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1. Von der Folter zur Verhörpsychologie

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Die moderne Kriminalistik nutzt Theorien und Verfahren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zur Aufklärung und Verhütung von Verbrechen. Sie konnte nur innerhalb eines Rechtssystems entstehen, in dem die Rekonstruktion der materiellen Wahrheit über eine Straftat die Grundlage des Urteilsspruchs war. Das wurde mit der Einführung des Inquisitionsverfahrens in die weltliche Gerichtsbarkeit durch Kaiser Friedrich II. im Jahr 1231 erreicht. Ab diesem Zeitpunkt konnten Strafverfahren auch ohne Vorliegen einer Anzeige von Privatpersonen eingeleitet werden. Das erhöhte die Effzienz im Kampf gegen Kriminalität und führte ein neues Prinzip in die Ermittlung ein. Im früheren System, dem so genannten Akkusationsverfahren, wurde die Darstellung der Prozesspartei als „wahr“ anerkannt, die sich nach den Regeln des Verfahrens durchsetzen konnte – durch entsprechend viele Zeugen, den Ausgang eines Gottesurteils etc. Die Frage nach dem tatsächlichen Hergang der Tat wurde nicht gestellt. Das änderte sich im Inquisitionsverfahren. Nun musste sich das Gericht umfassende Kenntnis von jeder Straftat verschaffen, um diese aufzuklären und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Das Dreiecksverhältnis Richter-Kläger-Beschuldigter wurde zum Dialog zwischen Richter und Angeklagtem, wobei der Richter sowohl belastendes als auch entlastendes Material sammeln sollte.

Zu einer Wahrheitserforschung im heutigen Sinn fehlten den Richtern allerdings bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts die Technologie und mehr noch die strafprozessualen Grundlagen. Das Inquisitionsverfahren hatte klare Beweisregeln, die dem Sachbeweis, d. h. den Spuren einer Tat, nur sekundäre Bedeutung zusprachen, um Irrtum und Willkür des Richters auszuschließen. Das führte zur Konzentration auf den Angeklagten bei der Aufklärung der Straftat. Die Folter war ein bevorzugtes Mittel, um den Angeklagten zum Reden zu bringen. Solange die Richter Gewalt anwenden konnten, gab es sozusagen keinen Bedarf an zusätzlichen Technologien im Sinne einer modernen Kriminalistik, um die Wahrheit zu ermitteln. Erst die Abkehr von der Folter als einem Mittel der Wahrheitsfindung im späten 18. Jahrhundert erforderte die Entwicklung neuer Technologien, mit denen man den „verstockt leugnenden“ Angeklagten überführen konnte.

An die Stelle von körperlicher Gewalt trat nun die psychologische Überwältigung in langen Verhörsitzungen, in denen der Untersuchungsrichter den Angeklagten in Widersprüche verwickelte. Die angewandte Kriminalpsychologie war geboren. Als schließlich das starre Gerüst der Beweisregeln im Strafverfahren um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufgegeben und durch die freie Beweiswürdigung des Richters ersetzt wurde, war der Weg frei für den Sachbeweis. Mit der Verfügbarkeit der entsprechenden Technologien erhielt die systematische Analyse der Spuren zur Jahrhundertwende eine zentrale Bedeutung – die wissenschaftliche Kriminalistik in ihrer heutigen Form konnte sich ausbilden.1

Dieses Kapitel wird sich auf die Folter, ihre Abschaffung und die Entstehung der Verhörpsychologie konzentrieren. Die Darstellung verfolgt die weitere Entwicklung dieser Methoden bis ins 20. Jahrhundert, in dem zur Wahrheitsfindung auch die experimentelle Psychologie in Form des Polygraphen, des so genannten Lügendetektors, eingesetzt wird.

Die Hexe und ihre Richter

Im Jahre 1670 verfing sich die 21-jährige Regina Bartholome in den Netzen der Augsburger Inquisition. Sie wurde eigentlich vor Gericht zitiert wegen der Morddrohungen, die sie gegen die frisch vermählte Frau eines Mannes ausgesprochen hatte, den sie selbst für sich begehrte. Im Laufe des Verfahrens gestand sie jedoch ein Verhältnis mit dem Teufel ein, der für sie Geliebter, Vater und Ehemann gewesen sei.

Anhand dieses Falles präsentiert die britische Historikerin Lyndal Roper ihre Einsichten über die psychologische Dynamik der Hexenprozesse – über die zwischenmenschlichen Konflikte zwischen Frauen, die sich in Fremd- und Selbstvorwürfen entluden.2 Dieser Fall ist auch für ein Verständnis des Inquisitionsverfahrens aufschlussreich. In Augsburg gab es bis dato keine massenhafte Hexenverfolgung. Es fehlte daher eine intensive Bedrohungsvorstellung, die in anderen Teilen Deutschlands die weit gehende Aufhebung von Verfahrensgrundsätzen mit sich brachte. Der Augsburger Rat führte die Untersuchung strikt nach den Regeln des Inquisitionsverfahrens, fand sich jedoch mit einem Tatbestand konfrontiert, der nur in den Vorstellungen von Richter und Angeklagten vorhanden war. Wie versuchte nun das Gericht in Augsburg die Wahrheit über die Beziehungen zwischen Regina Bartholome und dem Teufel zu ermitteln und empirisch zu überprüfen?

Im Laufe des Verfahrens bekannte Regina Bartholome, dass sie im Alter von 16 Jahren mit dem Teufel zusammengetroffen sei. Er habe wie ein Edelmann ausgesehen – in samtenen Hosen, mit Stiefeln und Sporen – und sie in einem Wirtshaus fürstlich bewirtet. Lungenwurst, Schweinebraten und Bier ließen sich die beiden alleine in der Gaststube sitzend schmecken. Außerdem gab ihr der Teufel Geld, damit sie mit ihm einen siebenjährigen Pakt schließe und ihn anstelle Gottes zum Vater annehme. Der Teufel wurde auch ihr Liebhaber und sie musste versprechen, ihm alle Kinder zu überlassen, die sie gebären würde.

In Regina Bartolomes Geständnis fehlte lange Zeit ein wesentliches Element des Hexenglaubens – der Schadenzauber. Der Tatbestand der Hexerei hatte sich seit dem Mittelalter aus den Ketzerei- und Zaubereiprozessen entwickelt, angereichert um den populären Glauben an den nächtlichen Flug durch die Luft. Die Hexerei bestand daher aus fünf Hauptpunkten: Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft, Flug durch die Luft, Teilnahme am Hexensabbat mit Teufelsanbetung und eben Schadenzauber.3 Bis zur fünften Befragung hatte die junge Hexe das Verhältnis mit dem Teufel detailliert geschildert, ohne auf diesen letzten Punkt einzugehen. Erst in der sechsten Sitzung gestand sie unter dem Eindruck der Folter, dass sie versucht hatte, zwei Häuser in Brand zu stecken, die Braut des von ihr geliebten Mannes zu vergiften und ihren Vater zu ermorden. Schließlich wies sie noch darauf hin, dass sie nackt auf Schafen geritten sei, um diese zu verderben.

Die Angeklagte brachte nun konkrete Sachverhalte in das Verfahren ein. Das Gericht nutzte diese Gelegenheit, um durch eine gezielte Befragung von Zeugen den Wahrheitsgehalt der belastenden Aussagen zu überprüfen. Die angeblichen Opfer der Brandstiftung konnten die Selbstanschuldigungen der jungen Frau ebenso wenig bestätigen wie die Schaf hirten, die nichts Auffälliges an ihren Herden wahrgenommen hatten. Selbst die junge Braut, die von Regina Bartholome mit solcher Inbrunst gehasst wurde, hatte keine Anzeichen einer möglichen Vergiftung wahrgenommen. Sie betonte jedoch, dass sie sich immer vor der Angeklagten gefürchtet hatte. Nachdem die Verifizierung dieser Selbstbeschuldigungen gescheitert war, konzentrierte sich der Rat auf die Verfolgung der jungen Frau wegen Hurerei mit dem Teufel. Dazu war sie nach eigenen Aussagen durch Lüsternheit und Geldgier verführt worden.

Die Strategien des Gerichts

Der Augsburger Rat verfolgte in seinen Befragungen der angeblichen Hexe keine Strategie der Überführung durch Suggestivfragen. Selbst die Unmöglichkeit der Verifizierung des Schadenzaubers, der ja ein wichtiger Bestandteil des damaligen Hexenglaubens war, stellte das Gericht nicht vor ein grundsätzliches Problem. Der Rat begnügte sich mit den Geständnissen der jungen Hexe, die sich auf den Teufelspakt und ihre sexuelle Beziehung mit dem Teufel bezogen und die mit dem kulturellen Wissen der Richter übereinstimmten.

Das Gericht setzte zur Ermittlung der Wahrheit unterschiedliche Strategien ein. Es drohte mit der Anwendung der Folter bzw. wandte diese tatsächlich an, kontrollierte die Aussagen der Angeklagten im Rückgriff auf das eigene Wissen über Teufel, Hexen und Dämonen und deren Wirken innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Mit der vorsichtigen Anwendung der „peinlichen Frage“ – so der zeitgenössische Ausdruck für die Folter – folgte der Augsburger Rat den strafprozessualen Vorschriften. Das war in Hexenprozessen nicht die Regel. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts setzte sich bei deutschen Juristen die Auffassung von der Hexerei als einem Ausnahmeverbrechen durch.4 Die dadurch ermöglichte Radikalisierung der Hexenverfolgung stieß auf heftigen Widerspruch, unter anderem vonseiten des Vatikans. In einer Instruktion aus dem frühen 17. Jahrhundert prangerte der Papst zahlreiche Missgriffe an, wobei er vor allem die exzessiven Folterungen und leichtfertigen Anklagen kritisierte.5

Der Augsburger Rat setzte nicht ausschließlich auf die Folter, sondern auf eine sorgfältige Befragung. Durch die wiederholte Thematisierung von entscheidenden Sachverhalten sollten Widersprüche ausgeräumt werden und die Wahrheit über die Beziehung der jungen Hexe zum Teufel ans Licht kommen. Die gemeinsam mit der Beklagten konstruierte Geschichte ihrer Teufelsbuhlschaft folgte den Konventionen der damaligen Zeit, enthielt aber auch eine Reihe von Details, die sich nicht ausschließlich auf die stereotypen Vorstellungen von Hexen und ihrem Treiben zurückführen lassen, sondern ganz individuelle Züge trugen.

Die Befürworter der Folter verstanden den körperlichen Zwang lediglich als ein Mittel, um die bestehenden Hemmungen gegenüber einem Geständnis zu überwinden. Es hatte aus ihrer Sicht keinen Einfluss auf den Inhalt des Geständnisses. Dieser Auffassung wurde bereits in der Frühen Neuzeit von kritischen Beobachtern widersprochen. Um die Verschleierung der Wahrheit durch falsche, unter körperlichen Schmerzen erzwungene Geständnisse zu vermeiden, legte die von Kaiser Karl V. erlassene Peinliche Gerichtsordnung (1532) fest, dass diese Geständnisse freiwillig und ohne Androhung der Folter wenige Tage später bestätigt werden mussten.

Der Augsburger Rat war keineswegs besessen von der Idee, Hexen aus der christlichen Gemeinschaft ausmerzen zu müssen.6 Er war sogar bereit, die Selbstbeschuldigungen von Regina Bartolome als Folge einer Geisteskrankheit zu interpretieren. Ihr Vater hatte ja zu Protokoll gegeben, dass seine Tochter „leppisch“ im Kopf, d. h. geistig etwas behindert sei. Die Richter gaben daher ein medizinisches Gutachten in Auftrag, das die volle Zurechnungsfähigkeit feststellte. Zu dieser Zeit gab es durchaus Fälle, in denen die Ärzte die Geständnisse als Ausgeburt einer melancholischen Psyche beurteilten – eine Auffassung, der sich der Rat dann auch anschloss.7 Im Fall von Regina Bartolome fanden die Ärzte zwar auch Anzeichen einer Melancholie, führten diese jedoch auf die Auswirkungen der Haft zurück.

Was veranlasste Regina Bartolome – bewusst oder unbewusst –, den Rat auf ihre Beziehung mit dem Teufel hinzuweisen, obwohl sie wusste, welche Konsequenzen ein solches Geständnis haben würde?

Lyndal Roper schreibt dem Teufel in der Geschichte der jungen Hexe eine wichtige Rolle zu: In der Figur des Teufels konnte Regina psychische Konflikte thematisieren, ihnen gleichermaßen Gestalt geben. Diese Konflikte bezogen sich auf ihre frühreifen Liebesbeziehungen zu ‚väterlichen‘ Figuren, auf die Vertreibung der Mutter aus der Stadt nach einem Ehebruch und auf ihre Schuldgefühle aufgrund der engen Beziehung zu ihrem Vater, dem sie in mancher Hinsicht die Frau ersetzen musste.

Diese Interpretation nutzt Einsichten der Psychoanalyse zur Erklärung der Hexenphantasien. Selbst wenn man einer solchen Erklärung kritisch gegenübersteht, kann man nicht leugnen, dass die Geständnisse der Hexen eine weit reichende Auflehnung gegen väterliche Autorität bedeuteten. Es war eine Missachtung der Autorität Gottes, der Obrigkeit und – im Fall der Regina Bartolome – des eigenen Vaters. Mit dieser Deutung öffnet Roper den Blick auf ein zentrales Element der frühneuzeitlichen Herrschafts- und Gerichtsordnung. Eine Straftat wurde nicht als Auf lehnung gegenüber der Gesellschaft, sondern gegenüber der bestehenden Herrschaftsordnung verstanden. Ein wesentliches Element der Strafverfolgung war die Wiederherstellung dieser Ordnung.8

Das Gericht erwartete die bedingungslose Unterwerfung der Angeklagten unter ein Ritual öffentlicher Überwältigung, mit dem sie sich der richterlichen „Gnade“ auszuliefern hatte. Damit stellte sie die Legitimationsgrundlage des Systems wieder her, das sie durch ihre Handlungen in Frage gestellt hatte. Nach dieser Unterwerfung konnte die Obrigkeit Großzügigkeit beweisen und Gnade walten lassen. Der britische Historiker Douglas Hay sieht dieses Wechselspiel von Unterwerfung und Gnade als wesentliches Merkmal der Strafjustiz in der Frühen Neuzeit. Die Gnade durfte jedoch nicht berechenbar sein, um Gehorsamkeit, Dankbarkeit und Ehrerbietung gegenüber den weltlichen und geistlichen Autoritäten zu garantieren.9

Regina Bartolome war geständig, aus Habgier und Lüsternheit einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und mit ihm eine sexuelle Beziehung unterhalten zu haben. In einem solchen Fall musste die Obrigkeit die Todesstrafe vollziehen, um das Gemeinwesen vor einer möglichen Vergeltung Gottes zu schützen. Die Art der Hinrichtung – das Verbrennen – ist kennzeichnend für diese Art von Vergehen. Denn damit wurde eine radikale Vernichtung und Auslöschung des Missetäters garantiert, durch die sich das Gemeinwesen von einem derart schwer wiegenden Verbrechen reinigen konnte.10

Folter – legitimes Hilfsmittel bis ins 18. Jahrhundert

Der Schriftsteller und Philosoph Michel de Montaigne bezog in seiner Auseinandersetzung mit der Folter eine Position, die zu seiner Zeit keine Mehrheitsmeinung war:

Die Wilden, welche die Leichen ihrer Verstorbenen braten und verspeisen, sind mir weniger zuwider als jene unter uns, die Menschen grausam verfolgen und lebendigen Leibes foltern.11

Seine Aussage gewinnt angesichts des Kampfes gegen den Terror neue Aktualität. Die gefangenen Terroristen werden auch heute einer breiten Palette an Zwangsmitteln unterworfen, um ihnen Informationen zu entlocken, die für das Gemeinwesen von entscheidender Bedeutung scheinen.12

Als Teil des Strafverfahrens wurde die Folter in der Frühen Neuzeit zunehmend reglementiert. Sie beruhte nicht auf der Anwendung blinder Gewalt, sondern unterstützte die Befragung durch ein geregeltes und abgestuftes System von Schmerzzufügung. Wie Abbildung 1 zeigt, schrieb der Gesetzgeber des 18. Jahrhunderts selbst die Art und den Gebrauch der Marterwerkzeuge vor, um die „peinliche Frage“ in den Strafprozess einzubinden. Derart domestiziert sollte die Folter den boshaften Willen des Angeklagten ausschalten, ohne ihm dauerhaften körperlichen Schaden zuzufügen.13

Nur hinreichende Verdachtsgründe ermöglichten den Einsatz der Folter gegen einen Angeklagten. Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 legte die Spielregeln fest: Zwei zuverlässige Zeugen mussten den Sachbeweis wie etwa das corpus delicti bestätigen bzw. ein Zeuge musste die Tat selbst gesehen haben. Wenn unter diesen Umständen der Angeklagte weiterhin hartnäckig leugnete und weder ein glaubhaftes Alibi noch andere Entlastungsgründe vorbringen konnte, durfte er gefoltert werden.

Die Kriminalisten der Frühen Neuzeit waren nicht naiv. Sie wussten, dass die Zufügung von Schmerz nicht nur den Widerstand gegen ein Geständnis überwinden, sondern auch falsche Zeugnisse produzieren konnte. Dadurch war ein wesentlicher Grundpfeiler des Inquisitionsverfahrens in Gefahr: die Suche nach der materiellen Wahrheit. Deshalb forderte man eine kritische Beurteilung des Geständnisses. Die Peinliche Gerichtsordnung Maria Theresias aus dem Jahr 1769 ließ das Geständnis nur dann als vollständigen Beweis zu, wenn es fünf Voraussetzungen erfüllte: Es musste klar und deutlich sein, ausführlich den Tathergang und die Motivation schildern, mit Zeugenaussagen und dem Sachbeweis übereinstimmen, es musste vor dem Gericht abgelegt und durfte nicht widerrufen werden (Artikel 32, §§1–7).


1 Die Peinliche Gerichtsordnung Maria Theresias (1796) gab im Anhang klare Vorgaben für die Anordnung und Durchführung der einzelnen Foltermethoden wie dem Strecken auf der Folterleiter.

Der Gefahr eines falschen Geständnisses begegnete man einerseits durch die Disziplinierung der Richter, denen man strengstens untersagte, Suggestivfragen zu stellen, schon gar nicht während der Folter. Andererseits hoffte man die Zuverlässigkeit des Geständnisses zu erhöhen, wenn man dem Beschuldigten jene Informationen entlockte, die zum exklusiven Wissen des Täters und Opfers gehörten – „die kein vnschulldiger wissen oder sagen khann“, wie Artikel 53 der Carolina feststellte.14 Im Inquisitionsverfahren veränderte sich somit die Rolle des Geständnisses: Es wurde von einer Strafunterwerfungserklärung zu einem „umständlichen Bericht“, der Angeklagte war gleichzeitig Schuldiger und Informationsquelle.15

Für das Verhör des Beschuldigten entwarf der Richter ein spezielles Frageschema.16 Es begann mit einer Rekonstruktion des Lebenslaufs. Die Angaben des Angeklagten wurden überprüft, Leumundszeugnisse eingeholt. Anschließend konzentrierte sich der Richter auf das Delikt und ein mögliches Alibi. Um den Angeklagten zu einem Geständnis zu bewegen, setzte man auf langsame Zermürbung. Die Fragen und Antworten wurden protokolliert und jede Seite des Protokolls vom Befragten signiert. Wichtige Punkte sprach der Richter immer wieder an und verglich die Antworten miteinander. Etwaige Widersprüche boten einen willkommenen Ansatzpunkt, um psychologischen Druck zu erzeugen, worauf die Constitutio Criminalis Theresiana im 31. Artikel hinweist:

[…] sodann die zur Sache dienliche Fragstücke schriftlich und Punktenweis in fortlaufender Zifferzahl zu verfassen, auch dieselben mit guter Ordnung und so zu sagen Kettenweis und, so viel thunlich, dergestalten einzurichten, daß gleichsam ein Fragstück aus dem anderen abfliessen und die Fragen immer stärker und zu Überzeugung des Inquisiten eindringlicher werden, damit derselbe andurch, wenn er sich solchergestalten in die Enge gebracht und überwunden siehet, desto wirksamer zur Bekanntnis der Wahrheit bewogen werde.

Für die Überführung eines Täters musste der Richter das komplizierte Beweisrecht in Betracht ziehen, das den Wert der einzelnen Beweismittel klar festlegte. Der Sachbeweis war ohne Bestätigung durch einen Zeugen fast wertlos. Aus diesem Grund war die Beweiswürdigung durch den Richter zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, aber stark limitiert. Angesichts dieser Beschränkungen blieb die Folter bis ins 18. Jahrhundert ein wichtiges Hilfsmittel, um einen durch Indizien stark belasteten Verdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen.

Trotz ihrer Bedeutung für das frühneuzeitliche Strafverfahren war die Folter im Laufe des 18. Jahrhunderts immer heftigeren Angriffen ausgesetzt. Die Einwände bezogen sich vor allem auf ihre Dysfunktionalität zur Wahrheitssuche. Kritische Beobachter nahmen an, dass gerade die abgefeimtesten Schurken sich eher durch hartnäckiges Leugnen aus den Fängen der Justiz befreien konnten als unschuldig Angeklagte. Die deutlichsten Worte fand Cesare Beccaria. Er bezeichnete die Folter als „das sichere Mittel, kräftige Verbrecher freizusprechen und schwache Unschuldige zu verurteilen“.17 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schlossen sich immer mehr Regierungen dieser Kritik an. Ausgehend von Preußen, wo Friedrich II. bereits im Jahr 1740 ein eingeschränktes Folterverbot erlassen hatte, wurde in den anderen deutschen Staaten und im restlichen Europa die Folter abgeschafft.18

Weder in Preußen noch in anderen Teilen Deutschlands war die Abschaffung der Folter von einer weit reichenden Reform des gerichtlichen Beweisrechts begleitet. Noch immer blieb das Geständnis das Herzstück des Verfahrens, es konnte aber nicht mehr länger durch die Anwendung von körperlicher Gewalt erzwungen werden. Die Weigerung des Angeklagten, auf die begründeten Vorhaltungen von Indizien durch das Gericht entsprechend zu reagieren, konnte jedoch als Ungehorsam verstanden und mit so genannten körperlichen Ungehorsams- und Lügenstrafen geahndet werden. Diese Strafen wurden nur selten verhängt, wie eine Studie zum Wiener Kriminalgericht zeigt.19

Nach der Abschaffung der Folter waren die Juristen und die Legislative gezwungen, sich mit der Bedeutung der Indizien neu auseinander zu setzen. Um den Spielraum des Richters bei der Beweiswürdigung zu erhöhen, wurden die Indizien klassifiziert und in ein neues Regelwerk für die Urteilsfindung integriert. Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 schrieb etwa vor, dass für die Verhängung einer ordentlichen Strafe – aber nicht der Todesstrafe – je zwei vorausgehende, gleichzeitige und nachfolgende Indizien zusammentreffen müssten. Erst im Jahr 1838 verabschiedete sich mit dem Königreich Sachsen der erste deutsche Staat von diesen komplizierten Beweisregeln, an deren Stelle die freie Beweiswürdigung durch die Richter trat. Einheitlich geregelt wurde sie für ganz Deutschland durch die Reichsstrafprozessordnung von 1877. Die damals eingeführten Vorschriften sind auch heute noch geltendes Recht.20

Das Ringen um die Wahrheit im Verhör

Die Richter des späten 18. Jahrhunderts setzten vor allem auf die Verstärkung des psychologischen Drucks auf den Inquisiten. Mit einer raffinierten Verhörtechnik, die sich von der praktischen Erfahrung der Kriminalisten ebenso inspirieren ließ wie von der Psychologie des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, wollte man ein zuverlässiges Geständnis auch ohne Gewaltanwendung erreichen. Diese Verhörpsychologie baute auf einer umfassenden Beobachtung von Angeklagten und Zeugen auf und stellte dem Richter eine Semiotik der Gemütsbewegungen sowie eine Reihe von kommunikativen Praktiken zur Überwältigung des leugnenden Schuldigen zur Verfügung. Erst relativ spät – zur Zeit der Jahrhundertwende – setzte sich die Kriminalpsychologie auch mit dem verhörenden Richter auseinander.

Der Kriminalist sollte sich zuerst einen Eindruck vom Charakter des Verhörten verschaffen, um dessen Angaben zur Person kritisch zu prüfen und Strategien für das weitere Verhör zu entwickeln.21 Zur Zeit des Vormärz konzentrierten sich die Kriminalisten noch auf die Körperhaltung und die Physiognomie. Hundert Jahre später verfügten sie bereits über ein ganzes Arsenal an wissenschaftlichen Einsichten zur Charakterbeurteilung, von der experimentellen Psychologie über die Konstitutionsbiologie bis hin zur Psychoanalyse. Das Resultat dieser Beobachtungen war eine erste Klassifizierung des Verhörten anhand von psychologischen Kategorien. In Anlehnung an Kretschmers Buch Körperbau und Charakter (1921) empfahl Friedrich Geerds noch in der Nachkriegszeit die Einteilung in willensschwache Triebmenschen, denen mit Autorität zu begegnen ist, in Willensmenschen, die mit Zurückhaltung zu behandeln sind, in leichtsinnige Vorstellungsmenschen, die der Richter nüchtern und sachlich behandeln sollte, in Gefühlsmenschen, für die man viel Zeit aufwenden müsste, und schließlich in Empfindungsmenschen, bei denen man nur mit Sachlichkeit und Entschlossenheit ein erfolgreiches Verhör führen konnte.22

Im weiteren Lauf des Verhörs achteten die Richter vor allem auf die verborgenen Zeichen der Schuld, die eine kritische Lesart von Aussagen ermöglichten. Die Verhörsituation begünstigte gewisse Zeichen, wie das düstere Brüten, den sinnenden Blick und die gekrümmte Stellung des sitzenden Körpers.23 Solche Anzeichen einer inneren Unruhe wurden von den Kriminalisten mit subtilen Beobachtungsmethoden registriert. Der Wiener Kriminalbeamte Rudolf von Felsenthal schlief Mitte des 19. Jahrhunderts sogar in dem Zimmer neben dem Arrestlokal, „um immer in der Nähe zu sein, und um selbst […] während der Nacht noch meine Beobachtungen fortsetzen zu können“.24

Der Verdächtige wurde zum Objekt der Beobachtung, weil die Richter davon ausgingen, dass der Körper die Wahrheit sagt. Denn die vom vegetativen Nervensystem gesteuerten Körperfunktionen konnten nicht willkürlich beeinflusst werden. Psychischer Stress musste sich deshalb in mehr oder weniger verdeckter Form ausdrücken.25 Um den körperlichen Zeichen der Schuld auf die Spur zu kommen, wurde das Verhalten des Verhörten mit normativen Erwartungen verglichen.26 Das kommt in den psychologischen Schlussfolgerungen von Ludwig Pfister aus den 1820er-Jahren deutlich zum Ausdruck. In seinen Merkwürdigen Criminalfällen, geschrieben als Anleitung für die Untersuchungsführung, präsentierte er psychologische Beobachtungen in den Fußnoten. In einem der Fälle war ein Ehepaar wegen des Mordes an ihrem Untermieter verdächtig. Die Frau hatte bereits gestanden, die Schuld dabei gänzlich auf sich genommen, um ihren Mann zu entlasten. Pfister war von der Mitschuld des Mannes überzeugt und wollte ihn durch die Konfrontation mit dem Geständnis seiner Frau zu einem Bekenntnis bewegen. Dazu lud er zwei Bürgermeister ein, die als Zeugen die Aussagen der Ehefrau gegenüber dem leugnenden Mann bestätigten. Pfisters Strategie schlug fehl. Er notierte dazu in der Fußnote:

Der wirklich unschuldige Mann würde auf diese nun aus dem Munde des dritten Zeugenpaares, gegen welche er durchaus keinen Argwohn eines Einverständnisses mit dem Inquirenten gegen ihn hegen konnte, von der Ueberzeugung der Wahrheit ihrer Behauptung überwältigt, – in Jammer über sein Unglück, in Verwünschungen gegen seine Frau ausgebrochen seyn; – nicht, wie hier Johann U. that, Gott und der Welt Trotz geboten haben.27


2 Verhör eines Angeklagten vor dem Inquisitor, links im Bild sieht man den Schreiber (Kupferstich von 1692).

Für ihre Charakterstudien benötigten die Richter ein entsprechendes Talent. Carl Gottlieb Svarez hielt das psychologische Geschick sogar für eine wesentliche Qualifikation des Strafrichters. In seinen Vorträgen vor dem preußischen Kronprinzen empfahl er am Ende des 18. Jahrhunderts die Einstellung solcher Richter zur Untersuchung von „groben Verbrechen“, die für ihre „vorzügliche Geschicklichkeit, Erfahrung und Menschenkenntnis“ bekannt waren.28 Talent allein war allerdings nicht ausreichend. Der Richter sollte sich außerdem mit den einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten auseinander setzen, die hundert Jahre später von engagierten Kriminalisten wie Hans Gross gezielt für ihre Kollegen auf bereitet wurden.

In dem Kampf zwischen Richtern und Angeklagten am Verhörtisch waren die Waffen ungleich verteilt. Psychologisches Geschick konnten beide Parteien für sich nutzen. Exklusiv den Richtern vorbehalten war die Kontrolle über den Verlauf des Verhörs und die schriftliche Aufzeichnung der Aussagen.

Der Untersuchungsrichter kontrollierte die Verhörsituation in jeder Hinsicht. Er nahm einen bevorzugten Platz am Verhör- oder Schreibtisch ein, hatte einen Schreiber und andere Hilfskräfte zur Verfügung, um mögliche Übergriffe des Angeklagten zu verhindern (s. Abbildung 2). Seine Kontrolle erstreckte sich auch auf die Position des Verhörten im Raum. Dieser sollte so sitzen, dass er sich und seine Bewegungen nicht hinter einem Tisch verbergen konnte. Der Richter saß im Zweifelsfall im Dunkeln, mit dem Rücken zur Lichtquelle, die dem Verhörten das Gesicht beleuchten sollte, um die bewussten und unbewussten Reaktionen auf Fragen und Vorhaltungen genau verfolgen zu können.29

Wie Ludwig Pfister aus langjähriger Erfahrung anmerkte, konnte man die erfahrenen Verbrecher, die bereits öfter vor Gericht gestanden waren, schnell an der Weigerung erkennen, ihr Leben zu schildern. Der Angeklagte sei mit allen Mitteln zu einer „zusammenhängenden Erzählung zu bringen, damit ihm im Eifer dieser Erzählung vielleicht manches entfahre, was er auf eine bestimmte Nachfrage nicht angegeben haben würde“.30

Zusätzlich zum Zwang zur ausführlichen Erzählung unterwarfen die Richter ihre Verhörten dem Test der Wiederholung. Einmal zu Protokoll gegebene Wahrnehmungen, Handlungen oder Begegnungen konnten in späteren Verhörsitzungen immer wieder nachgefragt werden. Anders als der Verhörte, der sich keine Notizen machen durfte, konnte der Richter in den Akten die vorher gemachten Aussagen mit der aktuellen Version vergleichen. Die fehlende Kohärenz zwischen den Aussagen erzeugte einen erheblichen Druck, dem manche Geständnisse geschuldet waren. Um einen solchen Erfolg zu erzielen, musste der Richter gut vorbereitet sein. Noch in der Nachkriegszeit ermahnten die Autoren von Handbüchern ihre jungen Kollegen, das Aktenstudium ernst zu nehmen: „Man muß also alles, was in den Akten steht, entweder im Kopf oder auf seinem Notizzettel haben.“31

Disziplin, Kontrolle und gute Vorbereitung waren wichtige Voraussetzungen für das Verhör. Sie garantierten aber noch keinen Erfolg. Die Richter benötigten auch die Fähigkeit, einen persönlichen Kontakt zum Verhörten herzustellen. Landgerichtsdirektor Albert Hellwig bezeichnete das Verhör in den 1920er-Jahren als eine psychische Leistung, die nur dann gelingen konnte, wenn es eine „innere seelische Verbindung zwischen Vernehmenden und Vernommenen … [gibt]“.32 Dieser Kontakt war fragil, wie bereits hundert Jahre zuvor Ludwig Pfister argumentiert hatte: Er bezeichnete es als „ein schweres und saures, mitunter auch manchmal ekelhaftes Stück Arbeit“, einen Verbrecher, der trotz widersprechender Indizien leugnet, ohne Gewaltanwendung zum Geständnis zu bewegen. Ebenso schwierig war es, einen geständigen Verbrecher in der Zeit zwischen dem letzten Verhör und dem Urteilsspruch in demselben „Grade von Hingebung zu erhalten, durch welche das Geständniß veranlaßt worden war“.33

Die größte Herausforderung für den Richter war die Einschätzung der Aussagen von Zeugen und Angeklagten. Die Psychologie, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Einblicke in die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung und der Erinnerung produzierte, bot den Kriminalisten dazu wichtige Anhaltspunkte. Hans Gross beschrieb die Kriminalpsychologe daher als „eine Zusammenstellung aller Lehren der Psychologie, welche der Criminalist bei seiner Arbeit nötig hat“.34 In der Auseinandersetzung mit dieser Literatur fand Gross viel Aufschlussreiches, aber wenig Erfreuliches. Er musste feststellen, dass die Psychologen die Aussagefälschung als eine normalpsychologische Tatsache betrachteten und die fehlerfreie Erinnerung und Wiedergabe des Erlebten nicht für die Regel, sondern für die Ausnahme hielten. Für den Untersuchungsrichter bedeutete das eine Aufforderung zum Misstrauen gegenüber den Aussagen von Zeugen und Beschuldigten, aber auch seinen eigenen Schlüssen gegenüber. Einen Ausweg brachte die Einführung des Körpers als Bezugspunkt: Geerds verwies in den 1970er-Jahren auf den „alten kriminalistischen Grundsatz, daß man den Wirklichkeitsgehalt einer Aussage am besten erkennt, wenn man sich jedes Wort und jeden geschilderten Vorgang körperlich vorzustellen versucht“.35

In den Studien zur Psychologie der Aussage wurden wesentliche Annahmen der Kriminalisten über die Glaubwürdigkeit von Beobachtungen infrage gestellt. Für einen Richter des 19. Jahrhunderts war es selbstverständlich, den Beobachtungen eines gebildeten Mannes mehr Vertrauen entgegenzubringen als denjenigen eines Arbeiters, Bauern oder gar einer Frau. Während sich die Vorurteile gegen die Zuverlässigkeit von Frauen und Mädchen als Zeuginnen fortsetzten, büßten die Intellektuellen ihre Vorrangstellung ein. Die Kriminalpsychologen stellten nämlich fest, dass Menschen, die über Bildung, Temperament und Tatkraft verfügten und im Leben den Blick auf das Wesentliche richteten, häufig Nebensächliches zugunsten der Hauptsache missachteten und daher keine guten Zeugen waren. „So erklärt sich […] daß primitivere Naturen oft weit bessere und zuverlässigere Zeugen sind als intelligente und hochgebildete“.36

Das Protokoll – analytisch und authentisch

Ludwig Pfister vermittelt in einem Ausschnitt aus dem Verhör mit einer Beschuldigten einen interessanten Einblick in das Selbstverständnis des Inquisitionsverfahrens. Es beruhte nicht nur auf einer wohl durchdachten Ordnung der Befragung, sondern mehr noch auf einer umfassenden Verschriftlichung der Kommunikation.

Sie schwieg lange.

Frage: Sie solle Antwort geben.

Antwort: Was ist’s denn, wenn ich auch Antwort gebe.

Frage: Es ist darum zu thun, daß man ihre Antwort kennen lernt, und niederschreiben läßt.37

Vor der Einführung der öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung um die Mitte des 19. Jahrhunderts urteilten die Richter nur aufgrund der Aktenlage. Für sie galt der treffende lateinische Spruch: quod non est in actis, non est in mundo38 (was nicht in den Akten steht, existiert nicht).

Selbst heute haben die Protokolle der Untersuchungsrichter und der ermittelnden Behörden einen hohen Stellenwert für die Aufklärung von Straftaten und die Einschätzung der Angeklagten. Die Kriminalpolizei sieht sich daher mit einem ähnlichen Zwang zur Verschriftlichung konfrontiert wie der Untersuchungsrichter im Inquisitionsverfahren: „Kriminaluntersuchungen und Aktenführung müssen parallel laufen […] Es kann nicht genug geschrieben werden, was auch dem Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit entspricht“, so der deutsche Kriminalist Manfred Teufel.39

Die Analogie zwischen der heutigen Kripo und dem Untersuchungsrichter des 19. Jahrhunderts ist im Bereich der Protokollführung auffällig. Auch im 19. Jahrhundert war die Richtigkeit und Zuverlässigkeit der Protokolle nicht davon abhängig, dass sie im Wortlaut die Aussagen der Zeugen, Beschuldigten und Opfer wiedergaben. Der Richter musste die relevanten Informationen auswählen, gewichten und zu einer kohärenten Erzählung zusammenstellen. Vereinzelte Vorschläge zur stenografischen Erfassung der gesamten Untersuchung, um einen „getreuen Abdruck des Wahrgenommenen, der mündlichen Aeusserungen des Untersuchungsgerichts und der Vernommenen“ zu erhalten, wurden abgelehnt.40

Dasselbe gilt für das Protokoll der Kripo. Die selektive, gewichtende Darstellung stellt kein Problem für die Aufklärung von Straftaten dar. Wie Geerds argumentiert, trennt die Selektion die „Spreu vom Weizen“ und ermögllicht die Konzentration auf jene Informationen, die für eine Strafsache wesentlich sind. Eine Tonbandaufzeichnung kann daher ein Protokoll niemals ersetzen, sondern nur ergänzen.41 Damals wie heute beruht die Objektivität des Protokolls auf einer weit gehenden Disziplinierung des Beamten. Er muss für die „Richtigkeit einer jeden Zeile, eines jeden einzelnen Ausdrucks … in jedem Augenblick voll und ganz eintreten können“.42

Als Autoren von Protokollen waren die Untersuchungsrichter im Inquisitionsverfahren zusätzlichen Anforderungen unterworfen, die sich auf die narrative Qualität ihrer Texte bezog. Sie mussten sich durch „Deutlichkeit und Wohllaut“ auszeichnen, wie Jagemann feststellte.43 Er forderte die Inquirenten dazu auf, ihre eigene Sprache zu verwenden, ohne dabei den authentischen Eindruck des Protokolls zu gefährden. Diese Gratwanderung zwischen Authentizität und Sprachrichtigkeit sollten sie durch das weit gehende Angleichen ihrer Sprache an den Sprachstil des Verhörten lösen: „Wer kann nun ihre Aussage für wahr halten, wenn sie im Protokolle in bombastischen Phrasen vorgeführt werden, die ein Mensch solchen Standes nicht denkt, geschweige spricht […]“44 Die Sprache des Protokolls durfte aber auch nicht vollständig in der Sprache der Verhörten aufgehen. Die wörtliche Wiedergabe der Aussage war keine tragbare Alternative, weil sie auf analytische und synthetische Elemente verzichtete. Wörtlich zitiert werden sollte daher nur jener Teil der Aussage, der „in Beziehung auf die That, ihre Qualification und den Animus entscheidend ist […]“.45

Die Sprache allein war nicht ausschlaggebend, um ein authentisches Bild der Straftat zu entwerfen. Wie die Sprache der Protokolle die sprachlichen Äußerungen der Beteiligten re-konstruierte, musste auch die Anordnung der Informationen mit dem Tathergang übereinstimmen. Die Ordnung der Erzählung sollte sich an derselben natürlichen Ordnung der Dinge orientieren wie der Tatverlauf selbst. Ganz in diesem Sinne meinte Jagemann: „Die chronologische Ordnung ist zugleich die natürlichste, bei der man nicht leicht irre werden kann […]“46

Die chronologische und kausale Erzählung, die der Inquirent bzw. der Kriminalbeamte präsentierte,47 rief vor dem geistigen Auge des Lesers den beschriebenen Tathergang hervor.48 Als Ratschlag für die stilistische Einlösung dieser Vorgaben empfahl Jagemann den Inquirenten, sich beim Aufbau und der sprachlichen Gestaltung der Protokolle an der Form des klassischen Dramas zu orientieren: „Auch das Lesen guter dramatischer Werke ist nützlich, weil ja doch die Form der articulirten Verhöre auch dialogisch ist […]“49

Von der dialogischen Präsentation erhoffte man die Verstärkung des authentischen Eindrucks. Das exklusive Wissen von Täter und Opfer über die vorgefallenen Ereignisse und Sachverhalte wurde dabei als kommunikative Überwältigung vor Gericht rekonstruiert, die der Inquirent im Dienste der Wahrheitsfindung zu leisten hatte: „Der directe Stil hat den wesentlichen Vorzug […] daß Jeder, der das Protocoll später liest, sich lebendig in den Moment der Entstehung desselben, ja in die Seele und damalige Stimmung des Deponenten zurückversetzen kann.“50 Mit dem Ende des Inquisitionsverfahrens verschwand diese Schreibpraxis keineswegs aus der Verbrechensaufklärung. Friedrich Geerds empfiehlt noch 1976 die Gestaltung des Protokolls in direkter Rede; die indirekte Rede will er nur für Bemerkungen über den Gang der Vernehmung zulassen.51

Das Protokoll war also kein einfach zu beherrschendes Genre. Es musste die Resultate der Untersuchung in einer Form präsentieren, die analytisch und gleichzeitig authentisch war: es musste die Geständnisse, Darstellungen und Ausflüchte der Verhörten so zu Papier bringen, dass sie von diesen anerkannt und durch ihre Unterschrift bestätigt werden konnten, ohne das weitere Verfahren durch Weitschweifigkeit oder allzu große Knappheit zu gefährden. Das offzielle Protokoll wurde begleitet von Aufzeichnungen, die dem Verhörten nicht mitgeteilt wurden. Es handelte sich dabei um Beobachtungen über dessen Verhalten. Denn „nur derjenige Beamte, der selbst diese Vernehmungen […] durchführt, erhält einen unmittelbaren, persönlichen Eindruck von dem Vernommenen. Jeder andere, der als Nachfolger, Vorgesetzter, als Staatsanwalt oder Richter bei seiner Arbeit lediglich die Akten und damit diese Vernehmungsprotokolle sieht, muß sich also nach diesen ein Bild des Sachverhalts und der Aussagepersonen machen und verschaffen können, um sich auf seine Arbeit […] vorbereiten zu können“.52

Die überraschende Übereinstimmung zwischen den Erwartungen an das Protokoll im Inquisitionsverfahren und der heutigen Praxis der Protokollierung durch die Kripo kann mit einem wichtigen Merkmal kriminalistischer Verfahren erklärt werden. Die Kriminalistik beruht auf einem arbeitsteiligen Vorgehen, bei dem eine Vielzahl von Akteuren, Technologien und Verfahren zur Aufklärung von Straftaten miteinander verbunden sind. Bis zur Hauptverhandlung erfolgt der Austausch von Informationen vor allem auf schriftlichem Weg – durch die Gutachten der Sachverständigen und die Protokolle der ermittelnden Beamten.

Der Polygraph und andere neue Technologien

Die Abschaffung der Folter nötigte die Kriminalisten zu einer Strategieänderung. Solange das Strafprozessrecht die freie Beweiswürdigung nicht vorsah und die technischen Möglichkeiten der Sicherung und Auswertung von Spuren noch nicht ausreichend entwickelt waren, blieb nur die psychologische Überwältigung des Verdächtigen im Verhör. Dazu nutzte man sowohl die eigene Erfahrung als auch die Erkenntnisse der Psychologie – von der Erfahrungsseelenkunde des späten 18. bis zur experimentellen Psychologie des 20. Jahrhunderts. Die psychologischen Kompetenzen wurden von den Kriminalisten in ihre eigenen Praktiken integriert. Als Vermittler dienten einschlägige Lehrbücher, entsprechend auf bereitete Fallgeschichten und die eigene Lektüre.


3 In den 1930er-Jahren entwickelte Walter Summers an der Fordham University einen so genannten Polygraphen, der physiologische Stressfaktoren wie veränderte Atmung, Pulsfrequenz, Schwitzen etc. registriert und von der New Yorker Polizei noch in den 1950er-Jahren als Lügendetektor verwendet wurde.

Der psychologische Experte erhält seinen Raum im Strafverfahren erst mit der Einführung neuer Technologien, die einen experimentellen Nachweis von Lüge und Täuschung erreichen wollen. Dabei greift man auf Erkenntnisse der experimentellen Psychologie und der Kriminologie der Jahrhundertwende zurück, die messbare körperliche Reaktionen im Fall von psychischem Stress festgestellt haben. Der Polygraph – im Volksmund auch als Lügendetektor bezeichnet – dokumentiert diese Reaktionen und stellt dem Experten das Material für sein Gutachten bereit.

Der Polygraph (s. Abbildung 3) ist heute vor allem in den USA, in Israel, Japan und Australien im Einsatz – und zwar nicht nur im Justizbereich. Zahlreiche Firmen bedienen sich dieses Instruments, um die Loyalität ihrer Mitarbeiter zu garantieren und Betrügereien bei Versicherungsleistungen zu verhindern. Mit den derzeit verwendeten Apparaten werden vor allem der Blutdruck, die Atmungsfrequenz, die Pulsgeschwindigkeit, die Hautdurchblutung und die elektrodermale Aktivität gemessen, d. h. die durch emotionales Schwitzen sich verändernde Hautleitfähigkeit elektrischen Stroms.

Der Polygraph objektiviert die Beobachtungen der Verhörten durch die Kriminalisten. Bereits die Gebärdenprotokolle verwiesen auf die Anzeichen von psychischem Stress. Die herkömmlichen Formen der Beobachtung waren jedoch sehr fehleranfällig, weil sie ausschließlich von der Kompetenz und Aufmerksamkeit der einzelnen Richter abhingen. Der Lügendetektor könnte durchaus als eine Antwort auf das zunehmende Bewusstsein der Richter von ihrer eigenen Fehleranfälligkeit verstanden werden, weil er die subjektiven Fehleinschätzungen der Reaktionen des Verhörten ausschaltet, indem er diese auf mechanischem Wege misst und die Messwerte auf einem Blatt Papier als Kurvendiagramm ausdruckt.

Die Kriminalpsychologie der Jahrhundertwende hat sich allerdings nicht nur mit der Subjektivität der Verhörenden befasst, sondern auch die geringe Eindeutigkeit der psycho-physiologischen Zeichen belegt. Das vegetative Nervensystem reagiert zwar auf emotionalen Stress, dieser Stress ist aber nicht nur durch die Angst vor einer entdeckten Lüge verursacht, sondern kann gleichermaßen durch Angst vor dem Gerichtsverfahren, durch Unsicherheit etc. ausgelöst werden. Die Kenntnisse über die Wechselwirkung zwischen Psyche und Physis sind noch zu wenig differenziert, um exakt den Lügen- bzw. Täuschungsstress von anderen emotionalen Stressfaktoren zu unterscheiden. Eine Validität der Messung ist daher nicht hinreichend gewährleistet, ein Einsatz im deutschen Recht nicht empfehlenswert. Ein solcher Einsatz ist im Übrigen äußerst unwahrscheinlich angesichts verschiedener höchstrichterlicher Urteile zwischen 1954 und 1998, die dem Polygraphentest den Status eines gerichtlichen Beweismittels absprechen.53

Dem Täter auf der Spur

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