Читать книгу Ein Sommer in Cassis - Peter Berg - Страница 6

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Niemand konnte sagen, warum Isabelle heute nicht wie immer den Weg durch den Ort zum Hotel genommen hatte, sondern offenbar direkt zum Hafen gegangen war. Die junge Kellnerin hatte mir jeden Morgen fröhlich zugezwinkert und gefragt „Comme toujours?“ („Dasselbe wie immer?“). Dann hatte sie mir das für deutsche Verhältnisse karge französische Frühstück gerichtet: Café au Lait, in zwei Kännchen getrennt, die größere Portion mit Milch, die kleinere mit Kaffee, Croissant mit Butter und Konfitüre und einem zusätzlichen Brötchen.

Nun lag sie auf dem hölzernen Bootssteg, die Augen weit geöffnet mit Schrecken im Blick. Als habe sie zuletzt einem Ungeheuer ins Auge geschaut. Das kurze, bunte Leinenkleid vorn zerrissen, die langen, blonden Haare zerzaust, triefend nass, wie man sie gerade aus dem Wasser des Hafenbeckens gezogen hatte. Zwei Fischer sahen sie an der Wasseroberfläche treiben, als sie von ihrer Fahrt zurückkehrten. Rasch hatten sie das Mädchen aus dem Wasser gefischt. Doch es war zu spät.

Ratlose Betroffenheit in den Gesichtern der Umstehenden: Fischer, Restaurantbedienstete, Hotelgäste und einige der älteren Frauen des Dorfes. In ihren verwaschenen, blauen und dunkelroten Küchenkitteln warteten sie jeden Morgen auf die Rückkehr der Boote, um den Fang zu begutachten. Wenn die Fische dann auf den Holztischen am Kai ausgebreitet liegen, mit offenen Mäulern, die eben noch vergebens nach Luft schnappten und mit weit aufgerissenen Augen, feilschen die Weiber eifrig und lauthals mit den Fischern um die besten Stücke. Dann tragen sie ihre Beute für wenig Geld zusammen mit dem typischen Geruch in ihren Basttaschen nach Hause.

Außer mir, dem Frühaufsteher, war noch kein Tourist zu sehen. Sie kommen erst gegen neun aus ihren Hotels. Müden Blickes, die Nacht mit ihren Freuden noch in den Gliedern. Bis weit nach Mitternacht geht das sommerliche Treiben in den Gassen und Lokalen von Cassis. Für viele Sommergäste, vor allem die von den prachtvollen Yachten, fängt das Leben erst am Nachmittag an.

Es war mir schon aufgefallen, dass mir Catherine, die Concierge, heute den Kaffee selbst brachte. Der kleine, tägliche Flirt mit der hübschen Isabelle fehlte mir an diesem Morgen. Aber ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Auch sie hatte ein Anrecht auf einen freien Tag. Die Sonne knallte am siebten Tag meines Urlaubs wie schon alle Tage zuvor von einem Himmel, wie man ihn sich bei uns nur erträumt. Bis zuletzt hatten mich die rätselhaften Prostituiertenmorde, die seit Wochen die Frankfurter Halbwelt in Aufruhr brachten, auf Trab gehalten. Als Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter des Kommissariats Tötungsdelikte, Leichen und Vermisstensachen konnte ich gerade in dieser Zeit meine Kollegen nicht im Stich lassen. Ich musste den geplanten Urlaub immer wieder verschieben. Doch dann hatten wir den erhofften Erfolg.

Die von mir inszenierte Lockvogelaktion wäre fast dramatisch ausgegangen. Eine unserer besten Nachwuchspolizistinnen hatte sich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet. Vier Frauen waren der Bestie in nur sechs Wochen zum Opfer gefallen. Dann endlich konnten wir sie kurz vor dem nächsten Mord ergreifen. Ich war ein hohes Risiko eingegangen, doch der Erfolg rechtfertigte die Mittel.

Gleich nach der Pressekonferenz mit dem Polizeipräsidenten war ich gestartet. Einfach losgefahren Richtung Süden, nichts wie weg! Fluchtartig, gewiss. Nach den letzten Tagen mit kaum hinreichendem Schlaf war auch die weite Fahrt eine Tortur. Ich habe aber schon oft festgestellt, dass ich gerade am Ende von Anstrengungsphasen zu Höchstleistungen in der Lage bin. Und da eignet sich eine lange Fahrt mit dem Auto besonders, weil sie spürbar Abstand schafft. Einfach abschalten wollte ich, eintauchen in eine andere Welt, fernab von Zwielicht und Gewalt.

Und nun holte mich das alles doch wieder ein. Was für ein Albtraum in dieser traumhaften Umgebung!

Zuerst hatte ich von meinem morgendlichen Stammplatz unter dem Platanendach vor dem ‚Hôtel du Port‘ nicht so recht erkennen können, was die Fischer da mit einer Stange im Wasser heranzogen. Als dann immer mehr Menschen zum Steg liefen, aufgeregtes Rufen herüber scholl, sie den schlanken, leblosen Körper aus dem Wasser hievten und hektische Versuche der Wiederbelebung die ansonsten so gemächliche Ruhe störten, kam es mir vor wie in einem Film aus lange vergangener Zeit.

So schnell kann man sich an das andere, süße Leben gewöhnen. Oh, ich könnte das alles ohne Probleme leicht hinter mir lassen! Seit ich fünfzig bin, denke ich öfter an die Möglichkeit, nochmal ein anderes Leben zu führen. Zu schnell waren all die Jahre in täglicher Routine versunken.

Sie versuchten es immer wieder, rollten sie auf alle Seiten, drückten und pressten den geschundenen Leib der jungen Frau auf unglaublich stümperhafte Weise. Rechtfertigen konnte man das nur durch den verzweifelten Versuch der Wiederbelebung. Ich hatte mich nach anfänglichem Zögern in Bewegung gesetzt und mich wie in Trance in den Film eingefunden. Ich war die paar Meter zum Steg gegangen und hatte es auf einen Blick gesehen.

„Il n‘y a plus de chance. Elle est morte“, hörte ich mich sagen, „Pech gehabt, sie ist tot.“

In den letzten Jahren nach meiner Scheidung war ich unregelmäßig immer mal wieder nach Südfrankreich gefahren. Wie damals, als die Kinder noch klein waren. Heute kommt es mir vor, als suchte ich die Spuren der verlorenen Jahre. Mein Französisch funktionierte jedenfalls noch immer recht gut.

Die Umstehenden sahen mich schweigend und betreten an, als hätte ich gerade das Todesurteil gesprochen. In diesem Moment kam eine beleibte Frau laut rufend und mit den Armen rudernd aus einer der schmalen Gassen, die hier im rechten Winkel auf die Hafenmole treffen. Sie stolperte in ihren Hauspantoffeln über den Platz. Schon von weitem rief sie immer wieder den Namen Isabelle. Sie musste die Mutter des Mädchens sein.

Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.

Gleichzeitig mit ihr trafen die zwei örtlichen Gendarmen ein. Der Ältere, ein Glatzkopf, verschaffte sich sogleich mit gestrengem Ton Respekt: „Bitte zurücktreten, Mesdames et Messieurs!“ Der junge, schmächtige Kollege, den er im Gefolge hatte, unterstrich diese Aufforderung durch weit ausholende Gesten der Geschäftigkeit. Aber nur langsam wichen die versammelten Menschen vor der Obrigkeit zurück. Einzig die strohblonde Frau bahnte sich wild gestikulierend Raum durch die Menge. Sie stürzte sogleich auf die Tote und versank in der schmerzlichen Gewissheit des Erkennens schluchzend an der nackten Brust des Mädchens. Ein Bild des Jammers, die Polizisten ließen sie gewähren. Derweilen fragten sie die Umstehenden, wer die Frau aus dem Wasser zog. Der ältere Gendarme notierte die Namen der beiden Fischer. Nun traf auch der örtliche Doktor ein, noch im Morgenmantel. Seinen Arztkoffer auf den Planken geöffnet, musste auch er gleich erkennen, dass hier alle Mühe vergeblich war.

Nein, dies war hier jetzt wirklich nicht mein Geschäft! Langsam ging ich zu meinem verlassenen Frühstückstisch zurück, wo noch ein angebissenes Croissant neben der Tasse mit inzwischen kalt gewordenem Milchkaffee lag. Daneben der Roman und mein Tagebuch. Beides Versuche, in diesem Urlaub endlich mal wieder abzuschalten und mich auf Wesentliches zu besinnen. Schon kam das Geheul eines heranfahrenden Polizeifahrzeugs schrill um die Ecke. In knapp einer halben Stunde konnte man von Marseille herüberkommen. Ihm folgte ein ziviler Wagen der Mordkommission.

Nur zu gut kannte ich die Rituale, die jetzt einsetzten. Auch aus der Distanz konnte ich jeden einzelnen Schritt der Ermittlungen nachvollziehen. Ich zwang mich, mein Buch aufzuschlagen, um nicht hinüberschauen zu müssen. Doch ich ertappte mich, drei Seiten gelesen zu haben, ohne ein einziges Wort zu verstehen. Viel mehr kreisten meine Gedanken um diese Tätigkeit, die mir nun aus der Distanz so hoffnungslos, ja sinnlos vorkam. Nichts konnten sie mehr reparieren und wieder gut machen. Ein trauriges Geschäft. Mit der Zeit, so war mir schon lange klar, stumpft man ab in diesem Beruf. Man muss sich schützen vor all den grausamen Eindrücken. Leichen, die gerade noch beseelt im Leben waren, werden zu Objekten nüchterner Betrachtungen und Recherchen.

Zuerst deckten sie ein weißes Leinentuch über die Tote, um sie vor weiterer Neugier zu schützen. Und anstatt dem erbaulichen Gang meines Romanes zu folgen, sah ich für einen kurzen Moment nur das morgendliche Zwinkern Isabelles vor meinem inneren Auge. „Comme toujours?“

„Mein Gott, das junge Ding“, brachte Catherine hervor, als sie das Frühstücksgeschirr auf das silberne Tablett räumte. Sie war wie ich zum Steg hinübergelaufen, um einen Blick auf die ungewöhnliche Szene zu werfen. Dabei hatte sie voll Schreck feststellen müssen, dass die Tote ihre Kollegin war. Wie versteinert hatte sie an die zehn Minuten dort in der Menge gestanden. Dabei waren ihr die wildesten Mutmaßungen durch den Kopf geschossen. Dann regte sich ihr Pflichtbewusstsein und sie dachte daran, dass sie Hotel und Restaurant nicht zu lange unbeaufsichtigt lassen durfte und war zurückgeeilt.

„Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“, fragte ich mit gewohnter Routine. Man kann seine Berufshaltung nicht so ohne weiteres abstreifen. Als ich es merkte, war die Frage schon heraus.

„Gestern am Mittag, sie hatte wie immer die Frühschicht von sieben bis fünfzehn Uhr.“

Catherine war eine auffallend hübsche Frau, Anfang bis Mitte dreißig, die tagsüber die Rezeption und morgens bei der Bewältigung des Frühstücks den Thekendienst versah. Da wir uns gleich sympathisch waren, hatten wir uns bei Gesprächen über belanglose Themen, Smalltalk übers Wetter und andere Befindlichkeiten, angefreundet.

„Ich habe sie gestern besonders fröhlich gesehen“, fuhr sie fort und war offenbar froh, mit jemandem über die schockierenden Ereignisse sprechen zu können. „Irgendwie war Isabelle verändert, in freudiger Erwartung, wenn ich es mir jetzt so überlege. Ich habe sie gefragt, ob sie in der Lotterie gewonnen hätte, aber sie hat nur ausweichend geantwortet, das könne man nie wissen geheimnisvoll die Augen nach oben gedreht. Dabei hat sie gelacht, wie sie es immer tat, um Fragen auszuweichen, die sie nicht beantworten wollte. Sie hatte ein so fröhliches Wesen. Dabei war es kein leichtes Leben, das sie führte. Und irgendetwas lag in der Luft.“

„Hatte sie einen Freund?“ fragte ich fast mechanisch weiter. Dass es sich nicht um Freitod oder einen Unfall handelte, war mir sofort klar gewesen, und auch Catherine schien dies zu wissen. Der starre Ausdruck des Grauens in den Augen des Mädchens hatte es mir gesagt. Wenn tote Augen sprechen könnten! Menschen, die ins Wasser gehen, um ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen, haben manchmal noch den Ausdruck der stillen Verzweiflung im Gesicht, oft aber auch einen Hauch von Ruhe, ja beinahe des friedlichen Einschlafens. Hier aber stand das Grauen mit solch unbarmherziger Deutlichkeit in dieses so schöne, junge Gesicht geschrieben, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste, bevor das Mädchen ins Wasser stürzte und ertrank. Auch das zerrissene Kleid sprach schon ohne nähere Untersuchung dafür, dass hier ein Verbrechen geschehen war. Zweifellos musste auch eine Obduktion angeordnet werden.

„Nicht dass ich wüsste“, entgegnete Catherine nach einer Weile des gedankenverlorenen Schweigens, „sie lebt bei ihrer Mutter und verdient für beide den Unterhalt. Die Frau bekommt wohl keine Rente, und ich glaube sie ist krank und kann nicht arbeiten. Der Mann ist früh gestorben, Isabelle hat nie von ihrem Vater gesprochen. Sie war meist von einem fröhlichen Wesen, aber auch sehr verschlossen, wenn es darum ging, Persönliches mitzuteilen. Sie sprach nicht gern über ihr Leben.“

„Weißt du, ob sie eine Freundin hatte, junge Mädchen sind doch selten allein, sie treffen sich, sie gehen zusammen aus?“

„Oh, was glauben Sie, Monsieur“, Catherine lachte kurz auf und vergaß für einen Moment das Drama, das sich ereignet hatte, „dafür gibt es überhaupt keine Zeit. Isabelle bedient doch abends noch bis Mitternacht in einem Fischrestaurant hier in einer der Seitenstraßen. Sie war so fleißig, mon Dieu, das arme Ding!“ Sie zuckte ratlos mit den Schultern und trug das Tablett davon.

Das Restaurant hatte sich inzwischen mit Hotelgästen gefüllt, meist Franzosen, die nun ihr Petit Déjeuner verlangten, einen Mocca und höchstens ein Croissant. Auch einige der Eigner von Luxusyachten, die hier vis à vis an der Mole ankerten, kamen gern auf eine Tasse des lebensspendenden Getränkes hierher. Nun, da sich das Ereignis im Hafen offenbar herumgesprochen hatte, bekam Catherine besonders viel zu tun, musste sie doch Isabelles Arbeit noch mit erledigen. Dennoch kehrte sie wenig später zu mir an den Tisch zurück und fügte wie in einem inneren Dialog, der sie in Rätseln gefangen hielt, hinzu: „Sie ist jeden Morgen auf direktem Wege von der Wohnung zur Arbeit gekommen, meist war sie spät dran und musste sich beeilen. Warum war sie heute so früh im Hafen? Ich verstehe das nicht. Und wer tut ihr so etwas an?“

Nein, ich wollte absolut nicht in diese Sache hineingeraten! Das war überhaupt nicht mein Fall, und indem ich mir dieses ins Bewusstsein rief, kam mir mein ursprünglicher Plan wieder in den Sinn, mich heute früh mit meinem Buch fernab der Strandgäste an den Leuchtturm zu setzen.

Tagebucheintrag:

Samstag, der 13. Juli

Wir schaffen uns unsere Welt, und unsere Welt schafft uns.

Mache ich mir doch endlich klar, dass ich irgendwann folgenreiche Entscheidungen getroffen habe, die dazu führten, dass ich dort angelangt bin, wo ich bin! Am Ende einer Sackgasse.

In meiner Frankfurter Tretmühle kann ich solche Gedanken nicht fassen. Hier aber, in dieser Oase, wird mir nun schlagartig klar, dass ich selbst der Mittelpunkt meiner Welt bin.

Da passiert ein aktueller Mordfall, und ich könnte doch ganz ruhig und gelassen auf meinem Kaffeehausstuhl sitzen bleiben, mich des schönen Tages erfreuen. Doch was tue ich? Die in meine Seele eingebrannten Muster lassen mich aufschrecken, als sei ich schon wieder an der Reihe, müsste auch hier wieder alle ungeklärten Mordfälle dieser Welt lösen.

Wenn man jung ist und aufstrebend, sucht man tragende Säulen.

Eine solche ist der Beruf. Ich habe mich, immer ehrgeizig, in der Hierarchie nach oben gedient. Niemand kann mir vorwerfen, ich sei jemals nachlässig und nicht genügend pflichtbewusst gewesen. Immer an vorderster Front, immer rund um die Uhr im Einsatz. Als Leiter der Abteilung schließlich ein Vorbild für alle.

Wirklich ein Vorbild?

Wir tun stets so, als wollten wir einen hohen Berg erklimmen, um irgendwann auf dem Gipfel zu stehen und dann in Ruhe den herrlichen Rundumblick zu genießen. Aber sind wir nicht eher wie hässliche Käfer, die an einem glatten Eisenrohr emporklettern, um, oben kaum angelangt, in die tiefe Dunkelheit hineinzustürzen? Oder, um in dem Bild vom Berg zu bleiben: Wir stürmen los und vergessen vor lauter Karrierestreben, oben inne zu halten. Wir rennen stattdessen am Gipfel weiter und stürzen in das dahinter liegende Tal.

Eine zweite Säule, die ich baute, die Familie, hat in meinem Leben schändlich gelitten. Viel zu spät habe ich gemerkt, dass man in meinem Beruf vielleicht gar keine Familie haben sollte. Es ist kein normaler Beruf, weil er keine geregelte Freizeit zulässt. Der Beruf hat mein Privatleben aufgefressen. Zuerst haben die Kinder ihren Vater immer weniger gesehen, dann hat Evelyn mich mit ihnen verlassen, als sie merkte, dass sich nichts ändern würde. Nun sind die Kinder erwachsen, Evelyn ist längst neu gebunden, sie hat rechtzeitig die Kurve gekriegt.

Wohin führt mein Weg?

Der runde, vielleicht nur fünfzehn Meter hohe Turm aus weißem Cassis-Stein hat eine umlaufende Bank. Sie macht seine besondere Attraktivität aus. Denn je nach dem Stand der Sonne und eigenem Wärmeempfinden kann man auf warmem oder kühlem Stein, im Sonnenschein oder Schatten sitzen.

Gemächlich war ich an den von ihren neuen Besitzern restaurierten Fischerhäusern am Kai entlang geschlendert. Vorbei an den Läden und Boutiquen, wo nun die Verkäuferinnen ihr Auslagen und Warenkörbe vor die Türen räumten. Der brünetten Brillenverkäuferin, die aus Neu-Isenburg stammte, hatte ich wie jeden Morgen freundlich zugewinkt, und sie hatte mir wie immer ein Lächeln geschenkt. Dann hatte ich den Platz am hinteren Hafenende überquert. Dort, wo jetzt unter Platanen die ersten Boule-Spieler ihre silber glänzenden Kugeln auspackten. Dann hatte ich mich, den Badestrand links liegen lassend, geradewegs auf mein Ziel am hinteren Ende der Mole zu bewegt.

Der weiße Kalkstein von Cassis, so las ich in einem Urlaubsführer, wurde bereits in der Antike genutzt. Die Kais des Hafens von Alexandria sollen aus ihm bestanden haben. Ganz sicher ist die Verwendung für den Sockel der Freiheitsstatue in New York. Ich setzte mich zuerst auf die dem Meer zugewandte Seite, um die warme Morgensonne zu genießen. Draußen kreuzten bereits zwei, drei der prachtvollen Jachten, die in den nahen Naturhäfen, den Calanques, ankern. Ein schnelles Boot jagte mit einem Wasserskiläufer am Horizont, die weiße Gischt hinter sich herziehend. Linker Hand ragt hier weithin sichtbar als Wahrzeichen des Ortes das gewaltige Felsmassiv des Cap Canaille fast senkrecht aus dem Meer. Mit seinen nahezu vierhundert Metern befindet sich hier die höchste, ins Meer abfallende Steilküste Europas. Davor, wie ein Adlernest, eine mittelalterliche Burganlage.

Am ersten Tag nach meiner Ankunft hatte ich die junge Kellnerin beim Frühstück danach gefragt.

„Nein, dort können Sie nicht hingehen, das ist privat!“ hatte sie mir geantwortet und mit deutlicher Ehrfurcht hinzugefügt „das sind die Michelins!“ Das hatte jedoch meine Neugier nur geweckt, und ich hatte mir vorgenommen, später zu versuchen, diesen geheimnisvollen Berg zu erkunden.

Vom Badestrand schallten nun die Stimmen der Sommergäste herüber. Lautes Kinderlachen und lustvolles Schreien, wenn eine Welle durch vorbeifahrende Motorboote verursacht, den flachen Strand bespülte.

Zuerst hatte ich in mein Tagebuch geschrieben, nun schloss ich die Augen, hielt mein Gesicht in die Sonne und genoss den leichten Wind, der von der See her wehte. Wenigstens etwas Bräune wollte ich mal wieder auffangen, um meine Frankfurter Büroblässe für ein paar Tage zu übertönen. Das hatte ich mir vorgenommen, und es war nach den paar Tagen schon gut gelungen. Dann wechselte ich die Turmseite und setzte mich, nun im angenehm kühlen Schatten, dem Hafen zugewandt. Dort drüben, vis-a-vis, lag mein Hotel, und daneben der Ort des grausigen Fundes von heute Morgen. Noch keine zwei Stunden waren es her, dass ich aus der trägen Urlaubslethargie aufgeschreckt und an meine berufliche Sphäre erinnert worden war. Von den Menschen, die sich versammelt hatten, war nichts mehr zu sehen, alles hatte sich verlaufen. Längst ging man wieder den Alltagsbeschäftigungen nach. War alles nur ein Spuk gewesen?

Mein Blick schweifte den Hang hinter den Häusern der vordersten Reihe am Hafen empor. Dort oben standen in auslaufenden Gärten prachtvolle Villen der Neureichen, die sich hier ein Sommerdomizil zugelegt hatten. Von dort musste man einen traumhaften Blick über die gesamte Bucht, auf das Cap Canaille, das mittelalterliche Schloss und den Hafen haben. Ich geriet ins Träumen.

Wie wäre es, wenn ich für immer hierbleiben könnte? Bevor ich diesen reizvollen Gedanken weiterspinnen konnte, zog ein Geschehen vor meinen Füßen meine Aufmerksamkeit auf sich. Zwei kleine Kinder, vielleicht um die Fünf, Junge und Mädchen, stritten immer lauter darum, wer einen Gegenstand, der dort im leise schwappenden Wasser bei der Hafeneinfahrt schwamm, zuerst mit einem Stock an Land ziehen durfte. Die Mütter der beiden waren derweil in einem Gespräch vertieft. Sie gönnten den Kleinen keinerlei Aufmerksamkeit. Meine Sorge galt den Kindern, die sich gefährlich weit auf einen der spitzkantigen Steine gewagt hatten und nun mit der nächsten Welle ins tiefe Wasser zu rutschen drohten. Instinktiv sprang ich auf und den Kindern zur Seite. Es war keine Sekunde zu früh, um den kleinen Mann, der sich mit dem Stock weit vorgelegt hatte, am Zipfel zu packen und vor dem Sturz ins Wasser zu retten. Der Stock entglitt ihm dabei, und er fing an, aus ganzer Seele zu schreien. Da erst hoben die Mütter ihre Augen und sahen einzig, wie ein fremder Mann den Jungen gepackt hatte. Sie stürzten herbei, nun selbst laut zeternd, und es dauerte eine Weile, bis ich ihnen den Ernst der Lage klargemacht hatte. Ob dieses wirklich gelang, konnte ich nicht feststellen, denn sie zogen schließlich mit ihren Kleinen von Dannen.

Nur der Stock, der inzwischen auf den Stein gespült worden war, blieb zurück und der im Wasser schwimmende Gegenstand. Dieser erregte nun auch mein Interesse, sah er doch aus wie eine Tasche aus schwarzem Leder, und als hätte diese noch nicht so lange Zeit im Wasser verbracht.

Für mich war es ein Leichtes, sie mit dem Stock aus den sanft dümpelnden Fluten zu angeln. Ich trug die Tasche zur Bank am Turm und leerte sie aus. Das Fundstück, das sich als bedeutsam erweisen sollte, trug außen eine silberfarbene Einstanzung, die es als Markentasche auswies. Ich kannte mich dabei nicht aus, hatte das Zeichen jedoch schon irgendwo gesehen. Ein Taschentuch mit kunstvollen Initialen I.V., ein Lippenstift, ein Schlüsselbund, fünfhundert Euro gerollt in Hunderterscheinen, ein paar lose Papierfetzen, geknüllt und mit Beschriftung, die deutlich in Gefahr war, durch die Nässe unlesbar zu wer-den, und, ich traute meinen Augen kaum, triefend nass aber entzückend, ein rosafarbener Spitzen-BH.

Mir schwante sogleich, was sich später bestätigen sollte. Ich packte alles schnell wieder ein, griff nach meinen Sachen und eilte die Mole mit mindestens dem doppelten Tempo als auf dem Herweg zurück. Hatte mich dieser ‚Fall‘ schon wieder eingeholt?

Als ich das Café bei meinem Hotel betrat, war es noch gut besucht von den Spätaufstehern und ersten Tagestouristen.

„Monsieur Schneider!“ rief Catherine, als ich am Empfang vorbei hastete, nur schnell meinen

Zimmerschlüssel greifend, „Ich muss Ihnen etwas berichten!“

„Später!“ entgegnete ich, „keine Zeit!“

Ein Sommer in Cassis

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