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7. Das erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts

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Trotz dieser Kritik hielt die Koalition mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 9.5.2001114 am branchenfreundlichen Kurs fest. Es ging dort zunächst nur um die Umsetzung eines Anstoßes aus Brüssel, nämlich die Aufnahme der Gasrichtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.6.1998. Jedoch reichten die Fraktionen SPD und Bündnis90/Die GRÜNEN im Mai 2002 einen Änderungsantrag ein, wonach in § 6 Abs. 1 eingefügt werden sollte, dass „bei Einhaltung der Verbändevereinbarung über Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektrische Energie und über Prinzipien der Netznutzung ... bis zum 31. Dezember 2003 die Erfüllung der Bedingung guter fachlicher Praxis vermutet“ werde. Federführer: Der energiepolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Volker Jung, zugleich Beigeordneter beim VkU, der 1997 noch gegen eine Verbändevereinbarung gewesen war.

Das war ein folgenschwerer rechtstechnischer Trick: Wenn das Gesetz einem Verfahren die gesetzliche Vermutung der Richtigkeit beimisst, führt das zu einer Beweislastumkehr vor Gericht. Es muss jetzt nicht mehr der Netzbetreiber nachweisen, dass die Kalkulationsgrundsätze der Verbändevereinbarung fachlich in Ordnung sind und die Anwendung dieser Kriterien daher zu angemessenen Netzentgelten führt. Vielmehr musste der Netzzugangsaspirant dartun, warum diese Kalkulationsgrundsätze nicht zu angemessenen Netzentgelten führen, der davon gar nichts verstand: So war beispielsweise sehr strittig, welche Nutzungsdauern einem Anlagegut beizumessen waren. Beispiel: Ein Kabel, das nach seiner technischen Auslegung 50 Jahre nutzbar war, war gleichwohl mit einer Nutzungsdauer von nur 25 Jahren abgeschrieben worden. Solche kurzen Nutzungsdauern waren in vielen Bundesländern üblich, weil die Behörden, die die Aufsicht über die Strompreisbildung führten, die kurzen Abschreibungsfristen als sogenannte steuerliche Abschreibung akzeptiert hatten. Nach 25 Jahren wurde es also mit dem Wert 0 im Anlagenspiegel geführt. Wenn dasselbe Anlagegut nach den Nutzungsdauern der Verbändevereinbarung auf 50 Jahre abgeschrieben wurde, war es plötzlich wieder halb so viel wert, wie es ursprünglich einmal gekostet hatte. Man konnte es der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) kaum verdenken, wenn sie im Rahmen einer Verbändevereinbarung für die Beibehaltung dieser Wohltaten aus früheren Monopolzeiten stritt. So blieben die Kosten der Stromdurchleitung rechnerisch höher als sie eigentlich sein mussten, und dementsprechend die Netznutzungsentgelte. Wenn der Gesetzgeber nunmehr diese Grundsätze der Verbändevereinbarung damit adelte, dass sie „gute fachliche Praxis“ darstellten, war jahrelanger Streit vor Gericht programmiert: Jahrelang deswegen, weil kein Richter sich mit dieser neuartigen Materie auskannte und deswegen auf Sachverständigengutachten setzen musste, um sich die Kalkulationsgrundsätze und die Berechnung als solche erklären zu lassen. Eine weitere Problematik bestand darin, einen Sachverständigen zu finden, auf den sich beide Parteien einigen konnten; sind doch in der Energiewirtschaft alle Sachverständigen irgendwo wirtschaftsnah. Auch Sachverständige aus Wirtschaftsprüfungsgesellschaften waren keineswegs neutral. Immer spielte eine große Rolle, welche Jahresabschlüsse sie zu prüfen hatten. Da brachte das Internet häufig überraschende Verortungseinsichten.

Im juristischen Schrifttum115 hat diese Verrechtlichung der Verbändevereinbarungen herbe Kritik erfahren. Eine funktionierende wettbewerbsorientierte Praxis sei auf dem Elektrizitätsmarkt nur im Ansatz und auf dem Gasmarkt noch weitaus weniger spürbar. Es werde daher auf eine „Praxis“ verwiesen, die ihre Bewährungsprobe noch nicht bestanden habe. Der Bundesrat lehnte die Verrechtlichung beim Erdgas daher ab.116 Die Vermutung guter fachlicher Praxis habe die Funktion, einen möglichen Missbrauchsvorwurf nach den Regeln des Kartellrechts zu entkräften. Das führe zu einer Beweislastumkehr. Wettbewerber könnten die ihnen aufgenötigten Beweise aber schlecht führen. Damit würde die gesetzliche Vermutung, so die angesehenen Energierechtler Säcker/Boesche117, zur „EG-rechtswidrigen mitgliedsstaatlichen Verstärkung wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens“.

Am 14.3.2003 lehnte der Bundesrat die Verrechtlichung der Kalkulationsgrundlagen beim Netzzugang ab und rief den Vermittlungsausschuss an. In der öffentlichen Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Bundestags am 13. Mai wandten sich die Mehrheit der Sachverständigen und insbesondere das Bundeskartellamt gegen die Verrechtlichung der Verbändevereinbarungen. Allenfalls könne man die Verbändevereinbarungen „berücksichtigen“. Insbesondere könne eine solche Vermutung nicht dem Kalkulationsleitfaden für Netzentgelte Strom zukommen. Die Verbändevereinbarung Gas sei insgesamt nicht so weit und könne deswegen keinesfalls an der Vermutung teilhaben.

Aber der Lobby-Einfluss war stärker: Der Bundestag beschloss die Verrechtlichung beider Verbändevereinbarungen mit der Beweislastumkehr. Jedoch wurde unter dem Eindruck des Vermittlungsverfahrens mit Art. 2 § 3 ein Monitoring eingeführt. Danach habe das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit dem Bundestag bis zum 31.8.2003 über die energiewirtschaftlichen und wettbewerblichen Wirkungen der Verbändevereinbarungen zu berichten und ggf. Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten.

Im ersten Monitoring-Bericht118 hieß es unter dem Stichwort „Durchsetzung des Netzzugangsanspruchs“ erwartungsgemäß, dass die Zivilgerichte und Kartellbehörden in großem Umfang in Anspruch genommen wurden. Was die Haushaltskunden angeht, wurde eine geringe Wechselbereitschaft beklagt, die insbesondere auf die vielen Schwierigkeiten beim Lieferantenwechsel zurückzuführen sei. Zu den Netznutzungsentgelten heißt es:

Wie angemessene Netznutzungsentgelte nach einem breit akzeptierten Verfahren bestimmt werden können, ist bisher nicht zufrieden stellend beantwortet. Die Preisfindungsprinzipien der VV II plus lassen insoweit eine Reihe wichtiger Fragen unbeantwortet ...“.119

Die Monopolkommission wurde in ihrem 15. Hauptgutachten vom 9.7.2004120 noch deutlicher: Es seien „weiterhin erhebliche Behinderungen beim Netzzugang in der Elektrizitätswirtschaft festzustellen, die auf das außerordentlich hohe Niveau der Netznutzungsentgelte in Deutschland zurückzuführen sind“. Die gerichtliche Kontrolle funktioniere nicht. Die Leitentscheidung des OLG Düsseldorf betreffend Netzentgelte vom 11.2.2004 (TEAG)121 wird mit den Worten kommentiert, die gerichtliche Kontrolle sei gescheitert:

Insgesamt wird die Missbrauchsaufsicht im Rahmen des allgemeinen Wettbewerbsrechts durch die Rechtsauffassung des Gerichts im Hinblick auf die Folgewirkungen der ‚Verrechtlichung‘ der Verbändevereinbarung geradezu ad absurdum geführt.“

Das OLG, dessen Entscheidungen wegen seiner Zuständigkeit für das Bundeskartellamt in Bonn die Rechtsprechung stark beeinflusst hatte, hatte ja die Verbändevereinbarung rundherum abgesegnet.

Damit hatte das OLG freilich nur die vom Gesetzgeber offensichtlich gewollte Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte praktiziert. Es war daher nur konsequent, wenn die Monopolkommission jetzt eine „Reform des Regulierungsrahmens“ und die vorherige Genehmigung der Netznutzungsentgelte forderte. Beides wurde dann mit dem zweiten Neuregelungsgesetz zum EnWG in Angriff genommen. Dabei musste der Gesetzgeber die Erfahrungen der Regulierung bei Telekom und Post berücksichtigen.

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