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Kriminalität und ihre Bekämpfung

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Kriminalistinnen bzw. Kriminalisten befassen sich professionell mit der Aufklärung und Verhütung von Straftaten. Sie agieren in verschiedenen Rollen: als Richter, Staatsanwälte, Kriminalbeamte und Kriminaltechniker. In diesen Funktionen spielen sie eine wichtige Rolle in der heutigen Gesellschaft. Die Vertrautheit der Öffentlichkeit mit den Kriminalisten und ihrer Arbeitsweise entsteht jedoch nur in seltenen Fällen durch persönliche Kontakte mit dem Rechts- und Polizeiapparat, sondern vielmehr durch deren starke Präsenz in den Medien.

In Fernsehserien, Kinofilmen und (Bestseller-)Romanen wird nach Verbrechern gefahndet. Beamte der Kriminalpolizei sind die Helden der meisten Kriminalgeschichten. Ihre Intelligenz und Ausdauer sowie der Rückgriff auf Kriminaltechnik und den Apparat der Polizei garantieren den Fahndungserfolg. In den letzten Jahren sind neue ‚Helden‘ aufgetaucht: Ausgehend von den USA übernimmt der Kriminaltechniker mit seiner Laborarbeit die Rolle des Quotenträgers. In Österreich, Deutschland und Italien wird selbst der Polizeihund nach fast hundert Jahren Einsatz im Dienst der Gerechtigkeit zum Star im Abendprogramm.

Mein Blick auf die Geschichte der Kriminalistik ist der eines professionellen Außenseiters. Obwohl ich ein begeisterter Leser von Krimis und Konsument von Kriminalfilmen bin, habe ich keinen Fall selbst bearbeitet. Der vorliegende Band stellt daher eine historisch-ethnographische Annäherung an die Kriminalistik dar, die ich mit der „naiven Beobachtung des geschulten Beobachters“ (René König) unternehme. Aus dieser Perspektive gibt es keine Selbstverständlichkeiten. Selbst die Aufgabenverteilung innerhalb des Justiz- und Polizeiwesens oder die interdisziplinäre Auswertung der Tatortspuren erscheint mir als Folge einer spezifischen historischen Entwicklung erklärungsbedürftig.

Für den naiven, d. h. unvoreingenommenen Beobachter ist es auffällig, dass Verbrechensaufklärung fast ausschließlich in den dafür eingerichteten Behörden erfolgt: Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter. Aus historischer Perspektive kann man aber zeigen, dass der Beitrag dieser drei institutionellen Akteure für die Aufklärung von Verbrechen erheblichen Veränderungen unterlag. Mit der Einführung der Staatsanwaltschaft in den deutschen Staaten (1846) verringerte sich die Bedeutung der Untersuchungsrichter, gleichzeitig erfuhr die Kriminalpolizei seit dem späten 19. Jahrhundert eine erhebliche Aufwertung, die bis heute andauert und ihr ein Aufklärungsmonopol sichert. Dieses Wissen um die Verlagerung der Kompetenz vom Untersuchungsrichter zur Kripo ist wichtig für die Planung der historischen Analyse. Eine gewisse Offenheit im Hinblick auf die zu untersuchenden Institutionen wird dadurch notwendig. Die alleinige Konzentration auf die Kriminalpolizei wäre für das 19. und noch mehr für das 18. Jahrhundert unzulässig.

Maßnahmen zur Prävention und Aufklärung von Verbrechen

Der Blick des naiven Beobachters ist nicht vorbelastet durch die Vertrautheit mit der aktuellen Kriminalistik. Die Innovationen im Bereich der Verbrechensaufklärung seit dem späten 18. Jahrhundert werden daher nicht auf die Rolle von Vorläufern heutiger Verfahren reduziert, sondern als ein Beitrag zur Lösung von spezifischen Sicherheitsproblemen verstanden. Das erfordert die Rekonstruktion der vielfältigen Bezüge zwischen den kriminalistischen Techniken und ihrem institutionellen, politischen, sozialen und kulturellen Umfeld. Damit lässt sich etwa zeigen, dass erhöhte räumliche Mobilität und die Angst vor den Täuschungsmanövern der Berufsverbrecher die Identifikation von Straftätern bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Problem werden ließ. Zur Lösung dieses Problems entwickelten die Kriminalisten neue Techniken und integrierten naturwissenschaftliche und medizinische Verfahren in ihre Praxis.

Wenn man sich mit der Kriminalistik als Praxis auseinander setzt, stößt man unweigerlich auf die Bedeutung des Strafrechts und des Strafprozessrechts. Die Kriminalisten können nur einschreiten, wenn eine Straftat begangen wurde. Die Veränderungen im Strafrecht haben daher auch Auswirkungen auf die Praxis der Kriminalisten, die Strategien zur Ermittlung neuer Straftatbestände entwickeln müssen. Als Beispiel kann man etwa auf den Tatbestand der „Rassenschande“ im Dritten Reich oder auf die Verfolgung von Dissidenten hinweisen. Die Polizei, der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter operieren in einem rechtlich klar festgelegten Raum, in dem die Zulässigkeit von Beweismitteln, die Form des Umgangs mit Beschuldigten und Zeugen sowie die inkriminierten Tatbestände eindeutig definiert sind. Für den Untersuchungsrichter des 18. Jahrhunderts war die freie Würdigung eines Sachbeweises zur Ermittlung der Schuld ebenso unvorstellbar wie für den Kriminalisten des 20. Jahrhunderts die Anwendung der Folter.

Das Strafprozessrecht definiert jedoch nur die Grenzen des Erlaubten und legt die Verfahren selbst nicht fest. Wie die Kriminalisten das vom Strafrecht definierte Verbrechen aufklärten, hing von verschiedenen Faktoren ab. Entscheidend waren die Art und Schwere des Verbrechens, die zur Verfügung stehenden Technologien sowie deren Akzeptanz innerhalb spezifischer politischer und kultureller Konstellationen.

Die Kriminalistik erscheint als komplexes Unterfangen, bei dem verschiedene Institutionen und deren Akteure, Technologien und Praktiken aufeinander abgestimmt werden müssen. Darin ähnelt die Aufklärung von Verbrechen der Produktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ebenfalls ein Netzwerk unterschiedlicher ‚Aktanten‘, d. h. die systematische, projektbezogene Koordination menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, erfordert. Die Kriminalistik wird aufgrund dieser Parallelen zwar nicht zur Wissenschaft, kann aber durchaus mit den Konzepten der neuen Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte analysiert werden.

Eine wissenschaftshistorische Analyse der Kriminalistik konzentriert sich nicht auf die Geschichte der entsprechenden Institutionen, sondern auf die konkreten kriminalistischen Praktiken zur Prävention und Aufklärung von Verbrechen. Dabei kann man sich kriminalistische Verfahren als eine Kooperation unterschiedlicher institutioneller Akteure vorstellen, wobei sich die Struktur dieser Netzwerke dauernd ändert. Zur Aufnahme der Tatortspuren und zur Inspektion des Mordopfers – eine aus Kriminalfilmen und -romanen hinreichend bekannte Szenerie – ist die erfolgreiche Integration von Kriminaltechnik, fotografischer Ausstattung, Gerichtsmedizin und den jeweils neuesten Technologien zur Sicherung von Fingerabdrücken am Tatort erforderlich. Zur Aufbereitung der am Tatort gewonnenen Informationen sind anders strukturierte Netzwerke maßgeblich. Die kriminalistischen Labors mit ihrer technischen Ausstattung und ihrem spezialisierten Mitarbeiterstab leisten entscheidende Beiträge zur immer raffnierteren Auswertung der Tatortspuren.

Ein solches Verständnis von Kriminalistik sieht die Kriminalisten eingebunden in ein unsichtbares Netzwerk, das die Mobilisierung unterschiedlicher Hilfsmittel und Informationsquellen von staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen ermöglicht. Das eröffnet einen differenzierten Blick auf die Herausforderungen, mit denen die Behörden bei der Integration von neuen Verfahren und Techniken konfrontiert waren. Denn – allgemein gesprochen – die Erweiterung bzw. Veränderung des kriminalistischen Netzwerkes veränderte immer auch die lokalen Praktiken. Die Einführung von biometrischen Methoden zur Personenidentifikation um 1900 erhöhte nicht nur die Wahrscheinlichkeit, einen rückfälligen Verbrecher trotz eines Pseudonyms zu erkennen, sondern erforderte eine weit gehende Reorganisation des bestehenden Erkennungsdienstes. Das betraf die Umschulung der Beamten, die Reorganisation der Büros und die Kooperation mit anderen Polizeibehörden.

Dem naiven Beobachter erscheint die relative Offenheit dieser Netzwerke im Hinblick auf die Integration von neuen Verfahren und Techniken überraschend angesichts der bürokratischen Organisation von Justiz und Polizei. Diese Offenheit wurde ermöglicht durch eine grundsätzliche Flexibilität des kriminalistischen Wirklichkeitsbezugs, den die Kriminalisten des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff des praktischen Blicks beschrieben. Sie verstanden darunter ein kollektives Erfahrungswissen, das zwar durch Publikationen und persönliche Unterweisungen weitergegeben, aber nicht als ein in sich geschlossenes System konstruiert werden konnte. Aus der Handlungsperspektive ermöglichte der praktische Blick jedem Kriminalisten eine Form der Wahrnehmung, die nicht zirkulär auf deduktiv ermittelte Sachverhalte gerichtet, sondern offen für das Auftauchen neuer empirischer Belege war.

Der praktische Blick erlaubte den Kriminalisten zudem eine weit gehend standardisierte, aber dennoch flexible Handhabung von Normen und Techniken, die auf die subjektive Interpretation der spezifischen Situation Rücksicht nehmen konnte. Diese Flexibilität war eine entscheidende Voraussetzung für die Integration neuer Technologien in die Ermittlungs- und Fahndungstätigkeit.

Zur Geschichte der Kriminalistik

Wenn man die Kriminalistik als die Praxis der Strafverfolgung und Prävention begreift, projiziert man den heutigen Sprachgebrauch auf das damalige Rechts- und Polizeisystem. Denn erst seit dem späten 19. Jahrhundert bezeichnet der Begriff Kriminalistik das Wissensfeld, das sich systematisch mit Verbrechen, ihrer Aufspürung und Verhütung befasste. Vorher verstand man unter Kriminalistik meist das materielle und formelle Strafrecht sowie die strafrechtlichen Hilfswissenschaften.

Die Geschichte der Kriminalistik als eine Geschichte ihrer Praxis ist mehr als eine Analyse neuer Techniken. Damit soll nicht die weit reichende Veränderung innerhalb der kriminalistischen Praktiken ignoriert werden. Die als vorwissenschaftlich bezeichnete Kriminalistik des frühen 19. Jahrhunderts hatte mit der so genannten wissenschaftlichen Kriminalistik wenig gemeinsam, die sich um die Zeit der Jahrhundertwende entwickelte. Diese Veränderungen werden hier diskutiert, jedoch aus einer neuen Perspektive. Wie im ersten Teil dieses Buches – in den beiden Kapiteln zur Vorgeschichte der Kriminalistik – gezeigt wird, entstand im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ein erstes interdisziplinäres Netzwerk zur Aufklärung von Verbrechen, in dem die medizinische Kompetenz durch externe Expertise, das psychologische Wissen intern, durch eine Erweiterung der kriminalistischen Methoden, integriert wurde.

Das Misstrauen gegenüber der Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen als Folge der psychologischen Forschung der Jahrhundertwende, die freie Beweiswürdigung der Richter und die technologischen Fortschritte führten zu einer radikalen Umgestaltung der kriminalistischen Praxis seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Indizien konnten nun in ihrer Bedeutung für die Rekonstruktion des Tathergangs und die Feststellung der Schuld des Täters vom Richter unabhängig von den starren Beweisregeln der frühneuzeitlichen Verfahrensvorschriften kritisch bewertet werden. In Verbindung mit einem zunehmenden Erfahrungswissen der Praktiker und den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften konnte sich dadurch ein neues, von manchen Autoren als „wissenschaftlich“ bezeichnetes System der Tataufklärung und Täterüberführung entwickeln.

Aus meiner Perspektive ist hier die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Kriminalistik zur Erklärung der Veränderungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nebensächlich. Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter konzentrierten sich auf die umfassende Erhebung und Auswertung der Tatortspuren. Sie nutzten Technologien wie die Fotografie und die Klassifikation von Fingerabdrücken, bildeten aber auch neue Allianzen mit Chemikern, Physikern, Physiologen und anderen Wissenschaftlern. Wesentlich für die neue Kriminalistik war die Integration wissenschaftlicher und technologischer Kompetenzen zur Aufklärung von Straftaten, was in den vier Kapiteln des zweiten Teils beschrieben wird. Dort werden die Nutzung der Fotografie, die Einführung biometrischer Verfahren und die Entstehung von kriminalistischen Labors ebenso vorgestellt wie die Entwicklung von nationalen und internationalen Netzwerken der Kommunikation und Kooperation.

Das Interesse an Innovationen im Bereich der Kommunikation resultiert aus dem genuin arbeitsteiligen Charakter der Aufklärung von Verbrechen. Komplexe Daten müssen möglichst ohne Informationsverlust innerhalb der Behörden, zwischen unterschiedlichen Behörden und mit den Gutachtern kommuniziert werden, was die lokalen kriminalpolizeilichen Aktivitäten in einen regionalen, nationalen und internationalen Austausch einbindet. Weil die lokalen Behörden zur Aufklärung von Straftaten und zur Identifikation von Personen auf die entsprechenden Daten zugreifen konnten, wurde diese Kommunikation auch zu einem Element innerhalb der lokalen kriminalistischen Netzwerke. Der Zugriff auf externe Informationen konnte unterschiedliche Formen annehmen. Für die Fahndung nach flüchtigen Verbrechern mobilisierten schon die Kriminalisten des 19. Jahrhunderts die Mitarbeit von auswärtigen Polizei- und Justizbehörden. Bei der Suche nach unbekannten Tätern konnten die Akten von anderen Einrichtungen wie etwa Krankenanstalten wichtige Aufschlüsse bieten. In Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder bringen beispielsweise die Unterlagen der psychiatrischen Kliniken den lang ersehnten Hinweis auf den Mörder.

Die vier Kapitel des dritten Teils verfolgen die Strategien der Polizei im 20. Jahrhundert zur Bekämpfung von Kriminalität in der Massengesellschaft. Herkömmliche Formen der sozialen Kontrolle und polizeilichen Überwachung versagen im Kampf gegen Terroristen und Gewalt wie Sexualverbrecher wegen ihres sozial angepassten Verhaltens. Jeder wird dann verdächtig. Um den Kreis der Verdächtigen einzuschränken, werten die Kriminalisten ein breites Spektrum an Daten von staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen aus und gehen neue Allianzen ein – mit den Massenmedien, den Genetikern und Psychologen.

Die Rasterfahndung, die DNA-Analyse und das Profiling funktionieren am besten, wenn möglichst viele Personen in ihrem sozialen Verhalten, genetischen Profil und ihren Handlungsmustern erfasst sind. Die Kritiker dieses polizeilichen Wissenshungers sehen dadurch das Grundrecht der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung gefährdet und in vielen Fällen auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen verletzt. Aus ihrer Sicht entsteht in den Datenbanken von Polizei und Verfassungsschutz der gläserne Mensch, der manipuliert werden kann oder sich in vorauseilendem Gehorsam an die Erwartungen der staatlichen Organe anpasst. Die Kriminalistik der Nachkriegszeit muss sich mit dieser Kritik auseinander setzen; ihre Strategien sind das Ergebnis eines politischen Kompromisses zwischen Funktionalität und Rechtsstaatlichkeit, der von einer kritischen Öffentlichkeit eingefordert und überwacht wird.

Das erste Kapitel des dritten Teils beschäftigt sich mit dem erfolgreichen Versuch der Polizei, die Öffentlichkeit als Partner in der Fahndung nach Straftätern zu gewinnen. Die gesamte Ermittlungstätigkeit der Polizei war als eine Botschaft an die Bevölkerung gedacht, dass jedes Verbrechen verfolgt und jeder Täter seine Strafe finden werde. Seit dem späten 19. Jahrhundert begann die Polizei, die Bevölkerung gezielt in die Aufklärung von Straftaten und bei der Fahndung nach flüchtigen Verbrechern einzubeziehen. Durch die Nutzung der Massenmedien wird die Stellung von Verdächtigen und Beschuldigten in einer breiten Öffentlichkeit nachhaltig beeinträchtigt. Deshalb wurde ein leichtfertiger Einsatz dieses Fahndungsinstruments immer wieder kritisiert.

Die Polizeibehörden nutzten relativ früh die Innovationen der elektronischen Datenverarbeitung zur Neuorganisation der eigenen Registraturen. Die Möglichkeiten der systematischen Vernetzung unterschiedlicher Datenbanken eröffnete völlig neue Perspektiven für die Fahndung nach jenen Personen, die als Terroristen im Mittelpunkt des polizeilichen Interesses standen. Durch die Abfrage einer Vielzahl von Datenbanken nach bestimmten Kriterien filterten die Kriminalisten eine Gruppe von Personen heraus, die als besonders verdächtig galten. Im Kapitel über die Rasterfahndung werde ich zeigen, dass zur Formulierung der Abfrage ein Erfahrungswissen eingesetzt wird, das an den praktischen Blick des 19. Jahrhunderts erinnert.

Ein wesentliches Element des praktischen Blicks war der Schluss von der Tat auf den Täter. Jeder Berufsverbrecher sollte seine ganz spezifische Handschrift besitzen bzw. durch die Zugehörigkeit zur kriminellen Gegenwelt auch ein besonders auffälliges Sozialverhalten an den Tag legen. Mit diesem Wissen ließen sich besonders problematische Fälle wie etwa Serienmörder kaum fassen. Denn hier fehlte die Zuordnung zum kriminalistischen Erfahrungswissen. Der speziell geschulte Profiler analysierte mit einem theoretisch geschulten praktischen Blick den Spurentext von Gewaltverbrechen. Die Verwendung von hermeneutischen und statistischen Verfahren eröffneten Einsichten in die Täterpersönlichkeit und ermöglichten die Erarbeitung von neuen Strategien für die weitere kriminalpolizeiliche Arbeit, wie Kapitel 10 über das Profiling zeigen wird.

Die Kriminalistik des 20. Jahrhunderts erweiterte systematisch ihr Repertoire an wissenschaftlichen Techniken und nutzte neue Formen von Expertise. Die Träume der Kriminalisten von einem internationalen, interdisziplinären Riesenlabor wurden zwar nicht Wirklichkeit, aber die kriminaltechnischen Labors der Landeskriminalämter und des BKA erweitern beständig ihr Repertoire an wissenschaftlichen Verfahren. So liefert beispielsweise die forensische Entomologie (Insektenkunde) wichtige Hinweise zur Feststellung des Todeszeitpunkts von stark verwesten Leichnamen. In den letzten Jahren wurde vor allem die Erstellung von DNA-Profilen zu einem wichtigen Aufgabengebiet. Die Experten der Kriminalämter verbinden wissenschaftliche Kompetenz mit Praxiserfahrung und einem institutionell verankerten kriminalpolitischen Programm, um die umstrittene Ausweitung der Personengruppe durchzusetzen, zu der ein genetischer Fingerabdruck erstellt werden kann.

Meine bisherige Argumentation hat sich mit der Integration von Wissen und Techniken in die kriminalistischen Verfahren beschäftigt. Wenig wurde über die Produktion von kriminalistisch verwertbarem Wissen gesagt. Die Kriminalisten hatten kein Interesse an einer wissenschaftlichen Debatte über medizinische, physiologische, physikalische und chemische Forschungen und deren theoretische Grundlagen. Sie nahmen den Dialog mit den Vertretern unterschiedlicher Fachrichtungen mit einem klaren Anwendungsinteresse auf, beschränkten sich jedoch nicht auf die Rezeption fachwissenschaftlicher Einsichten, sondern engagierten sich selbst in Forschungsprojekten.

Die Forschungsinteressen der Kriminalisten umfassten bis zum späten 19. Jahrhundert gleichermaßen die Gebiete der Kriminologie, der Kriminaltechnik und der Kriminalpsychologie. Danach verlagerte sich die kriminologische Forschung hin zu den Anthropologen, Psychiatern und Soziologen. Die kriminalistischen Praktiker popularisierten die neuen Einsichten und nutzten sie zur Entwicklung von sicherheitspolizeilichen Strategien. Auch im Bereich der Kriminaltechnik blieben die Praktiker aktiv. Beispielhaft kann man auf den bekannten französischen Kriminalisten Alphonse Bertillon hinweisen, der mit der Einführung biometrischer Verfahren den Erkennungsdienst auf neue wissenschaftliche Grundlagen stellte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die kriminalistische Forschung zunehmend institutionalisiert. Im 1951 gegründeten Bundeskriminalamt und in den Landeskriminalämtern beschäftigten sich Forschergruppen mit der Vernehmungstechnik, der Spurensicherung vor allem von Betäubungsmitteln und Sprengstoffen, der Stimmidentifizierung und der Erstellung von Täterprofilen. Die Forschungsleistung der Kriminalisten stellt ebenso wie die naturwissenschaftliche und medizinische Forschung zusätzliche Elemente für kriminalistische Verfahren bereit. Dadurch änderte sich zwar die Praxis der Verbrechensbekämpfung, diese wurde aber nicht völlig davon bestimmt. Der praktische Blick der Kriminalisten benötigte trotz der Unterstützung durch Datenbanken und wissenschaftliche Expertise weiterhin Kreativität und Findigkeit, um sich in der Fülle von teils widersprüchlichen Informationen orientieren zu können.

Zu diesem Buch

In diesem Buch wird die Geschichte der Kriminalistik als interdisziplinäre Form der Verbrechensaufklärung und Prävention mit Hilfe von Fallstudien dargestellt. Jedes Kapitel steht für eine kriminalistische Methode. Die Anordnung folgt weit gehend der Chronologie ihrer Einführung. Entwicklung und Nutzung der jeweiligen kriminalistischen Verfahren werden in einen gesellschaftsgeschichtlichen Bezugsrahmen gestellt. Um die Bezüge zwischen den Verfahren der Justiz- und Polizeibehörden, den sozialen und politischen Verhältnissen und den neuen Technologien beschreiben zu können, steht am Beginn eines jeden Kapitels eine Fallgeschichte, auf die dann im weiteren Verlauf jeweils Bezug genommen wird.

Die Verwendung von Fallgeschichten ist nicht neu, hier stehen sie allerdings nicht nur als Beispiel für die erfolgreiche Entwicklung bzw. Anwendung einer bestimmten kriminalistischen Untersuchungstechnik, sondern bieten auch den Anknüpfungspunkt für deren Zuordnung zu einem sozialen, kulturellen und politischen Umfeld. Innovationen wie die Verwendung von Fingerabdrücken zur Personenidentifikation oder die Rasterfahndung zur Suche nach sozial unauffälligen Straftätern erschienen nicht plötzlich als geniale Erfindungen, sondern als Lösungsvorschläge für sicherheitspolizeiliche Probleme.

Die kriminalistischen Verfahren werden in diesem Buch nicht losgelöst von ihrer institutionellen Verortung betrachtet. Auf der lokalen Ebene der Behördenorganisation hatte die Einführung von neuen Technologien ganz erhebliche Auswirkungen, die in einer Geschichte der Kriminalistik nicht fehlen dürfen. So erforderte die Einführung von Fingerabdrücken neue Registraturen und die Ausbildung von Kriminalbeamten in der Handhabung dieser Technologie, um nur ein Beispiel zu nennen.

Entwicklung und Veränderung der jeweils neuen Techniken werden bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgt. So erhält jedes einzelne Kapitel unabhängig von seiner Positionierung innerhalb der Gesamtgliederung eine eigenständige historische Argumentation. Die Rekonstruktion der ‚Biografien‘ dieser Verfahren eröffnet eine zusätzliche Perspektive in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kriminalistik. Die Verfechter der Innovationen mussten sich gegen den Widerstand etablierter Praktiken und kritischer Stimmen aus der Öffentlichkeit durchsetzen und gleichzeitig die Vereinbarkeit mit den Verfahrensregeln von Justiz und Polizei überzeugend nachweisen.

Dem Täter auf der Spur

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