Читать книгу Alexander der Große - Pedro Barceló - Страница 13

Rachefeldzug gegen Persien Unter falscher Flagge?

Оглавление

Im Verlauf von Alexanders Kinder- und Jugendjahren änderte sich die politische Landkarte Griechenlands auf dramatische Weise. Seit dem Ende des 5. Jahrhunderts war die athenische Vorherrschaft von der spartanischen abgelöst worden, die sich angesichts dieser Aufgabe genauso überfordert zeigte wie Theben, das zeitweise eine Hegemonialstellung einnehmen konnte. Danach wurden das wieder erstarkte Athen des 2. Seebundes und das unter Jason von Pherai machtvoll auftretende Thessalien vorübergehend zu wichtigen Faktoren in dem Gerangel um die führende Stellung in Griechenland, doch auch sie vermochten keine dauerhafte Hegemonie zu begründen.1

Entscheidend für die Zukunft des gesamten Ägäisraumes wurde Philipp II., der den krisengeschüttelten Polisstaaten die atemberaubende Leistungsfähigkeit der makedonischen Monarchie vorführte. Damit geriet das Thema Alleinherrschaft in den Blickpunkt der politischen Eliten.2 Xenophons Schrift über den Perserkönig Kyros war ein Vorläufer dieses Trends. Bei dem von Alexander geschätzten Historiker Herodot erscheint Kyros als der grimmige Eroberer des Lyderreiches, der nicht aus rationaler Einsicht agiert, sondern aus abergläubischer Furcht den unterlegenen König Kroisos am Leben lässt.3 Bei Xenophon, den Alexander genauso eifrig gelesen haben dürfte, mutiert Kyros zu einem trefflichen Herrscher, der mit Rücksicht auf die Allgemeinheit regiert. In Xenophons Kyropädie, einem historischen Roman, der vom Begründer des persischen Weltreiches handelt, wird ein monarchisches Staatsideal entworfen, das der eigenen Gegenwart den Spiegel vorhält. Derartige politische Optionen wurden von didaktischen Absichten geleitet. Sie kreisten meist um die Erziehung der Machtträger. Im Vordergrund stand die Person, weniger die Institution.4 Ein eindrucksvolles Beispiel dafür bot Xenophons Lieblingsgestalt Agesilaos, der durch seine kleinasiatische Expedition der hellenischen Öffentlichkeit die Verwundbarkeit des Achaimenidenreiches vorführte. Im Jahre 396 war der spartanische König Agesilaos an der Spitze eines Heeres nach Aulis aufgebrochen, wo er in homerischer Manier, wie einst Agamemnon, ein Opfer darbrachte und die Befreiung der kleinasiatischen Griechen vom persischen Joch verkündete.5 Sein militärischer Vorstoß hätte beinahe zum Erfolg geführt, wenn der König nicht plötzlich abberufen worden wäre, um die bedrohte Stellung Spartas in Mittelgriechenland zu stabilisieren.6

Solche Unternehmungen waren es, die das Herz zahlreicher Hellenen, und wir können vermuten, dass sowohl Philipp II. als auch Alexander Agesilaos’ Taten sorgfältig registriert hatten7, höher schlagen ließen. Die panhellenisch8 Gesinnten verurteilten aufs Schärfste die endemischen Bruderkriege der griechischen Staaten und forderten zur inneren Eintracht auf. Ihr wortreiches Sprachrohr war der Athener Isokrates.9 Bereits in seinem auf dem Höhepunkt der spartanischen Machtentfaltung 380 abgefassten Panegyrikos hatte er zur Überwindung des Partikularismus aufgerufen.10 Seit den vierziger Jahren des 4. Jahrhunderts wird der Argeade Philipp II. Adressat seiner Botschaften. Ihm, der durch Gewandtheit, Intrigen, Einschüchterung, Diplomatie und militärische Kompetenz die Arrondierung Makedoniens vollbracht hatte, war die Aufgabe zugedacht, die geeinten Griechen nach Asien zu führen. Bemerkenswert bleibt die utilitaristische Begründung des unverhohlen postulierten Eroberungskrieges: Wie groß werden alle von Dir denken müssen, wenn Du das wirklich durchführst, vor allem, wenn Du daran gehst, das Perserreich zu beseitigen oder doch wenigsten große Teile davon abzutrennen, Städte zu gründen in diesem Gebiet und alle anzusiedeln, die heute aus Not ums tägliche Brot umherirren müssen und alle belästigen, zu denen sie kommen. Gelingt es uns nicht, sie von ihren Zusammenrottungen abzubringen dadurch, dass wir ihnen einen ausreichenden Lebensunterhalt bieten, so werden sie zu einer solchen Zahl anschwellen, dass sie für die Hellenen zu keiner geringeren Gefahr werden als für die Barbaren. Ich will sagen: Du musst den Hellenen Wohltäter, den Makedonen König, den Barbaren, so vielen als möglich, Herrscher sein.11

Isokrates’ Ausführungen verdeutlichen die sozialen Nöte der Poliswelt als Ergebnis eines komplexen ökonomischen Transformationsprozesses, der mit den unzähligen Kriegen des 5. und 4. Jahrhunderts zusammenhing. Die vielfältigen Krisenerscheinungen waren auch eine Konsequenz des Niedergangs der heimischen Landwirtschaft, die den auswärtigen Importen nicht standhalten konnte. Sie spiegeln gleichermaßen den demographischen Druck wider, der, gepaart mit der Zunahme der Sklavenarbeit, zur Konzentration der handwerklichen Produktion führte und vielen freien Arbeitskräften jede Erwerbsmöglichkeit raubte. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich erzeugte vielerorts gefährliche innenpolitische Spannungen und blutige Revolten. Die Zahl der sozialen Absteiger und Entwurzelten nahm dramatisch zu. Arbeitssuchende verdingten sich als Söldner in den zahllosen Konflikten innerhalb und außerhalb des griechischen Raumes.12 Philipp II. nutzte geschickt diese Krise für seine Zwecke aus, indem er sich als Garant der Stabilität profilierte. Darüber hinaus bot sein erfolgreiches Agieren den untereinander rivalisierenden Poleis das beste Beispiel dafür, was eine zielstrebig geführte Territorialmacht zu leisten im Stande war. Dass dies einen tiefen Eindruck hinterließ, zeigt die lebhafte Diskussion, die Philipps II. Auftreten auslöste. Einem Teil der öffentlichen Meinung erschien er als letzte Chance der Hellenen, um ihre politische Zersplitterung zu überwinden. Seine Kritiker verurteilten allerdings das Streben nach Hegemonie als Tyrannis. Aus den zahlreich erhaltenen Äußerungen des Isokrates oder Aischines und aus denen des eingeschworenen Philippgegners Demosthenes lässt sich die Rezeption der makedonischen Machtpolitik nachzeichnen.13 Doch auch wenn die vor der athenischen Volksversammlung ausgetragenen Redeschlachten einen eindrucksvollen Einblick in die Mechanismen dieser Auseinandersetzung gestatten, ein Gradmesser für die tatsächlichen politischen Gewichte sind sie nicht. Die Entscheidungszentren lagen außerhalb der Poliswelt. Am Königshof zu Pella liefen inzwischen die Fäden der griechischen Politik zusammen, und Philipp II. wusste sie geschickt zu knüpfen.

Seine Position hatte eine zusätzliche Stärkung erfahren, als es ihm um 340 gelungen war, große Teile Thrakiens der makedonischen Monarchie einzuverleiben, womit er den Land- und Seeweg nach Asien beherrschte.14 Dies musste zu einer Intensivierung der Spannungen mit Athen führen. Athen war auf die Zufuhr von Getreide aus dem Schwarzmeerbereich angewiesen und betrachtete jede Form fremder Machtentfaltung am Hellespont als akute Bedrohung. Als Philipp II. eine athenische Getreideflotte kaperte, eskalierte die Krise.15 Den Anlass zum offenen Ausbruch der Feindseligkeiten lieferte jedoch die makedonische Besetzung der phokischen Polis Elateia. Da diese Stadt ein umfassendes Bündnissystem in Westgriechenland, auf der Peloponnes und auf den Inseln der Ägäis aufgebaut hatte, konnte sie ein großes Truppenaufgebot mobilisieren.16 Philipp II. war es zuvor jedoch erneut gelungen, aus der politischen Konstellation in Griechenland einen Vorteil zu ziehen. In der Delphischen Amphiktyonie waren weitere Streitigkeiten aufgetreten, die er ausnützte, um sich vom Ratsmitglied zum Vorsitzenden wählen zu lassen. Als solcher durfte er ganz offiziell und ohne Verdacht zu erregen in Zentralgriechenland militärisch agieren. Damit hatte er sich eine strategisch wichtige Schlüsselstellung für den Aufmarsch nach Südgriechenland verschafft. Angesichts des Bedrohungspotenzials, das der ständig mächtiger werdende makedonische König darstellte, rückten zahlreiche griechische Poleis näher zusammen. Auch das traditionell mit Athen verfeindete Theben schloss sich dem maßgeblich vom Athener Demosthenes inspirierten hellenischen Bund an, der als Gegengewicht zu Makedonien ins Leben gerufen wurde.17

Auf dem Schlachtfeld von Chaironeia in Böotien fiel am 2. August 338 die Entscheidung. Die makedonische Armee schlug das aus Thebanern und Athenern samt ihren Alliierten zusammengesetzte Bundesheer. Alexander führte die Attacke der Reiterschwadronen an, die in die Eliteformation der Heiligen Schar der Thebaner einbrach18 und dadurch den Erfolg besiegelte.19 Er wurde zu einer historischen Zäsur: Unmittelbar darauf zerbrach die Koalition der Gegner Makedoniens. Weder das Weltreich der Perser noch der übermächtige Attische Seebund, noch das aus dem Peloponnesischen Krieg siegreich hervorgegangene Sparta, noch Theben unter dem glänzenden Epameinondas hatten trotz vielfacher Bemühungen das zu vollbringen vermocht, was nun Philipp II. nach Chaironeia glückte: Griechenland zu beherrschen.

Im Bewusstsein der Fragilität seiner momentan überragend scheinenden Machtstellung zeigte sich der Sieger weitsichtig und verfuhr maßvoll mit den Unterlegenen. Zwar musste Athen jeglichen Seebundambitionen abschwören und seine thrakischen Besitzungen an Makedonien abtreten, dafür durfte es aber die lebenswichtigen Kleruchien (Siedlungen außerhalb Attikas, deren Bewohner – im Gegensatz zu denen einer Kolonie – ihr athenisches Bürgerrecht behielten) auf Imbros, Skyros, Lemnos und Delos behalten.20 Auch Sparta, das sich bisher isolationistisch verhalten hatte, musste zähneknirschend die neuen Realitäten akzeptieren. Es wurde in den Status einer Mittelmacht versetzt, was die Spartaner dadurch vergalten, dass sie jede Form der Zusammenarbeit mit Philipp II. verweigerten.21 Deutlich härter wurde Theben bestraft. Es musste territoriale Einbußen hinnehmen und eine Makedonien freundliche Oligarchie akzeptieren, was zur Folge hatte, dass zahlreiche Opponenten ins Exil getrieben wurden. Darüber hinaus musste sich Theben eine Besatzung auf der alten Königsburg (Kadmeia) gefallen lassen.22

Philipp II., der Schöpfer der makedonischen Großmacht und nun faktischer Beherrscher Griechenlands, erwies sich gleichzeitig als Konkursverwalter der Poliswelt, deren politische Agonie durch sein energisches Auftreten beschleunigt wurde – obwohl man dies aus damaliger Perspektive kaum erkennen konnte.23 Im Sommer des Jahres 338 befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Machtentfaltung. Der Historiker Diodor bilanziert die Leistungen dieses ungewöhnlichen politischen Talentes folgendermaßen:

Philipp war vierundzwanzig Jahre lang König der Makedonen. Obwohl er über wenige Ressourcen verfügte, machte er aus dem Königreich die erste Macht Europas. Dank seiner Entschlossenheit erlangte er die Führerschaft in Griechenland, und die Städte erkannten gerne seine Leitungsfunktion an. Er wies die Schänder des Delphischen Orakels in ihre Schranken. Nachdem er die Illyrer, Thraker, Skythen und weitere Grenzvölker unterworfen hatte, nahm er sich die Eroberung des Perserreiches vor […] Alle diese Taten waren keine Glücksfälle, sondern Ergebnis seiner Tugenden. Er ragte heraus durch seine militärischen Fähigkeiten, seinen Mut und die Großzügigkeit seines Wesens.24

Vom Schlachtfeld bei Chaironeia aus begab sich der achtzehnjährige Alexander in Begleitung des angesehenen Antipater nach Athen, um in Vertretung seines Vaters den Friedensvertrag zu bekräftigen. Dort wurde er mit Ehren überhäuft, darunter auch mit dem athenischen Bürgerrecht.25 Die Stadt war ihm sicher aus den Berichten seines Lehrers Aristoteles, der lange dort gelebt hatte, vertraut. Gewiss empfand er bei diesem Besuch ein hohes Maß an Bewunderung für die Leistungen der anerkannten Hochburg des griechischen Geistes. Dies dürfte aber nicht sein Urteilsvermögen hinsichtlich der Einschätzung der politischen Zustände getrübt haben. Athen hatte sich zwar der makedonischen Vorherrschaft gebeugt, jedoch geschah dies widerwillig, große Loyalität war in Zukunft daher nicht zu erwarten.26


Abb. 11: Philipp II. von Makedonien. Tetradrachme aus Amphipolis (Vorderseite).

Das sichtbare Ergebnis der veränderten Machtverhältnisse in Griechenland war die auf Philipps II. Initiative hin erfolgte Gründung des Korinthischen Bundes – die Bezeichnung leitet sich von dem Versammlungsort beim Poseidontempel auf dem Isthmos von Korinth ab –, in dem sich die meisten Staaten des Festlandes und der Ägäis – Sparta blieb die große Ausnahme – 338 zu einer Föderation zusammenschlossen.27 Mittels dieses politischen Bündnisses wollte Philipp II. seine neu gewonnene Dominanz institutionell absichern. Außerdem versuchte er, indem er ein gemeinsames politisches Ziel propagierte, die innere Kohärenz dieser zur Bewahrung des neuen Status quo in Griechenland ins Leben gerufenen Militärallianz zu stärken. Daher beschloss die Bundesversammlung auf ihrer ersten Zusammenkunft nach der Konstituierung im Frühjahr 337 einen Rachekrieg gegen das Achaimenidenreich, dessen Durchführung Philipp II. von Amts wegen oblag.28 Makedonien selbst scheint kein Mitglied des Korinthischen Bundes geworden zu sein, sondern war lediglich durch die Person seines Königs vertreten. Dieser hatte allerdings als gewählter Hegemon maßgeblichen Einfluss auf die Politik der Allianz. Hinzu kam, dass er es nach Chaironeia nicht versäumt hatte, wichtige Orte wie Theben, Chalkis, Korinth und Ambrakia mit einer makedonischen Besatzung zu versehen, um eine strategisch wirksame Kontrolle des südgriechischen Territoriums zu erreichen. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden.

Der Gedanke eines Rachekrieges gegen Persien – wie er von den panhellenischen Kreisen um Isokrates und in der Begründung der Kriegserklärung des Korinthischen Bundes propagiert wurde – war für Philipp II. nicht unproblematisch. Sicherlich erinnerte man sich daran, dass seine Vorfahren während der Perserkriege dem Achaimenidenreich treue Vasallendienste geleistet hatten: allerdings nicht allein Makedonien. Zahlreiche griechische Staaten hatten aus Zwang oder Opportunismus ähnlich gehandelt. Dessen ungeachtet bediente sich Philipp II. der panhellenischen Aufrufe, denen überdies eine beträchtliche Dosis ungeschminkter Chauvinismus beigemischt war, um eine Aktionsgemeinschaft gegen den einstigen Verbündeten zu schmieden. Derartige Losungen boten reichliche Angriffsflächen. Demosthenes hat sie erbarmungslos aufgezeigt und auf die Schwäche der makedonischen Position hingewiesen. Dass er sich nicht durchsetzen konnte, heißt aber nicht, dass Philipps II. Kriegsaufruf auf allgemeine Zustimmung stieß.29 Überschwängliche Begeisterung für eine Expedition gegen die Achaimeniden kam in Griechenland nicht auf. Zwar versprachen die Mitglieder des Korinthischen Bundes, dem Kampfaufruf zu folgen, doch sie taten dies unter Zwang. Möglicherweise erschien den nachdenklicheren Zeitgenossen der Rachekrieg gegen Persien als eine Unternehmung, die unter falscher Flagge geführt wurde. Schließlich gab es keine virulenten Konfliktherde zwischen den Hellenen und dem Achaimenidenreich, die eine solch riskante und umfangreiche kriegerische Aktion gerechtfertigt hätten.

Bei den geplanten militärischen Aktivitäten handelte es sich faktisch um einen makedonischen Eroberungskrieg, der sich in die Systematik der bisherigen Machtpolitik einfügte, dessen genaue Zielsetzung aber unklar blieb. Auch durften die wirtschaftlichen Implikationen des Projektes keineswegs vernachlässigt werden, denn Makedoniens Finanzen waren durch die aggressive Eroberungspolitik Philipps II. ziemlich erschöpft und bedurften dringend einer Auffrischung. Hinzu kam, dass die prekäre soziale Lage Griechenlands nach einem Ventil verlangte, was eine derartige Unternehmung zumindest begünstigte. Die Absorption des Bevölkerungsüberschusses, die Aussicht auf Beute, Ländereien und neue Märkte boten vielfältige Anreize. Philipp II. war Realist genug, um die politischen und ökonomischen Vorteile, welche die Eroberung zumindest eines Teils von Kleinasien mit sich bringen konnte, zu erkennen. Wie in der Vergangenheit versuchte er auch diesmal die veränderte Situation, die sich durch den unerwarteten Tod Artaxerxes’ III. 338 ergeben hatte, für seine expansiven Ziele zu nutzen. Der große orientalische Nachbar galt als geschwächt und durch innere Streitigkeiten zerrissen. Daher erschien der gewählte Zeitpunkt für das asiatische Projekt als durchaus opportun.

Welche Rolle Alexander bei dem bevorstehenden Persienzug zugedacht war, ist nicht genau zu ermitteln. Entweder erwartete man von ihm ähnlich wie in Chaironeia die Führung eines wichtigen Truppenkommandos in der Umgebung seines Vaters, oder es war vorgesehen, dass er zu Hause bleiben und in Abwesenheit des Königs als dessen Stellvertreter amtieren sollte. Die Kriegsvorbereitungen berücksichtigten nicht nur die veränderte Lage in Griechenland und am achaimenidischen Königshof, sondern auch die komplexen politischen Verhältnisse Kleinasiens.30 Vor kurzem war der mit Philipp II. verbündete Hermeias, der Herr von Assos, beseitigt worden.31 Daher war es ein Hauptziel der makedonischen Politik, gewogene Bündnispartner im kleinasiatischen Raum zu gewinnen. Vielleicht erhoffte sich Philipp II. Beistand von den griechischen Söldnerführern Mentor und Memnon. Letzterer hatte sich als Flüchtling einige Zeit am Hof von Pella aufgehalten.32 Wahrscheinlich lernte er hier Barsine kennen, die Tochter des ebenfalls im Exil lebenden persischen Satrapen Artabazos, die er auch heiratete. Mit dieser Verbindung verstärkten sich die Bande zwischen einem Vertreter der griechischen Militärelite und einer der vornehmsten Familien des Perserreiches, denn in der Zwischenzeit war Artabazos wieder in Ehren in seiner Heimat aufgenommen worden. Die Brüder Mentor und Memnon, die nun in persische Dienste traten, hatten schon einmal die Seiten gewechselt, und so schien es Philipp II. nicht ausgeschlossen, mit ihnen ein Arrangement treffen zu können. Aber daraus wurde nichts, weil Memnon durch seine Ehe zu einer festen Stütze der persischen Herrschaft in Kleinasien avanciert war.

Den Beziehungen zu Karien kam bei der Feldzugsplanung eine besondere Bedeutung zu. Ausgerechnet die Behandlung dieses diplomatisch sensiblen Themas sollte das bisherige Einvernehmen zwischen Philipp II. und seinem begabten Sohn über Gebühr belasten.33 Im Zuge der diplomatischen Flankierung seiner asiatischen Expedition stimmte Philipp II. einer Eheschließung zwischen seinem Sohn Philipp Arrhidaios und der Tochter des karischen Fürsten Pixodaros zu.34 Als Alexander von dem Plan erfuhr, warb er ebenfalls um die Prinzessin, was sein Vater jedoch hintertrieb. Diese ungebetene und überaus unüberlegte Einmischung vereitelte schließlich die dynastische Anbindung Kariens an Makedonien und damit einen wichtigen Teil der Strategie Philipps II. Der Vater zeigte sich verärgert über die törichte und kontraproduktive Haltung seines Sohnes und maßregelte ihn, indem er die in diese Angelegenheit involvierten Helfer seines Sohnes ins Exil schickte, darunter den bekannten griechischen Schauspieler Thessalos, der als Ehevermittler agiert hatte.35 Über Alexanders Absichten kann man nur mutmaßen. Möglicherweise wollte er sich nicht durch die Verbindung mit einer Herrscherfamilie aus Kleinasien von seinem Bruder übertrumpfen lassen, vielleicht wollte er seine eigene Hausmacht stärken und gleichzeitig einen Beweis für seine politische Unabhängigkeit erbringen. Jedenfalls trug die Angelegenheit dazu bei, den latenten Konflikt zwischen König und Thronanwärter zu verschärfen. Alexanders Ansehen wurde durch diese hastig inszenierte Aktion nachhaltig beschädigt.

Hinsichtlich seiner Anwartschaft auf den makedonischen Thron überstürzten sich die Ereignisse. Zwar galt Alexander nach wie vor als der aussichtsreichste Kandidat, aber als sein Vater im Frühjahr des Jahres 337 die junge Makedonin Kleopatra ehelichte, die damals bereits schwanger war und bald darauf eine Tochter, Europe36, gebar, entbrannte die Diskussion um die Nachfolgefrage mit einer bisher unbekannten Heftigkeit.37 Ein unter Alkoholeinfluss entstandenes Wortgefecht zwischen Attalos, Kleopatras Onkel, und Alexander bei den Hochzeitsfeierlichkeiten lieferte den Anlass dazu. Attalos soll auf die zu erwartende Nachkommenschaft von Kleopatra und Philipp II. angestoßen haben, indem er einen rein makedonischen Thronerben hochleben ließ. Dies empfand Alexander als direkten Angriff auf seine Thronansprüche, als ob er ein unwürdiger Bastard sei. Darüber kam es zum Streit, der sich zu einer Krise innerhalb des Königshauses ausweitete.38

Der Vorwurf der halbmakedonischen Herkunft Alexanders dürfte nicht ausschlaggebend gewesen sein, da kaum anzunehmen ist, dass sein Vater sich von Dritten hätte vorschreiben lassen, wen er als Nachfolger designieren würde, ganz zu schweigen von Philipps II. eigener Herkunft, die ebenso wenig rein makedonisch war.39 Es ging vielmehr um die souveräne Handlungsvollmacht des Königs, um den Einfluss des makedonischen Adels sowie um die Festigung politischer Bündnisse angesichts des bevorstehenden asiatischen Feldzugs. Offenbar konnte Philipp II. auf die Zusammenarbeit mit der von Attalos vertretenen Gruppierung nicht verzichten, und so schlug er sich auf dessen Seite. Diese Vorkommnisse belegen, welchen Einfluss die Militärelite auf die Leitlinien der makedonischen Politik ausübte und welche Rücksichten selbst ein so starker König wie Philipp II. nehmen musste, um weit gespannte außenpolitische Projekte realisieren zu können.

Als Reaktion auf den Zwischenfall begaben sich Alexander, der dabei von einigen Gefährten wie Harpalos, Laomedon, Erigyios und Ptolemaios begleitet wurde40, sowie seine Mutter, die sich am makedonischen Hof deplatziert fühlte, außer Landes. Olympias reiste an den Hof ihres Bruders nach Epeiros. Alexander, der sie zunächst dorthin begleitete, ging dann nach Illyrien.41 Die getrennten Aufenthaltsorte von Mutter und Sohn müssen als Zeichen für die Selbstständigkeit Alexanders gewertet werden, der sich damit vom Einfluss Olympias’ befreite und für die Zukunft zu verstehen gab, dass er politische Grundsatzfragen bar jeder Sentimentalität behandelt wissen wollte. Ein Verbleiben bei der mit dem König heillos zerstrittenen Mutter hätte eine Aussöhnung zwischen Vater und Sohn enorm erschwert, an der beide Seiten, trotz der Vorkommnisse, ein Interesse haben mussten.42

Alexander verweilte nicht lange im illyrischen Exil. Bald kam es durch die Vermittlung des Korinthers Demaratos43 zur Beilegung des in der griechischen Öffentlichkeit angesichts des bevorstehenden Persienzuges unpopulären Familienzwistes. Der hochgehandelte Thronanwärter, der von Philipp II. Zusicherungen hinsichtlich der Nachfolgefrage erhalten haben dürfte, kehrte im Frühjahr 336 nach Pella zurück.44 Nicht nur Alexander hatte ein vitales Interesse an einem Ausgleich mit seinem Vater, auch dieser konnte sich angesichts seiner vermutlich längeren Abwesenheit von Makedonien keine schwelende Krise im eigenen Haus leisten. Die Versöhnung war daher ein Gebot der Staatsräson. Ob aber mit Alexanders Rückkehr das getrübte Vater-Sohn-Verhältnis sich substantiell verbessert hat, ist fraglich. Es war eine äußerst schwierige Zeit für den ambitionierten Thronprätendenten, der miterleben musste, wie sich um die Verwandtschaft der neuen Frau seines Vaters eine gegen ihn gerichtete politische Gruppierung sammelte45, die seinen Anspruch auf das Erbe Philipps II. hintertrieb.

Alexanders Chancen auf den Königsthron hingen von der Unterstützung der makedonischen Kriegerelite und vom Wohlwollen seines Vaters ab. Dieser hatte aus Gründen der politischen Vernunft zwar seine Rückkehr in die Heimat ermöglicht, aber er konnte ihm jederzeit seine Gunst entziehen. Wie geschickt Philipp II. auf der politischen Bühne Makedoniens und Griechenlands agierte, zeigt die angebahnte eheliche Verbindung zwischen seiner Tochter Kleopatra und dem von ihm auf dem epeirotischen Thron eingesetzten Alexander, Olympias’ jüngerem Bruder, womit er sich auf Dauer den Beistand des benachbarten Epeiros sicherte und gleichzeitig den Einfluss seiner verstoßenen Frau Olympias beschnitt.46 Die zunehmende Isolierung, in die Alexander zu geraten drohte, dürfte der Grund gewesen sein, um die Tochter des karischen Fürsten Pixodaros zu werben, wogegen Philipp II. allerdings strikt einschritt. Damit maßregelte er nicht nur seinen allzu eigenmächtigen Sohn, sondern zeigte ihm die Grenzen seiner Kompetenzen auf. Es war eine überaus bittere Lehre für Alexander gewesen, die ihm schlagartig die Labilität seiner Position verdeutlichte. Einige Vertreter der makedonischen Aristokratie gingen auf Distanz zu ihm.

In dieser Zeit rückten Attalos und Parmenion, zwei prominente Mitglieder der Militärelite, durch eine Politik der Heiratsstiftung zwischen beiden Familien näher zusammen. Die von ihnen befehligten Truppen stellten das Rückgrat der Armee für den Persienfeldzug. Philipps II. Haltung in dem latenten Streit zwischen Attalos und Alexander scheint auf Beschwichtigung ausgerichtet gewesen zu sein. Einerseits bediente er sich weiterhin der beachtlichen Talente seines Sohnes, andererseits ließ er seine Opponenten frei gewähren. Attalos, der Onkel von Philipps II. neuer Frau Eurydike Kleopatra, genoss nach wie vor das Vertrauen des Königs, denn er erhielt ein wichtiges Kommando in Kleinasien, wo er zusammen mit Parmenion den makedonischen Vortrupp im Frühjahr des Jahres 336 anführte.47

Möglicherweise versuchte Alexander damals, sich ein Gegengewicht zu verschaffen, indem er engere Beziehungen zu Antipater knüpfte, der ihm seit dem gemeinsamen Aufenthalt in Athen bestens bekannt war. Dieser herausragende Vertreter der makedonischen Aristokratie sollte ihm bei seiner bevorstehenden Thronbesteigung unschätzbare Dienste erweisen.48

Alexander der Große

Подняться наверх