Читать книгу Perry Rhodan Neo Paket 24 - Perry Rhodan - Страница 48
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Das Intarsium
Sud musste sich zusammenreißen, um nicht emotional zu werden. Auch wenn Thora Rhodan da Zoltrals Implantat das Komholo für andere uneinsehbar direkt auf die Netzhaut der Arkonidin projizierte, ging die Sicherheit vor. Die Druuwen durften nicht wissen, wie viel potenziellen Widerstand es gegen die Piraten an Bord gab – und Sud war eine der Keimzellen des Widerstands, da sie sich mittels ihrer Paragabe erfolgreich gegen die Mentalkontrolle durch den Halteparasiten hatte wehren können. Soweit Sud wusste, überwachten die Druuwen die Krankenstation nicht. Sie verließen sich fast blind auf den Halteparasiten. Dennoch war es besser, vorsichtig zu sein.
»Es ist ...«, setzte Sud neu an. »Sein Zustand verschlechtert sich. Die Konzentration der Flocken aus Dunkelleben in seinem Gehirn hat zugenommen. Dass die Blut-Hirn-Schranke vermehrt durchbrochen wird, macht mir Sorgen. Deshalb bitte ich dich, die Sonderbehandlung zu genehmigen, die wir bereits besprochen haben.« Diese Genehmigung war nicht notwendig, doch sie formell anzufordern, war ein Weg, um Thora zu informieren und die Druuwen zu täuschen, falls das Gespräch doch belauscht werden sollte. Schließlich brauchte Sud für jedes Gespräch mit der Schiffskommandantin einen guten Grund.
»Tu, was nötig ist«, beschied Thora. Sie behielt einen neutralen, beinahe monotonen Stimmmodus bei, als stünde sie unter der Kontrolle des Halteparasiten.
Sud nickte. Sie nutzte die Verbindung, um Thora ein Bild von Merkosh zu zeigen. Der zwei Meter lange Oproner ruhte auf einer Behandlungsliege in einem Isolationsbereich der Medostation. Sein schlaksiger Körper wirkte gläsern, als sei er aus Kristall gefertigt. Die Organe zeigten sich wie die Strukturen im Innern einer Qualle. Die großen, dunkelgrünen Augen standen weit offen. Wie von Moos überzogene Steine lagen sie im kristallklaren Bach von Merkoshs spindeldürrem Körper, ohne die Welt über sich wahrnehmen zu können.
Merkosh hatte die Lippen zu einem Rüssel ausgestülpt. Sie bewegten sich sacht, schienen etwas wispern zu wollen. Mehrfach hatte Sud versucht, es zu verstehen, doch es waren nur unzusammenhängende Laute, keine Sprache, die einen Sinn ergeben hätte.
Thoras Blick verriet Sud, dass die Kommandantin verstanden hatte. Sud beendete die Verbindung. Eigentlich hatte sie erwartet, sich nach Thoras Zustimmung besser zu fühlen, doch das Gegenteil war der Fall. Merkosh veränderte sich, wurde immer durchsichtiger – mit Ausnahme der pechschwarzen Gehirnsektoren und der Augen, die dunklen, toten Fremdkörpern gleich im kugelrunden Kopf lagen. Schwarze Partikel trieben wie langsam sinkende, winzige Schneekristalle durch den Rumpf, die sechsgliedrigen Arme und Beine. Sie folgten dem Blutkreislauf, bildeten ein Geflecht, das jedoch nicht einfach im glasklaren Blut der Venen und Arterien schwamm, sondern sich an einigen Stellen konzentrierte. Besonders in Brust und Hals verdichteten sich die winzigen Flocken, als lauerten sie darauf, ins Gehirn einfallen zu können und es noch finsterer einzufärben, um endlich doch Einfluss auf die essenziellen Vitalfunktionen zu nehmen.
Bisher zeigte sich Merkosh erstaunlich stabil für jemanden, der sich mit Dunkelleben infiziert hatte.
Es lag allein an Sud, ob sie diesen beängstigenden pathologischen Effekt aufhalten konnte oder nicht. Sie musste ihre heilenden Kräfte einsetzen. Je länger der sonderbare Zustand andauerte, desto mehr setzte er Merkosh zu. Der Oproner schlief viel, und wenn er zu sich kam, wollte er Dinge an sich reißen, um sie gegen seine Haut zu drücken. Selbst in diesem Moment, in einer Art Betäubung, verstärkt durch das Gel aus seinem Vitron, griff eine der beiden Hände träge nach einem schwebenden, faustgroßen Medoroboter. Er wollte die Maschine an sich heranziehen und sie sich trotz ihres kläglichen Protestgepiepes gegen die Brust pressen. Die Schwimmhäute zwischen seinen Fingern schienen sich an dem fliegenden Gerät festzusaugen.
Sud nahm Merkosh vorsichtig, aber bestimmt, die Maschine ab und entließ sie wieder in die Freiheit. Der Oproner jedoch gab nicht auf und versuchte, eine von Suds langen, schwarzen Haarsträhnen zu erwischen.
»Lassen Sie es gut sein, Sie alter Kleptomane«, murmelte Sud und legte Merkoshs Hand beiseite. Sie hoffte, dass sie den Oproner nicht mit einem Fesselfeld ruhigstellen musste.
Wie einen Schleier legte die Erinnerung ihr ein anderes Bild über den dürren, überlangen Körper des Außerirdischen: das Situativ der Meister der Insel, in dem einst sie gelegen hatte, hilflos, dem Tod näher als dem Leben und von Fesselfeldern gehalten. Um zu Sud zu werden, hatte sie einiges durchmachen müssen. Sie wusste, was es hieß, wenn der eigene Körper plötzlich fremd war, der Verstand nicht mehr einem selbst gehörte und das, was einen ausmachte, zu zerreißen drohte.
Ob Merkosh gerade Ähnliches durchlitt? Was da in seinem Körper vor sich ging, machte Sud ratlos, und das nicht nur aus der Sicht der Medizinerin.
Merkosh verwandelte sich mehr und mehr in ein Fenster: ein Fenster, hinter dem ein fremdes Land lag, voller schwarzem Schnee, Rätseln und Wundern. Ein Zauberreich, wie Sud es aus Märchen kannte. Wie gern wäre Sud geflohen, durch dieses Fenster hinein in die andere Welt. Und war es nicht das, was sie seit Stunden tat?
Die CREST II war von Piraten gekapert, doch Sud kannte primär eine Aufgabe: Merkosh. Ihr Patient ging vor, lenkte sie ab von der verzweifelten Situation, in die sie geraten war, und von dem grausamen Schicksal, das der Besatzung auf dieser Laborwelt drohen mochte, auf der sie gerade gelandet waren.
Perry konnte entkommen, dachte Sud. Er wird uns nicht im Stich lassen. Wir finden eine Lösung. Und bis dahin konzentriere ich mich auf meine Arbeit.
Sud hatte gesehen, wie es den Phygen auf jenem Planeten ergangen war, auf den es die CREST II nach einer missglückten Transition verschlagen hatte. Jeden Gedanken konnten die Planetarier bloß noch bis zur Hälfte denken. Ihre Körper waren gallertartig geworden, durchsichtige Schatten ihrer selbst. Sie waren zu primitiven, ihren Fresstrieben ausgelieferten Tieren geworden, die sich nur in Fetzen an das erinnern konnten, was sie einst ausgemacht hatte. Die vergessenen Kreaturen von Xot.
Sud hatte durch historische Aufzeichnungen der Phygen, die sie in Datenkristallen überliefert hatten, detailliert erfahren, wie aus einer einst stolzen, künstlerischen Bevölkerung Schatten geworden waren, die vernichten mussten, was sie umgab. Ein Leben, das keins war: ein Dunkelleben. Sie wollte nicht, dass Merkosh eine ähnliche Wandlung durchlitt, sich mehr und mehr verlor, bis er zu einer Art Oproner-Phyge wurde, der sich rastlos Dinge einverleibte, ohne Sinn und Verstand.
»Das soll nicht dein Schicksal sein«, flüsterte Sud. »Ich werde das verhindern.«
Sie schloss die Augen, sammelte sich. Sie war Sue Mirafiore, eine Parabegabte mit Heilkräften; und sie war Sid González, ebenfalls Parabegabter, ein Teleporter. Beide Anteile waren in ihr, trieben in ihrem Sein wie der schwarze Schnee durch Merkoshs Körper in einem stabilen Mischzustand. Dabei war sie sowohl Sue als auch Sid – und noch so viel mehr. Um Sue und Sid zu vereinen, sie beide zu tragen, hatte sie größer werden müssen als die zwei, die einander einst geliebt hatten. Ironischerweise meinte Sud manchmal gerade deswegen, beide verloren zu haben, denn sie war sowohl er/sie als auch keiner der beiden. Mal dachte sie von sich als »sie«, mal als »er«, doch letztlich spielte das keine Rolle. Sie war ein Mentamalgam und damit etwas, das sich mit Worten nicht fassen ließ.
Sud spürte, wie sich ihre Finger durch Sids Gabe auflösten, als sie die Kuppen auf Merkoshs Stirn legte. Der Oproner machte einen Laut, der wie eine Mischung aus Grunzen und Seufzen klang. Sein Rüssel zog sich ein Stück weit ein.
Mit geschlossenen Augen konzentrierte sich Sud auf die körpereigenen Prozesse des Außerirdischen, versuchte eins mit ihnen zu werden. Doch obwohl ihre Finger mit Merkosh verschmolzen waren, gelang es ihr nicht. Die dunklen Partikel in Merkoshs Leib wirbelten auf, als wehe ein unsichtbarer Wind. Suds Schläfe pochte. Sie spürte das Intarsium, jenes Stück exotisches Metall aus Halaton und anderen Bestandteilen, das bei ihrem Erwachen im Situativ mit ihr verschmolzen war.
Das Intarsium, das sich normalerweise wie ein Teil ihres Gesichts anfühlte, veränderte sich. Es wurde wärmer, schien in Bewegung zu geraten, als wolle es davonfließen. Beiläufig blickte Sud nach oben, in ein Spiegelfeld, das sie, Merkosh und den kleinen Isolationsraum in der Medostation wiedergab. Der Eindruck war subjektiv. Das Stück rot schillerndes Metall saß nach wie vor an Ort und Stelle, unverändert und unveränderlich. Das, was sich träge in ihrem Gesicht bewegte, war der durch das Metall kupferfarbene Halteparasit, als wolle sich das Myzel dagegen aufbäumen, auf Sud keine Wirkung zu haben. Doch auch der Parasit kam rasch wieder zum Stillstand.
Sud griff mental nach den schwarzen Flocken in Merkosh. Sie versuchte, mehr über ihre Natur herauszufinden, um ihr wildes Treiben besänftigen zu können. Sie wusste, dass es kein infektiöses Dunkelleben war, und das beruhigte sie. Was sie dagegen beunruhigte, war, dass sich ihr die Informationen entzogen, die sie suchte. Es war, als sei der Vorgang, dem Merkosh ausgesetzt war, transparent wie sein Leib. Was auch immer Merkosh durchmachte – Sud kam nicht heran! Sie stand vor einer geschlossenen Glaskugel ohne Eingang. Glatte, geschliffene Wände stießen sie ab.
Der Schmerz in der Schläfe nahm zu, zog sich über den Kopf. Sie meinte, eine Stimme zu hören. »Lass ihn liegen! Er muss das selbst machen.« Sids Stimme.
»Wir müssen ihm helfen!« Das war Sue.
Sud brach der Schweiß aus. Sie fühlte sich in den Flocken umhergewirbelt, drohte sich zu verlieren. Es gab kein Halten mehr, und je mehr sie versuchte, das Treiben zu beruhigen, desto heftiger blies der unsichtbare Wind.
Wer bin ich?, dachte sie verwirrt. Schon lange hatte sie keine derart klare Einzelwahrnehmung von Sue und Sid mehr gehabt. Der plötzliche Rückfall irritierte sie.
»Zieh endlich die Finger da raus!«, rief Sid.
Sud war, als schlüge ihr jemand auf die Fingerkuppen. Sie zuckte zusammen, nahm die Hände zurück – kaum hatte sie das getan, beruhigten sich die Flocken in Merkosh. Das Treiben nahm ab, die Partikel bewegten sich langsamer, wie in einem Fluss, der nach einer Reihe von Stromschnellen unvermittelt ruhiger wurde. Der Schmerz im Intarsium dagegen explodierte förmlich.
»Du hast ihn im Stich gelassen!«, rief Sue, ihre innere Sue, die sich anfühlte wie eine Fremde. Etwas an ihr war kalt wie flüssiger Stickstoff.
Sud taumelte zurück, von der Medoliege fort. War sie Sue oder Sid? Er oder Sie? Es?
Vor ihren Augen tanzten Flocken. Schwarze Flocken. Sie breiteten sich aus, begruben Sud wie eisiger Schnee. Das Intarsium, das zunächst warm geworden war, kühlte nun rasend schnell ab, als hätte es jemand in die frostige Atmosphäre eines Gasplaneten geworfen. Es zog sich zusammen. Die Kälte wurde zu Eis, das sich in Sud hineinfraß.
Ihr Blick glitt hinauf, zum Spiegel, und sie erkannte Eisblumen, die sich über das Metall zogen. Glitzernder Raureif malte Miniaturfarne, die wie winzige Kunstwerke ineinanderwuchsen.
Die Welt drehte sich, über Sud wankte das Spiegelbild, doch sie schaffte es, nach einem tragbaren Medoscanner zu greifen und den Messfühler an das Intarsium zu halten. Sie ließ die Hand sinken, versuchte, das Ergebnis auf dem holografischen Anzeigefeld abzulesen.
Der Schreck, der sie durchfuhr, war kalt wie die Winterlandschaft in ihrem Innern: Das war kein subjektiver Eindruck und schon gar keine Einbildung! Sie hatte es Schwarz auf Grün vor sich: Etwas hatte ihr gerade Unmengen an Körperenergie geraubt! Das Geschehen war messbar, und das auf Aratechnik basierende Gerät in der zitternden Hand machte es auch sichtbar. Aus verschiedenen Hirnarealen war ihr Energie entzogen worden. Ein solcher Vorgang konnte sie in Lebensgefahr bringen.
Sud schauderte. Zum Glück bildeten sich die Eisblumen rasch zurück. Die Kälte ließ allmählich nach. Auch Merkosh schien es besser zu gehen. Die Flocken hatten sich vollständig beruhigt, waren träger denn je. Sie wogten in Brust und Hals gemächlich in ihren dünnen Bahnen auf und ab.
Sud wandte ihre Heilkräfte auf sich selbst an, stabilisierte die Normalisierung. Es war ein wohltuendes Gefühl. Der Eindruck, innerlich gespalten und zerrissen zu werden, schmolz wie Schnee in der Sonne. Sie war Sud. Die Stimmen von Sue und Sid verblassten bereits in ihrer Erinnerung.
»Zum Teufel!«, murmelte Sud, obwohl sie weder an den noch an die Hölle glaubte. Nun, da es ihr wieder besser ging, ärgerte sie sich. Sie hatte Merkoshs Behandlung abbrechen müssen, denn sie hätte sonst sowohl sich als auch ihn gefährdet. Vor allem: Geholfen hatte sie Merkosh ganz offensichtlich nicht.
Aber die Behandlung hat in mir etwas ausgelöst, dachte sie. Auch wenn die Stimmen von Sue und Sid schwiegen – Sud war unsicher, ob es wirklich vorbei war. Ihr schien, als wären Sue und Sid die Rahmenbalken einer Tür, die sich einen Spaltbreit geöffnet hatte. Dahinter lag etwas ganz anderes. Etwas, das zu ihr vordringen wollte. Noch gelang es dem Etwas nicht, diese Tür aufzustoßen, weil es zu schwach war. Doch es war da und wartete darauf, stärker zu werden.
»Großartig«, stöhnte sie, während Merkosh sich mit ausdrucksloser Miene das Messgerät schnappte und es an seiner Brust rieb. Sud nahm es ihm ab, ehe die teils starken pH-Werte seiner Haut es beschädigten. »Als ob wir nicht schon genug Probleme hätten.«
Erschrocken biss sie sich auf die Lippen. Auch wenn das die Krankenstation und ein Isolationsbereich war – sie durfte sich nicht gehen lassen. Sie musste jederzeit mit Überwachung und Kontrollen rechnen.
Es fiel schwer, still zu bleiben. Sie hatte Angst. Noch immer war da ein Gefühl von Kälte im Schläfenbereich. Auch wenn sich der Raureif zurückgebildet hatte und die Reste der Eisblumen nach und nach verblassten, war das ein Grund zur Sorge. Eiskaltes Metall im Kopf zu haben, konnte zu Erfrierungen führen. Noch fiel es Sud leicht, den Effekt mithilfe ihrer Heilgabe abzumildern, doch ihre Kräfte standen nicht unbegrenzt zur Verfügung, und sie hatte bereits erhebliche Mengen Psi-Energie eingesetzt, um Merkosh zu helfen und sich selbst zu stabilisieren.
»Sud ...«, flüsterte Merkosh. Er starrte sie aus zwei schwarzen, algenüberzogenen Seen an, die keinen Grund kannten. »Sie ... Sie müssen die Zeichen lesen ...« Unkoordiniert zuckte er mit den Armen, verdrehte die Gelenke, als wolle er einen Knoten hineinmachen.
Sud trat zu ihm an die weiße Medoliege. Sie musste nicht lange warten, um zu erkennen, worauf Merkosh mit seinen Verrenkungen deuten wollte: In seiner Brust tanzten die schwarzen Flocken. Ähnlich wie die Eiskristalle auf dem Intarsium farnartige Strukturen ausgebildet hatten, wuchsen nun die Partikel aus Dunkelleben zusammen und bildeten etwas Neues. Eine Mischung aus Symbolen und Glyphen entstand. Sie erinnerten Sud an Zeichen, die man den Maya zuschrieb, doch es waren definitiv keine irdischen Chiffren. Sud konnte sie nicht deuten.
Merkoshs Rüssellippen bewegten sich. Aus ihnen kam ein gepulstes Summen, das sich rhythmisch wiederholte. Sud kam näher, legte ihr Ohr dicht über Merkoshs Mund – nein ... Eigentlich war da kein Laut. Das gepulste Summen kam aus der Luft, aus dem Raum, war überall ringsum und schloss sie ein wie ein Gefängnis.
Die Laute klangen drängend, wollten eine Botschaft vermitteln, genau wie die Zeichen in Merkoshs Hals- und Brustbereich. Aber was sie hörte und sah, ergab keinen Sinn.
»Hast du zu lesen verlernt?«, spottete Sid freundlich.
Sud fuhr zurück, schlug sich die Hände vor die Ohren, doch das Summen blieb! Es musste in ihr sein.
»Spieglein, Spieglein an der Wand ...«, flüsterte Sue. »Wer ist die schlaueste Ärztin im Land?«
Wie unter Zwang hob Sud den Kopf, betrachtete das Intarsium im eingeschalteten Spiegelfeld an der Decke. Unter dem Myzel des Halteparasiten löste sich ein winziger Teil des Metalls auf. Ein Tropfen bildete sich, lief – der Schwerkraft zum Trotz! – senkrecht nach oben und verschwand in einer Schnittstelle, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Die Schnittstelle schwebte als transparentes Hologramm in der Luft, wirkte wie eine Mischung aus altmodischen USB- und Audioanschlüssen.
Wieder bildeten sich rätselhafte Symbole in Merkoshs Leib, noch fremder als die, die sich der Oproner üblicherweise auf die Haut zeichnete. Sie schwammen dunklen Fischen gleich durch Arme und Beine.
Sud hob ihr Handgelenk, nutzte das Multifunktionsarmband, um eine Aufzeichnung des Geschehens anzufertigen. Im Hintergrund hörte sie den Brummton, der von überall zugleich zu kommen schien.
Sie atmete durch, ließ die Aufzeichnung zurücklaufen und tippte auf Start: Da war kein Ton. Es gab auch keine in der Luft schwebende Schnittstelle. Und da waren auch keine Signale oder Zeichen in Merkoshs glasartigem Körper, die durch nahezu unsichtbare Arme und Beine huschten. Alles, was Sud erkennen konnte, waren die schwarzen Flocken, die gemächlich vor sich hin wanderten, als hätten sie die Zeit für sich gepachtet.
»Aufschlussreich«, stellte Sud fest.
Sie war Ärztin. Sie würde sich nicht von pathologischen Prozessen innerhalb ihres Kopfs zum Narren halten lassen. Jedenfalls nicht, solange sie noch in der Lage war, zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. »CP-Sieben!«
Der schwebende Medoroboter, der zuvor nur dank ihrer Hilfe Merkoshs Kleptomanie entgangen war, flog an ihre Seite. Ein grünes Blinken huschte über den diskusförmigen Körper, das Bereitschaft signalisierte.
»An die Arbeit!«, befahl Sud. »Wir machen jetzt ein paar Hirnscans!«
Sich selbst medizinisch zu untersuchen, war immer wieder eine sonderbare Angelegenheit für Sud. Doch wenigstens wusste sie, dass sie gründlich analysiert werden würde und in den besten Händen war.
Ihr Blick glitt zu Merkosh, der in seinem benebelten Zustand gerade versuchte, an einen Schreibstift heranzukommen, der in einer Tasche von Suds Arztkleidung steckte, um ihn in seiner Haut verschwinden zu lassen.
»Fesselfelder«, murmelte sie. »Auch wenn es mir nicht leichtfällt.«
Sie ordnete die vorübergehende Fixierung des Patienten auf der Medoliege an, bis Merkosh wieder in der eigens für ihn gesicherten Isoliereinheit lag, die verhindern sollte, dass er Dinge aus dem Raumschiff stahl. Außer ihr war niemand da, der bei klarem Verstand gewesen wäre, deshalb zog sie es vor, derzeit ganz allein Dienst in der Quarantänezone der Medostation zu tun. Wenigstens war es tröstlich, dass man sich in den anderen Abteilungen auch um die wenigen sonstigen Patienten gut kümmerte. Das unterband der Halteparasit nicht. Und im Notfall blieb ihr Drogan Steflov, der dank einer ganzen Reihe fragwürdiger Präparate dem Pilz Paroli bot, nachdem die parapsychische Behandlung durch Sud ihm den nötigen Freiraum verschafft hatte.
Sud ging in einen angrenzenden Raum, der bis auf eine Untersuchungsliege leer war. Sie programmierte eine Durchmusterungsreihenfolge, die Klarheit über ihre Hirntätigkeit bringen sollte. Anhand der dreidimensionalen Aufnahmen und Messwerte würde sie erkennen können, ob sie derzeit an visuellen und akustischen Halluzinationen litt.
»Cool bleiben«, sagte Sid. »Bleib immer cool. Hast du nie auf der Straße gelebt? Wenn sie deine Schwäche riechen, zerreißen sie dich.«
»Ich bin bei dir«, sagte Sue. »Ich war immer bei dir, weißt du? Ich lasse dich nie allein.«
Sud ignorierte beide Stimmen. Sie legte sich auf die Pritsche und ließ – vom Medoroboter überwacht – die Messreihe anlaufen.
Das Intarsium kribbelte unangenehm. Noch immer war es kühl. Kam das Brummen vielleicht von ihm?
Es dauerte quälend lang, bis die Durchleuchtung abgeschlossen war und Sud wieder aufstehen konnte. Objektiv waren es drei Minuten gewesen – subjektiv drei Stunden! Und noch länger dauerte es, bis sich Sud endlich die Ergebnisse im Holo anschauen durfte.
Die Scans enthüllten eine ungewöhnliche Aktivität in den Gehirnarealen, die für die optische und akustische Signalverarbeitung zuständig waren. Der Okzipitallappen lief auf Hochtouren. Offenbar reizte das in der Schläfe sitzende Intarsium den Sehnerv und vielleicht sogar die Netzhaut.
Sud analysierte die Bilder, die zeigten, wie stark das Intarsium mit ihrem Gehirn verwoben war. Das Metallstück verfügte über weiche, wie zarte Wellen geformte Wurzeln, die einem Pilzmyzel gleich in die Tiefen des Zerebrums vorstießen. Die rötlichen Ausläufer durchdrangen die oberen Windungen des Frontal- und Temporallappens ebenso wie das Wernicke-Zentrum und andere Brodmann-Areale. Einige waren derart fein, dass Sud sie in der vorliegenden Auflösung kaum erkennen konnte. Sie reichten bis zur Sehrinde.
Eben wegen dieser Vernetzung hatte Sud nie einen Versuch unternommen, das Intarsium entfernen zu lassen. Die Verbindungen waren zu verästelt, die Folgen einer Operation wären unabsehbar.
Auch im Gyri temporales, dem primären Hörzentrum, gab es mehr Aktivitäten, als es dort derzeit geben sollte.
Der Kontakt mit Merkosh hatte offensichtlich etwas im Intarsium ausgelöst. Das war sowohl beunruhigend als auch überraschend. Das Intarsium war lange Zeit praktisch inaktiv gewesen, unauffällig. An manchen Tagen hatte Sud es schlicht vergessen können. Nun meldete es sich mit wehenden Fahnen zurück, und die vielen Auswirkungen ließen Sud den Hals und die Brust eng werden. Sie kam sich verletzlich vor – angreifbar.
Lag es an der Zusammenwirkung mit dem Halteparasiten? Für diese Hypothese gab es vorerst keine Beweise.
»Das Wesentliche!«, sagte sie laut. »Ich muss mich um das Wesentliche kümmern.«
Sie zwang sich, die erstellten Hologramme nüchtern zu betrachten, als wären es die eines Patienten. In routinierter Weise entwarf sie einen Medikationsplan, wies CP-7 an, die entsprechenden Mittel zusammenzustellen. Die erste Kombination aus speziell aufgewertetem Benzyl-Prosponol und Amisulpran, einem von Aras entwickelten Neuroleptikum, nahm sie sich selbst aus dem Medikamentenvorrat der Krankenstation und füllte sie in einen daumengroßen Injektor. Sie setzte das röhrenförmige Gerät über dem Ärmel an. Eine Signalleuchte wechselte von Orange auf Grün, wobei ein feiner Ton erklang – Sud löste die Hochdruckspritze aus.
Schon Minuten später fühlte sie sich besser. Der Brummton verschwand, und in Merkoshs Brust herrschte das gewöhnliche Treiben. Trotzdem würde sie Steflov kontaktieren und ihn über die Vorfälle in Kenntnis setzen. Manchmal war es sehr praktisch, einen guten Freund zu haben, der zugleich Chefmediziner war.
Was mit ihr geschah, war höchst beunruhigend. Im schlimmsten Fall mochte sie sich mit etwas infiziert haben, das sie überhaupt noch nicht abschätzen konnte. Sud entschied, sich erneut bei Thora zu melden – und ihr mitzuteilen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, wenngleich Sud noch nicht mit Sicherheit sagen konnte, was hinter dem Ganzen steckte.
Sie stellte eine Verbindung zur Zentrale her.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte die Kommandantin in der bereits gewohnten, schlafwandlerischen Art, die Sud an einen Zombie erinnerte.
»Ja. Leider kann ich keinen Erfolg melden. Die Behandlung musste abgebrochen werden. Es gab Probleme.«
»Probleme welcher Art?«, hakte Thora nach.
»Noch undefinierbarer Art. Ich bin dabei, Genaueres herauszufinden, und erstatte später Bericht.« Unauffällig deutete Sud dabei auf ihr Intarsium.
Thora kniff die roten Augen zusammen, nickte. Sie hatte verstanden, dass es etwas mit Suds Intarsium zu tun hatte. »Halte mich auf dem Laufenden. Kommandantin Ende.«
Schwere Schritte näherten sich draußen auf dem Flur. Ein Klappern und Klimpern begleitete sie, wie es die zahlreichen Anhängsel an den Druuwenschutzanzügen verursachten. Sud fuhr herum, als ein Medoassistent zusammen mit zwei hochgewachsenen Druuwen in roten, rüstungsähnlichen Monturen eintrat. Die Visiere ihrer Helme waren transparent geschaltet, sodass Sud die Gesichter der zwei Piraten diesmal deutlich sehen konnte. Meist waren die Helme der Druuwen undurchsichtig.
Der Assistent – Frendon Aamina – hatte die dunklen Augen weit geöffnet und starrte in eine Leere, die er wohl auch im Innern fühlte. »Sie wollen zu Merkosh«, sagte Aamina wie ein Roboter.
Sud schluckte. Sie musste sich zusammenreißen, durfte keine zu hektischen Bewegungen machen. Ganz, ganz leise war ihr, als wolle Sid wieder einen Kommentar machen. Doch sie verbot ihm den Mund.
»Wie kann ich behilflich ...«, setzte sie an, doch der große Druuwe schob sie einfach aus dem Weg.
Seine recht menschenähnliche Miene verriet, dass er wenig von Sud hielt. Sie war ihm lästig wie etwas, das beseitigt gehörte. Das dunkle Gesicht hatte kaum Geschwüre, war überraschend schön und ausdrucksstark. Man hätte dahinter den Geist eines Künstlers vermuten können. Sud meinte zu erkennen, dass er blutjung sein musste.
»Geh zur Seite!«, herrschte der zweite Druuwe Sud an. Er war deutlich älter und hatte offenbar das Sagen. Er kam Sud weiblich vor, doch bisher hatte selten jemand mit Gewissheit sagen können, ob ein Druuwe männlich oder weiblich war. Sein Gesicht war so massiv mit Geschwüren übersät, als müsste er die nahezu glatte Haut seines Untergebenen ausgleichen. »Ist der Oproner isoliert?«
»Ja«, sagte Sud.
»Das ist gut.« Der Druuwe wandte sich von ihr ab, als sei sie unwichtig geworden. Für ihn mochte sie nicht mehr sein als die zahlreichen Medogeräte oder die Behandlungsliegen.
Sud befürchtete, er würde durch die Schleuse in den Isolierraum mit Merkosh gehen, doch das tat er nicht. Beide Druuwen blieben im Vorraum wie Wachen, die einen gefährlichen Feind im Blick behalten wollten.
Was hat das nun wieder zu bedeuten?, rätselte Sud. Sie suchte sich einen Sitzplatz, stierte vor sich hin, wartete ab – und fragte sich, was sie tun sollte, falls die Druuwen gekommen waren, um Merkosh oder sie zu holen.