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Zum Geleit Ein neues Kapitel unternehmerischen Denkens
ОглавлениеIn der Wirtschaft tätige Menschen lieben Erfolgsgeschichten. Sie handeln vom Siegen, vom Gelingen und vom Aufstieg. Wir sind fasziniert von Unternehmerlegenden, ganz gleich ob sie in der digitalen oder in der industriellen Zeit ihren Ursprung haben. Der Weg vom Einmannbetrieb zum Hunderte Millionen erwirtschaftenden Hidden Champion in einer oder zwei Generationen, der Aufstieg des Konzerns vom Regional Player zum globalen Multi – das sind spannende, zur Nachahmung einladende Vorbilder.
Aber wie sicher können wir uns der Erfolgsregeln, die zu einem derartigen Aufstieg führen, eigentlich sein? Ex post scheint fast immer klar, warum es gut gegangen ist. Reengineering zur rechten Zeit, Kostendisziplin, ausgefeilte, überlegene Strategien, das richtige Produkt, Innovationskraft, all das wird immer wieder als Begründung für den außerordentlichen Erfolg genannt. Und ist zumindest auf den ersten Blick auch immer richtig.
Die Betriebswirtschaftslehre hat daraus über die Jahre ein Erkenntnisgebäude aufgebaut, wie in ihren Augen gut und richtig gewirtschaftet werden sollte. Mit Fachgebieten wie Kostenrechnung, Bilanzierung, Marketing und Personal liefert sie das akademische Rüstzeug, das es für die Bewährung in der Praxis zu brauchen scheint. Man halte sich an die Regeln von Buchführung, Gewinnerzielung und vieler anderer Vorgaben dieses Typs – und alles scheint auf dem rechten Weg zu sein. Nur: Warum scheitern dann so viele Unternehmen? Wir alle kennen genügend Fälle, in denen nach den herkömmlichen Regeln offenbar alles richtig gemacht wurde, und dennoch wurde ein Geschäft hinweggefegt. Das trifft den Kaufmann um die Ecke ebenso wie den mittelständischen Maschinenbauer oder den milliardenschweren Großkonzern. Misserfolg passiert trotz Einhaltung der allgemein akzeptierten Regeln.
Es ist das große Verdienst meines geschätzten Freundes Andreas Krebs und seines Ko-Autors Paul Williams, dass sie mit dem vorliegenden Werk ein neues Kapitel für das Drehbuch unternehmerischen Denkens verfasst haben. In »Die Illusion der Unbesiegbarkeit« greifen sie zwei Grundkonstanten menschlichen Wirkens auf, die des Gelingens und die des Scheiterns. Sie haben den Mut, über die Grenzen einer isolierten Fachdisziplin hinauszugehen und Verknüpfungen zu schaffen, die jedem unternehmerisch Tätigen den Zugang zu wertvollen Parallelen und Einsichten eröffnen. Sie stellen unsere Grundfrage in einen neuen Zusammenhang: Warum und unter welchen Bedingungen gewinnen Systeme, werden überlebensstark und können ihren Wirkungskreis ausdehnen? Was löst Wendepunkte aus, was verursacht Niedergang?
Die klassische Führungslehre hält dafür nur einen begrenzten Vorrat an Antworten bereit. Seit dem Erscheinen von Peter Druckers Opus magnum »Concept of the Corporation« im Jahre 1946 hat die Führungslehre unendlich viele Verfeinerungen und Verbesserungen erfahren, dabei aber im Kern den Betrieb als universales Bezugssystem aufrechterhalten. Das vorliegende Buch geht weiter. Es schafft neue Verknüpfungen dort, wo sie aus der Sicht des Erkenntnisinteresses überaus lohnend erscheinen. Es bereichert unser Führungswissen um die historische Perspektive und den Blick auf allgemeine Prinzipien von Aufstieg und Niedergang – ein für moderne Unternehmensführung ebenso spannender wie unverzichtbarer Ansatz. Und es ist ganz sicher kein Zufall, dass Krebs und Williams für ihren übergreifenden Blickwinkel auf das Schicksal der Incas rekurrieren. Denn die südamerikanische Dynastie steht beispielhaft für beides – für Aufstieg und Niedergang.
Der Aufstieg der Incas währte über Jahrhunderte. In heutiges Wording übertragen ist das eine Erfolgsgeschichte, die uns mehr lehren kann als kurzfristige Management-Betrachtungen – und auch der Niedergang der Incas als Folge des Eindringens der spanischen Eroberer und des Bruderzwists zweier Herrscher liefert Erkenntnisse, die unser heutiges Führungswissen wertvoll ergänzen können. In der vorkolumbianischen Zeit verfügten die Incas über Führungs- und Expansionswissen, das dem anderer Völker überlegen war. Hoch entwickelter Ackerbau, ein Netz von Verkehrswegen sowie ein effizientes Nachrichtenwesen waren zentrale Säulen eines Staatswesens, das dank einer wirkungsvollen Mischung aus Verhandlung, Kooperation und Machtausübung seinen Wirkungskreis immer weiter ausdehnen konnte. Auf Unternehmen übertragen würden wir von Internationalisierung, Umsatz- und Marktanteilsgewinnen sprechen.
Der Erfolg der Incas hielt so lange an, wie es ihnen gelang, innerhalb des komplexer werdenden Systems die Einzelinteressen der Mächtigen mit denen anderer Stakeholder auszugleichen und die zerstörerischen Energien, die von innen wirkten, zu domestizieren. Aber diese einem sorgsam austarierten Gleichgewicht der Kräfte entspringende Wachstumsenergie währte nicht ewig. Scheinbar kleine Veränderungen sorgten erst für Destabilisierung und leiteten dann den Untergang ein.
Ohne direkten Bezug zum Unternehmen erkennen wir einige Gesetzlichkeiten von Systemen, die offenbar über den Wandel der Jahrhunderte hinweg gelten: Jeder lange andauernde Erfolg birgt in sich schon den Keim des Scheiterns, weil die verantwortlichen Akteure zunehmend blind werden für neue, ungekannte Bedrohungen. Aufkommende neue Technologien können bewährtes Führungswissen innerhalb kurzer Zeit abwerten und die Schaffung neuen Führungswissens erforderlich machen. Überzogener Egoismus und Nepotismus der Gestalter bringen ein System in die Risikozone und beschleunigen den Niedergang. Der Abstand der Jahrhunderte schafft eine Klarheit, die es erlaubt, Parallelen zur Jetztzeit zu ziehen. Auch heute erleben wir radikale Umbrüche. Für die Incas waren die Reiterei und die Waffen der Spanier ungekannte, disruptiv wirkende Technologien – für uns sind es Digitalisierung und Roboterisierung. Für die Incas waren die Herrschafts- und Kriegstechniken der Spanier die große, Unsicherheit schaffende Veränderung – für uns sind es der Wegfall der Verlässlichkeit in der Politik und ein sich beschleunigender gesellschaftlicher Wertewandel im Kleinen und im Großen. Und: Menschen mit überzogenem Ego und unnötige Konflikte gibt es immer noch – gerade in der Wirtschaft.
Das vorliegende Buch sollte für jeden von uns Anlass sein, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Wir sollten unsere Routinen überprüfen, Bewährtes nicht einfach weiter als Dauerlösung hinnehmen und unsere Wahrnehmung für die innerhalb und außerhalb des Systems wirkenden Kraftfelder schärfen. Nur dann wird es uns gelingen, die Dynamiken zu unseren Gunsten zu nutzen und aus den Veränderungen das zu formen, was wir alle brauchen: einen Aufbruch in ein neues Zeitalter.
Prof. Dr. Peter May
Bonn-Bad Godesberg, im Juni 2017