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2. Big Sister ist watching you und back to GDR
Оглавление„Mit der Eisenbahn gefahren sind wir schon seit vielen Jahren“ heißt es in einem arg geschüttelten Reim, den die beiden Hauptreisenden dieser Kreuz-und-Quer-Storys unter dem gemeinsamen Decknamen Artemidorful einst der staunenden Menschheit als epochalen Rocksong auftischen wollten. Darin wurde zwar nicht vom Unterwegssein gesungen, sondern Protest gegen den versuchten Börsengang der Deutschen Bahn geäußert. Aber er weist nebenbei darauf hin, welches Verkehrsmittel die beiden außer den eigenen Stelzen – manchmal mit Skiern dran – häufig benutzen. Bahnfahren ist übrigens eine besonders erlebnisreiche Form des Reisens – selbst beim Gang aufs Klo...
Das könnte übrigens eine etwas längere Story werden und mancher mag im Zeitalter der Kurzmitteilungen vor dem Lesen derselben zurückschrecken. Doch insbesondere all jene, die vorhaben mit dem Zug zu fahren, sollten sich diesem Erlebnis des Großstadtwanderers mit größter Aufmerksamkeit widmen. Schließlich müssen sie ja nicht in eine ähnlich haarsträubende Situation geraten. Dabei fängt alles ganz harmlos an – als simple Reise mit der Bahn von Cottbus nach Berlin, was ja normalerweise wenig aufregend zu sein pflegt. Diesmal aber ist vieles anders und vor allen Dingen neu.
Neu ist zunächst mal schon der Zug...
Nicht in gewohntem Rot, sondern gelb wie eine Butterblume gleitet er in den Bahnhof Cottbus. Um aber keinen allzu großen Bruch mit den rot gepinselten Vorgängerzügen zu riskieren, kommt er zwölf Minuten zu spät und die Türen gehen auch nicht sofort auf, sondern lassen erst mal ihre LED Sensoren fröhlich blinken. Nach fünf Minuten lässt das Hirn des Zuges die Passagiere gnädig einsteigen und der Großstadtwanderer vermisst sofort die gewohnt zerschlissene Atmosphäre. Doch nicht kaputte Sitze sind ja auch mal ganz angenehm und das Fehlen jenes latenten Geruchs nach etwas älterem Käse muss ja nicht gleich als Qualitätsminderung betrachtet werden.
Ja, und dann gibts da dieses Klo...
Nun mag ein solcher Ort nicht unbedingt eine schöne Ecke sein. In diesem Fall aber liegt bezüglich jeglicher Donnerbalkenassoziation eine komplette Verneinung vor. Als der Großstadtwanderer nämlich jenes Örtchen betritt, glaubt er zunächst, die falsche Tür erwischt zu haben und versehentlich im technischen Herz des Zuges oder gar in einem Raumschiff gelandet zu sein. Überall leuchten zahlreiche grüne Sensoren, deren Bedeutungen dem technisch eher unerfahrenen Großstadtwanderer weitgehend verborgen bleiben. In all dem durch blanke Spiegel noch multiplizierten Gefunkel findet er zunächst die dringend erforderliche Schüssel nicht und als er dann nach zahlreichen Tastversuchen seinen Allerwertesten endlich auf dem entsprechenden Gestell plazieren kann ertönt aus dem Off eine weibliche Stimme, die ihm mitteilt, dass dieses WC zur Zeit nicht in Betrieb ist.
Big Sister is watching you, denkt erschrocken der Großstadtwanderer und springt sofort kerzengerade von der Schüssel. Auf der Stelle geht die Spülung wie ein größerer Springbrunnen los, obwohl Big Sister schon wieder was von nicht in Betrieb faselt. Dann befiehlt sie ihm, er solle aufhören zu rauchen sonst werde die Sprenkleranlage eingeschaltet.
Nun, er ist zwar nicht am Rauchen, aber vielleicht hat Big Sister ja seine Knoblauchfahne als Qualm definiert. Voller Panik entschließt er sich daher zur sofortigen Flucht. Doch als er die Tür packt um sie zu öffnen, sagt Big Sister geduldig und nachsichtig: „Dieses WC ist zur Zeit nicht in Betrieb“. Da hilft kein heftiges Rütteln und Schütteln, denn der digitale Riegel ist ebenso wenig bereit, die Tür frei zu geben, wie sein manueller Kollege.
Gefangen in einem Kerker mit Klo und umgeben von der neuesten Technik, die gnadenlos jegliches Entkommen verweigert. Ach wie angenehm...
In dieser fast ausweglosen Situation fängt der Großstadtwanderer an zu fantasieren vom guten alten Locus ohne Big Sister Effekt. Wie in Nürnberg zu Hause bei Albrecht Dürer, wo das Klo im Schrank war und der stand in der Küche. Diese Schrankvariante hatten übrigens auch ein paar aufstrebende Schauspieler angewandt, als sie 1970 in einem alten Kreuzberger Kartoffelkeller ihr erstes Theater eröffnen wollten und die West-Berliner Behörden unbedingt nach Geschlechtern getrennte WCs verlangten. Die beiden alten Besenschränke vom Sperrmüll waren zwar ein bisschen eng und daher nur für Besucher im Hungerharkenformat geeignet. Aber den Ansprüchen der Behörden war Genüge getan und vor allem gingen die Türen nicht zu sodass man nicht eingesperrt werden konnte.
Nun gibt es Leute, die das öffentliche Verrichten solcher Geschäfte als anrüchig empfinden. Solch neurotisches Verhalten hätten die sich aber an den Fürstenhöfen der Renaissance nicht leisten können. Da ließen sich die Herrschaften bei Bedarf von den Dienern den sogenannten Kackstuhl bringen und zwar nicht an irgendein stilles Örtchen, sondern notfalls auch in den Ballsaal. Kaiser Maximilian, dieser letzte Ritter, hatte sogar Audienzen auf dem Klo sitzend abgehalten und in den üppigen Parks barocker Lustschlösser wurde normalerweise auch in die Blümchen gekackt.
Die Durchführung solcher Handlungen des täglichen Lebens hinter verriegelten Türen war einst offenbar wenig verbreitet und insbesondere die geselligen WCs der alten Römer kommen dem im Klokerker schmachtenden Großstadtwanderer vor wie das verheißene Paradies. Dort wäre er nicht einsam und allein gewesen, sondern hätte gemeinsam mit anderen Männern nicht nur sein notwendiges Geschäftchen verrichtet, sondern gleichzeitig auch noch über Geschäfte geplaudert. Heutzutage würde man so was rationelles Zeitmanagement nennen. Er hingegen muss seine wertvolle Zeit allein im Klo vergeuden und weiß noch nicht mal, ob ihn die digitale Dame mit ihrer künstlichen Intelligenz noch vor Berlin wieder raus lassen wird...
Als dann urplötzlich die Tür aufgeht, hätte der Großstadtwanderer diese Chance beinahe verpennt. Dann aber ist er wie einst der geölte Blitz draußen und rennt fast eine jüngere Frau um, die offenbar gerade rein will. Selbstverständlich warnt er sie vor dem Betreten des unheimlichen WC und sie – eindeutig mit weiblicher Vernunft ausgestattet – scheint von ihrem Vorhaben auch Abstand nehmen zu wollen. Aber sie hat einen Mann dabei und der ist nicht vernünftig, sondern ein echter Held. Todesmutig springt er durch die immer noch offene Klotür und die geht sofort zu während Big Sister ihren bekannten Spruch serviert.
Keine Angst, er wird auch wieder befreit – sogar noch vor Berlin. Doch er schwört kurz darauf, nie wieder aufs Klo zu gehen...
Einen solchen Schwur...
...kann der Großstadtwanderer allerdings nicht ablegen – ganz im Gegenteil. Schnellstens muss er das nachholen, was Big Sister mit technischer Raffinesse verhindern konnte. Schließlich solls am Ende nicht noch in die Hose gehen und daher stürzt er sich am Bahnhof Alexanderplatz die Rolltreppe hinab und hinein ins WC-Refugium. Dort gibt’s sogar eine Behindertentoilette, die der Großstadtwanderer mit seinem Euroschlüssel öffnen kann. Doch das Innere des stillen Örtchens ist im Sinne von Sehbehinderung keineswegs barrierefrei, sondern entpuppt sich als grau-weiße Hölle, in der jeder Kontrast nachdrücklich verneint wird. So wird das tastende Suchen nach der heiß ersehnten Schüssel unverhofft zum Kurzzeitabenteuer mit ungewissem Ausgang. Am Ende hilft der Geruchssinn...
Okay, scheint alles noch mal gut gegangen zu sein. Dock plötzlich wird von außen heftig an die Tür gepocht. Der Großstadtwanderer fällt fast vom Sockel, beeilt sich mit dem Geschäftsabschluss inklusive ritueller Waschung und öffnet dann vorsichtig die Tür. Draußen steht Big Sister höchstselbst und zwar im XXL-Format und gekleidet im Dress der allgemeinen Klogesellschaft. Mit besorgter Stimme fragt sie, ob alles in Ordnung sei und sie ihm eventuell behilflich sein könne. Nicht mehr nötig, antwortet der Großstadtwanderer, es sei alles schon erledigt. Aber er werde bei Gelegenheit auf ihr freundliches Angebot zurückkommen.
Good old Domklause
Nachdem nun endlich alle Geschäfte erfolgreich beendet sind, wird der Großstadtwanderer plötzlich von einem heftigen Hungergefühl geschüttelt und auch die geheimnisvolle Besucherin könnte einen Happen vertragen. Allerdings kann der Alex nicht gerade als gastronomischer Hotspot durchgehen und wer Würstchen aus dem Bauchladen oder Kreationen aus der Burgerküche verschmäht, muss einige Meter laufen. So wackeln die Beiden also Richtung Schinkeldom, in dessen Schatten das DDR-Museum unter anderem einen echten Stasiknast im Angebot hat. Außerdem gibt’s dort ein Restaurant, dass die kulinarischen Highlights der einst legendären Domklause in die heutige Zeit gerettet zu haben scheint mit solchen unvergessenen Köstlichkeiten wie Hackbraten mit Spreewaldgurken und diesem nur halb gestampften Kartoffelpüree. Dieser war, wenn man so will, eine der exzentrischen Besonderheiten der ehemaligen Domklause, die nicht nur DDR-Bürgern, sondern auch verfressenen Westberliner immer wieder einen Besuch wert waren.
Getoppt wird dieses schmackhafte Erlebnis jedoch vom Dessert, das bei der geheimnisvollen Besucherin - sie hat die Rote Grütze mit Grieß und Vanillesoße gewählt - einen echten Nostalgieschub auslöst. In dieser einmaligen Konsistenz und geschmacklichen Kombination gebe es so was heutzutage nicht mehr, teilt sie dem Großstadtwanderer begeistert mit. Der darf zur Probe einen Löffel voll kosten und ist danach durchaus bereit, die Begeisterung der geheimnisvollen Besucherin zu teilen. Er selbst hat sich allerdings für die gebackenen Apfelringe mit Himbeeren entschieden. Die sind übrigens auch jede antiasketische Sünde wert...
Nachklapp nach zwei Jahren
Nun wussten ja schon die guten alten Griechen, dass alles fließt und daher nichts bleibt wie es ist. Gut so, denn wenn es anders wäre, gebe es keinen Fortschritt. Natürlich verschwindet während dieses ständig fließenden Veränderungsprozesse auch einiges, womit allerdings nicht das bisweilen etwas gefährliche Klo in dem gelben Zug gemeint ist, der von Cottbus gen Norden rumpelt und am Berliner Alex hält. Auch die gastronomische Ödnis im Bereich dieses zentralen Platzes der Hauptstadt wurde noch nicht vom Fluss der Zeit hinweg gespült, dafür aber ausgerechnet jenes Restaurant, das sich um den Erhalt der Kochkunst aus der alten Domklause bemühte. Eine bittere Enttäuschung für die geheimnisvolle Besucherin, die zwar keine Nostalgikerin ist, aber augenblicklich gern einen deftigen und vor allem schmackhaften Happen verschlingen würde. Zum Glück weiß der Großstadtwanderer einen Ausweg per S-Bahn und der führt nach Kreuzberg in ein altes Lokal namens Stiege. Doch das ist eine andere Geschichte, die wahrscheinlich im bereits geplanten Trampelpfadbuch erscheinen wird...