Читать книгу Ein Sommer in Cassis - Peter Berg - Страница 7
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Die Polizeipräfektur lag am oberen Ende der Rue César an einem kleinen Platz. Als ich eintrat, warteten bereits einige Menschen auf Bänken im Flur. Da ich diese Situation kenne, gab ich mir keine Mühe, mich in die Warteschlange einzureihen, sondern trat mit meinem berufsmäßigen Habitus sogleich an den Tresen, hinter dem ein Uniformierter saß, legte die Tasche, die inzwischen fast getrocknet war, darauf und sagte: „Monsieur, die Tasche gehört, glaube ich, zu Ihrem Kriminalfall.“
Der schreibende Beamte blickte kurz auf, musterte mich kritisch, stufte mich offenbar als Ausländer ein, überlegte kurz, ob er mich anweisen sollte, zu warten, merkte aber instinktiv an meiner bestimmten Haltung, dass es besser sein würde, sich mit mir nicht zu lange zu befassen und antwortete daher: „Welcher Fall?“„Der Fall des ermordeten Mädchens am Hafen“, entgegnete ich. Er lachte kurz auf, trat an den Tresen, sah die Tasche an und fragte: „Woher haben Sie diese?“
„Sie schwamm im Wasser am Leuchtturm.“
Derweil öffnete er den Reißverschluss, sah hinein und fragte: „Haben Sie irgend etwas herausgenommen?“
„Nein“, war meine schnelle aber nicht ganz richtige Antwort, hatte ich den Inhalt doch zweimal inspiziert, einmal auf der Steinbank am Leuchtturm und dann gründlicher in meinem Hotelzimmer. „Nein, es fehlt nichts“, fügte ich bestätigend hinzu, „auch die fünfhundert Euro habe ich darin gelassen!“
„Wissen Sie, wem die Tasche gehört?“ fragte der gar nicht unfreundlich wirkende Beamte.
„Nein, ich vermute es nur“, gab ich zurück, „heute Morgen sah ich aus der Ferne, wie man eine junge Frau aus dem Wasser zog, vielleicht ist es ihre Tasche.“
„Ist keine Carte d’Identité darin?“
Als ich dieses verneinte, hob er kurz die Augenbrauen, schaute mich prüfend an und sagte schließlich:
„Merçi Monsieur, wir werden das überprüfen!“ Dann nahm er das Stück, legte es ohne den Inhalt zu begutachten auf einen Tisch und wandte sich wieder seinen Schreibarbeiten zu.
Als ich anschließend durch die malerischen Gassen zum Hafen ging, war ich verwundert über diesen leichtfertigen Umgang mit Spuren. Er hatte offenbar gar nicht begriffen, dass hier wichtige Indizien vorlagen. Das waren dilettantische Unterlassungen, die, sollten sie Methode im gesamten Verfahren sein, dazu führen mussten, dass man diesen Mordfall kaum würde aufklären können! Er hatte sich im Übrigen weder nach meiner Identität erkundigt, noch sich auf einer Karte zeigen lassen, an welcher Stelle des Hafenbeckens ich die Tasche aus dem Wasser gefischt hatte. Auch das darf einem Polizisten, der immer und überall verpflichtet ist, Straftaten zu erkennen und aufzuklären, nicht passieren. Aber ich war nicht hier, um den französischen Kollegen ihre Arbeit zu erklären. Wieviele Chancen, begangene Verbrechen zu entdecken und aufzuklären, werden auch bei uns durch nachlässige Ermittlungen unfähiger Beamter vertan! Ich hatte einige Jahre an der Polizeischule gelehrt und konnte ein Lied davon singen, wie sehr uns die Probleme mit dem Nachwuchs zwangen, auch diejenigen noch einzustellen, die nach meiner Überzeugung kaum für den Beruf geeignet sind.
Catherine, die hübsche Empfangsdame, schaute mir mit verheißungsvollem Blick entgegen, als ich über den Vorplatz des Hotels kam, der bis auf den letzten Platz mit kleinen, runden Tischen und Stühlen ausgefüllt war, an denen nun Kaffeegäste saßen.
„Hallo Monsieur Schneider, hatten Sie einen angenehmen Tag nach dem schrecklichen Zwischenfall heute Morgen?“ Sie hauchte den Zischlaut ‚Sch‘ am Anfang meines Namens wie bei dem Wort ‚Chérie‘ und betonte die zweite Silbe.
„Merçi“, entgegnete ich lächelnd, „Sie wollten mir vorhin etwas sagen?“
„Die Polizei war hier, ich wollte Ihnen den Fortgang berichten, weil Sie doch heute früh alles miterlebt haben, als man die arme Isabelle aus dem Wasser zog.“ Sie war nun ins Deutsche gewechselt, das sie recht gut beherrschte und senkte etwas die Stimme, wie mir schien, um niemanden mithören zu lassen. Damit gab sie der Angelegenheit einen Hauch von Geheimnis.
„Was haben sie gefragt?“ forschte ich weiter.
„Sie glauben nicht an Mord. Sie haben nur die Fragen gestellt, die Sie mir auch schon heute früh stellten, seltsam, nicht? Wann ich sie zuletzt gesehen habe, wann ihre Arbeitszeiten waren, ob ich etwas von Freunden oder einer Freundin wüsste.“ Bedeutungsvoll verdrehte sie die Augen. Dann fuhr sie fort: „Ich habe den Commissaire gefragt, ‚wer tut einem jungen Menschen so etwas an‘? ‚aber er hat mich nur unverständig angeschaut und gebrummt: ‚Die Wasserleichen werden auch immer jünger‘. Und stellen Sie sich vor, was er dann wissen wollte!“
„Was denn?“ musste ich wegen der Kunstpause nachfragen, denn sie versuchte, ihre Entrüstung durch Theatralik hervorzukehren, „nun sagen Sie schon!“
„Er hat mich gefragt, ob ich in der letzten Zeit Depressionen bei ihr bemerkt habe! Nein, nicht im Entferntesten, habe ich geantwortet, aber es schien ihn nicht zu überzeugen, denn er blickte voll Zweifel.“
„So gehen sie also tatsächlich von einem Freitod aus?“
Sollten die französischen Kollegen die Indizien einer Gewalttat wirklich verkennen? Oder wollte man die beschauliche Atmosphäre des sommerlichen Ferienortes nicht stören, was gewiss fatale Folgen für den wichtigen Wirtschaftszweig des Tourismus haben könnte. Man lässt so lange nichts an die Öffentlichkeit, bis der Täter in einem überraschenden Akt schneller Aufklärung präsentiert werden kann. Dann entsteht schlagartig der Eindruck, die Polizei habe alles im Griff und man könne voller Vertrauen auf die Obrigkeit hier unbeschwert Urlaub genießen, auch wenn bedauerlicherweise mal ein solches Unglück passierte. Auch bei uns in Frankfurt hatten wir Ermittlungsergebnisse zur Messezeit nicht gleich an die Presse gegeben, um die weiteren Nachforschungen nicht zu gefährden. Manchmal ist es klüger, ohne die Öffentlichkeit zu ermitteln.
„Genau das habe ich auch gefragt“, fügte Catherine hinzu, „Sie glauben doch nicht etwa, dass dieses fröhliche Ding lebensmüde war!“
„Aber Madame“, habe der Commissaire nur lapidar geantwortet, „da ist mal wieder eine junge Frau ins Wasser gegangen, Liebeskummer, sie werden immer verrückter. Es ist schon das dritte Mal in diesem Sommer, immer war es Liebeskummer.“
„Warum, meine Liebe, sagen Sie, erzählen Sie mir das alles?“ wollte ich nun wissen, und es regte sich ein bestimmter Verdacht in mir. Sie aber lachte spitzbübisch und etwas verlegen, denn sie war eher eine Meisterin der indirekten Andeutungen:
„Monsieur, haben Sie für heute Abend schon ein Restaurant gewählt?“ Einige gute Tipps hatte ich diesbezüglich von ihr in den letzten Tagen bekommen, denn ich hatte mir schnell angewöhnt, jeweils abends in einem der hervorragenden Restaurants zu speisen, die es hier in den Straßen und an allen Plätzen zu Dutzenden gibt. Außerdem wollte ich wieder etwas abspek- ken. Kripoleute verfallen früher oder später dem Alkohol oder fressen sich
Kummerspeck an, sonst können sie diesen Job nicht ertragen. Das war jedenfalls meine Theorie, und mich zählte ich zu der zweiten Kategorie.
„Wollen Sie mir wieder eines empfehlen?“
„Ja gern. Es gibt ein exzellentes Fischrestaurant an der Rue de l’Arène. Ich habe es Ihnen aus einem bestimmten Grund nicht empfohlen“. Sie lächelte vielsagend und schaute mir dabei ins Gesicht, als wolle sie testen, ob ich den Grund herausfinde. Ich hatte schon eine Vermutung, ich tat ihr nicht den Gefallen, diese mitzuteilen und ging statt dessen aufs Ganze:
„Madame, darf ich Sie heute zum Abendessen einladen? Ich hoffe, Sie geben mir keinen Korb!“ Und bevor sie antworten konnte, fügte ich hinzu: „Sie wissen doch sicher so manches, was uns beiden in dieser mysteriösen Geschichte weiterhelfen könnte?“
„Oui, Monsieur le Commissaire“, lautete die Antwort.
„Oui? Zu welcher der beiden Fragen sagen Sie ja?“
„Zu beiden, mein Herr“, lachte sie verschmitzt, „ja, ich weiß einiges, was uns weiterhilft, und ja, ich nehme Ihre Einladung gern an. Treffen wir uns um acht?“
Sie hatte sich hübsch gemacht, fast hätte ich Catherine ohne ihre Arbeitskluft nicht wiedererkannt. Sie trug nun eine knallenge, schwarze Jeans, die ihre Figur betonte, und eine ebenso anliegende, weiße Satinbluse mit halbem Arm und atemberaubendem Ausschnitt. Mit dem dezenten Goldschmuck und der gebräunten Haut an Hals und Armen kam ihre gereifte Weiblichkeit besonders gut zur Wirkung.
Wir hatten uns bei der Bar Cap Canaille verabredet, einem zentralen Punkt der Hafenpromenade. Dort trafen deren beide Schenkel fast im rechten Winkel zusammen.
Ihr brünettes Haar trug sie nun schulterlang offen, was ihr sehr gut zu Gesicht stand.
„Wie wäre es mit einem Aperitif?“ fragte ich direkt. Es war, wenn ich recht überlegte, das erste Rendezvous mit einer Frau seit Jahren, das nicht in einem beruflichen Zusammenhang stand. Die sommerliche Stimmung, die Ferne von meiner Arbeitsumgebung, die mir seit Langem kaum noch Luft für Privates ließ, aber auch das frische, offene Wesen dieser Frau, bei der ich spürte, dass auch sie das Leben mit all seinen Facetten schon erfahren hatte, gaben mir den Mut, so etwas zu beginnen.
Gewiss, einige kurze Beziehungen waren schon gewesen nach meiner Scheidung, alle waren nach wenigen Wochen in die Brüche gegangen. Immer wieder hatten sich auch Zweifel eingeschlichen, ob es nicht auch an mir läge, vielleicht wirklich eine Beziehungsunfähigkeit eine Rolle spielte, wie Evelyn sie mir in den letzten Wochen unserer Ehe vorgeworfen hatte.
„Ja gern“, hatte sie geantwortet und dann einen Moment gewartet, denn sie spürte meine Unsicherheit, als mir all dies durch den Kopf schoss. Da war er wieder, jener Zweifel.
„Kommen Sie, hier gibt es einen hervorragenden Vin de Cassis“, lachte sie und ich bemerkte, dass sich, wenn sie nur herzlich genug lachte, ein kleines Grübchen auf der linken Wange zeigte. Zugleich stellte ich fest, dass sie, was ich zuvor noch nicht bemerkt hatte, eine winzige Nuance an Farbunterschied in ihren beiden Augen hatte, was ihrem Blick einen besonderen Reiz gab. Ihr rechtes Auge war hellblau, während das linke eine Spur nur zum Grünen tendierte. Schnell schaute ich mich nach einem Platz um, denn die Bar war bis auf die Promenade hinaus gut besetzt. Aber Catherine erwies sich als Kennerin der Szene und steuerte gleich auf eine der gepolsterten Lederbänke im hinteren, überdachten Bereich der Bar zu. Gleichzeitig winkte sie dem Wirt freundlich, gab Signale einer Bestellung. Dort hinten waren gerade zwei Plätze mit dem Rücken zur Wand frei geworden, sodass wir einen schönen Überblick über die besetzten Tische bis hinaus zur Promenade mit den flanierenden Menschen und den dahinter im Wasser ankernden, bereits beleuchteten Jachten bekamen.
Catherine begrüßte noch zwei ihr offenbar bekannte Gäste, die schon an dem Tisch saßen, vor sich ein Anisgetränk. Sie tat es auf jene mir typische Art und Weise der Südländer, bei der man kurz links und rechts Wange an Wange schmiegt, den zugehörigen Kuss in der Luft aber nur kurz gehaucht andeutet. Ein schönes
Freundschaftsritual, das in unserer oft eher feindlichen Alltagswelt kaum einzuführen wäre
„Monsieur Grippa und sein Sekretär Marcel“, stellte sie mir die beiden vor und fügte erklärend hinzu: „Monsieur Grippa führt hier das größte Importgeschäft für Modeschmuck aus Ostasien.“
Dieser lächelte mir zu und sagte in reinem Deutsch: „Wie geht’s? Gefällt es Ihnen hier?“
„Merci, j’aime la France!“ antwortete ich dafür auf Französisch und fügte hinzu: „Woher sprechen sie so gut Deutsch?“
„Berlin drei Jahre“, antwortete der groß gewachsene Mann und wandte sich dem ‚Sekretär‘ wieder zu, mit dem er zuvor schon in angeregter Unterhaltung gewesen war, und es schien mir nun, als sei es eher ein Streitgespräch, von dem ich aber keine Einzelheiten mitbekam, denn meine Aufmerksamkeit wurde ganz von der Frau an meiner Seite beansprucht.
„Die Geschäftsleute gehen nach der Arbeit gern mit ihren Angestellten oder Kollegen auf einen Drink hierher“, erklärte Catherine, „diese Sitte hebt das Klima und die Stimmung!“
Vielleicht sollten wir davon lernen, dachte ich und ich nahm mir vor, ähnliche Rituale einzuführen. In Gedanken an meinen Job fiel mir wieder ein, wie Catherine mich am Nachmittag genannt hatte, Monsieur le Commissaire, und stellte sie nun zur Rede: „Wie haben Sie das gemeint vorhin mit dem Commissaire?“ Sie lachte wieder auf ihre herzliche und sympathische Weise, und das Grübchen war zu sehen.
„Sind Sie es nicht?“
„Leugnen hat wohl bei Ihnen wenig Sinn, denn Sie scheinen das Handwerk einer Detektivin zu verstehen!“ entgegnete ich und fasste sie dabei leicht beim Arm. Zugleich trafen sich unsere Blicke und ich versuchte, meine flüchtige Beobachtung von zuvor noch einmal zu überprüfen: Tatsächlich, beide Pupillen waren eine Spur unterschiedlich in der Farbe.
Sie hielt meinem Blick stand. Sie lächelte. Wir sahen uns, nahe beieinandersitzend und uns zugewandt, vielleicht eine Viertelminute nur schweigend in die Augen. Zu lange, um es bedeutungslos finden zu können. In solchen Augenblicken werden Momente zu Ewigkeiten. Ich könnte sie jetzt küssen? Wie würde sie reagieren? Einen Moment lang dachte ich, es gäbe keine andere Lösung. Doch da erinnerte sie sich wieder an ihr unnachahmliches Lachen, mit dem sie jede Verlegenheit zu überspielen vermochte. Griff zum Weinglas, um mir zuzuprosten: „Das ist ein echter Wein, wie er hier in der Nähe wächst, und hier ist er besonders gut“, bemerkte sie, als wäre dies nun die wichtigste Feststellung der Welt. „Dieser trockene Wein schmeckt nach Myrte und Rosmarin. Die Touristen in den anderen Restaurants bekommen meist das, was minderwertig ist und sogar aus anderen Gebieten importiert. Was glauben Sie, welche Mengen hier in den Sommermonaten konsumiert werden?“
Das gab mir Gelegenheit, auch nach meinem Glas zu greifen, und ich wusste in diesem Moment nicht, ob ich eher die verpasste Gelegenheit bedauern oder mich über die verhinderte Peinlichkeit einer schallenden Ohrfeige erfreuen sollte. Gewiss war sie nicht die Frau, die man einfach unvermittelt in der Öffentlichkeit küsst. Da gibt es doch wohl noch Unterschiede, die mit einem feinen Gefühl von Nähe und Distanz zu tun haben, die gesellschaftlich definiert sind. So hatte ich zum Beispiel beobachtet, wie ein deutsches Paar in unserem Hotel ankam, freundlich begrüßt wurde, weil es bereits, wie stolz erzählt wurde, das achte oder neunte Mal hier Urlaub machte. Man erkannte sich wieder, sprach sich mit Vornamen an, doch umarmte man sich nicht. Distanz war trotz Bekanntheit vorhanden. Zwei andere, französische Paare, die in Lederkluft mit Motorrädern reisend Zwischenstation machten, wurden ganz anders empfangen. Catherine war hinter ihrem Tresen hervorgekommen, hatte sie alle umarmt und in der beschriebenen Weise mit Luftküssen begrüßt. Man gehört eben dazu oder nicht.
Nein, so einfach küssen durfte ich sie nicht! Und schon gar nicht auf den Mund. Das hätte alles verderben können. Erst wenn man bei der Begrüßung umarmt wird, verstand ich jetzt, ist man aufgenommen in den inneren Zirkel der wirklichen Freunde.
„Monsieur le Commissaire, Sie haben sicher bemerkt, dass hier, wie sagt man, - etwas stinkt?“ sie kam ohne Umschweife zum Thema. „Sie haben die letzten Tage schon sehr genau die Menschen beobachtet. Ich habe zuerst gedacht, sie wären ein Psychologe, oder ein, verzeihen sie, Kleiderverkäufer, denn auch diese schauen die Leute genau an. Aber als Sie mir dann heute diese Fragen nach dem Mord gestellt haben, so professionell, habe ich plötzlich gewusst, dass dieses Ihr Beruf sein muss!“
„Beachtlich!“ fuhr es mir heraus, „Sie liegen gar nicht ganz verkehrt, Madame. Aber sagen Sie, wieso bemerken Sie so etwas?“
„Nun, ich beobachte auch sehr genau, und dabei bemerkt man vieles, was anderen entgeht“, lachte sie wieder und schaute mir dabei erneut in die Augen. Und nun kam es mir vor, als provoziere sie in vollem Bewusstsein mit ihrer Weiblichkeit, man nennt das einen Flirt. Dann hob sie wieder das Glas.
Ich hielt ihr meine Packung Zigaretten hin, sie lehnte dankend ab, und ich steckte mir einen Stengel an. Bisher hatte ich es geschafft, während des Urlaubs dieses Laster wenigstens etwas zu reduzieren.
Gern hätte ich das Thema noch weiter vertieft, um auf die Frage zu kommen, was sie wirklich wusste von all den mysteriösen Ereignissen hier im Hafen. Jetzt aber wurde die Aufmerksamkeit der Menschen ringsum von einem besonderen Auftritt angezogen, der außerdem durch seine Lautstärke einem Gespräch den Boden entzog.
Zwei Frauen in mittlerem Alter, streng frisiert, mit Haarknoten und Dunkelrandbrillen, rollten auf einem kleinen, hölzernen Handwagen ein winziges Schlagzeug heran, dazu einen kleinen Musikverstärker mit Mikrofon, das sie auf einem Ständer vor den Gästen der ersten Reihe an der Promenade platzierten. Beide Frauen trugen knallenge, graue Kostüme mit superkurzen Röcken, die figurbetont ihre weiblichen Rundungen und makellosen Beine zur Geltung brachten. Die skurrile Szene wirkte durch den Kontrast von scheinbar sexualfeindlicher Gestrigkeit und aufreizender Hervorhebung ihrer Weiblichkeit: Altmodische Frisuren, die an die Mitte des vorigen Jahrhunderts erinnerten, dazu die unmodernen Kostüme, jedoch knalleng und minikurz, die dunkel umrandeten Hornbrillen, hochhackige Stöckelschuhe, dazu das lächerliche Gefährt, mit dem das Ganze daher kam, darauf ein Instrument, dem man keine Kraft zutraute, - all das erweckte bereits Aufmerksamkeit, bevor sie ihre Musikshow begannen.
Zunächst spielten sie ein züchtiges Chanson im Stil frommer Betschwestern. Beide sangen, und die vordere begleitete dazu mit der Gitarre. Die hintere saß auf einem Schemel an dem Schlagzeug. Einige der Zuschauer amüsierten sich, verdrehten abfällig die Augen: Was wird einem denn hier zugemutet?
Doch schlagartig setzte ein knallharter Beat ein. Die jungen Frauen entpuppten sich als hervorragende Schauspielerinnen und Musikerinnen, die moderne Rhythmen mit erstaunlicher Schärfe und Präzision aus diesen Miniinstrumenten herausholen konnten. Dazu eine einstudierte Show aus Gestik und Mimik, die alle Gäste der Bar zu begeistertem Mitklatschen verführte. Der Kontrast hatte höchste Wirkung. Auf der Flaniermeile stauten sich die Menschen.
Catherine ließ sich nicht mitreißen, wiegte nur leicht den Kopf hin und her, sie kannte, so schien es, die Show bereits. Leider verstand ich den Text nicht so recht, ab und zu lachten die Leute bei den Pointen, es schien mir sozialkritisch, irgendetwas von verbotener Liebe, Sex und Drogen.
Dann wieder der schnelle, laute Beat mit Tanzschritten der vorderen, und alle Leute nun in Bewegung auf ihren Stühlen.
Catherine winkte der Kellnerin um zu bezahlen.
„Lassen Sie uns gehen, bevor sie jetzt betteln kommen!“ sie kannte das Spiel der Musikantinnen, die nun gleich mit dem Hut herumgehen würden und dabei, so erklärte sie mir, sich mit dieser Masche bereits ein prachtvolles Haus in einer Vorortstraße finanziert hatten.
„Absahnerei nennt man das in Deutschland, glaube ich“, sagte Catherine.
„Woher können Sie eigentlich so gut Deutsch?“ fragte ich, doch meine Frage ging unter in dem gerade wiedereinsetzenden Beat.
Wir verließen das Lokal und ließen uns in der Menge treiben, denn die Lieblingsbeschäftigung der zehntausend Sommergäste, die täglich hier flanieren, ist das allabendliche Suchen nach einem Sitzplatz in einem der zahllosen Restaurants, die vor den ehemaligen Fischerhäusern eingerichtet sind. Jedes nur denkbare Eckchen wird für einen Tisch mit Stühlen genutzt. So findet ein ständiger Perspektivenwechsel statt, bei dem beide Seiten sich für die Beobachter halten: Diejenigen, die glücklich sind, einen Stuhl ergattert zu haben, zahlen für überteuerte Getränke, um in Ruhe die Vorbeiziehenden anschauen zu können. Die Vorbeiziehenden betrachten das Anschauen der Sitzenden als schönstes und durch nichts zu ersetzendes Abendprogramm, höchstens durch das Glück, selbst einen Sitzplatz zu erwischen.
Nun war es höchste Zeit, das Fischrestaurant aufzusuchen, bevor dort ebenfalls alle Plätze besetzt waren. Catherine zog zielstrebig zu einer der Seitenstraßen, und über wenige Gassen und Plätze erreichten wir ‚Chez Gustave‘, ein Restaurant, dessen Küche offenbar im Obergeschoss des Hauses lag, während die dazu gehörenden Tische und Stühle der Speisegaststätte auf der Straße standen. Viele Restaurants dieser Art sparen den notwendigen Gastraum, indem sie auf das gute, mediterrane Wetter vertrauen und den Gästen das beschriebene Vergnügen gönnen, beim Essen die Vorbeiziehenden betrachten zu können und von diesen gleichzeitig beim Essen begutachtet zu werden. Sehen und gesehen werden!
„Lassen Sie uns diesen Tisch hier nehmen, gleich bei der Treppe“, legte Catherine sich fest, und ich hatte das Gefühl, sie tat es mit Bedacht. Es gab Tische für zwei und Tische für vier Personen. Wir nahmen an einem freien Zweiertisch platz. So hatten wir, nahm ich an, für unsere Gespräche keine Mithörer.
Der Wirt, dessen Aufgabe es war, zu Beginn des allabendlichen Rituals die Vorbeiziehenden zum Platznehmen zu animieren, war von unserer Entschlussfreude angetan, andere Suchende standen noch unschlüssig an den in der Gasse aufgestellten Speisekarten, die auf bunten Schautafeln die zahlreichen Menüvorschläge und -kombinationen mit Pauschalpreisen in allen Preisklassen enthielten.
„Mögen Sie Muscheln oder Fisch?“
Catherine war absolut überzeugt, dass die hier angebotenen Muscheln bar jeden Verdachts genießbar waren. Seit ich von Muscheln mit hoher Schadstoffkonzentration gelesen hatte, kann man mich mit Muscheln jagen. Wohl um mich von deren Unbedenklichkeit zu überzeugen, bestellte sie sogleich die schwarzen Schalentiere.
Der Wirt brachte zunächst ungefragt wunderbar frisches Weißbrot in leicht angerösteten Scheiben mit einem Dip zum Bestreichen. Der zuvor in der Bar genossene Wein hatte meinen Hunger geweckt, sodass ich, noch bevor der erste Gang kam, ordentlich zulangte.
„Sie beherrschen die deutsche Sprache erstaunlich gut“, stellte ich nun erneut fest, um die Conversation in Gang zu bringen, „wo haben Sie das so gut gelernt?“
„Ich habe eine bewegte Vergangenheit, die mich auch einige Jahre nach Deutschland führte“, entgegnete meine schöne Begleiterin. Sie saß mir nun vis-à-vis und spielte bei diesen Worten mit dem Brotstück, die Augen nach unten geschlagen, als wolle sie eigentlich über dieses Thema nicht sprechen.
„Die Musik vorhin“, hob ich von neuem an, „wovon haben sie gesungen?“
„Eine kritische Geschichte, die hier jeder versteht“, sprudelte sie nun, offenbar dankbar für den Themenwechsel, hervor.
„Ein junger Mann liebt ein Mädchen, doch er ist arm und kann ihr nichts bieten. Sie aber hat hohe Ansprüche an das Leben. Dann trifft sie den reichen, älteren Mann, der ihr ein Leben in Luxus verspricht. Er, wie sagt man, ködert sie mit Geld, bietet ihr alles, was ihr Herz begehrt. Doch er nutzt sie nur aus, verbraucht ihre junge Liebe, und zurück bleibt eine ausgebrannte Seele.“
„Wann setzt der Beat ein, das Stück verbindet doch Melancholie mit Protest, oder?“
„Ja, der Schlag kommt mit dem Refrain, der sagt, dass das junge Mädchen sich auf ihre Liebe besinnen und zu dem jungen Mann zurückkehren soll. Liebe ist mehr wert als alles, was man mit Geld kaufen kann, auch wenn du glaubst, mit Geld Liebe kaufen zu können. So jedenfalls ist das Fazit der Geschichte.“
„Wie wahr“, sinnierte ich und dachte nur kurz an mein Frankfurter Mordszenario, das ich vor einer Woche hinter mir gelassen hatte. Hier unter südlichem Himmel kam es mir wie Jahre entfernt vor.
„Sie wissen natürlich längst, warum ich mit Ihnen heute hier essen gehen wollte?“ fragte sie nun unvermittelt.
„Sie wollten mit mir essen gehen, ich dachte, ich hätte Sie eingeladen?“ entgegnete ich mit gespieltem Erstaunen.
„Mit einem charmanten Herrn gehe ich jederzeit gern essen, Monsieur Commissaire“, lachte sie nun spitzbübisch, „doch reizvoller ist es, wenn dazu noch ein gemeinsames Projekt kommt.“
„Nun, ich denke, es ist wohl das Fischrestaurant, in dem die junge Kellnerin aus unserem Hotel abends noch bediente“, sprach ich meine Vermutung aus. „Aber was das gemeinsame Projekt betrifft, weiß ich nicht, was Sie meinen, liebe Catherine!“ Erstmals sprach ich sie beim Vornamen an, um zu sehen, wie sie darauf reagieren würde. Sie tat ungerührt: „Ja, sie muss bis gegen Mitternacht hier gewesen sein. Wenn man die Spur aufnehmen will, muss man hier beginnen.“
Was in aller Welt dachte sie sich? Glaubte sie ernsthaft an ein Interesse bei mir, meine Berufstätigkeit hier im Urlaub fortsetzen zu wollen? Und warum hatte sie ein Interesse daran, die Arbeit der hiesigen Polizei in Zweifel zu ziehen? Und dabei hatte ich mich schon in der Illusion gewähnt, ihre Aufmerksamkeit gelte ausschließlich mir als attraktivem Fünfziger! Waren die schönen, blaugrünen Augen, die sie mir machte, nur berechnendes Mittel zum Zweck? Welches Ziel hatte sie im Sinn, und welches waren ihre Motive?
„Also gut“, gab ich zu, „mein Beruf ist das Kriminalhandwerk. Ihnen kann ich nichts verheimlichen. Aber ich bin hier im Urlaub und deswegen eher an den Reizen lebendiger Wesen interessiert. Warum sollte ich nicht jenseits aller Greueltaten einfach mit einer attraktiven Frau hier essen gehen?“ Das Kompliment kam an. Sie griff nach meiner Hand, drückte sie und sagte: „Nenn mich bei meinem Vornamen, ich heiße Catherine, wie du weißt. Und warum sollte nicht das eine mit dem anderen vereinbar sein?“
In diesem Moment brachte eine junge Frau eine große Terrine mit Bouillabaisse, der bekannten Fischsuppe, platzierte die Teller, schöpfte mit einer Kelle auf und wünschte „Bon appétit!“
„Glaub mir, Jens,“ mein Name hörte sich wie gehaucht aus ihrem Munde an, „ich habe einen Verdacht, was hier zum Himmel stinkt, und es ist nicht das erste Mal, dass eine junge Frau umgebracht wird. Das muss aufhören, bevor noch mehr Morde passieren!“ Sie schaute mich mit ihrem Katzenblick an, der ihre Erregung sichtbar werden ließ. Nun senkte sie wieder die Stimme, die bei den letzten Worten unvermeidbar lauter geworden war und fügte appellierend hinzu: „Es geht hier um mehr als ein flüchtiges Abenteuer, glaube mir. Dich hat der Himmel geschickt, damit endlich Licht in das Dunkel kommt und jemand mit Kompetenz die richtigen Fragen stellt!“
Ich blickte sie nur ungläubig an, denn ich konnte mir kaum ernsthaft vorstellen, mich in die Arbeit der französischen Kollegen unbefugt einzumischen. Warum sollte ich an der Ernsthaftigkeit ihrer Ermittlungen zweifeln? Welchen Grund sollte es geben, Morde unter den Teppich zu kehren? Wahrscheinlich waren meine Augen an dieser Stelle blind, und ich ging einer hysterischen Frau auf den Leim, die sich etwas zusammenreimte, nur weil ich lange keine Gelegenheit zu einer ordentlichen Beziehung gehabt hatte. Vorsicht, Jens, sagte ich mir, pass auf, dass du der netten Catherine nicht auf den Leim gehst!
Gustave, der Wirt, stand am Eingang, immer noch auf Kundenfang, doch wenn erst einmal die meisten Tische besetzt sind, füllen sich auch die restlichen schnell, denn wo viele speisen, vermuten andere auch eine gute Küche. Gustave schaute hin und wieder zu uns herüber. Vielleicht hatte er ein paar Worte aufgeschnappt, und mir kam es so vor, als würde er ein besonderes Interesse an uns haben.
Die Suppe kühlte inzwischen so weit ab, dass sie gegessen werden musste. „Lass uns erst die Vorspeise genießen, bevor wir uns dem Hauptgang widmen“, sagte ich schließlich, und ich war mir der Zweideutigkeit bewusst. Da erhob sie sich spontan etwas von ihrem Stuhl, beugte sich zu mir herüber, und ehe ich mich versah, hatte sie mir quer über die Suppenterrine in aller Öffentlichkeit einen Kuss auf die Lippen gedrückt.
„Das, mein Lieber, war die Vorspeise“, sagte sie mit klarem Triumph in der Stimme, „lassen wir den Hauptgang kommen!“ Das gekochte Fischfilet, in einer Steinform serviert, mit frischen Tomaten und provenzalischen Kräutern pikant abgestimmt, im Ofen überbacken, war köstlicher als aller Fisch, den ich je zuvor gegessen hatte. Dazu wieder eine Flasche des guten Weines, den Catherine fachkundig geordert hatte. Sie selbst saß nun vor einem Berg geleerter Muschelschalen, lehnte sich zufrieden zurück, lächelte mich an, während ich noch die restlichen Kartoffeln im Tomatensud wendete.
Wir hatten vielleicht fünf Minuten so schweigend gesessen. Ich war von der plötzlichen, mir durchaus nicht unangenehmen Kussattacke überwältigt ins Nachdenken verfallen. Hatte sie mir damit ein Geschäft angeboten: Ihre Liebe, ein verheißungsvolles Urlaubsabenteuer, gegen meine Mithilfe beim Aufdecken eines Verbrechens, das offenbar noch tiefere Abgründe eröffnen würde? Was wusste sie? Was gab es noch zu entdecken?
„Nun gut, ma chère“, begann ich erneut und zwang mich zu einem Lächeln, „nehmen wir den Kuchen oder den Pudding mit Krokant als Dessert?“
„Am besten beides, und dann teilen wir“, schlug sie vor.
Gut gesättigt, zufrieden und nun wirklich voll des guten Weines, der erfreulicherweise aber nicht in den Kopf stieg, verlangte ich die Rechnung.
Da beugte sich der Wirt herunter und flüsterte: „Monsieur, Sie wollen mit mir über Isabelle reden, nicht wahr? Ich habe es kommen sehen. Aber es geht nicht hier und heute. Morgen früh um elf können wir uns auf der Bank vorn am Brunnen treffen, auf dem kleinen Platz.“ Sagte es und ging die ‚Addition‘ holen, die Rechnung, die in Speiserestaurants dieser Art in einem Ritual bezahlt werden: Man verlangt die ‚Addition‘, „l’addition s’il vous plait!“, die verdeckt auf einem Tellerchen gebracht wird, zahlt dann, wenn der Kellner gegangen ist, indem man den als angemessen empfundenen Betrag, der natürlich über der Summe der Rechnung liegt, wieder verdeckt in das Papier auf dem Teller schiebt. Dann verlässt man in der Regel das Restaurant, ohne auf Wechselgeld zu warten. Alles eine Sache der Ehrerbietung und des Vertrauens.
Catherine schaute mich erwartungsvoll an, als wolle sie fragen: „Du gehst doch hin, morgen früh und nimmst unsere Ermittlungen auf?“
Ich nickte ihr nur lächelnd zu, der Wein hatte seine besänftigende Wirkung getan. Hätte ich gewusst, welch weitreichende Folgen diese Entscheidung haben würde, ich hätte wohl schleunigst die Flucht ergriffen.
„Sag, warum hast du mir bisher dieses hervorragende Restaurant verschwiegen?“
„Du wärst auf Isabelle gestoßen, dort hättest du den Morgenflirt fortsetzen können!“ kam die prompte Antwort. Hatte sie schon vor dem Mordereignis ein Auge auf mich geworfen?
Die Nacht war mit tiefem, erholsamem Schlaf ausgefüllt. Seit ich den Stress meines Berufsalltages hinter mir gelassen hatte, schlief ich hier wie selten zuvor in meinem Leben. Keine nächtlichen Unterbrechungen, dafür ein halbwegs regelmäßiger Tages- und Nachtrhythmus. Das wirkte Wunder. Die ersten Nächte war ich allerdings aus Erschöpfung zu früh zu Bett gegangen. Dann genügte das Gegröle von Spätheimkehrern auf der Straße vor meinem Fenster, und vorbei war der erste Tiefschlaf. Mir blieb dann nur, den Fernseher einzuschalten und erneut auf Müdigkeit zu warten. Doch die nächtlichen Sexprogramme, die geboten wurden, waren schon am zweiten Tag so ermüdend, dass sich bald wieder Schlaf einstellte.
Diese Nacht hatte ich durchgeschlafen. Um Elf waren wir nach dem guten Mahl und einem weiteren Drink in einer anderen Bar an der Hafenpromenade zum Hotel zurück geschlendert. Catherine hatte mich dort unerwartet schnell verlassen, musste sie doch früh ihren Dienst antreten, nicht jedoch, ohne mich noch einmal mit einem Kuss zu betören, der mich an längst vergessene Zeiten erinnerte und zugleich unseren an diesem Abend geschlossenen Bund bekräftigen sollte. Ich wusste nicht, wohin sie entschwand, nicht wo sie wohnte und wie sie dorthin gelangte. Wann würde sie mich in ihre innerste Sphäre einweihen?
Am nächsten Morgen war ich früh wach wie immer. Ich hatte an meinem Tisch unter den Platanen gefrühstückt. Vor mir, vielleicht zwanzig Meter entfernt, die ankernden Luxusyachten. Dazwischen der Getränkewagen, der jeden Morgen das Hotel mit viel Geklapper und Getöse mit Fässern, Kisten und Kästen belieferte, dann der Hafenmeister, der seinen Dienst antrat, Gemeindebedienstete, die mit einem Tankfahrzeug und Schlauch die Blumenkübel begossen, ein fegender Hausmeister sowie erste, mit einem Taxi an- oder abreisende Touristen. Eine geschäftige Urlaubskulisse, die viel Gelegenheit zu intimer Beobachtung bot, aber mir selbst die Ruhe und Gelassenheit ermöglichte, die ich in meinem anderen Leben so sehr vermisste.
Das Opfer Isabelle hatte man schnell durch eine andere Kellnerin ersetzt. Ein junges, etwas dickliches Mädchen, wendig und dienstbeflissen. Eine Hübschere, so dachte ich, hatte man wohl nicht mehr zur Verfügung. Manager von Gastronomiebetrieben wissen überall auf der Welt, dass die Gäste sich auch mit den Augen erfreuen wollen. Ein hübsches Ding, knackig anzusehen, ist, wenn sie auch noch flott und freundlich bedient, die halbe Werbung fürs Lokal.
Tagebucheintrag:
Sonntag, der 14. Juli
Ich bin entflammt! Wer hätte das gedacht, dass ich alter Knacker noch mal Feuer fange!
Dabei weiß ich nicht, ob das Tauschgeschäft, auf das ich mich da einlasse, reell ist. Sie bietet mir, wonach ich im Innersten meiner Seele dürste, die Illusion von Liebe.
Doch was verlangt sie dafür?
Es ist absurd: Sie verlangt, dass ich gebe, was ich wenigstens für eine Zeit lang hinter mir lassen wollte, meine berufliche Kompetenz, mein Know-how, und ich bin gefangen im Kitzel einer neuen Liebe!
Früher war das Schreiben eines Tagebuches eine Möglichkeit gewesen, mir Klarheit zu verschaffen, den eigenen Lebensweg zu reflektieren und weiter zu planen. Das alte Tagebuch hatte ich mir gegriffen in einem Anflug von Nostalgie. Wohl zehn Jahre hatte ich es nicht mehr genutzt. Als die Kinder klein waren, hatte ich ihre ersten Wortäußerungen dort notiert, besonders schöne Tage und Stunden in der Absicht vermerkt, sich später besser erinnern zu können. Was war daraus geworden?
Schließlich hatte ich alle bisherigen Seiten aus dem Heft entfernt. Das kam einem Schlussstrich gleich.
Nun schrieb ich wieder, diesmal, um den Blick nach vorn zu schärfen, einem neuen, vielleicht dem entscheidenden Lebensabschnitt entgegenzusehen.
In Gedanken versunken war ich noch sitzen geblieben. Mein Blick fiel auf die Reihe von fünf Yachten, die direkt vor mir am Kai lagen. An Deck eines großen, weißen Bootes hatte bereits vor einer Weile ein älterer Herr, braungebrannt, mit grauweißen Schläfen und dem vollen Haar des Südländers sich gerührt. Er war offenbar gerade erst aufgewacht und schien etwas zu suchen. Später kam er herüber in unser Café. Er holte sich eine Tasse Mocca, ein Päckchen Gauloises und eine frische Tageszeitung, die er jetzt an Deck in seinem Sessel sitzend las. War er allein an Bord?
Als hätte sie meine Frage geahnt, schaute eine Frau, vielleicht Mitte Dreißig, aus der Kajüte und rief dem Mann etwa zu. Ein paar Minuten später verließ sie mit einer Basttasche das Boot, wahrscheinlich um frische Baguetten zu holen. Ist das ein Leben! So etwa könnte ich mir das auch vorstellen!
Dann kam mir der Kriminalfall wieder in den Sinn, der gestern um diese Zeit hier am Kai seinen Ausgang genommen hatte. Sollte ich mich damit befassen? Hatte ich wirklich in einem Anfall von Rührseligkeit und Mitleid mich darauf eingelassen, Zusagen zu machen? Noch konnte ich dankend ablehnen.
Was war eigentlich passiert?
Eine junge Frau, kaum 20-jährig, war tot im Hafenbecken aufgefunden worden. Der Todeszeitpunkt lag noch nicht lange zurück. Nach meiner Kenntnis von Wasserleichen lag sie nicht länger als eine Stunde im Wasser, war also am frühen Morgen, so gegen fünf Uhr dreißig zu Tode gekommen. Das war die Zeit, wo die Fischer von ihren Fangfahrten zurückkehren. War sie vielleicht mit einem Fischerboot mitgefahren? Vielleicht hatte sie einen Freund unter den Fischern, der sie einmal mitgenommen hatte, - eine romantische Liebesaffäre an Bord mit tragischem Ausgang?
Man müsste auf jeden Fall mit den Fischern sprechen, deren Zahl überschaubar schien. Der herbeigerufene Doktor hatte den Tod durch Ertrinken attestiert. Aber Genaueres hätte die gerichtsmedizinische Untersuchung und eventuell eine Obduktion abzuklären.
Vieles sprach für ein Gewaltverbrechen, das zerrissene Kleid zum Beispiel. Möglich schien mir ein sexuell motiviertes Tötungsdelikt, auch hierzu könnte die gerichtsmedizinische Untersuchung näheren Aufschluss bringen. Hatte kurz zuvor ein Intimverkehr stattgefunden?
Was hatte der Spitzen-BH in der Handtasche verloren?
Ich ging davon aus, dass die angespülte Tasche tatsächlich der Toten gehörte. Nun ärgerte ich mich, dass ich sie nicht Catherine gezeigt, sie nur an ihr vorbei auf mein Zimmer getragen hatte. Sie hätte diese wahrscheinlich identifizieren können. Aber die Initialen ‚I.V.‘ auf dem Taschentuch sprachen dafür: Isabelle V. Wofür das V. stand, wäre noch zu klären. Wer, wenn nicht die junge Frau selbst, sollte den BH in die Tasche gesteckt haben?
Der Fundort der Tasche im Wasser nahe der Hafeneinfahrt lag etwa dreißig Meter vom Fundort der Leiche entfernt. Die Wasserströmung war hier an diesem Morgen ruhig. Zu dieser Zeit gab es auch noch kaum Bootsverkehr. Die Touristenboote begannen erst gegen zehn Uhr mit den Fahrten zu den Calanques. So stand für mich fest, dass die Tasche auf der Fahrt eines Bootes oder einer Jacht in den Hafen von Bord gefallen war. Ihr Fundort lag zu weit vom Fundort der Leiche entfernt, als dass man annehmen konnte, dass beide gleichzeitig ins Wasser kamen. Möglich, dass sich ein Drama an Bord abspielte. Das Kleid wurde zerrissen, das Mädchen ging über Bord, die Tasche wurde ins Wasser entsorgt.
Dabei fiel mir siedend heiß ein, dass ich gestern das zerknüllte und wasserdurchtränkte Papier in meinem Zimmer aus der Tasche genommen und zum Trocknen vorsichtig geglättet, auf einem Handtuch in meinem Zimmer ausgebreitet und dann das ganze Paket auf dem Schrank deponiert hatte. Das war mir ganz entfallen. Auch auf der Polizeistation hatte ich nichts von dem Papier erwähnt. Ich eilte auf mein Zimmer, um nachzusehen.
Die beiden Zimmermädchen waren gerade dabei, das Bett zu richten und im Bad zu scheuern. Sie freuten sich immer, wenn eines der Zimmer schon früher als die anderen frei war und sie ihre Arbeit beginnen konnten.
Ich ließ mich durch ihre Anwesenheit nicht von meinem Vorhaben abbringen, stieg auf einen Stuhl und holte das Handtuch mit den gut getrockneten Papierfetzen herunter. Auf dem Tisch strich ich sie glatt und fügte die drei Stücke zusammen. Dann las ich.
Es war äußerst schwierig, Zusammenhänge zu entziffern. Das Papier stammte offenbar aus einem Kalender und trug das Datum des zwölften Juli, das Datum von vorgestern. Sie musste das aktuelle Blatt herausgertrennt und beschriftet haben. Irgendwann hatte sie es dann zerrissen und zusammengeknüllt in ihre Tasche gesteckt. Es schien eine Art Brief zu sein, den der Adressat, der nicht genannt wurde, wohl nie erhalten hatte. Irgendetwas hatte sie davon abgehalten, den Brief zu übergeben. Sie hatte ihn stattdessen für nichtig erklärt, ihn zerrissen und zusammengeknüllt. Beim Zerreißen in vier Teile war eines, das rechte untere, verloren gegangen. Die Mitteilung war unvollständig. Was stand darauf? In einer noch wenig entwickelten, aber ordentlich geführten, weiblichen Handschrift standen, mit einem durch das Wasser nur schwach lesbar gewordenen blauen Kugelschreiber einige wenige Sätze auf dem Papier. Ich gab mir große Mühe, sie zu entziffern. Ich schaltete die Nachttischlampe an meinem Bett an, um den Zettel gegen das Licht zu halten. Als die Zimmermädchen, die ihrerseits gemerkt hatten, dass sie störten, den Raum endlich verließen, setzte ich mich auf das Bett und begann, die Schrift Satz für Satz in mein Tagebuch abzuschreiben. Dann versuchte ich, den Sinn zu verstehen und es mir zu übersetzen:
Mein geliebter Freund, du weißt, dass ich alles für dich tue, was du begehrst. Aber du solltest meine Liebe nicht zu sehr auf die Probe stellen.
Ein neues Leben hast du mir versprochen, wann löst du dieses Versprechen ein? Ich werde…
An dieser Stelle fehlte ein Stück der Fortsetzung des Satzes auf der rechten, unteren Hälfte des Papiers. Links darunter standen die Worte:
Wenn du mir nicht versprichst, …
Dann fehlte wieder die Fortsetzung, um schließlich links unten zu enden mit:
In Liebe, Deine…
Die Unterschrift fehlte wieder.
Mit einem Klebestreifen, den ich zufällig im Koffer hatte, weil ich das lockere Glas einer alten Lesebrille, die ich nicht fortwerfen wollte, mit einem Tesastreifen notdürftig repariert hatte, fügte ich die drei vorhandenen Schnipsel provisorisch zusammen und legte das Blatt in mein Tagebuch. Dann ging ich zurück zu meinem Stammplatz vor dem Hotel, um noch einmal über den ‚Fall‘ nachzu-denken. Ich zündete eine Zigarette an und bestellte mir eines der in der Provence viel getrunkenen Anisgetränke. Dieser Schnaps wird durch das Aromatisieren von Ethylalkohol mit Sternanis und Fenchel gewonnen und mit einigen anderen, geheim gehaltenen Aromen verfeinert. Man trinkt ihn als Erfrischung mit Wasser und Eis gemischt.
Ich zog das vorläufige Fazit meiner Ermittlungen:
Gegen sechs Uhr dreißig fuhr die junge Kellnerin des ‚Hôtel du Port‘, Isabelle V., die abends in der Regel noch im Restaurant ‚Chez Gustave‘ kellnerierte, auf einem Boot in den Hafen der Ferienmetropole Cassis ein. Zu diesem Zeitpunkt trug sie ihren BH nicht, sondern hatte ihn in ihre Handtasche gesteckt.
Ihr leichtes Sommerkleid wurde im Zuge der zu ermittelnden Ereignisse zerrissen. Die junge Frau führte keine Personaldokumente bei sich, wohl aber ihren Schlüsselbund. Des Weiteren hatte sie fünfhundert Euro in Hunderterscheinen in der Tasche, für eine junge Frau, die auf doppelten Broterwerb durch Kellnerieren angewiesen ist, eine recht hohe Summe. An Bord eines Bootes benötigt man um diese Tageszeit eigentlich kein Geld, es sei denn, man hätte es erst während des Bootsausfluges bekommen.
Ich male mir in solchen Fällen das jeweilige Bild konkret aus, lasse es vor meinem inneren, geistigen Auge entstehen. Heute ist man bei der Kripo dazu übergegangen, die einzelnen Puzzleteilchen, die zur Lösung eines Falles führen können, auf einer Steckwand mit Fotos zu sortieren. Vielerorts werden die bekannten Details auch als Merkhilfe mittels digitaler Technik an eine Wand projiziert. Das bildhafte Vor-die-Augen-Führen ermöglicht es den Ermittlern, ihre Ergebnisse sukzessive zu sammeln und in Beziehung zueinander zu setzen. Das hat den Vorteil, dass alle, die an der Lösung des Falles arbeiten, zugleich beteiligt sind und ihrerseits den Fortgang verfolgen können, um neue Erkenntnisse und Vorschläge beizutragen.
Seit jeher war es eine meiner Stärken, auf solche Hilfsmittel verzichten zu können. Als Eidetiker bin ich in der Lage, in bestimmten Situationen mein Vorstellungsvermögen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Dabei stoße ich auf Details, die ansonsten leicht übersehen werden. So ging ich jetzt die Szene noch einmal durch:
Das Boot fährt zu dieser frühen Morgenstunde in den Hafen ein. Isabelle steht an Deck, ihre Tasche hat sie umgehängt. Sie kennt jedes Haus, jede Ecke des Hafens, - dort kommt das Hotel in Sicht, in dem sie bald schon ihre Arbeit aufnehmen wird.
Ist das Boot deshalb zu dieser Stunde eingelaufen, um ihren Arbeitsbeginn nicht zu verpassen? Umbringen hätte man sie doch auch anderswo können, wenn es geplant gewesen wäre. Also handelte es sich um einen ungeplanten Mord, eine tragische Verkettung von Ereignissen, die so von dem oder den Mördern nicht vorgesehen waren. War es gar ein Unfall?
Was war mit ihrer Mutter, hatte sie auf die Tochter gewartet? Kam solches späte Heimkommen des Öfteren vor, oder war es wegen besonderer Ereignisse an diesem Tag ungewöhnlich? Wenn sie bis nachts kellneriert hatte, war sie wohl kaum zwischendurch noch bei der Mutter zuhause gewesen.
Was sagte mir der Brief? Er offenbarte eine Liebesbeziehung zu einem Mann, dem sie sich in Hoffnungen ergeben hatte. Die junge Frau hatte seinen Versprechungen von einem besseren, sorgenfreieren Leben, das er ihr bieten wollte, geglaubt und sich dafür auf seine speziellen Erwartungen eingelassen. Er verlangte etwas von Isabelle, was ihr wie eine Prüfung erschien. Was war es, was er verlangte? Ungeduldig forderte sie nun den Preis dafür ein. Wann hatte sie dieses Briefchen geschrieben? Einen Stift hatte ich in der Tasche nicht entdeckt, auch nicht den Kalender, aus dem das Blatt herausgerissen wurde. Offenbar war er das Ergebnis eines vor dem Treffen gefassten Entschlusses, endlich Klarheit zu schaffen.
Warum hatte sie dann ihren Brief zerrissen? Geschah es in Wut und Enttäuschung? Waren ihre Träume zerplatzt und sie hatte ihre Drohung, die wegen des fehlenden Schnipsels nicht erkennbar war, umgesetzt. Was konnte sie diesem Mann, den sie zu lieben glaubte, wirksam androhen, welches Druckmittel hatte sie gegen ihn in der Hand?
Und die wohl wichtigste Frage: Wer war der große Unbekannte, der meiner kleinen Kellnerin diese schwere Enttäuschung bereitete, an der sie schließlich sterben musste? Hatte Isabelle ihm vielleicht ihren Brief gegeben, und er hatte ihn zerrissen, worauf sie die Schnipsel in ihre Handtasche steckte? Wie waren die letzten Augenblicke dieses jungen Lebens verlaufen?
Ich stelle es mir bildhaft vor: Isabelle steht in ihrem besten Kleid an Deck, das Boot nähert sich dem Hafen. Sie blickt auf das Hotel, auf die Häuserzeile am Hafen. Sie hat Tränen in den Augen.
Was passiert dann? Hat jemand versucht, sie ins Wasser zu stoßen? Warum gerade hier und jetzt? Gab es eine Rangelei, in deren Verlauf das Kleid zerreißt und die Handtasche von Bord fällt? Wäre das Mädchen hier nur einfach über Bord gegangen, hätte sie den Anlegesteg mühelos schwimmend erreichen können.
Warum, in aller Welt, hat sie nicht geschrien? Es waren so viele Menschen in der Nähe auf all den Booten und in den Häusern am Kai. Welche Gründe führen dazu, dass ein Mensch in Todesangst nicht um Hilfe schreit? Oder hat sie geschrien und niemand will es gehört haben? Warum also gibt es keine Zeugen? Jemand, der schon zu früher Stunde an Deck eines der Boote war oder aus einem Fenster der Häuser schaute? Wollen diese potenziellen Zeugen ihr Wissen vielleicht nicht preisgeben? Welche Gründe könnte es dafür geben?
So viele Fragen! Doch das ist genau die zu lösende Aufgabe: Jeder Kriminalfall besteht zunächst aus vielen unbeantworteten Fragen. Sie präzise zu stellen, macht den ersten Schritt des professionellen Handelns aus. Alle nun einsetzenden Ermittlungen sind logische Schritte in Richtung auf deren Beantwortung. Hypothesen werden gestellt, um in schrittweiser Kleinarbeit deren Stichhaltigkeit zu überprüfen. Schließlich wird das Bild immer klarer, bis die ganze Wahrheit zu Tage tritt.
Hatte nicht auch Catherine an diesem frühen Morgen um diese Zeit ihren Dienst angetreten?
Hatte sie etwas gehört oder gesehen? Auch ihre Motive, mich als Aufklärer zu engagieren, liegen noch im Dunkeln. Welches sind ihre persönlichen Interessen, das, was hier ihrer Meinung nach zum Himmel stinkt, aufzulösen? Das würde für mich vorrangig zu klären sein, wenn ich mich tiefer in diese, ich gebe es zu, reizvolle Beziehung, in dieses Liebesabenteuer hineinbegeben sollte!
Was genau geschah an Bord dieses Bootes während der Einfahrt in den Hafen? Wie genau kam Isabelle zu Tode? War sie vielleicht wehrlos gefesselt und geknebelt? Nein, unmöglich! Das war als Annahme sofort wieder zu verwerfen. Es waren keine Fesseln an ihren Handgelenken und Füßen. Die Fischer, die sie zu reanimieren versuchten, hätten etwas finden müssen.
War sie vielleicht in einem Zustand völliger Hilfs- und Willenlosigkeit, kaum noch bei Bewusstsein, als sie ins Wasser kam? Stand sie vielleicht zu diesem Zeitpunkt unter Drogen? Das wäre bei einer Obduktion zu klären!
Sollte es am Ende vielleicht gar ein Unfall gewesen sein, dass sie gerade hier im Hafen zu Tode kam? Oder sollte dieser Mord im Hafen etwas demonstrieren, ein Exempel statuieren? Seht her, welche Macht wir haben! Wer nicht gefügig ist, dem passiert hier etwas, mitten unter euch, und niemand kann es wagen, etwas gegen uns zu unternehmen! War dieses öffentlich begangene Verbrechen Teil einer Erpressung? Warum waren viele Menschen so verängstigt, weil sie genau wussten, worum es ging?
Die wildesten Spekulationen jagten mir durch den Kopf. In solch frühen Phasen der Ermittlung ist es stets erlaubt, frei zu assoziieren. In einem zweiten Schritt gilt es jedoch, diese Hypothesen an den nachprüfbaren Indizien zu messen. So verwarf ich gleich wieder jene Ansätze, die nicht oder noch nicht belegbar waren.
Wo war eigentlich das Boot oder die Yacht geblieben, nachdem man das Mädchen so im Zentrum des Hafenbeckens umgebracht hatte? Am unauffälligsten war es doch wohl, wenn es sich gleich auf einen der festen Liegeplätze begeben hätte. Lag dieses Boot zu dem Zeitpunkt, als ich zum Frühstück vor dem Hotel saß, bereits am Kai, hatte sich in die Reihe der anderen Boote eingefügt? Oder war es, weil das Mädchen rechtzeitig zu seinem Arbeitsbeginn am Steg abgesetzt werden sollte, gleich wieder gestartet und aufs Meer zurückgekehrt?
Nein, das war unwahrscheinlich! Es hätte dann ein Zusammentreffen mit den kurz darauf vom Meer zurückkehrenden Fischerbooten geben müssen, die es dann später hätten identifizieren können. Also handelte es sich sehr wahrscheinlich um eines der Boote, die gewöhnlich hier ankern! Lag es vielleicht auch heute, gerade jetzt, vor meinen Augen?
Ich betrachtete also erneut die Reihe der feudalen Yachten. Der weißhaarige, ältere Herr hatte die Zeitung nun ausgelesen und verschwand unter Deck. Nebenan zur Linken erschien gerade das ‚Walross‘, um vorsichtig auf dem Steg balancierend an Land zu gehen. Er war mir seit Tagen aufgefallen, weil er ein ungewöhnliches Äußeres zur Schau trug, weshalb ich ihm diesen Namen verpasst hatte. Ein vielleicht Fünfzigjähriger, der eine starke Leibesfülle um sich versammelte und durch einen ebenso markanten Schnurrbart an die wuchtigen Meeressäuger erinnerte. Die Tage zuvor hatte ich ihn während meines Frühstücks an einem der Nebentische gesehen. Er war immer schon vor seiner Frau und dem etwa zehnjährigen Jungen hier, um seinen Kaffee zu trinken. Wenn die Frau mit dem Kind erschien, stand er bald auf, um das Café zu verlassen. Ich hatte den Eindruck, dass ihn die Lebendigkeit des Jungen störte, die Frau ihn hingegen langweilte. Dann kaufte er dem Jungen ein Schokoladencroissant und sich eine Zeitung, um damit an Bord zurückzukehren. In meiner Urlaubsstimmung hatte ich mir, irgendwie unfähig, das genaue Beobachten sein zu lassen, meine Gedanken zu dieser Familie gemacht. Nicht ohne Parallelen zu meiner eigenen Familienzeit schmerzhaft erkennen zu müssen. Der Junge war, abgesehen vom Bartschmuck, das getreue Ebenbild seines Vaters, dicklich und als Kind schon unsympathisch.
Die Frau, wohl zwanzig Jahre jünger als er, gab mir den Eindruck, als habe sie rechtzeitig das Kind geboren, um den Mann zu binden und sich so den materiellen Wohlstand zu sichern, der ihn offenbar von anderen ‚Walrössern‘ unterschied.
Dann lag in der vordersten Reihe noch ein schickes Sunseeker-Boot mittlerer Größe. Diesen britischen Bootshersteller hatte ich von den James-Bond-Filmen der Jahrtausendwende in Erinnerung. Zum Beispiel in Stirb an einem anderen Tag, Casino Royale oder Ein Quantum Trost.
Die Betrachtung der feudalen Yachten, auf denen sich derzeit vor meinen Augen nichts regte, führte nicht weiter. Ich ließ den Gedanken also zunächst fallen, und ging zur Rezeption, um nach meiner Freundin zu schauen, die auch heute pünktlich ihren Dienst angetreten hatte. Dann begab ich mich auf den Weg. Es sollte ein Tag werden, den ich noch lange in Erinnerung behalten würde!