Читать книгу Meine Frau und ihr Mann. Eine Beichte - Pavel Kohout - Страница 5
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ОглавлениеWann immer meine Frau einen Entschluß faßte, stets setzte sie ihn ohne zu zögern in die Tat um. Während sie mich aus der Ohnmacht zurückholte, in die mich ihre Liebkosungen abermals gestürzt hatten, peinigte mich der schreckliche Traum, ich sei ein Unterseeboot und in den Fängen eines Kraken, und wie ich voll Verzweiflung meine Torpedos abschieße, sehe ich diese auf mich zurückkommen, eine Explosion kracht, ich fühle, wie das Wasser in mich eindringt und mir von den Knöcheln aufwärts bis in die Kehle steigt, die Todesangst nimmt mir die Kraft, auch nur ein Wort des von Paps berichtigten Vaterunsers zu sprechen, an dessen Anfang er «und Mutter unsere» hinzugefügt hatte als Ausdruck der Achtung vor Jungfrau Maria und der eigenen Gemahlin, und als ich dann schließlich Wasser schon auf der Zunge verspürte und die Augen aufriß in der törichten Hoffnung, vielleicht mit einem letzten Blick meinen Schutzengel zu erspähen, war er da, war er wahrhaftig da, hatte das Gesicht meiner Frau und beugte sich über die Badewanne, in die ein lauwarmer Strom floß, hielt mit der einen Hand meinen Kopf über Wasser und massierte mit der anderen unter Wasser geschickt meine erschlafften Glieder, ach, wie unschuldig waren dagegen die Wannenspiele mit Tante Eliška gewesen! ... während ich also aus dem Traum wie aus der Wirklichkeit zugleich erwachte, verscheuchte meine Frau mühelos auch die letzte finstere Wolke, die mich noch bedrängte. Sie wählte die Direktnummer meines Chefs, die er ihr in der Nacht mit eigener Hand auf den Saum ihres Büstenhalters geschrieben hatte, wogegen sie, wie sie sich beklagte, als Parteilose machtlos gewesen sei, und sagte ohne Einleitung:
«Hören Sie? Hier ist die Polizeidirektion. Ihr Angestellter Rosol Vilém hat letzte Nacht einen Schwächeanfall erlitten, nachdem irgendein verantwortungsloser Mitarbeiter Ihres Betriebs ihm die Beförderung einer überschweren Last befohlen hat. Er befindet sich zur Behandlung in der Intensivstation und wird erst am Nachmittag entlassen. Klären Sie den Fall, bestrafen Sie die Schuldigen und tragen Sie unverzüglich Sorge, daß seine Eltern auf schonende Weise beruhigt werden. Haben Sie mich verstanden?»
Obwohl sie ihre Stimme nicht im mindesten verstellt hatte, sagte mein Chef eifrig:
«Jawohl, Genosse ...»
«Dann wiederholen Sie!»
Stotternd gab der Chef beinahe Wort für Wort wieder, und meine Frau legte grußlos auf. Zu meiner Dankbarkeit gesellte sich eine tiefe Bewunderung, und ich wußte bereits mit Gewißheit, daß ich sie liebte. Ich saß auf der Couch, in ihren orangefarbenen Morgenrock gemummelt, der mir zu groß war, so daß sie mir lachend die Ärmel dreimal aufschlug.
«Liliane», sagte ich erregt, «teure Liliane ...»
Ich erschauerte ob meiner eigenen Kühnheit, als ich sie zum ersten Mal vertraulich bei ihrem blumigen Vornamen nannte, der mir schon in der Nacht von ihrem Türschild regelrecht entgegengeduftet war, so stark, daß ich den Nachnamen ganz und gar übersah. Erstaunlicherweise war sie nicht beleidigt.
«Na, was denn?» ermunterte sie mich.
«Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin!»
«Na siehst du», sagte sie mit leichtem Vorwurf, «und eben hast du mir hier noch geplärrt!»
«Ja», bekannte ich ohne Pein, «und ich könnte von neuem plärren.»
«Warum denn schon wieder, Jungchen?»
«Weil ich unglücklich bin ...!»
«Aber wieso denn, Brummelchen?»
Ich bemerkte, daß sich Ungeduld in ihre Stimme schlich, und beeilte mich zu erklären:
«Nein, ich bin glücklich ... gerade deswegen aber auch unglücklich ... Sie ... Sie sind ... Sie sind so wunderbar, und ich ... ich liebe Sie so sehr, daß ich Angst hab, obich-Ihnen das alles überhaupt werde vergelten können ...»
Die letzten Worte sprudelte ich hervor, als sollten es die letzten sein in meinem Dasein. Dann schnürte sich mir gänzlich die Kehle zu, denn mir wurde bewußt, daß ich, wenn auch unaufgefordert, eine verbindliche Liebeserklärung abgegeben hatte. Ich war mir fast sicher, daß sie mich jetzt in strengem Ton auffordern würde, mich in aller Form zu entschuldigen und unverweilt ihre Wohnung zu verlassen. Statt dessen trat sie an mich heran und schaute mir forschend in die Augen.
«So liebst du mich also ...?»
Sie erinnerte mich an Paps, der auf die gleiche Weise herankam und guckte, wenn er mich für eine nichtige kindliche Lüge bestrafen wollte. Dennoch ermannte ich mich und nickte eifrig. Da beugte sie sich zu mir herab und strich mir übers Haar.
«Aber dann quäl dich doch nicht», sagte sie, «denn du ganz allein hast mir mehr gegeben als die ganze Meute vor dir zusammen!»
Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, starke Schmerzen an einem Zahn zu haben, dessen Wurzeln mir bis ins Herz hinabreichten. Im Nu begriff ich: Zugleich mit der Liebe war ein Gefühl in mir geboren, von dem ich bisher immer nur gelesen hatte, daß es unabdenkbar zur Liebe gehört wie der Dorn zur Rose und der Wurm zum Apfel. Doch noch ehe es eine bestimmtere Frucht tragen konnte, erklang wieder ihre besänftigende Stimme.
«Ich hab kein gutes Leben geführt. Du liebst mich, und ich habe kein Recht, dir das zu verheimlichen. Vielleicht wird dir die Wahrheit bitter vorkommen, doch nur bittere Kerne bringen süßes Obst hervor. Ich müßte lügen, wenn ich behaupten würde, daß du auch für mich der erste gewesen bist. Keineswegs, denn mich haben, leider, auch einige andere gehabt. Doch ebenso mußt du wissen, daß keiner von ihnen eine tiefere Spur als ein Regentropfen oder eine Schneeflocke auf mir hinterlassen hat. Manchen habe ich bereits vergessen, noch ehe er sich mir vorstellen konnte. Sie nahmen sich meinen Körper, und ich habe sie daran nicht gehindert, weil ich wußte, daß sie damit nur um so schneller für alle Zeit aus diesen vier Wänden wie aus meinem Leben verschwinden würden. Wie eine Besessene habe ich sie gewechselt, um desto eher in ihrer Vielzahl jemanden wie dich zu entdecken. Und du bist endlich gekommen und hast mich nicht genommen. Im Gegenteil! Dich habe ich mir selbst genommen. Nicht ich dir, nein, du hast mir das größte Geschenk gemacht: dich selbst mit deiner noch unversehrten Jugendblüte! Und deshalb bist nicht du in meiner Schuld, sondern ich in deiner und werde es ewig bleiben!»
Nach diesen Worten schloß sie mich in die Arme, hob mich zu sich auf und küßte mich lange. Als ich die Augen aufschlug und wieder ihr geliebtes Gesicht sah, war meine Beklommenheit dahin. Froh lachte ich auf und zupfte sie, um die Minuten qualvoller Spannung endgültig zu vertreiben, an ihrem massiven Ohrgehänge in Baßschlüsselform.
«Dann erfüllen Sie mir einen klitzekleinen Wunsch ...»
Auch meine Frau lachte. Sie legte mich auf die Couch zurück, und ihre Lippen bebten lüstern.
«Dir, Liebchen», flüsterte sie, «so viele du willst ...!»
Um einem Mißverständnis vorzubeugen, streckte ich beide Arme aus und bat.
«Lassen Sie mich jetzt ein tolles Frühstück für uns beide machen!»
Meine Frau verhehlte ihre Überraschung nicht.
«Kannst du das?» fragte sie mißtrauisch.
«Ja, ja!» rief ich ermuntert, weil ich mich endlich mit etwas hervortun konnte, «Mutsch und Paps stehen täglich eine ganze Stunde früher auf, um keine meiner guten Sachen zu verpassen. Schon von klein auf koche ich selbst und längst sogar ohne alle Rezepte!»
Meine Frau trat also einen Schritt von der Couch zurück und drohte scherzhaft mit dem Finger.
«Na gut, dann sehen wir wenigstens, ob du am Herd geschickter bist als im Bett.»
Ihr Satz traf mich wie ein Schmiedehammer.
«Warum haben Sie das gesagt ...?»
Sie bemerkte, daß meine Mundwinkel verdächtig zuckten, und entschuldigte sich rasch.
«Verzeih, mein Goldstück, das war nur ein dummer Scherz. Denn du warst recht gut, ach ja, wahrhaft appetitlich und echt konsumierbar ...!»
Ihre Augen weiteten sich so wie vor ein paar Stunden, als sie auf mich zugetreten war, um mich ohne die geringste Vorwarnung zu küssen.
«Wart, wart nur, eine ganz kurze Zeit mit mir reicht, und du wirst mir ein würdiger Befriediger sein!»
Ihr Atem ging schneller, mit einem Satz kniete sie neben mir nieder und begann fieberhaft die Kordel ihres Morgenrocks aufzunesteln, der jetzt zur Abwechslung meine Blöße bedeckte. Da sie sich verfitzt hatte, hielt sie sich keine Sekunde länger damit auf, den Knoten zu lösen. Mit einer Bewegung, die mich bezauberte und überwältigte, zerriß sie den Gürtel, und schon verhüllte mich nichts als meine Haut.
«Du mein Schöner!» flüsterte sie stammelnd.
«Sie meine Schöne ...» wiederholte ich ebenso.
Diesmal hatte sie Tränen in den Augen.
«Du großer Gott!» hauchte sie, mit unglaublicher Behendigkeit ihre Wäschestücke abwerfend. «Nicht im Traum hätte ich je zu hoffen gewagt, daß mich einer dabei siezen würde!»
Nie werde ich dieses mein drittes Liebeserlebnis vergessen, denn dabei fiel ich zum ersten Mal nicht in Ohnmacht. Endlich lernte ich also bei vollem Bewußtsein die berühmte Wonne kennen, von der die meisten meiner Schulkameraden schon lange vor der Hopfenernte gekostet hatten, allesamt bei der Paulová. Und die wenigen, die damals ebenso verschämt und zurückhaltend gewesen waren wie ich, versetzten mich ein paar Jahre später mit der Schilderung ihrer diesbezüglichen Errungenschaften in Staunen, im Dunkel der Armeebaracke, das meine Phantasie noch stärker entfachte, obwohl meine Eltern unter den Fenstern Wache schoben. Ich litt, denn ich war nicht weniger normal als jeder andere meiner Kameraden. Wie oft fragte ich mich in schlaflosen Nächten, ob meine unbefleckte Ehre einen Bruchteil ihres Preises wert war, den mich meine Entsagung kostete. Jetzt aber, in der lustvollen Umschlingung sämtlicher Glieder meiner Frau liegend, immer von neuem überrascht, daß ich die nächste Welle ihrer Leidenschaft überlebte, wußte ich mit aller Klarheit, daß ich keinen Fehlgriff getan hatte. Lieben konnte sie mich nur deshalb so unersättlich, weil ich mir gerade für diese Festnacht die ganzen fünfundzwanzig Jahre meine Reinheit bewahrt hatte. Ja, sie hatte tausendmal recht, keine zehn Stunden waren seit jenem Augenblick vergangen, da ich ihre Schwelle übertrat, und schon war ich mir trotzdem sicher, ihr ein begehrter Liebhaber werden zu können. Der Berg meiner Zweifel schien dahinzuschmelzen wie ein Gletscher, den eine plötzliche Verschiebung der Erdmassen in die Tropen geschleudert hatte. Selbst die unzüchtigen Bilder in dem mitleidlosen Spiegel des Helikons zu unseren Häupten empörten mich nicht mehr, von Zeit zu Zeit ertappte ich mich sogar dabei, daß sie meinen Blick anzogen, obwohl ich jedesmal gleich wieder die Augen schloß, damit meine Frau ja nichts davon bemerkte. Dennoch trafen sich unsere Blicke zu guter Letzt darin. Im Nu legte sich der Sturm, und eine Ruhe breitete sich aus, die mich erschreckte.
«Seien Sie nicht böse ...» sagte ich mit schwacher Stimme, «ich ...»
Weiter kam ich nicht. Die Zunge versagte mir den Dienst. Meine Frau richtete sich rasch auf und fühlte mir mit erfahrenem Griff den Puls. Dann kniete sie sich hin, tätschelte mir leicht die Wangen und sprach dabei in eindringlichem Ton:
«Na ...! Na also ...! Hübsch atmen! Ganz tief! Ganz tief durchatmen! Wir werden hier doch nicht gleich wieder in Ohnmacht fallen!»
Die suggestive Stimme und die liebevollen Handgriffe taten ihre Wirkung. Ich spürte ihre Sicherheit auf mich übergehen, und bald stand schon fest, daß ich meine Krise überwunden hatte. Vor Stolz wollte ich aufschreien, doch meine Mattigkeit ließ nicht zu, daß ich mehr sagte als wieder nur:
«Seien Sie nicht böse ...»
«Böse sein», sagte meine Frau zärtlich, «könntest allein du, mein Käferchen, weil ich viel zu sehr an mich gedacht habe. Aber jetzt», fügte sie hinzu, munter auf den Teppich hinabspringend, «jetzt gehst du dafür hübsch in die Heia, und Liliane macht dir was zum Aufpäppeln!»
Ich nahm ohne Protest an. Ermattet auf der Couch hingestreckt, sah ich voll Rührung zu, wie gefährlich sie das Brot an ihren Busen gedrückt schnitt, wie sie mit dem Bügeleisen eine Wurstkonserve aufmachte und dann den Türkischen überlaufen ließ, alles mit einer göttergleichen Selbstsicherheit und Leitmotive pfeifend, die sie uns am Abend zum Tanz aufgespielt hatte. Ich war schwach wie nach einer Krankheit, doch stolz wie nach dem Abitur. Das änderte nichts daran, daß ich das Töpfchen nicht bis an den Mund zu bringen vermochte und meine Frau mir den Kaffee, nachdem sie auf jeden Löffel behutsam pustete, schlückchenweise einflößte. Als wäre das ganz selbstverständlich, erzählte sie mir dabei von ihrer Liebe zum Damenboxen, und ich mußte bei jedem Schluck mehr und mehr ihren Takt bewundern. Nach dem Frühstück bettete sie mich wieder auf die Couch, nahm das Helikon von der Wand und spielte mir ihre liebsten Melodien vor, von denen mir, wie meine Frau es benannte, das Aufbaulied der Schlosserstoßbrigaden, ‹Ich schraub ihn dir mal rein›, am meisten im Gedächtnis haftenblieb. Wann immer ich mich dieses Morgens entsinne, werde ich bis ans Lebensende das Helikon meiner Frau sehen, das ihr Busen umschloß, und mich, der den ohnmächtigen Wunsch verspürt, den Platz mit ihm zu tauschen. Als ich schließlich allein aufstehen konnte, half mir meine Frau beim Anziehen und ließ es sich nicht nehmen, mich wenigstens ein Stück Wegs zu begleiten. Es war Freitag, und die Hausmeisterin wischte wütend die Treppe. Diese Beschäftigung nahm sie voll in Anspruch, so daß wir unbemerkt hätten vorbeischlüpfen können. Doch meine Frau sagte:
«Freundschaft, Genossin Kovárnová, ein wunderschöner Tag heute, nicht!»
Diese blickte auf, und just da legte mir meine Frau den Arm um die Taille. Das war eine schlichte Geste, doch sie enthielt alles. Dem erstaunten Blick der Knienden, der zugleich weich wurde, entnahm ich mit Gewißheit, daß meine Frau so etwas zum ersten Mal tat. Ich zögerte keine Sekunde und bot ihr auf der Stelle meine Lippen dar. Im Weitergehen sah ich, wie sich die Hausmeisterin mit dem Scheuerlappen die Augen wischte.
Meine Kräfte hatten sich auf wundersame Weise erneuert, deshalb lehnte ich zur Freude meiner Frau Krankenwagen wie Straßenbahn ab und schlug vor, zu Fuß zu gehen. Dafür wurden wir auf der Burgrampe mit einem herrlichen Blick auf die Hauptstadt belohnt, die uns in der durchsichtigen Herbstluft wie ein Verlobungsgeschenk zu Füßen lag. Auf den Schloßstiegen trug meine Frau mich lieber ab und zu, doch über die Karlsbrücke gingen wir wieder eng umschlungen. Mir schien, und das sprach ich auch laut aus, als sei sie seinerzeit schon, vor Jahrhunderten, nicht nur für die böhmischen Könige, sondern auch für uns zwei gebaut worden. Meine Frau stimmte voll Bewunderung zu und kaufte mir am Altstädter Brükkenturm ein Sträußchen Astern.
«Ein hübsches Söhnchen haben Sie», sagte die Verkäuferin bewundernd.
Schnell wandte ich mich ab, um meine roten Wangen zu verbergen.
«Wir haben uns gerade verlobt», entgegnete meine Frau stolz.
«Ach nein! Das bringt mir Glück!» strahlte die Verkäuferin. «Sie sind heute meine ersten Kunden.»
Sie wollte um keinen Preis Geld nehmen. Meine Frau hielt ihr jedoch nicht minder resolut das Doppelte der Summe hin, die auf dem Preisschild angegeben war. Den drohenden Streit legte die Verkäuferin bei, indem sie die Scheine nahm, mir aber noch einen Asternstrauß reichte.
«Sie werden, junger Herr, eine brave Gemahlin kriegen!» sagte sie zum Abschied. «Enttäuschen Sie sie nicht! Frauen, die ihren Verlobten heutzutage noch einen Blumenstrauß kaufen, sind schon so rar wie Safran.»
Das erste Laub raschelte unter unseren Füßen, und eine Schar hungriger Möwen umkreiste uns. Ich schnupperte an den Astern und erzählte meiner Frau, wie ich jahrelang Sonntag um Sonntag mit Mutsch Hand in Hand in den Prager Baumgarten gegangen war, um Schwäne und andere Vöglein zu füttern. Dann kam leider der Wehrdienst, und eines Sonntags machte ein Oberstleutnant unserer schönen Tradition ein Ende, der schrie, ich machte die Uniform einer sozialistischen Armee lächerlich. Damals hätte ich beinahe geweint, doch Mutsch hatte mich schnell hinter die Sträucher geführt und getröstet.
«Was soll’s, Vilémek, alles hat seine Zeit. Wenn du eines Tags heiraten und Kinder haben wirst, kannst du mit ihnen hierhergehen und weiter die Himmelsvögel füttern.»
Bei der Erinnerung an sie stieg erneut die Angst in mir hoch. Doch bevor ich mich meiner Frau anvertrauen konnte, blitzte in ihren Augen eine merkwürdige Flamme auf.
«Bleib hier!» befahl sie und lief, ehe ich’s mich versah, auf den Fahrdamm, schlängelte sich hurtig zwischen Straßenbahnen und Autos durch und verschwand in der Tür des Cafés Slavia. Einsam blieb ich zurück, und plötzlich durchzuckte mich ein schrecklicher Gedanke: Wenn sie nun nicht wiederkäme? Wenn sie mir nicht ins Gesicht sagen wollte, daß sie mich nicht mehr liebte, und lieber eine unauffällige Trennung wählte? Wie aller Sinne beraubt stand ich da, ohne zu wissen, ob ich ihr zwischen den Fahrzeugen nachrennen oder mich lieber gleich in den kalten Fluß werfen sollte. Ich war mit meiner Überlegung noch nicht ganz fertig, da war sie schon wieder bei mir.
«Auf die Schwäne und auf deinen Sproß wirst du noch ein Weilchen warten müssen», sagte sie lachend und reichte mir eine Papiertüte. «Zuerst will ich dich ein paar Jahre für mich allein haben. Bis dahin aber kannst du wenigstens die Möwen füttern!»
In der Tüte waren frische Hörnchen. Meine Angst war wie Nebeldunst verflogen, und während ich begeistert Bröckchen abbrach und mich freute, wie geschickt die Vögel sie mit ihren flinken Schnäbeln im Flug erhaschten, brachte mir meine Frau bei, was ich dem Chef und den Kollegen zu sagen hätte. Das war der richtige Augenblick, ihr meine größte Sorge zu gestehen.
«Und meinen Eltern ...?» fragte ich unsicher.
«Zu deinen Eltern geh ich mit», erwiderte sie geradeheraus. «Damit sie wissen, daß ich es ernst mit dir meine.»
Damit fiel mir der schwerste Stein vom Herzen.
«Und jetzt», sprach sie, «müssen wir uns für kurze Zeit trennen. Ich soll schon seit einer Stunde im Rundfunkorchester sitzen, wo ich mit angeklebtem Schnurrbart heimlich für Jungs einspringe, die krankmachen, um sich auf Beerdigungen was dazuzuverdienen.»
Vor Schreck fiel mir die Tüte mit dem restlichen Gebäck aus der Hand. Ein Gekreisch setzte ein, und auf dem Wasser entbrannte eine Schlacht des Federviehs. Mich interessierte das jedoch nicht mehr.
«Aber warum haben Sie mir das nicht gesagt??» rief ich verzweifelt. «Ich will nicht, ich will auf keinen Fall, daß Sie meinetwegen Scherereien kriegen! Ich möchte Ihnen im ganzen Leben nur Freude bereiten!»
«Aber die bescheißen sich doch nicht!» sagte sie ohne einen Schatten von Zweifel ungewohnt scharf, und ich konnte nicht anders, als erneut ihr natürliches Selbstvertrauen bewundern. «Die eine Hälfte ist mir schon was schuldig, und die andere ist noch geil auf mich.»
Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Bestimmt war ich kreidebleich, denn sie hielt augenblicklich inne und legte mir besänftigend den Arm um den Hals.
«Entschuldige, mein Goldstück, das war natürlich wieder nur ein schlechter Witz ... das hast du davon, wenn du vorwiegend in einer Damenkapelle malochst, unter Mädchen redet man schon gar nicht mehr anders. Ich hab das wirklich nicht so gemeint, ich verzichte seelenruhig auf die zweite Hälfte. Höchste Zeit, daß ich dich kennengelernt hab, du mein Schatzi!»
Sie wartete noch so lange, bis in meine Wangen wieder Farbe zurückgekehrt war. Ich beschwor sie mehrmals, ich sei schon wieder da, doch sie ließ meine Hände nicht los, ehe sie nicht völlig sicher war, daß ich wirklich fest auf den Beinen war. Dann begleitete sie mich noch zur Haltestelle, bestieg mit mir die Straßenbahn, zog mir aus dem Automaten einen Fahrschein und küßte mich zum Abschied leidenschaftlich, ohne sich darum zu scheren, was der Fahrer und die Fahrgäste dazu sagten. Unterdessen rollte der Wagen an.
«Sie fahren in die falsche Richtung!» hauchte ich.
«Nur keine Angst!» antwortete sie mit heller Stimme, die durch die ganze Tram schallte, «ich geh schon nicht verloren. Komm von der Arbeit gleich zu mir!» Und mit lautem Flüstern, als teile sie mir etwas Vertrauliches von einem gegenüberliegenden Berg mit, setzte sie hinzu: »Ich freu mich riesig, mein Süßer! Ich will dich schon wieder!»
Dann winkte sie mir freundschaftlich, riß mit Gewalt die Tür auf, sprang behend von der schnell fahrenden Bahn ab, kam mit der Sicherheit einer Olympiasiegerin auf, steckte die Hände in die Taschen ihres Hosenanzugs und entfernte sich, ohne sich nur ein einziges Mal umzudrehen, wie eine echte Dame, die genau weiß, daß sich alle nach ihr umdrehen.
Mein Chef, von Gewissensbissen und Angst gepeitscht, war die Güte und Huld in Person. Zunächst versuchte er zwar, mir ein Gefühl moralischer Mitschuld zu suggerieren, indem er bedeutungsvoll an meinen Astern schnupperte und fragte, ob sie wohl der Lohn dafür seien, daß ich die schwere Last getragen habe, oder ob ich nicht vielleicht selber zur süßen Last geworden sei. Ich antwortete, getreu der Anweisung meiner Frau, daß die diensttuenden Polizisten das Geld für die Blumen untereinander gesammelt hatten, damit ich schneller vergäße, daß ich in einem Staate der Werktätigen, dessen Stützen sie seien, eine so schandbare Form der Ausbeutung hatte erleben müssen. Darauf setzte der Chef zu der Behauptung an, er leide seit einer gewissen Phase der letzten Nacht an Gedächtnisschwund, und die Folge davon sei zum Beispiel, daß er den Heimweg gar nicht erst gefunden und seine Ankunft im Büro nur dem wundersamen Zufall zu verdanken habe, morgens in einem abgelegenen Stadtviertel der Sekretärin des Generaldirektors begegnet zu sein. Dann teilte er mir eifrig mit, er habe alle zwei Stunden seinen Fahrer zu meinen Eltern geschickt, um ihnen zu versichern, daß die Feier noch immer andauere, und schloß ganz aufgeregt das Gespräch, indem er meinem Antrag auf Gehalterhöhung stattzugeben versprach, den ich nie gestellt hatte. Was die übrigen Kollegen betraf, die kamen nach der durchsumpften Nacht allesamt erst mühsam wieder zu sich, so daß sie meinen Zustand überhaupt nicht wahrnahmen. Trotzdem verbrachte ich die restlichen Bürostunden in unablässiger Spannung.
Bei meinen bescheidenen Erfahrungen hatte ich keinen triftigen Grund anzunehmen, daß mein Glück wirklich und wahrhaftig war. Einige Bemerkungen meiner Frau, vor allem die letzte, hatten bewirkt, daß der nagelneue Stachel, der plötzlich in meinem Herzen steckte, immer stärkere Zündnadelsalven von Eifersucht abfeuerte. Obwohl ich von Zeit zu Zeit Rundfunk hörte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, er könnte so etwas wie eine Hinterbühne haben. Für mich steckte er ausschließlich in dem kleinen Kästchen, das seit Urzeiten auf dem Wandbord über unserem Küchentisch stand. Seit dem Tage, da es für meine Kinderfinger erreichbar war, hing an seinem Hauptknopf ein schweres Vorhängeschloß, das Paps nur an jenen Feiertagen abnahm, wenn Partei und Regierung ausnahmsweise die heilige Messe genehmigt hatten, in der Regel nach mißglückten Aufständen in den Nachbarländern. Zu dieser Maßnahme hatte er gegriffen, als er auf seine Bitte, ihm aus Gründen meiner Erziehung die Texte aller Sendungen vorher zuzuschicken, keine Antwort erhalten hatte. Ein einziger Satz meiner Frau fügte dem Rundfunk jetzt riesige und rätselhafte Räume hinzu, aus denen eine Kühle zog wie aus den Grotten der tschechisch-sächsischen Schweiz, die zu durchqueren ich mich auf einem Schulausflug so schaudernd geweigert hatte, daß die ganze Klasse einschließlich der Frau Lehrerin über das Felsmassiv klettern mußte, um zum Dampfer zu gelangen. Heute, nachdem ich ein paarmal vor der Pförtnerloge des Rundfunks auf meine Frau gewartet und ihr einmal sogar, selbstverständlich in Begleitung eines bewaffneten Werkschutzmannes, das vergessene Instrument bis ins Studio nachgetragen habe, macht mich meine damalige Vorstellung lachen. Damals aber, in den ersten Stunden unserer jungen Liebe, wütete meine Phantasie ohne jede Einschränkung.
Im Geiste stellte ich mir den Rundfunk als ein großes Nachtlokal vor, als die vielfache Vergrößerung einer Bar, in die mich vor den Abschlußprüfungen meine Klassenkameraden schleppten, nachdem sie zuvor meinen Eltern eine gefälschte Anweisung des Direktors geschickt hatten. Aus Unachtsamkeit nahm ich damals einen Schluck vom gespritzten Obstwein und war davon so betrunken, daß ich in der Nacht die ganze Klasse zu uns nach Hause brachte, damit sie sich meine Eisenbahn ansähe, die durch die ganze Wohnung fuhr. Als Mutsch die zwanzig jungen Männer mit Fliegen vor ihrem Bett stehen sah, hätte das leicht ihr Tod sein können. Noch dazu stellte sich heraus, daß ich mir eine solche Eisenbahn seit Kindertagen nur vergebens gewünscht hatte, und so dachte ich noch lange voll Scham daran zurück, wie meine Schulkameraden beifällig zuguckten, als ich den Gürtel von Paps’ Hose holen und mich über den Sessel beugen mußte, um von ihm gezüchtigt zu werden. Ich entsann mich trotzdem, daß es in jenem Nachtlokal viele mit Purpursamt verhängte Séparées gab, aus denen alle Augenblicke Frauengekreisch drang. Da im Rundfunk überdies, wie ich mir weiter denken konnte, weder Gäste noch Personal vorhanden waren, sondern ausschließlich meine Frau und die Musiker, suchten mich den ganzen Nachmittag über quälende Bilder heim, wie die zweite Hälfte des Orchesters, wann immer es sein Tacet hatte, hinter einem der purpurnen Vorhänge verschwand, um meine Frau ihrer Erwartung zum Trotz für die Unpünktlichkeit geil abzustrafen. Obwohl sie mir versichert und übrigens auch überzeugend bewiesen hatte, daß die Unzahl der Liebhaber keine Schäden an ihrem Leib hinterlassen und daß sie das Schönste, ihre Seele, ausschließlich für mich aufbewahrt habe, zitterte ich bei dem bloßen Gedanken, es hätte ihr einer von ihnen allein körperlich mehr bieten können als ich.
Ich ahnte freilich, daß die Liebe, wie jeder Bereich menschlichen Tuns, ihre Regeln, ihre Gesetze und Verordnungen, ihr Abc und ihr kleines Einmaleins hatte. Doch was für ein Jammer, daß mich keiner darin eingeweiht hatte! Meine Eltern waren allzu ehrenwerte Christen, als daß sie sich zu der lügnerischen Behauptung erniedrigt hätten, die Kinder bringe der Storch. Dennoch begingen sie nach der Episode mit Tante Eliška, offensichtlich um mich einzuschüchtern, einen pädagogischen Fehler, als sie mir auf Umwegen andeuteten, die Kinder kämen vom Küssen. Wie heute höre ich den schicksalhaften Satz, den sie wochenlang nach dem Morgen- und Abendgebet unauffällig an die Adresse unserer Hausmeisterstochter gerichtet sagten, die zu Beginn des Schuljahres erneut in die Ferien fuhr.
«Die hat so lange in unserer Durchfahrt rumgeknutscht, daß sie jetzt ein Lediges kriegen wird!»
Als ich endlich begriffen hatte, um was es ging, hätte das tragische Folgen haben können. Da ich kurz zuvor von der Hopfenernte heimgekehrt war, verbrachte ich die folgenden paar Monate in der unaussprechlichen Furcht, ich würde mit der Paulová ein vaterloses Kind haben. Dieser Irrtum wurde noch bestätigt, als die Paulová eine Woche vor ihrem Abitur tatsächlich niederkam. Bis ich zum Zwecke des Selbstmords ausreichend Streichholzköpfchen abgekratzt hatte, die ich mir, da ich kein Taschengeld bekam, Stück für Stück bei den Mitschülern zusammenschnorren mußte, benannte die Paulová zum Glück den Mathematiklehrer als Kindesvater, was jener auch zugab, wofür er strafweise zum Handarbeitslehrer degradiert wurde. Damals hatte ich schon für immer die Möglichkeit verpaßt, die mir nachträglich als das Natürlichste vorkommt, nämlich meine Kameraden zu fragen. Aus ihren Anmerkungen zum Fall Paulová, die von fremdsprachigen, mir leider völlig unbekannten Begriffen wimmelten, wie Vagina, Koitus und Interruption, gewann ich jedoch die Überzeugung, daß sie bei weitem aufgeklärter waren als ich und obendrein über unvergleichlich größere praktische Erfahrungen verfügten. Feinfühlig wie ich war, hätte ich ihren Spott kaum überlebt. Und so wandte ich mich wieder und wieder dringlich an meine Eltern. Endlich hatte ich offenbar mein Ziel erreicht, denn eines Nachts vernahm ich, wie immer an die undichte Schwelle ihres Zimmers gepreßt, in der vergeblichen Hoffnung, sie würden mich vielleicht durch ihr eigenes Beispiel aufklären, ein leises Zwiegespräch.
«Ich glaube», sagte Paps hörbar besorgt, «wir werden es ihm wirklich sagen müssen!»
«Aber Vilibald!» widersetzte sich Mutsch unglücklich, «er ist doch noch so jung, wozu ihm so früh die Illusionen rauben?»
«Seine Illusionen kann er anders und viel schlechter verlieren», erwiderte Paps, «die erstbeste Nutte, die sich verheiraten will, hängt ihm einen Bastard an, und er weiß noch weniger als die Jungfrau, wie er zum Kind gekommen ist!»
Obwohl ich längst nicht alle Worte verstand, war mir klar, daß seine Sorge um mich weitaus größer war als sonst.
«Aber wer wird es ihm sagen?» meinte Mutsch wieder. «Ich, Baldi, lade mir das nicht auf die Seele. Und du, antworte mir aufrichtig, würdest du dich nicht schämen?»
Diese völlig ungewöhnliche Anrede zeugte davon, daß sie außer sich war, während das Ächzen des Bettes, auf dem er sich unruhig wälzte, den quälenden Zwiespalt in seinem Inneren wiedergab. Ich wollte schon ganz und gar verzweifeln, als erneut sein vorsichtiges Flüstern vernehmbar wurde.
»Ich glaube, ich weiß, wie wir das machen. Wir werden es so einrichten, daß er sich langsam und ohne Gewalt selber aufklärt. Ich besorge ihm ...»
Die letzten Worte flüsterte er ihr leider offenbar ins Ohr. Vor Ungeduld konnte ich nicht einschlafen. Am nächsten Morgen ließ sich Paps zum Frühstück nieder, mit dem ich mir besonders Mühe gegeben hatte, und während Mutsch eifrig den Ofen heizte, obwohl wir wenig später alle weggehen mußten, patschte er mir ungewöhnlich freundschaftlich auf die Schulter und stellte eine ebenso ungewöhnlich leutselige Frage.
«Na, wie steht’s Vilém ...?»
«Ich weiß nicht, was Sie meinen, Paps«, antwortete ich aufgeregt.
Er hielt einen Moment inne, fuhr dann aber doch fort.
«Ich denke, in absehbarer Zeit erwartet dich das Ende der Schule, was auch den Beginn des praktischen Lebens bedeutet. Es ist also an der Zeit, daß du mehr über das Geheimnis des Lebens erfährst.»
Wider Willen lief ich rot an, und Paps wechselte augenblicklich das Gesprächsthema.
«Übrigens, es brennt nicht. Hast du alle Aufgaben gemacht, mein Junge?»
«Ja, Paps», stieß ich hastig hervor, «aber bitte, ich hätte dieses Geheimnis so gern gekannt ...!»
Forschend musterte er mich, beruhigte sich dann aber wieder.
«Na schön, schön ... wenn du gut lernst, bekommst du von uns etwas zu Weihnachten, was dich bestimmt sehr, sehr interessieren wird!»
Ich bin nie ein schlechter Schüler gewesen. Was blieb mir auch, wo ich als einziger aus der Klasse weder Techtelmechtel mit Mädchen noch Fernsehen hatte, als zu lernen, zu beten und zu lesen, zumeist Paps’ Ereiferungen gegen Unrechtmäßigkeiten auf dieser Welt, die Mutsch an jedem Freitag verbrannte, damit sie uns bei einer zufälligen Haussuchung nicht in Schwierigkeiten brachten. Doch weder zuvor noch später habe ich je solche schulischen Triumphe gefeiert wie vom Oktober bis zum Dezember jenes Jahres. Endlich nahte der ersehnte Heiligabend heran. Wenn meine Eltern auch schon zugaben, daß nicht der Storch die Kinder bringe, so blieben sie dagegen desto zäher bei ihrer Behauptung, daß die Geschenke vom Christkind kämen. Das lag nur auf der Hand, denn die Verleugnung des Storches brachte sie nicht in Konflikt mit der Glaubenslehre, die sie trotz der Mißachtung von Kirche nach wie vor anerkannten. Obwohl ich mit der Zeit an Gott zweifelte, seit dem Augenblick, da ich meine gesamte Habe an Murmeln vergebens dem Klingelbeutel in der Sankt-Nikolaus-Kirche geopfert hatte, damit er mir Tante Eliška zur Frau gebe, wagte ich ihnen das nie einzugestehen. Ich befürchtete zu Recht, dann im Handumdrehen ein Waisenkind zu werden. Nur einmal, ich war vielleicht zwölf, schlich ich mich in die Diele und hielt das Auge an das Schlüsselloch der Guten Stube, um zu sehen, wie die Engel den Baum schmückten. Da gellte hinter mir Mutschs entsetzter Aufschrei.
«Er guckt dir zu!»
Und aus dem Zimmer polterte eine vertraute Stimme zurück.
«Dann hau ihm halt eine runter!»
Da Paps jedoch zu jener Zeit regelmäßig seine Spaziergänge unternahm, auf denen er nach immer neuen Unrechtmäßigkeiten für seine Entrüstungen Ausschau hielt, glaubte ich trotz meiner Zweifel noch ein paar Jahre, der beleidigte HErr habe in seiner Stimme gegrollt. Wieder saß ich damals also, wie dann jedes Mal seit jenem Ereignis, den ganzen Tag in der Küche, las Weihnachtsmärchen und fragte, um keinen Verdacht zu erregen, alle Augenblicke Mutsch, wann es denn klingele. Endlich hörte ich Paps’ leisen, mit den Jahren immer lauter werdenden Schritt, je mehr ihn seine erschlafften Muskeln daran hinderten, auf Zehenspitzen zu gehen, und schon tönte durch die Wohnung das Bimmeln des Glöckchens, welches das ganze Jahr über neben dem Weihnachtsbaumschmuck und der Krippe in dem alten Klappbett versteckt lag. Unter dem leuchtenden Weihnachtsbaum, wo ich bisher Jahr für Jahr frisch gewaschene Taschentücher oder neu gestopfte Socken vorgefunden hatte, lag diesmal ein rätselhaftes Päckchen, in dem ich beim ersten Hinsehen ein Buch für Erwachsene erahnte. Vor Aufregung vergaß ich die Worte der Weihnachtslieder und erntete dafür Mutschs ernste Warnung. Endlich hatten wir auch die ‹Stille Nacht› abgesungen, und ich stürzte mich ungeduldig auf mein Geschenk. Ich hatte mich nicht getäuscht! Es war das Buch ‹Die Vermehrung der Pilze›, das mir endlich das Tor zur Erkenntnis aufstieß. Noch heute, nach so vielen Jahren, erinnere ich mich an den Wortlaut des ersten Absatzes.
«Die Vermehrung der Pilze geschieht entweder auf ungeschlechtlichem Wege, wobei sich der einzellige Keim in ein neues Pilzgeflecht (Myzelium) teilt, oder auf geschlechtlichem Wege, mittels Vereinigung zweier Geschlechtszellen (Gameten).»
Mehr durfte ich an diesem Abend nicht lesen, denn meine Eltern befürchteten, meine Phantasie könne durch eine Überdosis an Informationen belastet werden. Zu meinem Pech bekam ich tags drauf Ziegenpeter, was Mutsch noch lange als Strafe Gottes ansah. Erst zu Frühlingsanfang, als ich ihnen hochheilig versprach, nie wieder daran zu erkranken, durfte ich die Lektüre fortsetzen. Der Plan meiner Aufklärung hatte sich durch den Mumps beträchtlich verlangsamt, so daß ich vom Sommerferienlager, aus dem die letzten beiden Mitschüler ihre erste Liebeserfahrung mit Küchenfrauen heimbrachten, unter Aufsicht der Eltern, die am Rande des Lagers ihr Zelt aufgeschlagen hatten, nur mit einem großen Beutel getrockneter Pilze wiederkam. Erst als die Eltern, die dreimal täglich meine Temperatur, mein Gewicht und meine Größe notierten, schließlich feststellten, daß mein physisches und seelisches Gleichgewicht nicht meßbar gestört worden war, setzten sie die Durchführung der weiteren Etappen von Paps’ Vorhaben bereits gelassener fort. Bis zum Schulabschluß wußte ich ins Detail, wie sich Schmetterlinge, Fische und Kriechtiere vermehren, und die Soldatenuniform, die mich noch mehr in einen Mann verwandelte, machte sogar einen solchen Eindruck auf Mutsch, daß sie sich selber erkühnte, ohne Umschweife zu den Vögeln überzugehen. Leider trat genau zu dieser Zeit jener unselige Oberstleutnant an dem Schwanenseeteich auf den Plan. Obwohl er, wie ich meinte, die ganze Sache offensichtlich nur als pazifistische Demonstration gegen den Warschauer Pakt beurteilte, glaubte Mutsch in ihrem tödlichen Schreck, er durchschaue vielleicht deren wahren Sinn. Das erachtete sie als einen weiteren Fingerzeig von oben, und so betete sie den ganzen Heimweg über reumütig und flehte nächtens Paps an, die Sorge um mein weiteres Heranreifen ganz dem Allerhöchsten zu überlassen, der mich schon nach seinem Willen zurechtstutzen werde.
Damals sah ich mich genötigt, einen letzten Versuch auf eigene Faust zu unternehmen. Aus den Gesprächen meiner Waffengenossen, denen ich immer begieriger lauschte, und auch aus den Aufschriften an den Wänden der öffentlichen hygienischen Einrichtungen erriet ich, daß so etwas wie eine Organisation von Frauen existierte, die gegen geringes Entgelt weniger erfahrenen Werktätigen des anderen Geschlechts praktische Lektionen erteilten. Da dieselben mit einer besonderen Bezeichnung belegt wurden, die auch mein Paps in dem Gespräch mit Mutsch verwendet hatte, faßte ich Vertrauen zu ihnen. Diese Aufklärerinnen, so hieß es, stünden an späten Abendstunden vor verschiedenen gesellschaftlichen Zentren herum, und ansprechen dürfe sie auch derjenige, der ihnen nicht vorgestellt worden sei. Die Schwierigkeit bestand darin, daß ich abends ohne meine Eltern nicht aus dem Haus durfte. Wie ich die Burschen beneidete, die in normalen Einheiten Dienst taten und in den Kasernen wohnen durften, wo sie ab und zu Ausgang bis Mitternacht erhielten! In der größten Not kam mir jedoch ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Mein Vorgesetzter, Leutnant Lánsky, kriegte eines Tages von Hauptmann Kverková den Befehl, sie abends in ihrer Wohnung aufzusuchen, da der Divisionskommandeur plötzlich zu einer Stabsübung abgereist war. Weil der Leutnant ausgerechnet an diesem Tag Aufsicht im Magazin für ‹Halbliter› genannte Stiefel hatte, befahl er mir, den Dienst für ihn zu übernehmen, was meine Eltern ungern gestatten mußten. Zu seinem Pech handelte es sich jedoch nur um einen kurzen Probealarm. Oberst Kverek kam um neun Uhr nach Hause, und bereits um zehn erschien Leutnant Lánsky im Magazin, wonach er mich fortschickte, um ungestört den Selbstinfarkt begehen zu können.
Das konnte ich nicht ahnen und beschloß deshalb sogleich ohne Gewissensbisse, die unverhoffte Gelegenheit für mein Vorhaben zu nutzen. Im Gewaltmarsch klapperte ich ein paar Konzerthäuser und Vortragssäle ab, doch niemand stand davor herum. Eine momentane Eingebung brachte mich auf den Gedanken, daß auch Massenunterkünfte gesellschaftliche Zentren sein könnten. Vom Smetana-Theater aus steuerte ich deshalb auf das Hotel Esplanade zu. Als ich die bescheidene Grünanlage durchquerte, pochte mir das Herz vor Freude. Auf dem Gehsteig, unter einer hellerleuchteten Markise, stand wahrhaftig eine Frau im besten Alter, die nach Erscheinung und Kleidung meinen Vorstellungen entsprach. Ich kannte mich viel zu gut, um nicht zu wissen, daß ich nie mehr den Mut fände, wenn ich zögerte. Ich sah nach, ob meine Knöpfe alle geschlossen waren, holte Luft, brachte die paar Schritte, die mich von ihr trennten, rasch hinter mich, legte vorschriftsmäßig die Hand an den Rand der Militärmütze und sprach sie höflich an.
«Verzeihen Sie, Genossin, sind Sie eine Nutte?»
An das Folgende denke ich bis heute wie an einen bösen Traum zurück. Nach einer Ohrfeige, die mich regelrecht von den Füßen hob, begann sie unwahrscheinlich laut zu zetern, und ehe ich es mich versah, wurde ich brutal von dem hünenhaften Portier angefallen, der mich wie einen Ranzen am Koppel bis vor die Rezeption schleppte. Wie sich herausstellte, war die betreffende Dame die Postministerin für die Tschechoslowakische Volkspartei, ihr Gatte war gerade um die Ecke gegangen, den Wagen zu holen. Das war einfach zuviel für mich. Die schlotternden Beine trugen mich nicht mehr, also hockte ich mich auf den roten Teppich und schwamm in Tränen. Der Anblick des herzzerreißend weinenden Soldaten war anscheinend für alle Anwesenden überraschend, denn der Empfangschef unterließ es, die Polizei zu rufen, gleichermaßen die Ministerin ihren Mann. Meine Angst war größer als die Scham, und so sah ich keinen anderen Ausweg, als schluchzend den Sinn meines Tuns zu erläutern. Als ich fertig war, trat Stille ein. Der Portier schaute zu Boden, der Empfangschef putzte sich die Brille, und die Ministerin zog ein Batisttüchlein aus der Handtasche.
«Da», sagte sie beinahe mütterlich, «trocknen Sie Ihre Tränen. Ich glaube, Genosse, Sie sollten möglichst bald heiraten. Die Familie ist die grundlegende politische Zelle des sozialistischen Staates, und dort werden Sie auch alles das finden, was dieser, ja sogar die Kommunistische Partei, obwohl sie unsere führende Kraft ist, Ihnen nicht bieten kann!»
Das Taschentuch habe ich heute noch. Darin sind Sichel, Hammer und ein Telefon eingestickt.
Und das war alles, was ich erfahren, erlebt und errungen hatte in diesem Vierteljahrhundert meiner Existenz bis zu jener denkwürdigen Nacht, als mich das Schicksal in Gestalt eines Helikons in die Arme meiner Frau führte. Kein Wunder, daß ich so unvorstellbar eifersüchtig war auf die unbekannten Musiker, die bei intimer Beleuchtung hinter den unzähligen Samtvorhängen des Rundfunks mein zerbrechliches Glück allein dadurch in Frage stellten, daß sie ganze Sinfonien des Liebens wie vom Blatt beherrschten, wogegen ich zu ihr nicht einmal den Violin-, geschweige denn den Helikonschlüssel kannte.
Als die Bürostunden endlich vorüber waren, flog ich nicht wie ein freigelassener Vogel zu meiner Frau, sondern schleppte mich wie ein weidwundes Tier am Flußufer hin, vom Gedanken an meine bevorstehende Niederlage gelähmt. An der Stelle, wo ich mittags die Möwen gefüttert hatte, lehnte ich mich erschöpft ans Geländer und stierte in die trüben Wellen, so benommen, daß mich nicht einmal der übliche Schwindel überkam. In meinen Ohren tönte die liebliche Stimme meiner Frau, die so sehr an ihr Instrument erinnerte. Mein Gott, dachte ich, womit kann ich sie überhaupt fesseln, was kann ich ihr bieten, um nicht nur einer von vielen, aber wenn schon nicht der erste, so doch wenigstens der letzte von allen zu sein! Unwillkürlich tastete ich in der Tasche nach dem halben Hörnchen, das ich mir morgens zum Andenken gelassen hatte, und warf es resigniert in den Fluß. Ein paar dicke Möwen, die sich behaglich auf dem Wasser ausruhten, ruderten bedächtig darauf zu. Sie hatten offenbar Erfahrung genug, um zu wissen, daß der Happen für alle reichen würde. Da schoß aus heiterem Himmel ein Pfeil herab. Eine junge Möwe schnappte ihnen die Beute weg, die sie schon in Schnabelweite gehabt hatten, und stieg mit siegreichem Gekicher in die Höhe, ohne ihres Protestgeschreis zu achten.
Und ich, der einzige Zeuge, hatte jetzt meine Antwort gefunden. Es gibt also doch etwas, womit ich sämtliche Orchester der Welt aussteche: meine Jugend! Gegen die Virtuosität werde ich meine frische Kraft setzen. Gegen die übersättigte Völlerei meinen gesunden Hunger. Ach, Liliane! Nach den trägen Genußmenschen, die Sie als einen Dutzendbissen genommen haben, stürzt sich aus den Wolken eine junge weiße Möwe auf Sie herab! Als wollte ich nicht zehn Minuten, sondern ein Dutzend verlorene Jahre einholen, rannte ich über die Karlsbrücke, eilte die Neuen Schloßstiegen hinauf, lief über den Hradschin-Platz und rannte in das Haus, das mein künftiges Heim werden sollte. Erst auf der Treppe fiel mir ein, daß ich immer noch nicht wußte, wie meine Frau weiter hieß, doch es beruhigte mich, daß ich sie einstweilen Genossin nennen konnte. Da war ich schon nach zwei Treppen vor ihrer Tür und warf mich mit meinem ganzen leidenschaftlichen Körper gegen die Klingel, als mir der Nachname Jámová von der Visitenkarte ins Auge fiel. Noch spürte ich die Kühle, die mir aus dem Wortstamm Jáma, ‹Grube› also, entgegenschlug, doch da flog schon die Tür auf, und auf der Schwelle stand niemand anderes als meine Frau. Ihr Lächeln wich aber einem Ausdruck von Schrecken, als sie meiner Miene ansichtig wurde.
«Um Gottes willen, was ist dir passiert ...?»
Ich schlug die Tür hinter mir zu, trat ins Zimmer, warf ohne ein Wort, da ich kaum Luft zu holen vermochte, Sakko, Krawatte, Hemd ab ... Sie begriff. Das Blut kehrte in ihre Wangen zurück, und das vertraute Feuer flammte in ihren Augen auf. Mit einem Ruck riß sie sich die Bluse herunter, daß es Knöpfe regnete. Im Nu war der Fußboden von unseren Textilien bedeckt. Dann umarmte ich sie und riß sie begierig unter das Helikon, bis einige Schiffsmodelle umkippten. Eine gewisse Zeit war es still. Dann drang an mein Ohr ihr Seufzer.
«Liebling ... du willst mich nicht mehr??»