur Pate’s Grammar, der Grammar School der Mädchen im Westen der Stadt, teilweise die gleiche Strecke zu radeln hatten wie er, bemerkten, wie Brian an der Albert Road anhielt und sich mit einer ihrer Mitschülerinnen traf, einem Mädchen mit ziemlich langem, zu einem Pferdeschwanz geflochtenem Haar. Hope (nicht der richtige Name) und Brian „fielen beinahe übereinander her“, berichtet June, „was ungewöhnlich wirkte. Man traf einen Jungen von der Grammar vielleicht im Gaumont, denn dort war es dunkel. Die Leute redeten schnell, und man wollte auf keinen Fall, dass die Eltern etwas davon erfuhren.“
Brian, der verschroben wirkende Außenseiter, das „Küken“, war zu einem muskulösen Jugendlichen mit glatter und reiner Haut geworden. Er zählte zwar nicht zu den großen Jungs, hatte aber einen eigenen, vereinnahmenden und spitzbübischen Charme und somit kannten ihn die meisten Mädchen der Pate’s. Caroles Erinnerungen nach hielt die schwärmerische Beziehung mit Hope einige Wochen oder Monate. Sie mochte Hope, ein intelligentes und schönes Mädchen, das allmorgendlich die Schulglocke läutete. „Und dann zog Brian weiter, vermutlich zu einem anderen jungen Ding.“
Trotz all seiner Aufsässigkeit und der Lehrerkommentare über die sich vermindernden schulischen Leistungen waren Brians Resultate in den O-Levels in dem Sommer respektabel: Er erreichte sieben, darunter Englisch, Mathematik, Französisch, Deutsch und zwei Naturwissenschaften – genügend, um den Sprung in die Oberstufe zu schaffen, wo er für die A-Levels General Studies belegte sowie Biologie, Physik und Chemie. Es waren berüchtigt schwierige Fächer, zugleich jedoch am besten geeignet, um ihm zu einer Karriere als Tierarzt oder Apotheker zu verhelfen – zwei seriöse Berufe, die Lewis, zumindest der Vermutung der Nachbarn nach, für den Sohn ausgewählt hatte. Als Brian im September 1957 in die Oberstufe eintrat, bewerteten die Lehrer seine Lernhaltung als „gut“, obwohl einige Anzeichen die unverkennbare Präsenz des Vaters erkennen ließen. Dieser berichtete gegenüber den Lehrern von der „schwierigen inneren Einstellung“, die er zu Hause bei seinem Sohn erlebte.
In dieser negativen Grundstimmung, dem erdrückenden Gefühl, ständig unter Aufsicht zu stehen, öffnete sich in Brians Leben kontinuierlich ein Weg des Entrinnens. In dem Sommer tauchte er regelmäßig als Gitarrist für Bill Nile’s Delta Jazzmen auf und spielte mit ihnen bei einer Reihe von Konzerten, die in ihrem „Hauptquartier“ stattfanden, dem Hinterzimmer eines pompösen viktorianischen Hallenbads in Alstone. „Er war ein guter Gitarrist, vermutlich besser als viele Musiker der Londoner Szene“, kommentiert Dave Jones, der Sänger der Band. „Er trat zwar nicht regelmäßig auf, doch recht häufig, vielleicht ein Dutzend Mal.“ Dann spalteten sich die beiden ab, um gemeinsam mit dem Drummer (und Vogelliebhaber!) Steve Keegan Brians erste Band zu gründen, die Barn Owls. Der zukünftige Stone hatte schon längst die Grenzen des konventionellen und traditionellen Jazz-Repertoires überschritten und sich mit der Arbeit der beiden Gitarristen James und Lonnie Johnson auseinandergesetzt. Kurz darauf entdeckte er John Lee Hooker, den wohl am sparsamsten spielenden und elementarsten Musiker des elektrischen Blues. Das Programm der kleinen Band war eklektisch – „Ain’t Misbehavin’“, „CC Rider“, „Careless Love“ und einige Nummern von Lonnie Donegan, die sie in den örtlichen Pubs, wie dem Montpellier Arms, dem Duke of Sussex und dem Reservoir Inn, „schrubbten“. Zwischen Dave und Brian entwickelte sich eine enge Freundschaft. Sie besuchten sich gegenseitig oder probten in einer Garage nahe der Hatherley Road. Dave mochte Brian: „In musikalischer Hinsicht konnte man leicht mit ihm arbeiten. Er kam immer zu den Gigs und Proben, was schon die halbe Miete ist. Er war ein Malocher.“
Dave wusste, dass Brian mit anderen Musikern außerhalb des Trios spielte, ständig experimentierte und dazulernte. Im Frühjahr 1958 schloss er sich den beiden befreundeten Jazzern Mac White und Martin Fry an, um im Wheatsheaf Inn an der Old Bath Road einen kleinen Club zu eröffnen. Macs Gruppe trat meistens Mittwoch auf, während Brian die Karten an der Tür kontrollierte.
Der spätere Stone befand sich auf der kontinuierlichen Suche nach neuen Songs, und zwar nach dem Zufallsprinzip, das für Kids im Vor-Internetzeitalter üblich war: Er fragte Freunde nach Empfehlungen, hockte sich in die damaligen Hörkabinen im Elektrofachgeschäft Curry’s und verschlang die Seiten der Jazz News. Er schlug dem alten Schulfreund Tim (nicht sein richtiger Name) die Gründung eines Schallplatten-Clubs vor. Die Idee dahinter: Brian stellte den Plattenspieler bereit und Tim sorgte für die Scheiben. Ungefähr zu Beginn 1958 setzten sie den Plan in die Realität um. Die beiden hockten sich in den Bus nach Gloucester, stöberten in den Regalen des Bon Marché, eines großen Kaufhauses, und kehrten mit einem Exemplar von 16 Tons von Tennessee Ernie Ford zurück. Bei Brian zu Hause waren weder die Eltern noch die Schwester zu sehen. Die beiden setzten sich in das picobello gepflegte Wohnzimmer, legten die 78er auf den kleinen Plattenspieler und lauschten der Musik – wieder und wieder. „Das ist schonungslos, das richtige Leben“, bestätigten sie sich gegenseitig. „Der Typ weiß, wovon er singt.“ Die Musik passte zu Brians facettenreichem Geschmack. Er absorbierte neue Musik förmlich, egal, was es war, genoss die tiefen und traurigen Töne eines Ernie Ford oder Johnny Cash, mochte aber auch die funkensprühende Energie eines Little Richard.
Nun, als 16-Jähriger, erregte er Interesse in der Stadt. Möglicherweise lag der Grund für seinen oftmals von anderen bemerkten Narzissmus in der kürzlich stattgefundenen Transformation von einem hässlichen Küken zu einem jungen Mann. Mit dem kurz geschnittenen blonden Haar, den hohen Wangenknochen und den fein ausgeprägten Gesichtszügen war er sich seiner körperlichen Anziehungskraft bewusst. So manches Mädchen von der Pate’s warf ein Auge auf ihn. „Er war äußerst attraktiv“, meint June Biggar, „mit seiner wunderschönen, elfenbeinähnlichen Haut und den blauen Augen.“ Penny Farmer, eine ehemalige Schülerin, weist auf einen weiteren Punkt hin, der seine Attraktivität eventuell erklärt, denn man kannte ihn als „den Wilden“. Er zählte zu den Menschen, die eine Straße entlangschlendern, schlechte Laune haben und einfach an Bekannten vorbeigehen, ohne sie zu grüßen. „Er blieb verschlossen“, erinnerte sich ein ehemaliger Schüler, der sich hautsächlich – wie auch seine Altersgenossen – für Sport, schulische Belange und „ganz normale“ Freizeitaktivitäten interessierte.
Tim, auch 16, ließ sich als ein recht schüchterner Junge beschreiben. Die Freundschaft mit Brian und, nicht zu vergessen, der Schallplatten-Club hielten nicht lange. Als er die Beziehung beschrieb, machte Tim – ein angenehmer, freundlicher Mann, der immer noch in Cheltenham wohnt – eine lange Pause, bevor er die Bemerkung folgen ließ: „Es gab etwas an seiner Persönlichkeit, das mir Unbehagen bereitete.“ Dem Unbehagen lag ein Vorfall an einem Nachmittag in Brians Haus zugrunde, wie Tim schließlich aufklärte: „Wir verbrachten den Nachmittag zusammen … und er schlug vor, gemeinsam zu masturbieren. Das war für mich wie ein Schlag vor den Kopf. Ich habe das niemandem erzählt, noch nicht mal meiner Frau.“
Na ja, in dem Großbritannien der Fünfziger gehörte ein wenig gemeinsames Masturbieren nicht zu den sonderlich anormalen Praktiken. Viele wissen, dass auch ein John Lennon sich an seinen jugendlichen „Wichs-Zirkel“ erinnerte, während dieser „Zeitvertreib“ in einigen Privatschulen zur Tagesordnung der Kids gehörte. Nichtsdestotrotz „war es frühreif“, wie Brians Freund John Keen meint. „Solche Dinge passierten in den öffentlichen Schulen, doch hier wäre es indiskutabel gewesen.“ Und so reagierte auch Tim: „Von einer sexuellen Perspektive aus betrachtet, haftete etwas Dunkles an ihm. Ich beschreibe es mit dunkel. Ich glaube, dass wir deshalb die Freundschaft nicht weiterführten.“
Anfang 1958 wirkten sich Brians sexuelle Entdeckungsreisen nachhaltig aus. Die Nachricht machte die Runde, dass die 16-jährige Hope von der Pate’s verschwunden war und Brians erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Die Angelegenheit wurde unter den Teppich gekehrt, und nur Hopes ummittelbare Freundinnen in der Klasse wussten etwas davon. Man gab das Baby daraufhin zur Adoption frei. (Das gehörte zu den normalen Verfahrensweisen an einer Mädchenschule: Hopes Klassenkameradinnen erinnern sich an mindestens zwei geheime Geburten in dem Jahr.) Spekulationen zufolge führte Hope später ein erfülltes Leben und wanderte aus. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Kind jemals von der Identität seines Vaters erfuhr, da man damals Themen wie Schwangerschaft und Geburt schnell in die Grauzone von Gerüchten und Spekulationen verbannte.
Von dem Moment an straften die von dem Vorfall wissenden Mädchen Brian mit Verachtung, wie zum Beispiel Carole Woodcroft, die später die Kunsthochschule besuchte. 1959 fuhr sie zufällig einige Male mit Brian im Zug zu den Clubs des West Ends. „Er erweckte den Eindruck eines Gauners, aber nicht auf eine glamouröse Art, nicht wie einer dieser flirtenden und lächelnden Typen.“ John Keen, im Berufsleben Psychologe, mochte und respektierte Brian, stimmte jedoch dem Kritikpunkt der Gefühlskälte zu. „Es ist schwierig, das psychologisch zu bestimmen, doch Brian hatte einen Charakterzug, den man mit mangelndem Gewissen gleichsetzen kann. Er litt weder, noch reagierte er – so als wäre nichts geschehen.“
In der Rebellion gegen die Werte der Eltern und die gesellschaftlichen Konventionen erteilte er sich die Lizenz zum Egoismus. Barry Miles, Student am Kunst-College, der Brian in den folgenden Jahren häufig traf und auch „Probleme“ mit Cheltenham hatte, erinnert sich an Brian als „einen im Umgang schwierigen Menschen. Doch das lag daran, dass er nicht dorthin gehörte – er gehörte nach London.“
Da man die Affäre mit Hope sorgsam verheimlichte – die Jungs an der Grammar School erfuhren nichts davon – war Brian dort immer noch bei einigen beliebt, wenn auch einige Eltern in der Stadt sich so ihre Gedanken machten. Seine Fähigkeiten und der zunehmend gute Ruf als Musiker verliehen ihm ein glamouröses Element – sagt Penny Farmer, die mit ihm 1959 das Filbys besuchte. „Er hatte etwas Verruchtes an sich und das machte ihn so interessant.“ Das Date der beiden entwickelte sich zu einem lustigen und lebensfrohen Abend. Nach dem Besuch des Filbys gingen sie den langen, sich schlängelnden Weg zum All Saints entlang, einem anderen Jazz-Club an der Hauptstraße. Er war sexy – „ein provokantes Gesicht, ein schillerndes Gesicht, er hatte einfach Charisma“ –, doch meist wurde über Musik gesprochen. Ein Bekannter von Brian spielte in der Band, die sie an dem Abend sehen sollten, und Brian witzelte mit ihm und imitierte ihn auf eine gutwillige und lustige Art. Er sorgte für den Gesprächsfluss und redete enthusiastisch von Freunden in der Szene, sie dabei nachäffend.
Wie sich herausstellte, war die Band eher zu vernachlässigen, doch viele Gäste im Filbys und All Saints sahen die beiden, woraufhin die Information schnell zu Pennys Mum gelangte. So lief es in Cheltenham nun mal. „Mum ging an die Decke. Sie musste wohl etwas von dem Geschwätz meines Bruders David über Brian gehört haben und schärfte mir ein: ‚Halt dich von dem fern!‘ Doch er gehörte eh zu den Kids, mit denen man nicht lange zusammen sein wollte, denn sonst hätte man sich die Finger verbrannt.“
In der beengten Szene Cheltenhams kannten viele junge Mädchen Brian. Er besuchte regelmäßig die Tanzveranstaltungen der Oberstufe im Gaumont Cinema, wo er zuvor Bill Haley gesehen hatte. (Miss Lambrick, die Schulleiterin der Pate’s, hatte die gemeinsamen Tanzveranstaltungen kurzfristig verboten, um die beschämend hohe Schwangerschaftsrate einzudämmen, doch lenkte wenige Monate später ein.) Robin Pike erinnert sich an Brian, der mal mit diesem, mal mit jenem Mädchen draußen verschwand, wobei sich auch einige französische Austauschschülerinnen um 1959 seinen Annäherungsversuchen nicht erwehren konnten. Die meisten seiner Klassenkameraden entsinnen sich aber an eher romantische Abende, an denen er mit einem Mädchen tanzte, das er dort getroffenen hatte, oder an den gemeinsam mit der Pate’s ausgerichteten gymnasialen Oberstufenclub am Freitagnachmittag.
Valerie Corbett lebte ganz in der Nähe, in Hatherley, und besuchte die Pate’s Grammar. Sie und Brian wurden zu einem Begriff in der Szene, unterhielten sich im Filbys oder in der Einfahrt zur Mädchenschule, wo der junge Musiker auf sein Fahrrad abgestützt wartete. „Ich erinnere mich an die beiden speziell vom Tanzunterricht“, erzählt Brians Mitschüler Roger Limb. „Wir übten Walzer, Quickstepp und Cha-Cha-Cha. Val und Brian erschienen häufig dort, wobei Val ihn die ganze Zeit anhimmelte. Sie hatte für niemand anderen einen Blick übrig.“
Anna Livia ging in Vals Klasse. Wie die meisten Schülerinnen fand sie Val „unglaublich süß und liebenswürdig. Wenn sie sich freute, sah man ein sehr süßes Lächeln in ihrem Gesicht“. Valerie, vier Monate jünger als Brian, war ein ruhiges Mädchen mit einem hübschen Gesicht und hohen Wangenknochen, mittellangem Haar und schön geformten Brüsten. Sie und Brian, der einen eng geschnittenen Anzug trug und eine Kurzhaarfrisur im Stil von Gerry Mulligan, gaben ein attraktives Paar ab. Im Frühjahr 1959, Brians letztem Jahr an der Schule, sah man sie überall – im Filbys und ähnlich trendigen Kultläden, wie der Waikiki Weinbar oder dem Restaurant Patio. Colin Partridge gehörte zu den vielen Beobachtern, die den Eindruck hatten, dass das Paar „überglücklich aussah. Obwohl ich mir sicher bin, dass es auch bei ihnen gelegentliche Streitereien gab, schienen sie lebensfroh zu sein.“
In der Grammar School sah das Leben allerdings nicht so rosig aus. In Brians letztem Jahr häuften sich viele unangenehme Zwischenfälle. Benzol wurde im Chemielabor entzündet und Mörtelmischtische flogen über den Schulhof, worauf man ihn energisch zur Rede stellte oder zumindest befragte. Seine Fehltage häuften sich und im Frühjahr veranlasste die „unzuverlässige Entwicklung und Lernhaltung“ den Klassenlehrer, Brians Vater einen Brief zu schreiben. Andere Lehrer versuchten Brian direkt anzusprechen. Der Biologielehrer Ron Bennett hegte große Hoffnungen für den jungen Schüler und nahm ihn sich zu einem Mann-zu-Mann-Gespräch zur Seite. „Bislang hast du ein angenehmes Leben geführt, Brian“, hielt er ihm vor. „Du kennst die Welt noch nicht und weißt nicht, wie schwierig es ist, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen!“
„Ich schätze es sehr, dass Sie mir das sagen“, entgegnete der 17-Jährige mit gespielter Ernsthaftigkeit. „Ich werde mich wirklich bemühen.“
Stattdessen verschlechterte sich sein Verhalten bis hin zu einer offenen Konfrontation.
Will man über die Gründe für die Rebellion eines Brians Jones spekulieren, nimmt die Vorliebe der Grammar School für konformistische Typen der „Gattung“ Rugby-Spieler gewiss einen vorderen Platz ein. David Protherough, Präfekt und Captain der Rugby XV, war das wohl eindrücklichste Beispiel für diese Bevorzugung, ein von den Lehrern geschätzter klassischer Sportfanatiker mit Empfehlung für Cambridge, trotz der Tatsache, dass er im Gegensatz zu Brian nicht mal zu den Besten gehörte. Unter den Rugby-Fans überaus beliebt und von anderen eher „als eine Art Rüpel“ angesehen, wurde Protherough von Brian zutiefst verabscheut. Diese „Ein-Mann-Verkörperung“ des Establishments zog auch die Verachtung anderer auf sich, darunter einige von Brians Klassenkameraden. Zudem war seine Freundin Glitch immun gegen Brians Annäherungsversuche.
Die Fehde – von den Lehrern später als „die Protherough-Affäre“ tituliert, erreichte ihren Höhepunkt während des letzten Schuljahres. „Es war eine inszenierte Auseinandersetzung in der Mittagspause.“ Brian und ein Freund hatten einen Showdown mit dem Rugby-Captain eingefädelt, der „in einer Konfrontation mündete, einer höllischen Prügelei, bei der Brian der Anführer war.“ Die Lehrer lösten den Kampf auf, und Brian wurde erneut zur Rede gestellt. Doch es gab nur unzureichende Beweise, um ihn zu bestrafen, ohne dabei Protheroughs positive Aussichten zu gefährden. Trotz des Geredes über einen möglichen Schulverweis überstand Brian den ersten Akt offener Rebellion unbeschadet. Protherough besuchte später pflichtbewusst und problemlos Cambridge. Brian hingegen hatte den Graben zwischen sich und Bürohengsten und Autoritätsfiguren ein wenig tiefer ausgehoben.