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Von Adlern, die durch Zirkuszelte fliegen

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Wenn Visionen die Menschen berühren sollen, kann man sie ihnen also nicht vorschreiben, etwa nach dem Motto: »Ab 01.09.20XX gilt Vision XYZ!« Dass das nicht funktioniert, ist psychologisch nachvollziehbar. Vielfach setzen Unternehmen dann auf das alte pädagogische Prinzip, Betroffene zu Beteiligten zu machen, und grundsätzlich ist es auch gut, viele Mitarbeiter einzubeziehen, um eine Vision in der Organisation zu verankern. In vielen Firmen allerdings wird die größtmögliche Kaskade von Meetings und Workshops quer durch alle Ebenen angestoßen. Was dabei herauskommt, ist häufig der kleinste gemeinsame Nenner: tut niemandem weh, reißt aber auch niemanden vom Hocker. Doch es geht noch schlimmer …

Die absurde Scheinwelt mancher Workshops

Ein Konzern hatte sich die Vision verordnet, in 15 Jahren zu den Top Ten seiner Branche zu gehören. Neben den klassischen Workshops zu Fernzielen und strategischen Themen gab es auch Visions-Workshops, um sich selbst und seine Arbeitseinheit (Abteilung, Region, Land) im Rahmen der Vision 2020 neu zu definieren. Einer der Urväter der Vision auf Seiten des begleitenden Consultingunternehmens legte dabei viel Wert auf eine metaphorische Einstiegsübung als »Ice-Breaker«. Kein Workshop ohne diesen besonderen Moment, in dem jeder Teilnehmer aufschreiben sollte, wie er sich selbst definiert. Dabei wurden der Kreativität keine Grenzen gesetzt: Analogien zur Welt außerhalb des Unternehmens oder auch zur Tierwelt waren ausdrücklich erwünscht.

Die Leute schrieben also auf Kärtchen, wie sie sich oder ihren Bereich sehen. Die meistgehandelten Begriffe waren Metaphern wie Zirkusdirektor, Hofnarr, Meerjungfrau, Wahrsagerin, Bienenkönigin (umgeben von unnützen Drohnen), Kondor, großer Adler, kleiner Adler, großer Tanker, kleines Schnellboot, Elefant im Porzellanladen, Rattenfänger von Hameln, General, kleiner Soldat (der nichts machen kann), Innenminister, Außenminister usw.

Spätestens bei dem Hinweis auf Drohnen oder Porzellanläden hätte man stutzig werden können, doch Sie kennen das vielleicht: Bei solchen Übungen betritt man eine ironiefreie Zone.

Anschließend wurden Begriffe in Gruppenarbeit »geclustert«, mit Klebepunkten bewertet und so lange kondensiert, bis am Ende ein Gesamtbild entstand, mit dem sich vermeintlich alle identifizieren konnten. Das ergab so wunderbare Visionsvarianten wie »Kleiner Adler, flieg!«, »Großer Adler, der durch das Zirkuszelt fliegt«; »Der Super-Tanker fährt so schnell wie ein Schnellboot« oder auch unser Favorit »Der Hofnarr reitet auf dem Kondor«.

Das war dann der Kick-off für die Visions-Workshops, die zu Hunderten und zur Freude der Consultants national und weltweit durchgeführt wurden. Auch wenn es einen heute zum Schmunzeln bringt, war es damals für die Beteiligten eine ganz ernste Sache.

Visionen aus einem Mix individueller Spontanideen herauszudestillieren ist ebenso riskant, wie sie komplett in die Hände eines externen Beratungsunternehmens zu legen. Wie schon gesagt: Eine »funktionierende« Vision entspricht dem Geist des Unternehmens und leitet daraus ein ambitioniertes Fernziel ab, das als Ansporn, Richtschnur für tägliches Handeln und Begeisterungsmoment taugt. Wenn eine Organisation »das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt« werden will, lassen sich konkrete Entscheidungen auf jeder Unternehmensebene an dieser Vision messen, von der Reaktion des Sachbearbeiters auf eine Kundenbeschwerde bis hin zu strategischen Entscheidungen des Managements. Eine gute Vision beschreibt ein Projekt, bei dem die richtigen Leute sagen: »Da will ich dabei sein!« Sie verleiht der eigenen Arbeit einen Sinn und ist daher ein wichtiger Motivationsfaktor. Sie bringt die Dinge einfach, klar und für jedermann verständlich auf den Punkt. Das disqualifiziert lange, gewundene Formeln des Unternehmensmarketing ebenso wie rein monetäre, umsatzbezogene Ziele.

Oder würde das Folgende Ihr Herz gewinnen?

»We aspire to be the leading client-centric global universal bank. We serve shareholders best by putting our clients first and by building a global network of balanced businesses underpinned by strong capital and liquidity.« (Deutsche Bank)

»We are ›The Chemical Company‹ successfully operating in all major markets.« (BASF)

»Unsere Vision: Global führend mit Marken und Technologien.« (Henkel)

»Die beste Leistung – für Kunden, Kaufleute, Mitarbeiter.« (REWE) 8

Je mehr Worte es braucht, desto mehr Skepsis ist angebracht. Das »kundenorientierteste Unternehmen der Welt« werden zu wollen, mag beflügeln. Aber »die führendste kundenzentrierte globale Universalbank, die die Interessen ihrer Shareholder exzellent bedient«? Auch Verweise auf Leistungs- oder Marktanteilsziele verpuffen, weil sie Selbstverständlichkeiten mit großem Pathos präsentieren: Welches Unternehmen möchte nicht »auf all seinen Hauptmärkten erfolgreich sein« und die »beste Leistung« bringen? Solche Formulierungsversuche übersehen, dass kraftvolle Visionen aus starken Emotionen gespeist werden. Zugegeben, das ist für Non-Profit-Organisationen leichter umzusetzen als für Unternehmen. Aber es ist nicht unmöglich:

»Die Vision von UNICEF: Eine kindergerechte Welt.«

»Die Vision von Amnesty ist eine Welt, in der die Menschenrechte gleichermaßen für alle Menschen gelten.«

»Einen besseren Alltag für die vielen Menschen schaffen, das ist die IKEA Vision.«

»Syngenta: Using Innovation to Feed the World.«

»Wir wollen das ethischste und nachhaltigste globale Unternehmen der Welt sein.« (The Body Shop)

»Das Ziel von Google ist es, die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen.«

»To become the world’s most loved, most flown and most profitable airline« (Southwest Airlines) 9

Simon Sinek, ein erfolgreicher TED-Talk-Sprecher, Autor und Unternehmensberater, weist in diesem Zusammenhang auf den »Start with why«-Effekt hin.10 Während fast jeder weiß, was Unternehmen machen, und einige wissen, wie Unternehmen Dinge tun, wird selten erklärt, warum. Die meisten Visionen bleiben auf der »What we do«-Sachebene hängen, wie weiter oben aufgezeigt. Deshalb sind sie so langweilig und trocken. Visionen mit »Why«-Botschaften inspirieren, sie erklären den Sinn und die wirkliche Vision. Eine kindergerechte Welt, einen besseren Alltag schaffen, Informationen jedem und jederzeit zugänglich machen usw. Managementvordenker Jim Collins spricht bildhaft von »Big Hairy Audacious Goals (BHAG)« statt von Visionen – von einem kühnen, herausfordernden (»haarigen«) Fernziel als inspirierenden »Mount Everest«, den das Unternehmen in den nächsten zehn bis dreißig Jahren besteigen will.11 Gute BHAGs – gesprochen wie das englische »Bee Hags« – sind Fortschrittstreiber, keine bloßen Marketingfloskeln. Die Messlatte liegt also hoch, und so überrascht es nicht, dass wirklich zündende Visionen trotz der allgegenwärtigen Visionsinflation selten sind. Eine gute Vision wird zudem eher »entdeckt« als postuliert. Weil das so schwierig ist, greifen viele Unternehmen nach Wachstumsmärkten wie nach einem rettenden Strohhalm. Das ist einfach, kann aber verheerende Folgen haben. Nicht nur bei den Incas.

Die Illusion der Unbesiegbarkeit

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