Читать книгу Schüchterne Gestalten - Peter Bergmann - Страница 3
ОглавлениеSonnabend, 13. November 2010, am ganz frühen Morgen
„Wer ist sie?“ Remsen schrie förmlich in sein Telefon. Wer Jan Remsen mitten in der Nacht weckt, sollte wissen, dass die Begegnung mit einem ausgehungerten Bären deutlich mehr Chancen auf ein Überleben bietet. Der raue Umgangston war Remsen egal. Sollte irgendjemand damit ein Problem haben, konnte der ja gerne den Job wechseln und Rollatoren verkaufen; die gehen hier weg wie geschnitten Brot – erzählte man sich in der Gegend.
Keine Antwort war auch eine Aussage, fiel ihm dazu ein, als nichts mehr zurückkam. Sein Gegenüber legte einfach auf. Wieder einer von der Blaumanntruppe; die wie immer keine Lust auf Nachtdienst mit Außeneinsatz, schon gar nicht an einem Wochenende Mitte November hatten.
Dich werde ich mir nachher gleich persönlich vornehmen, dachte Remsen sich noch, als sein Telefon wieder klingelte.
„Ja“, die Freundlichkeit war so einladend, dass erst einmal eine längere Pause entstand.
„Remsen?“, war die knappe Gegenfrage.
„Wer sonst?“, war die erneute Gegenfrage.
Das lustige Spiel hätte sich noch ewig fortgesetzt, wenn Nöthe nicht kühlen Kopf bewahrt und das Gespräch auf den Unfall gelenkt hätte.
Nöthe und Remsen oder besser Remsen und Nöthe waren aufeinander angewiesen, denn sie mussten zusammenarbeiten. Zwangsweise. Auf seine Gefühle nahm in Vesberg scheinbar niemand Rücksicht. Denn Remsen sah in Benjamin Nöthe, einem Assistenten der Mordkommission, einen äußerst limitierten Anwärter für einen Job, den der nie verstehen, geschweige denn gut machen wird. Die nehmen auch alles, was sich nicht wehrt oder wegrennt. Was soll’s, er musste mit ihm auskommen.
Ein ‚leider‘ schwang noch mit in seinen Gedanken, als Nöthe ansetzte: „Es muss wohl einen Wildunfall gegeben haben, denn der tote Hirsch lag mitten auf einer Straße, gleich hinter einer Kurve. War nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf diesen Kaventsmann auffuhr und abhebt.“
Nöthe war froh, dass er halbwegs was brauchbares Remsen weitergeben konnte.
Remsen sah das komplett anders: „Nöthe, Sie wissen doch überhaupt nicht, was Kaventsmänner sind. Haben Sie schon mal einen gesehen oder so was erlebt?“
Ganz langsam kam er in Fahrt. Wach war zwar etwas anderes, aber dafür war Remsen in Nähe seiner Betriebstemperatur: „Nöthe, Kaventsmänner sind Riesenwellen und haben nichts mit Hirschen zu tun. Die sind nicht nur groß, sondern richtig überdimensional. Ich erklär Ihnen das mal.“
Bevor Nöthe dem etwas entgegnen konnte, entlud sich über Ihn eine ganze Ladung Remsenschen Wissens über Kaventsmänner, die schon mal als Monsterwelle daherkamen und Leute vom Strand gezogen hatten. Oder einfach etwas Übergroßes sind. Oder so. Ein Hirsch, nein. Eher nicht. Remsen rede sich in Rage, „…verstehen Sie Nöthe?“
„Ja, aber der Hirsch war wirklich riesengroß und es musste zu einem schweren Unfall kommen, so wie der auf der Straße lag. Schauen Sie sich das doch selbst an, was davon noch übriggeblieben ist.“
Nöthe versuchte hilflos, seinen sprachlichen Ausflug in die Umgangssprache zu rechtfertigen.
„Raten Sie, mal was ich gerade hier mache, Nöthe? Die Blaumänner chauffieren mich schnurstracks zum Festschmaus. Und seien Sie sicher: Wenn es nur ein Wildunfall war und ich deswegen mitten in der Nacht raus musste, heißen Sie ab morgen Benjamina. Finden Sie irgendwas, was nach Arbeit für mich aussieht.“
Er legte einfach auf.
Kurz und knapp, wie immer, brachte Remsen sein Team zur Verzweiflung. Wer war sie? Eine Unfalltote war gemeldet, aber wer war sie?
Wieder griff er nach seinem Telefon. „Nöthe, wer ist die Tote? Schon einen Namen, einen Hinweis?“.
Nöthe war auch nur ein Mensch, der inzwischen ziemlich genervt war: „Wenn ich es wüsste, wüssten Sie es schon längst.“
Jetzt war es an Nöthe, das Telefonat zu beenden. Remsen empfand es als eigenmächtigen Abbruch, eigentlich seine Kompetenz und nahm sich vor, es nicht zu vergessen.
Armer Nöthe.
Drei, vier Stunden Schlaf in der letzten Nacht. Oder doch nur zwei? Keine Ahnung. Er hing gedanklich im Nirwana zwischen dem, was da auf ihm zukam und dem Nebel in seinem Kopf. Draußen wie drinnen, alles etwas unscharf.
Sind wir hier bei den Wildhütern? Umweltschützern oder so?
Mit den Leuten in Vesberg kam Remsen noch immer nicht klar. Schon gar nicht nach einem Abend im Refill. Wie an jedem Freitagabend war er auch gestern dort und hatte sich das eine oder andere Bier genehmigt. Der Laden entwickelte sich als so etwas wie sein Stammlokal. Als er hierher zog, kam trotz einiger Suche nichts so richtig für ihn in Frage. Er vermisste die heimatliche Kneipenkultur. Bei ihm in Hamburg konnte er egal wo reingehen; es war meistens angenehm: Gesprächspartner, die ihm zuhörten, viel Bier, Korn und jede Menge Spaß drum herum.
Das Refill wurde dann in der Nähe seiner Wohnung eröffnet, ein unschlagbarer Vorteil. Schon im Namen war das Geschäftsmodell erkennbar: einmal zahlen und trinken bis zum Anschlag. Viele Trinker trotteten gemeinschaftlich in das Refill und belagerten die Tresen, wovon es mehrere gab. Normalos wie er wurden schon kurz nach der Eröffnung immer weniger dort angetroffen und der Betreiber vom Refill ging recht schnell pleite.
Jetzt mit angeschlossenem Lokal und verändertem Konzept ist es zu einer neuen Pilgerstätte geworden, eher zu einer Szenekneipe. Der Name blieb. Remsen war gerne dort, aß meistens etwas und bleibt solange sitzen, bis das Personal mehr oder weniger freundlich die letzten Gäste zum Gehen auffordert.
So auch gestern. Er hatte sich auf ein entspanntes Wochenende eingestellt und im Refill darauf eingestimmt. Nach einer Kur an der See – seine Lunge und seine Bronchitis waren sein Dauerproblem- zumindest eines von vielen, und mehreren stressigen Fällen gleich zu Beginn seiner Zeit in Vesberg, schien nun etwas Ruhe einzukehren. Remsen wollte die nächste Zeit mehr dazu nutzen, um Vesberg und die Leute besser kennenzulernen. Bisher hatte er das eher vermieden; es war wohl beidseitig mit den Vorbehalten.
Vesberg ist eigentlich nicht so schlimm, wie man denkt. Klar, gegenüber Hamburg ist es ein Kaff. Obwohl, knapp eine halbe Million Menschen wohnten in der Stadt und im Speckgürtel. Muss mal fragen, fiel ihm dazu ein. Remsen war sonst nicht so voreingenommen, aber provinziell war das die Gegend hier schon.
Schon zu DDR-Zeiten war Vesberg so etwas wie eine kleine Oase. Nicht ganz so heruntergekommen, wie Remsen nach der immer noch präsenten Wende viele Städte im Osten Deutschlands gesehen hatte, gab es hier viele gut erhaltene Häuser; ganze Stadtviertel machten einen ganz angenehmen Eindruck. Vesberg ist schon seit zwei Jahrhunderten eine Universitätsstadt, was dem Ort etwas Elitäres und Junges zugleich gab. Wenig Industriebrachen waren zu sehen. Dafür sorgten Unternehmen aus der Elektronik und Informatik für genug Arbeitsplätze und verschandelten die Stadt nicht so arg.
Remsen ist zwar kein aktiver Freizeitsportler, wie scheinbar jeder hier, aber er ist gerne draußen im Umland, wenn es sein Beruf zulässt. Leider ist das nicht allzu oft, aber man kann ja nicht alles haben.
Die Büros auf der W36 sahen aus wie verkappte Wohnzimmer, nur viel schlimmer. Blümchen, Bilder von Oma, Kindern, Hund und Garten auf den Schreibtischen und allerlei Firlefanz an den Wänden. Fehlen nur noch die bunte Tapete und Nierentische in den Vernehmungsräumen. Die Hausmannskost in der Kantine lehnte er kategorisch ab. Remsen und seine Befindlichkeiten. Es könnten auch Vorurteile sein; er muss es noch ergründen. Demnächst mal, wenn es die Zeit hergibt. Leicht sich anzupassen, ist es für Leute wie ihn nicht.
Und zu allem Überfluss saß er jetzt in einem Blauwagen und wurde zu einem toten Hirsch chauffiert. Mit einer Unfalltoten. Aber er ist Leiter der Mordkommission und nicht bei der Unfallaufnahme. Warum wurde er aus dem Bett geholt? Hoffentlich war es ein Mord. Nicht weil er Tote und damit viel Arbeit gerne hatte, sondern für den, der ihn in der Nacht geweckt hatte, könnte dieser Sachverhalt zu einem unschätzbaren Vorteil werden.
„Ist der schwarz?“
An der Absperrung fand sich gleich der erste Beamte ohne Kaffeebecher wieder, nachdem er Remsens Frage bejaht hatte. So ist es, Remsen war der Chef am Tatort und entsprechend verhielt er sich.
Nöthe kam direkt auf ihn zu: „Der Wagen ist auf eine Firma namens CodeWriter GmbH zugelassen. VES CW 500, kein direkter Fahrer.“
„Sagt mir nichts.“, entgegnete Remsen. „Was machen die?“
Nöthe zuckte mit den Schultern, obwohl er diese Frage beantworten konnte. „Entwickeln Software für Sicherheitsfirmen und übernehmen Auftragsarbeiten für die Universität und andere wissenschaftliche Einrichtungen.“
„Steht auf deren Homepage. Die Firma ist schon gut fünfzehn Jahre aktiv.“
Jutta Kundoban grinste Nöthe an. „Was so ein kleines Smartphone nicht alles kann.“ Nöthe bekam richtig große Augen.
Das Stichwort für Remsen: „Na Nöthe, das mit dem Internet ist ganz einfach. Das können Sie noch gar nicht wissen; ich erklär Ihnen das mal.“ Arrogant und verblüffend entwaffnend, wie alle fanden.
Gottlob, dazu kam es nicht, denn der Chef der Spurensicherung Reiken wartete schon auf Remsen. Beide hatten schon oft und unangemeldet das Vergnügen; sie kannten und schätzen sich.
„Jan, der Bock war schon länger tot.“
Remsens Puls begann um sich zu schlagen: „Was interessiert mich ein toter Zwölfender? Außer ein Teil davon liegt auf meinem Teller. Dann schon…“
„Es gibt außer den Versprengungen durch den Aufprall keinen weiteren Hinweis darauf, dass der Hirsch hier auf der Straße angefahren wurde. Das solltest du wissen.“
„Wo ist die Tote? Besondere Merkmale?“ Remsen verspürte keine Lust mehr, den Tierschützer zu spielen.
„Da hinten. Recht erhebliche Frakturen am Kopf und im Halsbereich. Der Airbag löste zwar aus, aber obwohl sie angeschnallt war… Die Jungs von der Rechtsmedizin untersuchen sie gerade.“
„Wer ist heute dran?“ Remsen hatte eine leise Vorahnung.
„Dr. Ansbaum.“ Beide kannten Dr. Ansbaum als äußerst zuverlässigen und genauen Mann, dem kein Detail entging und der oft recht schnell die richtigen Schlussfolgerungen zog. Natürlich unter Vorbehalt, die Gerichtsmediziner sollten ja auch ihre Arbeit machen.
„Na wenigstens ein Lichtblick in dieser Nacht.“ Remsen konnte es nicht lassen, denn er stellte klar, dass er bereits Anwesende nicht schätzte.
Entsprechend wurde Reiken stinksauer: „Jan, wenn du meinst, dann kannst du ja gerne unseren Job übernehmen. Um diese Zeit pflege ich üblicherweise zu schlafen. Solltest du übrigens auch so handhaben.“
Remsen ruderte zurück: „War nicht so gemeint Günther. Irgendein Hinweis von Gewalteinwirkung oder so?“
„Noch nichts gehört, aber lass uns mal zum Doc. rüber gehen.“
Zum Glück hatte die Spurensicherung inzwischen Lichtmasten aufgestellt, sodass man die herumliegenden Einzelteile des Hirsches gut um kurven konnte. In diesem Licht gesehen sah der Kaffee in seinem Becher eher wie eine klebrige Substanz aus. Entnommen aus der nahegelegenen Entwässerungsanlage, wie Remsen vermutete. Nicht gesund, entschied er. Und schwupp landete der Becher im Straßengraben.
„Schon mal was von Unversehrtheit des Tatorts gehört?“ Jetzt war es an Günther Reiken, den launigen Remsen aus der Reserve zu locken.
„Wenn ich nicht gleich etwas höre, was auf keinen Unfall hinweist, sitze ich im nächsten Taxi nach Hause.“ Wer der Stärkere ist, werden wir noch sehen. Remsen fand seinen Konter recht gelungen.
„Hallo Dr. Ansbaum, schon was gefunden? Woran ist sie gestorben?“
Dr. Ansbaum bewegte sich nicht mehr so schnell. Das lag einerseits an seinem Alter; nur noch wenige Jahre und er wird pensioniert. Andererseits empfahl sein Therapeut ihm schon oft, mal seine Sportsachen in direkter Verbindung mit Körperertüchtigungsabsicht zu nutzen. Ja, er war richtig fett und tat nichts dagegen. Der Doktor wird schon wissen, was für ihn gut und richtig war.
„Der Unfall müsste so vor etwa 4 Stunden, plus minus wie immer, passiert sein. Hämatome eigentlich überall am Körper, am Kopf und am Hals besonders.“ Dr. Ansbaum schien nachdenklicher als sonst. Und offensichtlich nicht ganz sicher, wie Remsen bemerkte.
Er wollte sich nicht lange bitten lassen: „Todesursache?“
„Höchstwahrscheinlich war es ein Genickbruch. Zumindest hatte ein solcher endgültig für das Aus dieser Kleinen hier gesorgt.“
„Doktor, wenn sie angeschnallt war und der Airbag funktionierte, dann ist doch ein Genickbruch nicht drin, oder irre ich mich? Das Auto ist fast neu und Kopfstützen haben heute alle.“ Dafür war Remsen bekannt: scharfer Spürsinn und glasklarer Sachverstand mit einer Prise Sarkasmus. Er war gedanklich allen anderen meistens voraus.
Reiken schaltete sich ein: „Wenn ich mir hier die Teile vom Hirsch anschaue, dann hat sie locker mit mehr als 100 km/h den Hirsch geküsst. Jan, du kennst doch den Zubringer zur Autobahn: So schnell fährt hier an dieser Stelle noch nicht einmal Montoya.“
Reiken war Hobbyrennfahrer, ein Draufgänger wie der Kolumbianer. Dieser war zwar nicht so erfolgreich, stand aber trotzdem bei ihm hoch im Kurs. Denn Reiken war es, der gerne spektakulär überholte und sonst gerne mal die Regeln vergaß.
„Also, da hat jemand nachgeholfen!?“ Diese von Remsen teils als Aussage formulierte Frage brachte Ansbaum endgültig in Zugzwang; er musste sich festlegen. Unter Vorbehalt natürlich.
„Wenn Sie mich so fragen…“
„Ja, das tue ich. Und ich erwarte sogar eine Antwort.“ Remsen wurde ungeduldig und deutete dem Chef der Spurensicherung, beim Rechtsmediziner etwas nachzuhelfen.
„Jan, du weißt, wie so was läuft. Hier wird die erste Analyse gemacht, untersucht wird alles später in der KTU und der Gerichtsmedizin. Ich denke Doc., dass wir es bis zum Mittag es genauer wissen.“ Auch Reiken verstand es, Aussagen als Fragen zu formulieren.
Dr. Ansbaum überlegte genau, was er sagte: „Ein Unfall allein war es definitiv nicht. Die Hämatome am Hals deuten auf zusätzliche Einwirkungen hin, die letztlich zum Tod geführt haben könnten. Aber Genaues wirklich erst nach der Untersuchung. Ich denke, es war nicht nur ein Unfall.“
„Vielleicht haben noch ein paar Renntiere mitgeholfen.“ Jan Remsen zog mit Reiken, der ihm folgte, davon und ließ Dr. Ansbaum und sein Team stehen. Halb im Umdrehen rief er zurück: „Um Punkt 12 Uhr will ich es genau, ganz genau wissen. Und denken Sie daran, ich esse pünktlich.“
„Jan, der Doc. tut was er kann. Wir untersuchen gerade das Auto, die Spuren auf der Straße. Bisher scheint klar zu sein, dass sie gleich nach der Kurve da vorne gebremst und sich dabei gedreht haben. Wie es aussieht, haben sie dabei nur wenig Geschwindigkeit verloren und ist mit voller Wucht auf den Hirsch aufgefahren. So einen Unfall hatten wir noch nicht. Wir müssen morgen alles nachstellen.“
Reiken war auf Zeitgewinn und Beruhigung aus. Er wusste, dass Geduld nicht gerade eine Stärke von Jan Remsen war. Außerdem mochte er es nicht, wenn die Cops, wie die Mordkommission unter der Hand genannt wird, seine Arbeit nicht anerkannten.
„Glaubst du wirklich“, Remsen hatte Günthers Taktik durchschaut, „dass ein Auto mit, sagen wir mal 100 Stundenkilometern, auf einen Hirsch auffährt und die Fahrerin trotz Sicherheitsgurt und Airbag mit einem Knick im Genick das Leben aushaucht. Das stinkt gewaltig, nicht nur nach Hirsch. Und Ansbaum geht auch davon aus, dass am Hals jemand nachgeholfen hatte.“
„Ja, ja, mag ja alles sein. Aber solange wir das nicht wissenschaftlich belegt haben, kannst du anbrüllen, wen du magst. Vorher können wir dir nicht verbindlich sagen, was passierte.“
Jetzt reichte es Reiken auch so langsam. Wenn das alles hier vorbei ist, müsste er mit Jan mal wieder ins Refill, so von Mann zu Mann mit ihm reden. Aber nicht jetzt.
Einer seiner Mitarbeiter winkte ihn zu sich rüber. „Sieh mal, hier auf dem Beifahrersitz befinden sich jede Menge Haare, lang, blond. Die scheinen unser Kleinen zu gehören.“
„Sag nicht immer Kleine zu ihr. Die hat doch sicher einen Namen.“ Reiken war ein guter Chef, forderte aber von seinen Mitarbeitern volle Konzentration und vor allem Ergebnisse, hier in Form von Erkenntnissen.
„Ein wenig komisch ist es schon, Günther: Einen Raubmord kannst du ausschließen. Geld, Schmuck sind noch da. Aber weder ein Ausweis noch eine Kreditkarte oder so. Frauen haben immer so viele Karten im Koffer. Nichts da. Bis jetzt kein einziger Hinweis auf ihre Identität. Nur dass sie eine Frau ist, so um die 30, recht attraktiv“. Remsen war mit seiner ersten Einordnung wie immer schnell zur Hand.
„War. Sie war eine Frau. Ok, danke.“ Reiken ging dann doch noch mal zu den Rechtsmedizinern rüber. Jedoch nicht, ohne sich vorher zu vergewissern, dass Jan Remsen weit genug weg und mit anderen Dingen beschäftig war.
„Dr. Ansbaum – wir haben hier ein Problem. Wir wissen nicht, wer sie ist. Kein Ausweis, keine Bankverbindung, Gesundheitskarte oder so. Kein Hinweis auf ihre Identität. Hat sie ein Tattoo oder etwas Markantes, eine auffällige Narbe oder irgendwas anderes?“ Reiken schaute fast schon verzweifelt Dr. Ansbaum an, denn jeder Hinweis würde ihm Arbeit abnehmen und vor allem Zeit gewinnen.
„Herr Reiken, wir haben sie noch nicht weiter untersucht. Bisher ist mir nichts aufgefallen. Sorry, aber wenn Sie mich fragen? Ich tippe auf Osteuropäerin.“ Dr. Ansbaum machte Anstalten, sich wieder seiner Arbeit zu widmen.
„Osteuropäerin? Polin? Russin? Wie kommen Sie darauf?“ Jeder Hinweis könnte ein Lichtblick sein; so viel Erfahrung hatte Reiken allemal.
„So ein Gefühl, Intuition vielleicht. Vom Gesicht und ihrer Kleidung her würde ich es so einschätzen, muss aber nicht stimmen. Vielleicht weiß ich nach der Untersuchung mehr.“
Reiken war sich unsicher: „Soll ich Remsen davon was sagen?“
„Kann nicht schaden, aber bitte…“
„Ja, ja – ich weiß; unter Vorbehalt.“ Dr. Ansbaum sicherte sich wie immer mehrmals ab.
Remsen sah sich gerade mit Kundoban und Nöthe den Unfallort etwas genauer an. Von der Spurensicherung hatten sie sich dafür Lampen besorgt.
„Wissen Sie Jutta, das Ganze hier ist entweder wirklich nur ein Unfall oder eine ganz große Sauerei.“ Remsen begann wie immer sehr früh mit seiner Analyse.
„Der Tipp ‚Sauerei‘ stimmt in jedem Fall.“ Kundoban hatte auf ihre Art sicher Recht.
Remsen mochte sie – hier aufgewachsen, in NRW Kriminalistik studiert und noch ein paar Praktika in Skandinavien und Irland drangehangen. Im Team war sie noch nicht so lange, machte sich aber erstaunlich gut. War sogar richtig zuverlässig. Was sie sonst noch so macht, privat zum Beispiel, hatte Remsen bislang nicht in Erfahrung bringen können. Bis auf ein paar gemeinsame unverfängliche Abende im Refill ging nichts. Nein, Ambitionen hegte er nicht, denn er könnte fast als ihr Vater durchgehen. Sein Instinkt sagte ihm aber, dass sie … na mal sehen.
„Hier fahren doch regelmäßig Autos lang, gegen 10 Uhr abends doch sicher noch so viele, die den Hirsch, den Unfall oder was auch immer bemerkt haben müssten. Liegt keine Meldung vor?“
„Ich kümmere mich sofort darum.“ Nöthe wollte bei Remsen wieder Boden gutmachen und sich als fleißiger Assistent beweisen.
„Bitte gleich, besser sofort.“ Remsen hatte nämlich genau dieses Detail in der selbstformulierten Anweisung von Nöthe vermisst.
„Ja, ja.“ Nöthe war schon fast unterwegs.
„Und bekommen Sie raus, wer hinter CodeWriter steckt.“ Bisschen Arbeit kann nicht schaden. Unser Assistent sah richtig schläfrig aus, dachte sich Remsen.
„Wissen Sie Jan, solange es nicht hell wird, werden wir wohl auf weitere Erkenntnisse warten müssen.“
Jutta Kundoban war erst knapp ein Jahr bei der Mordkommission; der W36 wurde sie jedoch erst vor kurzem zugeteilt. Sie sollte von Remsen und den anderen lernen. Bislang bereute sie ihre Versetzung nicht. Remsen war nicht so ein Einzelgänger, wie alle von ihm dachten. Ja, er war manchmal wie ein alter Kauz, zu direkt und wirkte dadurch abweisend. Aber Jutta mochte ganz gerne mit ihm arbeiten, war er doch der Beste in der Truppe. Aber auch der Unbeliebteste.
„Was haben wir bis jetzt?“ Remsen beantwortete seine Frage gleich selbst. „Einen kapitalen Hirsch, nicht mehr unter uns, der nach Aussagen der Kriminaltechniker scheinbar erst nicht bei der Überquerung der Straße seine letzten Schritte machen durfte. Ein demoliertes Auto, welches in Vesberg auf eine Firma CodeWriter zugelassen ist. Oder war. Und eine unbekannte Tote. Kein Hinweis wer sie war, wo sie herkam und wohin sie wollte“.
„Doch, Osteuropäerin.“ Reiken trat zu den Kollegen der Mordkommission. „Dr. Ansbaum hat so eine Ahnung. Nein, Jan“, Reiken hob die Hand, „es gibt keine Hinweise darauf, aber du weißt ja, so schlecht sind seine Deutungen noch nie gewesen.“
„Zu spekulativ.“ Remsen entwickelte keine Lust auf großes Kino am Wochenende. „Wenn wir wissen, wer hinter CodeWriter steckt, werden wir dort einen Besuch abstatten. Vielleicht sind die Herren schon bei der Arbeit.“
„Oder Damen. Immerhin haben wir eine weibliche Leiche“ Kundoban achtete gerne auf Gender-Korrektheit. „Kann ja sein, dass die Firma von Frauen geführt wird. Nicht ungewöhnlich in Vesberg, sind doch damals in der DDR beide Geschlechter ausgebildet und zum Arbeiten genötigt worden. Egal ob ein Kind da war oder nicht.“
Mit damals meinte Jutta Kundoban die Zeit der Staatsdiktatur, die sie noch als Heranwachsende miterlebt, aber nie verstanden richtig hat. Jutta pflegte deshalb zu ihrer DDR-Vergangenheit ein eher entspanntes Verhältnis, was ihr einige Leute aus ihrem Umfeld übelnahmen.
Gerade die ältere Generation im Osten Deutschlands betrieb noch immer einen eigenartigen Umgang mit dieser Zeit. Während die Profiteure von einst, Parteigänger, Mitläufer, Schmarotzer, die diktatorischen Vorzüge und die sozialen Wohltaten priesen und wieder zurückhaben wollten, üben sich die Gewinner der friedlichen Revolution in Anklage und Verdammung.
Remsen wusste, dass Jutta in der DDR geboren und aufgewachsen war und kannte aus vielen Diskussionen ihre Variante vom Verständnis der Zeit ‚damals‘. Er selber tat sich schwer damit und folgte meist stumm den unendlich langweiligen Erzählungen von ‚damals‘. Okay, nicht ganz fair, aber es ging ihm schlicht nichts an und er wollte überhaupt nichts mit dieser Zeit zu tun haben.
„Entweder ist die Tote eine Angestellte von CodeWriter oder das Auto geklaut worden. Soll recht oft vorkommen, in der Gegend.“ Jetzt teilte Reiken seine Idee. Er verfolgte anscheinend den Verdacht, dass das Auto für eine illegale Grenzübertretung Richtung Osten geklaut war und in der Nacht hergerichtet werden sollte.
„Wenn jemand ein Auto klaut, dann tauscht man doch sofort die Schilder aus, oder nicht?“ Remsen hing der Theorie nach, konnte ihr aber nichts Entscheidendes abgewinnen.
„Vielleicht hatte es jemand erst unmittelbar davor gestohlen!?“ Reiken ließ nicht locker. Es war halb eine Frage, halb eine Feststellung. Ein Gestochere.
„Liegt eine Meldung vor, Nöthe?“ Remsen schielte nach seinen Assistenten. Von dem war weit und breit nichts zu sehen. Macht nichts, der wird kein ruhiges Wochenende haben, dessen war sich Remsen sicher.
„Kann ja sein, aber was macht dann ein Hirsch auf der Straße? Wollte den Autoklau verhindern und ist dabei selbst zu Schaden gekommen?“ Jutta musste selbst über ihren Gedanken lächeln.
„Ein toter idealistischer Hirsch? Vielleicht haben die es tatsächlich besser und ein Leben nach dem Leben.“ In einer Gourmetpfanne wollte Remsen noch hinzufügen. Jetzt war er wieder der, so wie ihn seine Kollegen kennen – der beste und bekannteste Zyniker in Vesberg.
„Hier können wir nichts mehr ausrichten. Jutta, Sie fahren mich nach Hause und halten dann die Stellung in der Arkadenstraße. Wir treffen uns später dort.“ Vielleicht fiel noch etwas Schlaf für ihn ab. Remsen fühlte sich hundemüde.
„Günther ich will, dass bei Tagesanbruch das ganze Programm anläuft. Also mit Rekonstruktion des Tathergangs, Untersuchung der Unfallstelle, Durchkämen des Waldes bis zur Autobahn, Hubschrauber mit Wärmebild, KTU vom Unfallwagen, Abschlussbericht der Obduktion. Die Straße bleibt komplett gesperrt. Sobald ihr was rausbekommen habt, will ich es wissen. Abfahrt Jutta.“
Auf der Rückfahrt dudelte das Radio. Beide hingen ihren Gedanken nach, wollten sich erst einmal ihre Theorien selbst zurechtlegen, Wissen und Spekulationen voneinander trennen. Für diese Konzentrationsübung braucht es keine Gesprächspartner. Jutta Kundoban lernte recht früh, dass die Klarheit der eigenen Überlegungen immer auch gut für den Fall und die immer notwendige Selbstdarstellung ist. Also suchte keiner von beiden das Gespräch.
Jutta kannte Remsens Adresse ohnehin, sodass es keinen Grund für irgendwelche Kommunikation gab.
Remsen bewohnte eine geräumige Dachgeschosswohnung, eine 3-Raumwohnung wie man hier sagt, in einem, gut einhundert Jahre alten Haus. Entweder hatte es den Krieg überstanden oder es mit wenig Liebe zum Detail danach wiederaufgebaut. Altbau eben, funktional und in die Jahre gekommen. Für Remsen war es ausreichend, denn die Wohnung hatte neben der Nähe zum Refill durchaus ihre Vorteile. Sie lag in einer ruhigen Nebenstraße, in der es immer Parkplätze gab. Seine Wohnung im Dachgeschoß war die einzige Wohnung. Damit verschonte er seine Nachbarn von seinen musikalischen Vorlieben, wenn er nachts und ohne Ohrschützer in diese, in seine Welt abtauchte.
Noch im Mantel suchte er gezielt in seiner Vinylsammlung nach einem seiner Lieblingsalben; genau die richtige Platte für jetzt. Gefunden! Van Morrisons „Astral Weeks“ sollte es sein. So richtig schon laut, wie immer auf dem Boden liegend, wollte er seine Gedanken sortieren. Zweimal dreißig Minuten, dann unter die Dusche und ab in die W36, sein Büro wie er die Wache in der Arkadenstraße nannte.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Obwohl…
Van Morrison versuchte sich an „In The Beginning“. Dazu röhrte ein Hirsch in weiter Ferne Was für ein Exemplar? Wollen wir ihn gleich erledigen? Die blonde Russin neben ihm vertrat die Absicht, mit dem Wagen weiter heranzufahren. Warum ist Van Morrison so leise. Ja, vielleicht steht der Hirsch wieder auf und reitet mit uns weg. Und überhaupt, wo kommt das viele Blut an der Russin her?
Sein Telefon weckte ihn unsanft.
Remsen fand den Hörer erstaunlich schnell und öffnete nur rein mechanisch den Mund: „Ja?“
„Jan, wir haben jede Menge Arbeit.“ Jutta Kundoban klang etwas gehetzt.
„Ja, ja, ich weiß. Muss wohl eingeschlafen sein. Ich komm gleich“. Remsen war es sichtlich peinlich, dass seine Selbstdisziplin nicht mal die erste Seite von „Astral Weeks“ überdauerte.
„Wir haben eine zweite Leiche.“ Jutta musste es schnell loswerden.
„Noch eine Frau? Wieder aus Osteuropa? Oder jetzt zur Abwechslung mal ein Elch?“ Remsen hatte sich erstaunlich schnell wieder im Griff und mit Sarkasmus gewürzt fanden seine Gedanken ungeprüft und ganz spontan den Weg in das Telefon.
„Wir sehen uns an der Unfallstelle Jan. Sie wissen wo.“ Jutta Kundoban wurde sauer, weil Remsen sie nicht ernst genommen hatte. Und sie tat etwas Mutiges– sie legte einfach auf.
„Okay, ich fahre jetzt selbst.“ Remsen legte auf und bekam nicht mit, dass er mit sich selbst telefonierte. So schnell wie er geduscht und wieder in neuen Sachen im Auto saß, hatte er es noch nie geschafft. Er sollte mal einen Wettbewerb daraus machen, befand er.
Seinen Buick Enclave liebte er über alles. Sein Monster, wie er ihn liebevoll nannte, denn darin kann er im Prinzip die ganze Mordkommission mitnehmen. Vor allem, weil er sich schon beim Kauf einen Sound nachinstallieren ließ, den wahrscheinlich noch niemand so gehört hat. Astrein, glasklar und mit jeder Menge Volumen; fast wie in einer Konzerthalle. Dieser schwarze SUV ist ohnehin ein Unikat. Nicht nur in Vesberg. Er erinnerte sich an den Papierkram, bis er das Gefährt endlich in Deutschland zulassen konnte. Es ist sein zweites Zuhause und leider einen riesengroßen Nachteil: Für Observationen ist es denkbar ungeeignet. Das hatte Remsen nicht bedacht und tauscht seinen Buick trotzdem nicht ein. Stattdessen musste er dann auf den Flottenbestand der W36 zurückgreifen.
Der kleine Bäcker um die Ecke hatte noch auf, obwohl die am Sonnabend immer so früh zumachen. Ein unschätzbarer Vorteil, einen richtigen Bäcker in Reichweite zu haben. Remsen schätzte schon, dass einige seiner neu erworbenen Kilo auf das Konto genau dieses Bäckers gehen. Er müsste mal mit dem Meister darüber reden; müsste mal…
„Wollen Sie auch Bohnenkaffee? So wie immer Herr Kommissar?“ Mit der freundlichen Verkäuferin war er fast schon befreundet. Denn immerhin reichte neuerdings ein Anruf und kurz danach hängt die Einkaufstüte an seiner Wohnungstür. Vielleicht gewöhnt er sich doch noch an Vesberg. Nichts ist unmöglich…
Sein Buick steuerte fast alleine Richtung Autobahn. Noch eine Leiche. Wer oder was ist eigentlich CodeWriter?
Die Nachrichten liefen inzwischen und berichteten von einer Straßensperre auf dem Autobahnzubringer. Seit der Nacht schon. Remsen registrierte erst nach der Nachricht die Meldung und rätselte, was der Nachrichtensprecher gesagt haben könnte. Aber er hatte eine Idee und wählte die Nummer seines Assistenten.
„Nöthe, was haben Sie über CodeWriter herausbekommen?“ Vielleicht konnte er doch was in Erfahrung bringen. Darauf spekulierte Remsen ein wenig.
„Ja, Chef. Das ist eine Softwarefirma. Die wird von einem Georg Weilham und einem Karl Hausmann geführt. Nichts Auffälliges. Kleines Team. Meistens in den schwarzen Zahlen. Sind wohl bei einigen Ministerien und Forschungseinrichtungen in der Gegend und deutschlandweit im Geschäft. Verkaufen Software für Sicherheitssysteme. Selbst entwickelt. Die soll wohl richtig gut sein.“
Remsen wurde neugierig: „Sind die auch im Ausland aktiv? In Osteuropa vielleicht?“
„Kann ich leider noch nicht sagen.“ Mit nur einer einzigen Frage war Nöthe schon wieder verunsichert.
„War die Tote eine Angestellte von denen? Konnte die schon identifiziert werden?“ Remsen machte wie gewöhnlich Druck und verunsicherte Nöthe damit weiter.
„Nein, noch nichts rausbekommen. Hausmann befindet sich im Jahresurlaub, ist wohl in Südamerika und Weilham ist wie jeden Sonnabend auf Selbstfindungstrip.“
Wahrscheinlich hinter der Grenze, um seine Kondition im Bett zu testen, murmelte Remsen vor sich hin.
„Was haben Sie gesagt?“ Nöthe wollte sich wieder fangen und vor allem Remsen beeindrucken.
„Nichts, nichts. Nöthe. Woher wissen Sie das?“, wollten Remsen wissen.
„Hat mir seine Frau gesagt; die vom Weilham. Wer mit dem Auto gestern Abend unterwegs war, wusste sie angeblich nicht. Vielleicht ihr Sohn.“
„Nöthe, gute Arbeit.“, lobte Remsen. „Fahren Sie zu dieser Frau und holen Sie aus ihr alles raus, was wir wissen müssen. Ach ja Nöthe, noch was: Ich habe ich den Nachrichten von einer Straßensperre heute Nacht auf dem Autobahnzubringer gehört. Und zwar bevor wir dort waren. Das kommt mir komisch vor. Prüfen Sie das mal. Bis später.“
Remsen stieg aus seinem Buick aus.
„Wer ist es? Wo ist er? Todesursache?“
Die Fragen kamen wie ein Stakkato und prasselten auf die armen Kriminaltechniker wieder. Nur auf Kundoban nicht, denn die wusste inzwischen sehr genau damit umzugehen.
„Richten Sie sich auf eine kleine Wanderung ein. Da hinten im Wald ist die Fundstelle.“ Kundoban ging voraus.
„Fundstelle? Gleich Tatort?“ Remsen kam mit so ungenauen Angaben einfach nicht klar.
„In diesem Fall wohl eindeutig ja.“ Jutta Kundoban hatte recht verlässliche Informationen, dass es genau dort passiert ist.
„Haben wir schon einen Namen, eine Idee wer es sein könnte?“ Remsen hatte immer noch den Kaffeebecher von seiner Bäckerei in der linken Hand. Obwohl der Kaffee längst kalt war, brauchte er seinen Koffeinspiegel, um klar denken zu können. Selbst wenn er kalten Kaffee nicht ausstehen konnte, kam wegwerfen nicht in Frage.
„Kann ich ein Stück davon haben?“ Da Jutta inzwischen die kleine Tüte vom Bäcker trug, schielte sie schon mal rein. Ihr Hunger machte sie unberechenbar. Das wusste Remsen ganz genau.
„Nur zu, ich hab schon. Und Sie ohnehin mit eingerechnet.“ Charmant wie immer erteilte er Jutta Kundoban die Erlaubnis, sich zu bedienen.
Auf dem Weg zur Fundstelle, wie Kundoban den Ort nannte, dem sie sich inzwischen näherten, waren beide mit Essen beschäftigt. Von Reiken wollte sich Remsen nicht wieder eine Ohrfeige einholen, deshalb behielt er den inzwischen leeren Kaffeebecher bei sich und enthielt sich jeglicher Entsorgung.
„Wie ist es passiert?“ Es war jetzt Reiken an der Reihe, Fragen zu beantworten. Nebenbei erteilte Remsen ihm kurzerhand mit der Übergabe des Kaffeebechers den Auftrag, diesen kriminalermittlungstechnisch korrekt zu entsorgen. Nach seiner Meinung die beste Lösung; für alle Beteiligten.
„Wahrscheinlich wie immer. Typisches osteuropäisches Muster. Erst windelweich klopfen, dann ausziehen und an den Füßen aufhängen. Wie so ein Schwein, welches abgeschlachtet wird. An genau den Stellen geschickt angeschnitten, sodass das Blut möglichst schnell, nicht zu schnell, entweicht und die arme Sau übel verblutet.“
Man sah Reiken an, dass ihn die Schilderung des mutmaßlichen Tathergangs an die Nieren ging.
Der Tote war inzwischen abgeschnitten und lag auf einer Plane, zugedeckt.
„Wie lange hat’s gedauert Doc?“ Remsen traf an diesem Tag schon zum zweiten Mal auf Dr. Ansbaum.
„Würde sagen keine Stunde. Muss so kurz nach Mitternacht gewesen sein. Mehr kann ich noch nicht sagen.“ Dr. Ansbaum hatte regelrecht aufgequollene Augen und bräuchte sicherlich mehrere Tage Schlaf. Wie Remsen auch, irgendwie.
„Ja, ja, unter Vorbehalt. Ich weiß. Sonst irgendwelche Besonderheiten?“
„Nicht erkennbar.“ Dr. Ansbaum wollte nur noch seine Arbeit machen und dann möglichst schnell in sein geliebtes Reich, in die Pathologie. Dort fühlte er sich wohler; würde sich doch dorthin kaum jemand verirren und ihm dauernd Fragen stellen.
„Wir haben die Hunde im Auto riechen lassen. Die haben recht schnell die Fährte aufgenommen und uns zur Leiche gebracht. Kein schöner Anblick Jan.“ Günther Reiken sah ein, dass er nicht nur heute, sondern auch noch den Sonntag wird abschreiben müssen.
„Und heute Nacht wussten wir nicht, dass die Frau in dem Auto nicht alleine unterwegs war?“ Remsen schaute in die Runde und suchte nach jemand, der ihm eine plausible Antwort darauf gehen würde. Allerdings war nur betretenes Schweigen, was er zurückbekam.
Dann meldete sich Reiken doch noch: „Wir werden das Auto auseinandernehmen. Irgendetwas muss zu finden sein. Den ersten Anzeichen nach waren mehr blonde Haare der Toten auf der Beifahrerseite zu finden, obwohl sie eindeutig die Fahrerin war. Meine Kollegen von der Spurensicherung sagten mir, dass sie aber mehr Schuppen und Haare vom Toten auf der Fahrerseite gefunden haben. Vielleicht haben die zwischendurch gewechselt. Keine Ahnung, wir finden das raus. Jan, das ist jetzt kein Unfall mehr. Es ist dein Fall. Viel Glück.“
„Klarer Fall von Ablenkung.“ Jutta Kundoban hatte so einen Gedanken. „Es sollte wie ein Unfall aussehen. Man hat die Beifahrerin auf die Fahrerseite bugsiert, um mit dem Fahrer noch ein Gespräch zu führen. Bevor auch er…“
„Klingt nach einem schlecht konstruierten Krimi, Jutta.“ Remsen war anderer Ansicht, aber welcher konnte auch er nicht sagen.
„Und noch was“, mischte sich Reiken ein. „Die Veterinärer haben sich den Hirsch oder das was davon noch übrigblieb, genauer angesehen. Der war schon einige Zeit tot, mindestens ein, zwei Tage und hatte einige unerklärliche Druck- oder Reibungsstellen. Als wenn das Fell von Seilen oder so abgerubbelt worden war.“
„Also hat jemand das Tier ganz bewusst geschossen und gezielt auf die Straße gelegt. Wenn dahinter ein Plan steckt, dann auch eine größere Logistik. Der Zeitpunkt musste ganz genau gewählt und der Verkehr auf der Straße angehalten werden. Wer kann so etwas?“
Remsen ahnte langsam auch, dass es mehr als ein Routinefall werden könnte. Hoffentlich nicht wieder so eine Mafia-Geschichte, die nur Ärger und nie einen Erfolg einbringt. Europa und die Öffnung bringen eben nicht nur Gutes mit sich.
„Doktor, wann können Sie uns mehr zu beiden Toten sagen?“ Irgendwo musste Remsen ja anfangen.
„Die Verabredung um 12 Uhr zum Essen kann ich jetzt nicht mehr einhalten. Bis zum Abend haben Sie den ersten Bericht, sicher noch nicht vollständig.“
„Gut, gut. Bis dahin kümmern wir uns mal um die CodeWriter. Vielleicht kann die Überwachungskamera von der Grenze was liefern. Schaut so aus, als ob die beiden tatsächlich in Polen oder woanders unterwegs waren.“
„Haben wir schon angefragt. Wir bekommen die Aufnahmen zugeschickt.“ Jutta Kundoban hatte für Remsen diese gute Nachricht parat.
„Doc., wenn Sie was rausbekommen haben, rufen Sie mich bitte gleich an – okay?“ Wer weiß, was hier noch alles los ist. „Bitte!“ Remsen wusste, dass genau dieses Wort bei Dr. Ansbaum Berge versetzte.
„Fahren wir zusammen?“ Remsen verspürte Gesprächsbedarf und wieder etwas Hunger. Solange Jutta Kundoban die noch halb gefüllte Tüte festhielt, hatte er schlechte Karten.
„Gerne, ich bin eh mit einem der blauen Taxen hier rausgefahren.“ Auch sie liebte den Komfort des Buick und diesen klasse Sound, auch wenn es nur für die eine Fahrt war.
Remsen steuerte seinen Buick wieder Richtung Vesberg und hoffte auf mehr Informationen. Deshalb hatte er den Nachrichtenkanal eingestellt, der regelmäßig, sogar viermal in der Stunde neue Nachrichten brachte. Manchmal konnte man sich schon wundern, woher und vor allem wie schnell die an neue Informationen kommen. Vielleicht sollten wir den einen oder anderen für uns rekrutieren.
„Haben wir schon was Neues von Nöthe und seiner Frau?“ Remsen nahm den Gesprächsfaden wieder auf.
„Wieso Frau? Nöthe hat meines Wissens keine Partnerin, aktuell zumindest.“ Kundoban war etwas irritiert.
„Nein, nein. Ich habe ihn zu einer Frau Weilham geschickt. Das ist die Frau eines der beiden Geschäftsführer der CodeWriter. Er ist wohl nicht da, sonnabends immer auf Selbstfindungskurs. Nöthe soll rausbekommen, wer das Auto gefahren hat, wer die beiden Toten sind usw. Vielleicht taucht Weilham inzwischen bei seiner Frau oder in seiner Firma wieder auf.“
Jutta Kundoban saß etwas gedankenversunken auf dem Beifahrersitz und traktierte ihr Smartphone. Das ist eine andere Generation, dachte sich Remsen. Die bekommen heute schon so ein Ding mit Internetanschluss in die Wiege gelegt.
„Also wenn ich das hier richtig sehe, dann gibt es in der Firma zwei Weilham's. Der eine, Georg Weilham scheint der Geschäftsführer zu sein, sein Sohn, nur Weilham jun. auf der Website genannt, ist auch mit dabei. Account Manager, was immer das sein soll.“
Jutta strahlte, weil sie mit dem kleinen Ding mehr Informationen zu den Ermittlungen beisteuerte als der kleine Benjamin. Der verstand es immer noch nicht, sich vorteilhaft in die Ermittlungen einzubringen.
„Finden Sie raus, wo der wohnt. Nöthe ist bei einem Weilham in der Nähe von Vesberg, wahrscheinlich beim Senior. Da kann der junge Weilham auch nicht weit weg sein.“ Remsen kombinierte und sinnierte. „Hoffentlich ist das nicht unser Freund im Wald. Ich meine, der Junior. Vom Alter her ist es jedenfalls nicht der Alte.“
Jutta Kundoban telefonierte sofort mit der Zentrale und gab die Anweisung weiter.
Remsen hatte schon wieder seine Telefonliste auf dem Display aktiviert und ließ die Nummer von seinem Assistenten, Benjamin Nöthe wählen. Vielleicht wird doch noch mal was aus dem. Remsen muss ihn nur fordern. Es wäre aber besser, für ihn und vor allem für uns hier, wenn er auf egal was, jedenfalls etwas Anderes umschulte.
Nach mehrmaligem Wiederholen baute sich endlich eine Verbindung auf, das Klingeln war äußerst schwach. „Ja, Kriminalassistent Nöthe hier.“
„Remsen – was erreicht bei der Weilham?“ Remsen machte es kurz und kam wie immer gleich zur Sache.
„Moment, ich gehe mal schnell vor die Tür.“ Anscheinend war Nöthe nicht allein.
„So, jetzt. Soweit sie weiß, kommt ihr Mann am Nachmittag zurück. Wegen der Geschäfte von CodeWriter kann sie nicht viel sagen, da hat sie keinen Einblick. Sie weiß nur, dass ihr Mann oder irgendwer von der Firma Kontakte zu neuen Kunden nach Osteuropa aufgebaut hat. Vielleicht in die Ukraine, aber genau weiß sie es auch nicht.“
Für den Nöthe war das schon fast ein vollständiges Referat, doch Remsen hatte einfach keine gute Meinung von seinem Assistenten. Normalerweise bekommt der keinen formal richtigen Satz zustande.
„Das Auto von heute Nacht; haben Sie da was erfahren können?“, wollte Remsen wissen.
„Nur, dass sie es kennt und es als Poolfahrzeug von den Mitarbeitern und regelmäßig von ihrem Mann genutzt wird. Wer gestern damit unterwegs war, konnte sie nicht sagen. Wenn ich eine Einschätzung geben darf: Mir scheint es so, dass sie wirklich nicht viel weiß.“
„Nöthe, überlassen Sie das einfach mir. Bringen Sie mir Fakten und Informationen.“ Er legte auf.
Jeder hing jetzt seinen Gedanken nach. Die Anspannung, die Müdigkeit. So nach und nach spürte jeder den Druck, den dieser Fall ausgelöst hat. Und niemand weiß genau, was die Ermittlungen noch alles an Arbeit und Nachtschichten bringen werden.
CodeWriter. Osteuropa. Unfall? Mord? Vielleicht ein Unfall und ein Mord? Nein, an dem Hirsch wäre bei normalem Unfallverlauf niemand gescheitert. Hier wurde kräftig nachgeholfen. Genickbruch die Frau; am Baum aufgeknüpft und arg zugerichtet der Mann. Die Geschichte ist mit größter Sorgfalt und nicht unerheblichem Aufwand vorbereitet worden. Generalstabsmäßig sozusagen. Das gelingt keinem Gelegenheitstäter. Wer hat was gegen CodeWriter? Oder sind die beiden nur zufällig zwischen die Fronten geraten? Jede Menge Fragen und noch keine Antworten.
Das machte Remsen nervös und vor allem hungrig.
„Pizza oder Thai?“ Die erste Frage nach der Ankunft in seinem Büro galt der Wahl des Mittagsmenüs. Jutta Kundoban ist da eher für die traditionell leichtere Kost zu haben, aber heute; sie sollte eigentlich nicht. Aber an so einem Tag darf man mal über die Stränge schlagen und sich seit langer Zeit wieder eine, na ja nicht ganz so gesunde Pizza gönnen. Obwohl lecker sind die schon, manchmal jedenfalls.
„Kriminalhauptkommissar Remsen.“ Das Telefon brachte die Reihenfolge in der Aufmerksamkeit durcheinander.
„Ja guten Tag, hier ist Dr. Mayer, der verantwortliche Redakteur der Nachrichtenredaktion. Ich wurde gebeten, mich bei Ihnen wegen der Straßensperre heute Nacht zu melden. Sind Sie der richtige Ansprechpartner dafür?“ Remsen bestätigte das mit einem Grunzen.
„Also, wir hatten eine Information, dass Autofahrer bei uns im Sender angerufen haben und wissen wollten, was auf dem Autobahnzubringer los ist. Es gab wohl eine Straßensperre, in beide Richtungen. Sie wissen ja, die Leute sind hier immer so neugierig und wollen gleich alles genau wissen. Als ob wir im Sender immer alles wissen und die Straßensperre aufheben können.“
„Ja und, das müssen Sie in den Nachrichten gleich melden, oder was?“
Obwohl Kundoban schon auf seinen Fingerzeig hin für beide die Bestellungen abgab und die Pizza bald geliefert werden würde, wurde sein Hunger unendlich größer, als das Interesse für eine Straßensperre jemals sein könnte.
„Wann waren etwa die Anrufe? Wie viele waren das denn? Können Sie das überprüfen?“
„Ich habe eine Liste hier. So etwa 20 Anrufer, nicht alle sind identifizierbar.“ Dr. Mayer begann die Zeitpunkte und Namen aller Anrufe und die dazugehörigen Telefonnummern herunterzurasseln.
„Stopp, stopp. Sie haben sicher ein Faxgerät. Schicken Sie es bitte rüber. Das kann sich ja sonst keiner merken. Was heißt eigentlich ‚nicht identifizierbar‘?“ Remsen kaute mal wieder auf seinem Stift rum.
„Da war keine Nummer mit dabei. Anonym. Wahrscheinlich haben die Anrufer das ausgeschaltet.“
„So, und dann haben Sie daraus gleich eine Headline gemacht?“ Wenn der Mayer nicht gleich die Hosen runterlässt und quatscht, lasse ich ihn vorladen, durchdachte Remsen die nächsten Schritte.
„Nein, wir haben bei der Feuerwehr, der Polizei und der Straßenverwaltung nachgefragt. Immerhin ist das eine der wichtigsten Straßen, um nach Vesberg oder wieder hinaus und um zur Autobahn zu kommen. Niemand wusste von irgendwas, alles sonderbar. Wir haben einen Ü-Wagen Richtung Autobahn geschickt. Die Kollegen haben tatsächlich Sperrschilder gefunden und Autofahrer, die entnervt umgedreht haben. Niemand dort wusste was los ist.“
„Wann war das?“
„So gegen halb zehn etwa, vielleicht etwas später.“ Dr. Mayer gefiel das Kreuzverhör am Telefon nicht.
„Und ihr Pressefuzzis seid dann weitergefahren?“
„Nein, die Kollegen hatten Order umzudrehen und eine Kurzmeldung für die nächste Sendung daraus zu machen. Damit wir wenigstens das Thema auf dem Radar haben. Man weiß nie.“
Remsen roch sie schon, bevor die Tür aufging. Der Wachhabende brachte seine Pizza. Auch Kundoban saß schon ziemlich unruhig vor ihrem Bildschirm.
„Dr. Mayer, danke bis hierhin. Schön, dass Sie angerufen haben. Sie haben uns wirklich geholfen. Ich warte auf hr Fax und rufe Sie später noch mal an.“
„Bin aber nur noch bis 18 Uhr im Dienst, dann erst morgen Abend wieder.“ Dr. Mayer wollte sich offensichtlich aus der Sache herauswinden. Mit der Polizei und irgendwelchen Ermittlungen nichts zu tun haben.
„Dann geben Sie bitte dem Wachhabenden Ihre mobile Nummer durch und sorgen Sie dafür, dass Sie immer erreichbar sind, okay? Ich verbinde Sie jetzt mit der Zentrale. Bis später.“
Remsen stellte das Telefonat zurück an die Zentrale. Mit unerträglichem Heißhunger stürzte er sich auf seine Pizza, bevor diese eine Chance hatte, kalt zu werden.
„He, he – wir sind hier nicht bei den wilden Vandalen. Und Zeit haben wir auch. Vorerst kommen wir hier nicht weg.“ Jutta Kundoban war Remsen schon voraus und amüsierte sich über die Art und Weise, wie ihr Kollege die Pizza förmlich verschlang.
„Wer war sie? Wer war er? Da müssen wir anfangen. Wir brauchen Profile von beiden und müssen alles von CodeWriter rausbekommen. Ich setze 10 zu 1, dass der Tote am Baum Weilham jun. ist. Gibt’s keine Fotos, in den sozialen Netzwerken oder so? Heute wird doch jeder Mist veröffentlicht. Surfe mal im großen Teich danach. Solange…“, er schluckte und würgte sich, denn er war ja noch mit der Pizza im Gefecht.
„Langsam Jan, sprechen und essen nacheinander. Sie wissen doch, Ihr Männer seid einfach nicht Multitasking-fähig. Also versuchen Sie es doch gar nicht erst.“ Kundoban fand es witzig, ihren Kollegen mal wieder zu ärgern. Solange sie sich inzwischen kennen und miteinander arbeiteten, war es fast immer ein Running Gag.
Jan Remsens Hunger war ebenfalls gestillt, die Pizzaschachtel wanderte rein zufällig auf die seiner Kollegin; die Vorzüge der Hierarchie.
„Keine Widerrede, ich besorge den Kaffee.“ Remsen war schon fast durch die Tür, als er sich für seine Art der Entsorgung entschuldigte. „Das mit den Vandalen sehe ich übrigens anders.“ Und raus war er.
Na, wenigstens besaß er Anstand, auf seine Art, freute sich Kundoban und brachte die Verpackungen weg. Der Nachmittag wird heftig werden, so viel war jetzt schon klar. Aber die Frage war doch, wer steckt hinter beiden Morden. Wie es aussah, war das Ganze richtig gut vorbereitet. Organisiertes Verbrechen? Osteuropäische Mafia? Wenn ja, welche?
Was macht eigentlich CodeWriter? Klingt so, als wenn die Software programmieren. Zumindest stand es so auf der Website. Jutta schmunzelt: Sie ist mit dem Internet, den vielen Netzwerken und Kontakten und den E-Mails und SMS groß geworden; aber sie hat überhaupt keine Ahnung, was dahinter an Technik und Software gebraucht wird, um all die Information und Kommunikation zu ermöglichen. Alles funktioniert so reibungslos, Tag und Nacht, weltweit. Toll, dass sie heute völlig anders kommunizieren können als noch wenigen Jahren. Remsens Kommunikationsstrategie kannte sie schon: abends im Refill. Da erfuhr er alles.
„Schon kalt.“ Remsen saß bereits wieder an seinem Schreibtisch, als sie zurückkam und hatte seinen Kaffee inzwischen ausgetrunken.
„Und Sie verbrennen sich noch mal die Zunge.“ Jutta Kundoban kannte Remsen und seine Art, auf Verschleiß zu leben. Sie ging da doch sorgsamer mit ihrem Körper um.
Dafür schwang er sich aus seinem Sessel an die Wandtafel und bemühte sich, die Fläche von allerlei alten Notizen und Fotokopien freizumachen.
„Dann mal los: Was haben wir?“ Remsen nahm gleich mal die Rolle eines Oberlehrers, Moderators und Ermittlungsleiters, alles gleichzeitig, ein.
„Ein Unfall der keiner war. Aber damit fing alles an. Eine Tote, die offensichtlich nicht beim Unfall gestorben ist; also ermordet wurde. Die Unfallursache ist mysteriös, denn irgendwer hat den Hirsch auf die Straße gelegt, die Straße in beide Richtungen und dann noch zur richtigen Zeit abgesperrt.“ Jutta zeigte auf ihre Notizen. „Dr. Ansbaum äußerte die Ansicht, dass sie eine Osteuropäerin sein könnte“.
„Und das kann Dr. Ansbaum einfach so erkennen?“
Remsen bemühte sich, das Gesagte mitzuschreiben und sich damit ein Bild zu machen. Mit minimalem Gestaltungstalent.
Remsen dachte laut nach: „Wissen wir von ihr noch mehr? War sie Mitarbeitern bei CodeWriter? Oder eine Bekannte, Partnerin oder so? Geliebte des Toten? Wer kann sie sein.“
„Nichts dergleichen. Vielleicht bekommt Benjamin bei der Frau Weilham noch was raus. Oder ihr Mann taucht bald mal auf.“
„Hat der Nöthe den denn nicht erreichen können? Seine Frau muss doch die mobile Nummer haben.“ Remsen wollte mal wieder alles auf einmal erfahren.
„Wahrscheinlich nicht, denn dann wüssten wir schon was. Wir müssen wohl warten, bis Weilham sen. aus dem Nirwana wieder auftaucht.“ Jutta Kundoban schaute wieder auf ihre Zettel.
„Das Unfallauto, wenn man so sagen kann, ist zugelassen auf eine Firma CodeWriter. Die machen irgendwas mit Software, entwickeln welche für Sicherheits- und Überwachungsfirmen und erledigen Auftragsarbeiten für Forschungsinstitute. Geschäftsführer der CodeWriter sind Georg Weilham und Karl Hausmann. Im elektronischen Bundesanzeiger war zu lesen, dass die zuletzt veröffentlichten Abschlüsse ganz ordentlich waren. Viel verstehe ich davon nicht.“
Das Bild an der Tafel wurde langsam aussagekräftiger. „Hausmann macht Urlaub und scheint nicht erreichbar zu sein und Weilham sen. ist mal kurz abgetaucht. Ich schätze hinter der Grenze, um seine Potenz auszutesten. Nur ´ne Vermutung, keinen Kommentar bitte.“
Typisch Remsen, typisch Mann. Kundoban lächelte in sich rein; vielleicht hat er noch nicht mal Unrecht.
Remsen befragte sein Gedächtnis und malte weiter an der Tafel.
Jetzt war wieder Kundoban dran: „Sein Sohn, vermutlich ist er das, ist auch bei CodeWriter und ist laut der Homepage dort Account Manager. Was macht man da?“
„Soweit ich das weiß, ist das der Verbindungsmann zu den Kunden, die regelmäßig besucht werden, damit keiner unzufrieden wird und sich vernachlässigt fühlt. Sind alle sensibel heutzutage. Vielleicht muss er sich auch um neue Kunden kümmern. Zumindest könnte es sein, dass er genau deshalb gestern unterwegs, vielleicht sogar im Ausland war.“
Das klang logisch für Remsen und auch Kundoban hatte nichts dagegen zu sagen, also malte Remsen sein Bild weiter.
„Das würde auch erklären, dass die unbekannte Tote eine Osteuropäerin sein könnte.“
Remsen hob die Hand: „Moment, noch ist nicht klar, ob der Tote wirklich der Junior der Weilham's ist. Dieser Teil ist hoch spekulativ. Und das mit der Osteuropäerin auch.“
„Weiß ich; ab jetzt deuten wir mangels Fakten.“ Das mochte Jutta Kundoban eigentlich nicht, könnte aber ganz hilfreich sein, sich auf diese Art und Weise die nächsten Schritte zurechtzulegen.
„Ja, okay; aber nur bis wir mehr wissen.“ Remsen war es durchaus ganz recht; vielleicht ergeben sich für die weiteren Ermittlungen ganz brauchbare Überlegungen.
„Zurück zum Unfall. Das Ganze erscheint mir sehr professionell und mit großem Aufwand gemacht zu sein. Offensichtlich hat sich jemand den Wagen von CodeWriter gezielt ausgesucht. Wenn also die Straße zum exakten Zeitpunkt gesperrt und der Hirsch für den Unfall angerichtet wurde, dann musste der Wagen überwacht worden sein.“
Remsen freute sich, dass seine junge Kollegin einen so scharfsinnigen Verstand hatte. Der Gedanke war nicht von der Hand zu weisen.
Elvis Costello – ;Accidents Will Happen‘, fiel Remsen da nur rein. Halb murmelte er es vor sich hin.
„Was meinen Sie? Hab leider nichts verstanden.“ Jutta Kundoban war ganz neugierig, Remsens Gedanken zu verstehen.
„Unfälle passieren eben, sang Elvis Costello mal. Irgendwann um 78/79. Das dürfte nicht eines Ihrer Kinderlieder gewesen sein, nehme ich mal an.“
„Hab verstanden – Sie und Ihre Musik. Ich sollte mal wieder mit einer Flasche Wein zu Ihnen kommen und dann in Ihrer Sammlung stöbern. Sie wissen ja, ausnahmslos Musik vor meiner Zeit hören wir dann, okay?“.
Remsen war inzwischen schon weiter: „Wie macht man das am besten, so eine Verfolgung? Mit einem Peilsender. Oder mit Verfolgung.“ Remsen dachte nach und wählte die Nummer von Reiken.
„Prüft mal bitte, ob am Auto ein GPS-Tracker oder so etwas zu finden ist.“
„Jan, haben wir schon untersucht, da ist nichts. Auf jeden Fall schauen wir uns das Auto noch mal an. Vielleicht haben wir ja was übersehen. Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.“ Reiken unterbrach die Verbindung.
„Hallo, Frau Kundoban.“ Er zog seine Ansprache gestikulierend in die Länge und winkte mit der Hand. Entweder war sie etwas weggetreten und schlief mit offenen Augen oder aber sie war gedanklich mit sich allein.
„Nein, meine Einschätzung von professionell nehme ich zurück. Schauen Sie mal, wie lange wir gebraucht haben, um festzustellen, dass es überhaupt kein Unfall war; dass der Hirsch schon lange vorher tot war und die Tote hinter dem Fahrersitz dort eigentlich gar nicht hin gehörte. Mag sein, die Vorbereitung und die Idee waren sicher aufwendig, aber die Ausführung eher dilettantisch.“
Das war es also, über was sie gerade nachdachte. Aber sie hatte Recht, dachte sich Remsen. Außerdem hätte ein Profi den Toten im Wald verschwinden lassen. Passt alles nicht so recht zusammen.
„Stimmt, Sie haben Recht. Das ergibt ein uneinheitliches Täterprofil, wenn man davon überhaupt reden kann. Und jede Menge Arbeit. Wir brauchen jetzt einen Anfang, sonst stochern wir ewig in Hypothesen rum.“
Remsen sah auf die Uhr und stellte fest, dass eine halbe Stunde ohne Kaffee echt anstrengend war. „Auch noch einen? Kaffee meine ich.“
Kundoban schüttelte mit dem Kopf und verschwand auf dem Klo. Remsen marschierte zur Zentrale am Eingang und ließ sich einen Becher Kaffee geben. Den genoss er vor der Tür bei frischer Luft. Das Rauchen hatte er schon längst aufgegeben, aber ein paar Minuten alleine können Blockaden lösen. Auch ohne Glimmstängel hielt er an diesem geliebten Ritual fest.
„Wir müssen uns mit CodeWriter beschäftigen. Alles rausbekommen was die tun, mit wem die Geschäfte machen; welche natürlich auch und mit wem die zusammenarbeiten. Alles!“ Remsen schrieb an seiner Tafel wieder mit. „Wurden die erpresst? Hatten sie Feinde? Wenn ja wen?“
Einen Namen kreiste er ein: „Georg Weilham, mit dem müssen wir zuerst anfangen. Haben wir von Nöthe schon was gehört? Trinkt der immer noch bei der Weilham Kaffee?“
So langsam war Remsen nicht nur auf Betriebstemperatur, sondern weit darüber hinaus.
„Jutta, sie kümmern sich mal um alles rund um CodeWriter. Wir brauchen so schnell wie möglich ein komplettes Bild von der Firma. Und von Weilham. Von beiden natürlich. Und von Hausmann auch. Nehmen Sie alle, die verfügbar sind und treiben Sie mir den Hausmann auf. Auch wenn der auf den Amazonas rumschippert, ich brauche ihn am Telefon. Ich fahre jetzt zu Weilham und sehe mich dort mal um.“
Remsen fand den Plan ganz brauchbar und griff nach seinem Mantel. Auf dem Weg zu den Weilham‘s wird er noch mal mit Ansbaum und Reiken telefonieren. Vielleicht haben die inzwischen neue, brauchbare Anhaltspunkte. Und seine Truppe musste sofort aufgestockt werden. Darum muss er sich auch noch kümmern und seinen Chef anrufen. Wenigstens auf die Kundoban ist Verlass; den Vorschlag zum Vinylabend wird er annehmen. Warum auch immer – er grinste bei der Vorstellung.
Die Tür ging auf und sein Kollege Ulrich stand im Büro. „Dietering hat angerufen. Ich soll dich unterstützen Jan. Mach dir nichts draus, du wirst es überleben. Ich hoffe, du hast schon eine heiße Spur.“ Nein, das war keine Frage; mehr eine Feststellung, eine Hoffnung vielleicht.
„Alles was hier heiß ist, ist die bestialische Brühe vorne von der Zentrale.“
Remsen hatte bis soeben noch das Gefühl, dass der Fall bei ihm in den besten Händen war. Dass aber der Sepp, sein Chef, die Absicht verfolgte, die Ermittlungen zu behindern, und ihm den Hansi aufgehalst hat, machte seine Hoffnungen zunichte.
Ein letzter Versuch von Remsen sollte helfen, das Schlimmste zu verhindern: „Was ist denn mit dem Raubmordfall von der Raststätte? Habt Ihr da schon einen Täter?“
„Nein, sind nah dran. Dietering meinte aber, dass Unfall und die zwei Morde heute Nacht mehr Aufmerksamkeit in den Medien erzeugen werden und ich hier mehr gebraucht werde. An der Sache mit dem Überfall an der Raststätte wird weiter recherchiert; soll die Regionalliga machen.“
Remsen schätzt Kriminalrat Karl Dietering durchaus. Mehr als Mensch, weniger als Chef. Nicht, dass sie beide erfolglos zusammenarbeiten, aber beide wissen, was sie voneinander haben. Und wann es besser ist, sich aus dem Weg zu gehen.
Dietering war als Westimport schon länger in Vesberg und machte sich als Besserwessi einen eher unrühmlichen Namen. Erst nach einigen Querelen mit den Einheimischen hatte er sich doch durchsetzen können und genoss inzwischen sogar einen guten Ruf. Als Remsen vor einigen Jahren von Hamburg hierher nach Vesberg kam, gab es einigen Streit untereinander, den Remsen mochte sein übertriebenes bayerisches Auftreten von Beginn an nicht. Aus dieser Zeit stammt der heimliche Spitzname Sepp. Außerdem nahm Dietering Remsen als eine Art Konkurrent war, was Remsen allerdings nie war und vorhatte. Das ist jetzt alles Schnee von gestern.
Dietering brauchte nicht mehr lange bis zu seiner Pensionierung. Er wollte sich von den Alleingängen Remsens nicht kurz vor Schluss der öffentlichen Kritik aussetzen. Remsen, der gerne mal die Vorschriften großzügig auslegt, wandelte fast schon traumwandlerisch an der Grenze des gerade noch Erlaubten. Das mochte Dietering überhaupt nicht. Wenngleich – die nicht zu leugnenden Ermittlungserfolge, welche Remsen inzwischen aufweisen konnte, kommen ja auch ihm zugute.
Der Trick, auf den Dietering immer verfällt, ist zwar gerade nicht schön, schützt dann doch vor unliebsamen Erklärungen gegenüber dem Polizeipräsidenten und der Presse. Außerdem hatte es Kriminalrat Dietering inzwischen satt, sich immer schützend vor Remsen stellen zu müssen. Seine Geheimwaffe und damit sein Trick ist Ulrich, Kriminaloberkommissar. Mit ihm an der Seite fühlt sich Remsen eingeengt, kontrolliert, ja vielleicht sogar bevormundet. Die Doppelspitzennummer ist bestimmt nicht fair, geht jedoch für Dietering völlig in Ordnung. Für Remsen umso weniger.
Ulrich wusste recht genau, dass Remsen ihn maximal kollegial schätzt – mehr aber auch nicht. Remsen. Beide sind komplett unterschiedlich. Während Ulrich schon vor der Vereinigung bei der Polizei war und sich staatskonform arrangiert hat, ist Remsen derlei Anpassung völlig fremd. Schon in Hamburg legte er gekonnt Regeln für sich aus und ignorierte Anweisungen seiner Chefs konsequent. Soweit es eben ging. Hansi, wie ihn Remsen kurz nannte, war äußerst korrekt und vergab damit reichlich Chancen in den Ermittlungen. Das wusste Ulrich sicherlich, war aber für ihn gesehen subjektiv noch immer besser als das drohende Damoklesschwert einer Suspendierung. Diese Angst hatte Remsen so nicht, machte er doch nur seinen Job, intensiv, manchmal schmutzig, immer legal und belegbar. Also, wo war das Problem? Für Remsen gab es keines. Punkt.
Im Laufe der Zusammenarbeit entwickelte sich eine eigenartige Spannung. Diese drückte sich in Reibereien zwischen beiden aus; sehr oft von Ulrich initiiert, der regelmäßig versuchte, Remsen zu disziplinieren. Der perfektionierte allerdings als Anti- und sogar Abwehrreaktion seine Form der Alleingänge, dass Ulrich oft das Nachsehen hatte oder viel zu spät über den Ermittlungsverlauf informiert wurde. Information ist Macht; das erkannte Remsen schon lange als seine Maxime und so arbeitete er auch; vor allem wenn sein Hansi mit an Bord war.
Remsen beabsichtigte auch heute nicht, sich von Hanns-Peter aufhalten zu lassen. Seinen Drang zur Frau Weilham zufahren, unterstrich er mit der Bemerkung: „Die Kollegin Kundoban ist bestens informiert und wird dich über alles in Kenntnis setzen. Ich muss jetzt los.“
Und raus war er.
Jetzt auch noch der Hansi. Kann denn kein Fall mal ohne diese Spaßbremse ablaufen? Remsen bog noch schnell zur Toilette ab, da die ganz praktisch auf dem Weg zum Hinterausgang lag. Erleichtert hielt er noch kurz an der Zentrale an und fragte nach neuen Informationen von Nöthe oder der Spurensicherung.
„Und aus dem Keller?“ Der Wachhabende verstand, dass Remsen die Pathologie meinte, schüttelte aber den Kopf und erinnerte Remsen daran, dass dieser sofort informiert wird, wenn in der Zentrale Informationen auflaufen.
Na bestens, dachte sich noch Remsen, als er die Tür am Hintereingang zum Parkplatz aufdrückte. Eigentlich meinte er die gute Organisation der Zentrale, auf die er sich verlassen konnte. Es könnte aber auch auf das Abbild auf Remsens Augen passen. Jedenfalls saß der Schreck richtig tief, als er Ulrich an seinem Auto stehen sah.
„Keine Widerrede Jan, ich komme mit. Unterwegs kannst du mich aus allererster Hand informieren. Die Kollegin hast du ja mit Arbeit komplett eingedeckt.“
Die Körperhaltung von Ulrich ließ keinen Zweifel aufkommen: Ich fahre hier mit, ob im schwarzen Ungeheuer oder im blauen Streifentaxi hinterher.
Remsen resignierte innerlich und erinnerte sich an den weisen Ratschlag: Nicht jede Schlacht muss geschlagen werden. Immerhin hat auch er eine Geheimwaffe, nämlich seinen unübertroffenen Sound im Auto. Dazu noch seinen, na ja nicht mehrheitsfähigen Musikgeschmack. Thin Lizzy mit „Bad Repuation“ könnten helfen.
Hanns-Peter Ulrich ist Kriminaloberkommissar, aber nicht sein Chef. Beide werden sie immer wieder von Dietering zusammen losgeschickt. Ulrich, der hier zu Hause ist, die Leute kennt und meist schon im Voraus ahnt, warum sie so oder so denken und handeln, genießt sicher seinen Heimvorteil. Remsen, mit großer Erfahrung aus vielen Jahren Hamburger Ermittlungsarbeit, kennt sich mit vielen Formen des Verbrechens aus, insbesondere mit internationaler organisierter Kriminalität. Davon gab es in Hamburg leider jede Menge und Remsen geht davon aus, dass das weniger geworden ist. Ulrich respektiert ihn ganz sicherlich, jedoch sind beide gerne auch zwei Pole, die sich aneinander reiben oder wenn es übel kommt sprichwörtlich polarisieren. Zu unterschiedlich sind beide, wenngleich trotz allem die Arbeit miteinander nicht die schlechteste ist.
„Gut, gut, wenn es sein muss, dann steige ein.“ Remsen startete den Buick, gab die Adresse in das Navigationssystem ein und verließ den Hof.
So langsam wurden sie wach. Der Job kostete jede Menge Nerven und war nicht so leicht zu erledigen. Obwohl, sie werden immer wieder zu Aufträgen ähnlicher Art gerufen. Aber hier in Deutschland ist es sehr gefährlich. Anders als zu Hause in Moldawien ist die Polizei hier gut ausgestattet und vor allem unbestechlich. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist nicht zu unterschätzen.
Sie machten keinen Fehler. Nein, sie waren richtig gut. Der Hirsch wurde wie vorhergesagt zur richtigen Zeit geliefert und die Straßensperren scheinen funktioniert zu haben. Ein Anruf würde Gewissheit verschaffen, ob alles tatsächlich funktionierte. Das würde allerdings gegen die Anweisung sprechen, in Deutschland jemals ein Telefon einzuschalten. Ansonsten wäre die Ortung möglich und die gesamte Geschichte könnte auffliegen. Der Auftrag hieß eindeutig: Am Sonnabend noch bei Tageslicht mit den vorbereiten Autos Deutschland verlassen. Einzeln und auf unterschiedlichen Routen. Jeder von Ihnen sollte einen eigenen Grenzübergang wählen. Aussehen sollen sie wie Deutsche, also keinen Schnauzbart haben, sauber, rasiert und in typisch deutscher Kleidung die Grenze passieren. In den Autos lagen Pässe, extra für jeden von ihnen. Nichts darf schief gehen, bis zum Schluss. Alles war penibel durchgeplant. Erst wenn alle wieder zurück in Moldawien sind und keiner hochging, fließt der zweite Teil der Vereinbarung. Das Honorar. So war es ausgemacht.
„Los, hoch. Wir müssen uns fertig machen und weg von hier.“
Seine beiden Mitstreiter schliefen noch oder waren gerade dabei, wach zu werden. „Wir haben noch maximal eine Stunde, dann müssen wir hier raus sein. Bevor es dunkel wird, müssen wir über die Grenze in Polen sein. Also macht jetzt.“
Sie erhielten als Unterschlupf nach ihrem Aufträgen Schlüssel für ein kleines Häuschen in der Nähe von Vesberg von ihrem Auftraggeber. Dort durften sie weder Licht anmachen noch heizen. Kein Anzeichen, dass das Häuschen, eher eine Hütte bewohnt war, war die Abmachung. Gelegentlich gehen Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern tagsüber eine Runde um den nahe gelegenen See. Außerdem ist die Hütte Teil einer Gartenanlage. Zwar geht da im November kaum noch jemand hin, aber man kann ja nie wissen.
Inzwischen war alle drei wach, wuschen und rasierten sich – sie sollten einen gepflegten Eindruck machen, falls es doch zu einer Kontrolle kommt. Der Grenzschutz schickte in unmittelbarer Umgebung der Grenze schon länger mehr Zivilfahrzeuge als früher in die Schleierfahndung. Das war die Information des Auftraggebers. Sie mussten auf der Hut sein, um weder hier in der Gartenanlage noch auf dem Weg zur Grenze irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Mit großer Sicherheit ist die Fahndung nach dem Unfall bereits gestern Nacht angelaufen. Und wenn im Wald Teil II ihres Werks auch noch entdeckt wird, dann darf man von erhöhter Präsenz der Polizei, überall ausgehen. Eigentlich verlangte er als Anführer von den Auftraggebern, erst einen Tag später zu verschwinden. Das wäre wohl viel zu heikel geworden. Die Auftraggeber wollten die drei so schnell wie möglich wieder los sein. Jetzt sind wir die heiße Kartoffel, mal wieder. Er war sicher, die nächsten zwei Stunden werden vielleicht sein Leben und das seiner Kumpels hier verändern. Hoffen wollte er es nicht.
Nach dem Essen begann die Observierung des Umfelds des Gartenhäuschens. Dafür deponierte der Auftraggeber oder wer auch immer ein richtig gutes Fernglas in der Hütte. Zum Glück ist dieser Sonnabend so, wie man einen Tag im November erwarten durfte: grau, trübe und regnerisch. Das kann helfen, um hier ungesehen wegzukommen.
Gut zwanzig Minuten brauchten sie, um die Gewissheit zu haben, dass sie unbeobachtet das erste Auto erreichen. Und es sah gut aus, denn nirgends war jemand zu sehen. Der Erste konnte es versuchen.
Als Spaziergänger angezogen ging er aus dem Garten und spazierte den Weg entlang, entgegen der Richtung zum Auto. Dieses stand nicht einsam auf einem Parkplatz, sondern war etwas weiter weg, in der Nähe des Flusses, an einer gut befahrenen Straße geparkt. Dort standen jede Menge Baufahrzeuge, kleine Autos, Pritschenwagen und sogar einige Wohnmobile. Wer sollte da schon auffallen, wenn jemand zu seinem Auto geht und sich reinsetzt.
Ausgemacht war, dass nach knapp 10 Minuten der Zweite folgte, jedoch einen anderen Weg nimmt. Sollte der irgendetwas Auffälliges bemerken, muss er über einen Seitenweg wieder umdrehen und zur Hütte zurückkommen. Kein Risiko war ihnen ausdrücklich eingeschärft worden.
Jetzt war er dran. Er schloss das Gartenhaus ab und deponierte den Schlüssel am vereinbarten Ort. So unauffällig wie möglich durchquerte er den Garten und die Anlage. Eine Sackgasse noch und dann erreichte er auf der Uferstraße.
Teil I der Flucht ist gelaufen, dachte er sich noch, als er in Sichtweite des Autos kam. Oh Scheiße, da steht ein zweites Auto seitlich hinter ihrem Fluchtwagen und blinkt. Er verlangsamte seinen Schritt, um sich das Auto genauer anzusehen; besonders die Insassen. Zwei Typen, kurz geschorenes Haar und offensichtlich nicht übergewichtig; durchtrainiert. Zivilstreife?
Gefahr!
Alarm!
Er nahm den kleinen Weg als Abkürzung, bog von der Uferstraße wieder ab in die Gartenanlage. In aller Ruhe, äußerlich. Denn in ihm kursierten die Gedanken: Was machen, wenn die uns schnappen? War es überhaupt eine Streife? Zurück?
Nein jetzt nicht gleich. Erst mal ab in die sichere Hütte.
Sammeln!
Der Plan sah für diesen Fall vor, es nach maximal zehn Minuten nochmals zu versuchen. Er zitterte am ganzen Körper. Ihm fehlte der Mut. Aber er musste, denn die Auftraggeber waren schlau und verteilten die Fluchtinformationen auf alle drei. Minimiertes Risiko, wie sie es nannten. So hatte er keine Ahnung, wo die anderen Autos standen.
Er nahm allen Mut zusammen und versuchte innerlich ganz ruhig zu bleiben. Scheiße, schon wieder Leute in der Nähe des Gartens. Ein altes Pärchen. Trotzdem, er musste warten, bis die außer Sichtweite wagen.
Nichts riskieren, bloß nicht auffallen.
Weiter!
Er nahm den entgegengesetzten Weg, sodass die alten Leutchen ihn nicht so schnell sehen konnten. Dafür war diese Richtung zum Auto etwas weiter. Egal, jetzt Augen zu und durch.
Es lief glatt. Nichts Aufregendes mehr unterwegs, kein Spaziergänger, kein Mensch weit und breit. Erleichtert bog er auf die Straße zum Auto ein. Hier fiel er nicht mehr so auf. Jemand, der auf dem Weg zum Auto ist, ist nicht auffällig. Normalerweise nicht.
Die letzte Kurve noch, dann würde er gleich das Auto sehen. Hoffentlich ist die andere Karre inzwischen weg, dachte er sich, als er in Sichtweite des geparkten Autos kam.
Entsetzen in seinen Augen: Das Auto war weg. Ihr Fluchtauto war nicht mehr da! Hilflos sah er sich um. So ein Mist, wo sind die anderen beiden hin? Wie komme ich jetzt hier weg?
Nein, nein, nein!
Verdammter Mist!
Das geht nicht gut aus. Er rannte los; vielleicht stehen sie etwas weiter vorne und warteten auf ihn. So würde er es machen. Ihm war jetzt jede Tarnung egal. Er musste das Auto finden, egal wie.
Auf Höhe der Stelle, wo das Auto vorher geparkt war, blieb er abrupt stehen. Was war das? In der Parklücke stand jetzt das Auto, welches vorher in zweiter Reihe auf der Straße stand und er als Zivilstreife ansah. Drinnen saß jetzt niemand mehr. Wenn das Zivilbullen waren, dann trieben die sich bestimmt noch hierum.
Los, weiter die Straße runter!
Nach einigen Minuten begann er nicht nur langsamer zu werden, sondern es dämmerte in ihm: Die beiden sind weg!
Jetzt ist er ganz alleine auf sich allein gestellt. Er hatte keine Chance, die beiden irgendwie zu finden oder mit ihnen zu telefonieren.
Wo sind die ihn?
In welche Richtung könnten sie gefahren sein?
Er weiß ja nicht, wo die anderen Fluchtautos stehen und auf ihn warten könnten. Das hier war eigentlich sein Auto gewesen. Und jetzt? Ihm muss was einfallen, damit er so schnell und sicher wie möglich aus Deutschland rauskommt.
Eigentlich war er auf solche Situationen vorbereitet. Damals in Sibirien, als sie noch alle zur Roten Armee eingezogen und zwei Jahre paramilitärisch gedrillt wurden, war das Wetter noch viel schlechter, die Kleidung zwar tauglich, aber alt und ramponiert. Das Essen dort war ohnehin nichts für Rekruten. Schikaniert wurden sie die ganze Zeit.
Also, was soll’s: Schlimmer als damals kann es jetzt auch nicht sein.
Mindestens zweimal war er knapp dem Tod entkommen, Unfälle und Knochenbrüche überstanden. Als Aufklärer waren sie trainiert, in entferntesten Regionen ausgesetzt und über lange Distanzen zurückzufinden. Überleben am Rande des Vorstellbaren war die Regel. Ernähren von selbst gefangenen Tieren. Schlafen in Erdlöchern. Wochenlang nicht entdeckt zu werden und sich trotzdem durchschlagen. Manchmal hat’s nicht geklappt und man wurde gestellt.
Jetzt ist wieder Überleben angesagt. In einem fremden Land. Mit einer Polizei, die ihn sicher sucht. Die Aufgabe könnte nicht größer sein.
Er muss hier raus, einfach nur raus. Raus aus Deutschland.
Georg Weilham saß gedankenverloren in seinem Auto und befand sich auf dem Weg nach Hause. Sonnabends ist sein Tag. Er brauchte diesen Freiraum. Schon seit Jahren arbeitete er an der Grenze seiner Leistungskraft. Seine Ärzte forderten ihn mehrmals und eindringlich auf, etwas kürzer zu treten. Sollen sie doch reden, hatte er sich immer gedacht. Bis zu dem Zeitpunkt, als gleich nach dem Jahreswechsel ein Schwächeanfall ihn für längere Zeit aus dem Verkehr zog. Es begann mit Panikattacken, schon länger davor. Ihm wurde immer mal wieder schwindlig. Bekam kalte nasse Hände, Herzrasen und Atemnot. Obwohl er schon vor Jahren zu rauchen aufgehörte und er versuchte, seinen täglichen Stress zu reduzieren, ließen diese Symptome einfach nicht nach.
Anfangs sagte er keinem etwas. Seiner Frau nicht, seinem Sohn nicht, seinem Geschäftspartner gleich gar nicht. Carl wird es schon einzuordnen wissen; dessen war er sich gewiss.
Dann ging er doch zu seinem Hausarzt, der gleich allerlei Tests mit ihm machte. Und Medikamente ihm verschrieb. Er musste zu Internisten und Kardiologen; erhielt Diagnosen, die ihn mal positiv stimmten, mal depressiv machten.
Im Januar dann war er nach einem überaus langen Tag im Büro auf dem Weg zum Auto…
Irgendwie war die Seuche damals in der Firma zu Hause. Zum Jahreswechsel waren zwei gute Entwickler zum Konkurrenten gewechselt. Obwohl, Konkurrent sind die eigentlich nicht. Der Auftrag aus dem Innenministerium ließ auf sich warten. Der stellte so etwas wie eine Lebensversicherung CodeWriter dar; Karl hat ihn immer wieder vertröstet. Und Neugeschäft war nicht in Sicht. Kurzum: Die Zukunft seiner Firma, seines Traums, seiner Altersvorsorge war in nicht unerheblicher Gefahr. Ohne rechte Perspektive drehen sich die Probleme immer schneller. Komisch, warum tauchen die dann immer gleich in Scharen auf? Aus Missverständnissen wurden Probleme, aus Problemen wurden Konflikte. Streit wurde immer mehr zur Norm in der Firma.
Mit Karl konnte er ja reden. Ein gemeinsamer Abend im Pub, beide waren leidenschaftliche Guinness Trinker, half für kurze Zeit. Karl und er funktionierten einfach nicht mehr synchron. Über das berüchtigte siebente Jahr waren sie längst hinaus; jedoch stagnierten sie in der Entwicklung. Karl wie er wissen recht genau, dass Stillstand in der Informatik mit Rückschritt gleichzusetzen ist. Woanders wohl auch, aber das interessierte ihn nicht. Er war Informatiker, schon früh der Logik einer CPU verfallen und hat sich zu einem leidenschaftlichen Entwickler, inzwischen zum Generalisten entwickelt. Selbst die Wirren der Vereinigung konnten seiner Entwicklung nur kurz etwas anhaben.
Er nutzte gleich nach dem Abitur die Chance, um nach dem Pflichtdienst bei der [...], nee, das Kürzel von damals hatte er aus seinem Wortschatz gestrichen, also beim Bund wie man heute sagt, Technische Informatik zu studieren. Das bekam er ganz gut hin, denn er interessierte sich vor allem für die Entwicklungsseminare und verstand die Infrastruktur von Rechnern eher als viele seiner Mitstudenten. Gleich danach fand er damals im einzigen EDV-Konzern hier in Vesberg eine Anstellung. Er hing sich rein, forschte, programmierte, konstruierte und wurde für viele seiner Kollegen schnell zum gefragten Kollegen.
Weilham fühlte sich in seiner kleinen Werkstatt, die eigentlich ein großes Büro für viele EDV’ler war, richtig wohl. Wäre da nicht die Staatsmacht gewesen, die vor höheren Aufgaben eine Bedingung gesetzt hat: Eintritt in die Partei. Das kam für ihn niemals in Frage. Wie hasste er die Gleichmachung, die Unterordnung seiner Informatik gegenüber der Politik, seiner Entwicklung dem des Wohlergehens einer Diktatur. Für ihn war sie menschenfeindlich, hemmend, abstoßend. Ja, er eckte laufend an, ließ sich nicht disziplinieren und anketten. Er, ein Weilham vom Schlag eines Vesbergers, die wievielte Generation auch immer, war von seinen Vorstellungen vom Leben überzeugt und blieb stur.
Basta!
Zum Glück für ihn fegte die Revolution hier in Ostdeutschland die Diktatoren weg; wahrscheinlich nach Russland, Nordkorea oder auf dem Mond. Es war ihm egal, denn es begann seine Zeit der Entfaltung.
Die sollte nur kurz anhalten.
Denn eines Tages saß er vor einem Personalchef, der von so komischen Sachen wie Entlassung sprach. Und dazu in einem Dialekt sprach, mit dem er sich überhaupt nicht anfreunden konnte. Wahrscheinlich mal wieder so ein Westimport; typischer Klugscheißer. Davon gab es damals in Vesberg viele, zu viele, wie er überzeugt war.
Weilham fühlte sich getroffen, schwer beleidigt und wäre zum Terroristen geworden; hätte man ihn gefragt. Es war aber keiner da, der ihn entsprechende Angebote gemacht hätte, sondern nur die gelangweilten Mitarbeiter vom Arbeitsamt, die ihm Hoffnung machten, an die sie selbst nicht glaubten. Er bekam von ihnen immer wieder Geschenke in Form von Qualifizierungen. Diesen Unsinn sich anzuhören nahm er als Folter wahr. Die Schlaumeier meinten, uns was erzählen zu müssen. Nur weil sie ausgestattet mit einer Buschzulage extra die weite Reise bis hier nach Vesberg gemacht haben.
Dünnbrettbohrer!
So langsam begann er, seine Sinne neu zu schärfen. Zu justieren, redete er sich immer ein. In ihm wuchs eine Idee heran, eine Geschäftsidee, mit der er Geld verdienen könnte. Vom Arbeitsamt und sonst wo her holte er sich Informationen und studierte den Hürdenlauf einer Firmengründung. Für ihn war das eine komplett fremde Welt, in der er sich einfach nicht reindenken konnte.
So musste mal wieder der Zufall nachhelfen und er traf auf einer Party einen Bekannten. Nein, eigentlich war es kein richtiger Bekannter – oder? Karl Hausmann, wer war er? Jedenfalls hatten beide das Gefühl, dass sie sich kannten: Wir haben uns doch schon irgendwann mal gesehen? So kamen sie ins Gespräch. Klar, dass das waren zwei gemeinsame Semester Systemtechnologie mit Schwerpunkt Mainframe-Infrastruktur. Stimmt, das waren doch die IBM-kompatiblen Maschinen, nichts anderes als geklonte Originale. Nur mit kyrillischer Schrift versehen. Das Betriebssystem war ein unerträgliches Kauderwelsch aus schlecht verstandenem übertragenem Englisch und viel Russisch.
Weit nach Mitternacht sprudelte es aus Weilham heraus. Sein Bauch sagte ihm: Es ist die Chance.
Zugreifen!
Weilham erläuterte Hausmann seine Geschäftsidee, schmückte alles überdimensioniert aus und infizierte ihn dann in der letzten Kneipe, die im Morgengrauen noch offen hatte. Das muss der Zeugungszeitpunkt für die CodeWriter gewesen sein. Zumindest erzählen seitdem beide überall die Geschichte herum.
Die Zeit war hart. Beide hängten sich überaus in die Aufbauarbeit rein. Sie kamen gut voran, der Schuldenberg war immer noch überschaubar, ließ sich sogar mit der Zeit drücken. Spätestens als die Astrophysiker ihnen den Auftrag zur Auswertung und Analyse von unendlichen Messreihen gaben, war das Gröbste erstmal geschafft.
Aber nach vielen Jahren des Erfolgs ging es einfach nicht mehr weiter. Weilham, der sich nie schonte und gerne auch mal unangenehm mit seinen Mitarbeitern umsprang, wurde anfälliger, unruhiger, sensibler. Immer öfter geriet er mit Karl Hausmann aneinander, auch wenn sie sich beim Guinness immer wieder aussprachen. Der Wurm war drin. Seit wann etwa? Weilham dachte nach und machte nach einigen Überlegungen den verlorenen Prozess vor knapp zwei Jahren aus. Ein Kunde fing gegen CodeWriter einen Rechtsstreit an, obwohl der aus seiner Sicht im Unrecht war. Trotz allem: Der Kunde hat gewonnen und CodeWriter Image und viel Geld verloren.
Zum letzten Jahreswechsel nahm er sich vor, mit Karl zu sprechen, um auszusteigen. Karl hatte ihm im Jahr davor immer wieder dazu angestiftet, mehr ins Ausland zu gehen. Besonders im Osten Europas herrscht Goldgräberstimmung; da muss doch für CodeWriter auch was zu holen sein. Weilham ist prinzipiell vielen neuen Überlegungen gegenüber offen eingestellt, aber der Osten Europas wehte für ihn immer noch den Hauch des Staatskommunismus. Und dort wo er definitiv nicht mehr zu finden ist, regiert die Mafia. Not oder Elend – was ist die bessere Alternative? Hausmann sah das alles nicht so eng. Schutzgeld, Erpressung, Korruption lassen sich umgehen. Reichlich naiv der Karl, dessen war sich Weilham sicher.
An einem dieser Tage, schon im neuen Jahr muss das gewesen sein, war es mal wieder recht laut zwischen Ihnen geworden. Irgendwann mal war Weilham soweit und sprach Karl auf einen Ausstieg seinerseits an. Der explodierte förmlich, denn faktisch war ohne Weilham die Firma am Ende. Wenn er jetzt Kasse machen will, kann die Firma gleich ganz aufgegeben werden. Ohne wirkliches Verständnis hat sich Weilham dann irgendwann spätabends auf den Weg nach Hause aufgemacht.
Innerlich aufgewühlt, richtig sauer auf Karl, stapfte er zum Auto. Mit der Zentralverriegelung öffnete er das Auto, legte die Tasche auf dem Rücksitz hinterm Fahrer und war gerade im Begriff, selbst einzusteigen. Ein stechender Schmerz im Brustkorb verhinderte zunächst weitere Bewegungen. Weilham zuckte und sackte zusammen. Vor Schmerz krümmend versuchte er sein Handy zu greifen. Die Kräfte verließen ihn.
Der Retter war Hausmann, wie er später erfuhr. Lange, sehr lange brauchte Weilham, um wieder fit zu werden. Karl besuchte ihn, er kümmerte sich um Weilham, wie der es nie vermutet hätte. Wie auf Verabredung vermieden beide, auf die Probleme in der Firma einzugehen. Karl gab ihm das Gefühl, dass mit CodeWriter alles in Ordnung sei und er das Geschäft im Griff hatte. Auch, dass er ihn, Georg Weilham, im Geschäft vermessen würde. Weilham‘s Sohn, der auch bei CodeWriter arbeitet, war und ist noch immer für Hausmann ein mäßiger Ersatz.
Das tat Weilham gut. Er erholte sich wieder und begann zunächst mit allgemeiner Routinearbeit, zeitweise. Nur nicht aufregen, schön langsam. Stück für Stück fand er wieder zurück und wurde immer mehr belastbar. In der Firma hatte jetzt Hausmann allein das Sagen. Karl war der ungekrönte König und bestimmte, wo es lang ging, welche neuen Funktionen die Produkte bekommen sollten und wie insgesamt die Softwareentwicklung künftig aussehen sollte. Vor allem trieb Hausmann den Aufbau neuer Kundenstrukturen voran, machte Kontakte, führte Gespräche.
Ein halbes Jahr nur und schon ist alles anders? Weilham fand sich nur schwer mit der neuen Situation ab, konnte aber nichts dagegen machen. Vorerst. Karl intensivierte in die Ausweitung des Geschäfts nach Osteuropa; eine Entwicklung, die Weilham nicht behagte. Er fand einfach keine Mittel, sich dagegen zu wehren und um Hausmann zu stoppen. Weilham hatte gelernt: Sein zum Glück leichter Herzinfarkt erinnerte ihn daran, dass er künftig nicht mehr grenzenlos belastbar sein wird und dass er sich Zeit nehmen muss.
Weilham änderte nach dem Kurzschluss auch privat viele Dinge. Seine ohnehin langweilige Ehe interessierte ihn schon lange nicht mehr. Warum also weitere Energie für etwas zu verwenden, um zu kitten, was nicht mehr hält? Einfach laufen lassen, tut ja nicht weh so eine Beziehung.
Das Zusammensein mit seiner Cordula funktionierte anfangs ganz gut. Mit der Zeit entwickelte sie sich aber zur Spießerin und verfiel immer mehr dem Kaufrausch. Überall wo sie beide waren, kaufte sie förmlich die Geschäfte leer. So was nannte sich mal Wissenschaftlerin. Was aus Menschen so alles werden kann…
So verfiel er immer mehr darauf, egoistisch seinen Interessen nachzugehen. Es kamen sogar Neue hinzu. Sport machte er schon lange nicht mehr; dass konnte er leicht ändern. Weilham kaufte sich ein tolles neues Fahrrad, ein ultraleichtes Trekkingrad, mit dem er regelmäßig unterwegs ist. Alleine natürlich. Die beste Medizin für sein Herz; davon war er erstaunlicherweise selbst und vor allem sehr schnell überzeugt. Sein Arzt freute sich, dass die Werte für Blutdruck und Kreislauf sich verbesserten und vor allem sein Fettgehalt immer weniger wurde.
Sonnabend wurde zu seinem Tag. Den Freiraum nahm er sich.
Als personifizierter Frühaufsteher war er meistens schon um fünf Uhr auf den Beinen. Besonders in den Sommermonaten verfrachtete er schon am Abend zuvor sein Fahrrad ins Auto, legte sich seine Sportsachen zurecht und freute sich auf eine großartige Radtour. Er war nicht wetterfühlig; ihn störten weder Regen noch die oft gegen mittags aufkommende Hitze. Mindestens 100 km sollten es am Tag werden, dann fühlte er sich richtig gut. Das zog er durch. Immer sonnabends…
Seine Touren verlegte er immer weiter in die Hügellandschaft rund um Vesberg. Es machte schlicht Spaß, sich nach einer Woche mit endlosen Meetings, mit viel zu viel Kaffee, Telefonaten und Entscheidungen, mal so richtig auszutoben. Vor allem war es für seinen Körper eine Wohltat. Im Laufe der Monate wuchs die Lust auf noch mehr Wohltaten. Ihm war im Laufe der Monate klar geworden: Wenn es schlecht für ihn lief, kann sein Leben viel zu schnell vorbei sein.
Was soll’s?
Auf der anderen Seite der Grenze war die Verlockung in Form wunderhübscher Frauen unübersehbar. Warum sollte er sich nicht was Gutes tun, bevor gar nichts mehr geht?
Wie in den letzten Wochen immer öfter, war er auch heute auf dem Rad unterwegs und ließ sich dann in einem Club, inzwischen seine regelmäßige Anlaufstelle, massieren. Auch heute wieder blieb es natürlich nicht nur dabei. Köstlich, wenn er in Gedanken an die Stunden dachte, die er sich vorhin dort gönnte.
An diesem grauen Sonnabendnachmittag saß Georg Weilham gedankenverloren in seinem Auto und auf dem Weg zurück in Deutschland. Er sollte sein Handy anmachen und seine Frau anrufen. Sein Sohn wusste ja, dass er sonnabends nicht zu erreichen war. Ihn müsste er dringend sprechen. Vor allem wegen den Verhandlungen in der vergangenen Woche, in Lemberg. Hoffentlich konnte er den Deal gut vorbereiten; CodeWriter brauchte das Geschäft. Die Telefonverbindung gestern in die Ukraine war mal wieder unbrauchbar. Ach, die Vertriebslady war mit dabei; vielleicht ist sie hübsch. Sicher warten ein paar angenehme Pflichten die nächsten Tage auf ihm. Aber wie er seinen Carsten kennt, hatte er die, wie hieß sie doch gleich … Larissa, ja Larissa, bestimmt schon flachgelegt, wenn sie hübsch war. Sein Sohn, das wusste er nur zu gut, ist keiner, der eine schöne Frau unberührt stehen lässt. Seine Gene…
Er grinste in sich rein.
Ja, den Carsten wird er gleich mal anrufen. Plötzlich hörte er genauer hin. Die Nachrichten brachten gerade eine kuriose Unfallmeldung von letzter Nacht. Den Anfang der Meldung nahm er nur halb wahr; jetzt sagte ihm eine Stimme aus dem Unterbewusstsein: Hinhören!
Einordnen konnte er das nicht, vielleicht ist das alles nicht so tragisch. Ein schwarzer Audi war zu Schaden gekommen. Ja, sie haben im Firmenpool einige davon, auch ein solches Auto, mit dem Carsten gestern aus Lemberg zurückgekommen war. Audis gibt es jede Menge und die Tote ist eine Frau; kein Mann; keine zwei Personen.
Weghören.
Er wählte die Handynummer seines Sohnes an und wartete auf das Rufzeichen. Recht schnell kam die Meldung, die er noch mehr hasste als … egal: "The person you have called is temporarily not available"!
Wo treibt der sich rum? Warum ist sein Handy aus? Das war nicht seine Art. Er suchte nach dem Eintrag mit dem Festnetzanschluss von Carstens Wohnung und drückte auf „Wählen“. Nach einigem Klingeln kam der Anrufbeantworter zu Wort: „Wahrscheinlich sind wir beim Entenfüttern oder machen gerade bei Aldi die neuesten Schnäppchen. Deshalb sprechen Sie bitte mit unserem Anrufbeantworter. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir Zeit dazu haben.“
Eine innere Unruhe beschlich ihn. Handy vom Sohnemann aus; zu Hause keiner erreichbar. Der letzte Versuch galt der Büronummer seines Sohnes. Vielleicht war Carsten mit Larissa in der Firma und zeigte ihr die Räumlichkeiten. So richtig glaubte er nicht dran; trotzdem wählte er die Durchwahl von ihm an. Niemand erreichbar. Schon komisch, denn normalerweise sind Eva, Carstens Frau, und Paul sein einziger Enkel um diese Zeit zu Hause. Das Wetter heute lädt nicht ja gerade zum Rausgehen ein.
Warum machte er sich solche Gedanken? Wo kam bloß diese Unruhe her? Es gefiel ihm überhaupt nicht. Er musste schnellstens nach Hause.
„Frau Weilham, ich kann nicht richtig glauben, dass Sie von den Geschäften der Ihres Mannes so gar nichts wissen.“ Remsen mochte die Art der Frau durchaus; sie war nicht unsympathisch. Dafür war sie überhaupt nicht auskunftsfreudig. Sein Instinkt sagte ihm, dass die Frau mehr weiß, also mehr verschweigt, als sie sagt und zugibt.
Remsen und Ulrich waren recht schweigsam zum Anwesen der Weilham‘s gefahren. Schon der konzertähnliche Hall der Thin Lizzy CD verhinderte jede Konversation. Besonders ‚Soldier Of Fortune‘ gefiel Remsen so gut, dass dieser Titel nicht nur einmal, sondern auch besonders intensiv im Buick zu hören war.
Der Mann wird nie mehr erwachsen; Hanns-Peter Ulrich war auf seinen Partner richtig sauer. So musste Ulrich auf das warten, was der Besuch bei Weilham bringt und Kriminalassistent Nöthe was ihm erzählen wird.
Das Haus der Weilham‘s war nicht allzu groß, recht nett für die Gegend und offensichtlich kürzlich umfassend modernisiert worden. Nicht schlecht, dachte sich noch Remsen, aber aufregend monströs war das Anwesen nun auch wieder nicht. In Blankenese…
Die Tür ging auf und Frau Weilham, wahrscheinlich war sie es, trat heraus.
„Ich bin Kriminaloberkommissar Ulrich, das neben mir ist Kriminalhauptkommissar Remsen.“ Parallel zur förmlichen Begrüßung seines Kollegen, Remsen machte es immer kürzer, nickte andeutungsweise mit dem Kopf, zeitgleich zuckten beide ihre Legitimationen. Das war es auch schon für Remsen. Frau Weilham bekam gerade noch Zeit, den Weg freizumachen, denn Remsen suchte seinen Assistenten. „Nöthe, draußen wartet Ulrich auf Sie, geben Sie ihm bitte ausführlichen Bericht und dann ab auf die W36. Ihre Kollegin wartet schon sehnsüchtig auf Sie.“
Die üblichen Formalitäten: „Frau Weilham, gestern Abend ist ein Auto der CodeWriter verunglückt. Wir haben eine Tote und ermitteln in der Sache. Wissen Sie wer mit dem Audi unterwegs war?“
„Nein, wirklich nicht. Mein Mann war die letzten Tage in Vesberg, ist mit seinem Wagen, kein Audi, gefahren und war gestern Abend so ab 22 Uhr etwa zu Hause. Er war nach der Arbeit bei einem Geschäftsessen in der Stadt und fuhr anschließend hierher.“
„Mit wem war er essen?“ Remsens zuckte sein Notizbuch. „Äh, haben Sie bitte mal was zu schreiben, irgendwie habe ich meinen Stift verloren.“ Hatte er nicht, denn er hatte die Vorliebe, seine Bleistifte, mit Vorliebe abzukauen. Den Stummel in der Jackentasche konnte selbst er nicht mehr als Stift bezeichnen.
Frau Weilham griff in eine Schublade und reichte ihm einen Kugelschreiber. Ein Werbegeschenk, wie Remsen erkannte.
„Ja, besten Dank. Name?“ Remsen konzentrierte sich auf seine Befragung.
„Das weiß ich nicht. CodeWriter gibt es jetzt schon seit 1995. Mein Mann kennt viele Leute, Geschäftspartner und solche, die es werden wollen. Außerdem sagt er immer, dass Kontakte das A und O für Geschäfte sind. Bis zu seinem Zusammenbruch war er abends fast immer irgendwie verabredet.“
„Was war das für ein Zusammenbruch? Zu viel Arbeit? Druck? Konflikte? Oder was anderes?“
„Heute sagt man glaube ich Burnout dazu. Besser passt: schlicht und einfach überarbeitet. Das passiert vielen in der Branche, die sich nicht einschätzen können. Georg geht in seiner Arbeit voll auf. Er denkt wohl, dass CodeWriter seine letzte Chance ist, zu einigermaßen Wohlstand, auch für später im Alter zu kommen. Aber was ist schon Geld, Haus und viel Schein gegenüber Gesundheit? Wissen Sie es?“
Remsen beachtete die Frage lieber nicht, denn der Zustand vom Weilham könnte ohne Probleme auf ihn übertragbar sein. Auch wenn er als Beamter auf eine einigermaßen gute Pension hoffen kann, gehen ihm viele Fälle oft sehr nahe. Privatleben und Gesundheit kommen dann bei ihm nicht mehr vor. Manchmal spielt er neben seinen Ermittlungen auch noch Weltverbesserer und hofft, dass seine Arbeit, seine Aufklärungsrate dazu beitragen kann.
„Burnout. Ihr Mann ist also ein Workaholic? Seine Droge die Firma?“
„Kann man so sagen. Ich habe ihm schon vor seinem Zusammenbruch immer wieder in den Ohren gelegen, kürzer zu treten und mehr an sich zu denken. Er hat einen Enkel, mit dem er gerne was unternimmt. Regelrecht gefreut hat er sich, als Carsten und Eva die Nachricht überbracht haben, dass er Opa wird.“
„Carsten und Eva?“ Wenn Carsten sein Sohn ist, äh war, der da draußen heute Morgen am Baum hing, dann bleibt ihm wirklich nur noch der Enkel.
„Carsten ist unser Sohn. Paul, sein Enkel, schon fast in der Schule. Die beste Zeit für Opas, da sind die Kinder noch frei, unbelastet und erfreuen sich ihrer Kindheit. Wenn dann erst mal die Schule anfängt, ändert sich auch das.“
„Frau Weilham, Ihr Sohn Carsten arbeitet doch bei CodeWriter?“
„Ja, ja, das tut er. Georg und Carsten hatten viel Streit miteinander. Georg wollte unbedingt, dass Carsten zu ihm in die Firma kommt, was von Nachfolgeregelung gesprochen, schleichender Übergang und so. Carsten wollte nicht. Der war schon immer ein schlaues Kerlchen, ein Einser-Abi hingelegt und ist danach nach München gegangen, um Bioinformatik zu studieren. Das Zeug dazu hatte er und für Molekularbiologie interessierte er sich schon früh. Mir schien, er besaß den Ehrgeiz, seinem Vater Konkurrenz zu machen und wollte sich mit biologischer Informatik profilieren. Junghirsch gegen Platzhirsch, ein völlig unsinniger Machtkampf.“
Frau Weilham trank von ihrem Kaffee und ließ sich nicht aufhalten, auch von Remsen nicht. Der schielte auf den Kaffee und entschied für sich, dass er dringend einen davon bräuchte. Schon wollte er danach fragen, da legte Frau Weilham nach.
„Carsten verfolgte die fixe Idee, die theoretische und die bisherige praktische Informatik zu verknüpfen und mit neu entwickelten Technologien im Bereich der Bioinformatik Fuß zu fassen. Georg verstand das alles nicht und blockierte Carsten, wo immer es ging. Sie redeten nicht viel miteinander, geistige Funkstille zwischen beiden. Viele Jahre.“
Remsen war inzwischen ausgestiegen. Für sich nahm er wahr, dass seine Gesprächspartnerin mal eben die Sprache gewechselt haben muss. Davon, was sie gerade sagte, verstand er nichts. Andersherum verstand die Frau sehr viel davon, zumindest tat sie so.
„Frau Weilham, bei allen Respekt: Ich verstehe nur Bahnhof davon. Wie es kann es sein, dass Sie sich so gut auskennen?“
„Ich habe bis vor einigen Jahren als Mikrobiologin hier an der Universität in Vesberg gearbeitet. Damals während der DDR-Diktatur haben die Kommunisten viel Wert daraufgelegt, dass alle eine gute Ausbildung erhielten. Mit der Datenverarbeitung, sagt man glaube ich heute nicht mehr, oder? … Mit den Rechnern hatte ich schon früh zu tun. Wir haben mit den Leuten vom Rechenzentrum viele Laborauswertungen gemacht. Etwas versteh ich schon noch davon.“
Remsen war beeindruckt. Doch, das passte zum Bild, was er von Anfang an von ihr hatte: Stil, Haltung und so etwas von feiner Dame, dabei aber nicht dumm und nicht nur bloß die Frau an der Seite eines Geschäftsmannes. Mit dieser Frau wird er noch einmal intensiver auseinandersetzen müssen, geschäftlich natürlich. Wieder ein Eintrag in seiner imaginären Taskliste.
Frau Weilham entwickelte offensichtlich ein überbordendes Mitteilungsbedürfnis: „Carsten lernte dann in München eine Freundin kennen. Ich habe die einmal, zweimal gesehen. Sie war nicht gut für ihn, nur Partys, nächtelang. Wahrscheinlich viel Alkohol, vielleicht auch Drogen, keine Ahnung. Irgendwann schmiss er das Studium; seine Freundin verließ ihn. Georg bekam Oberwasser und trieb Carsten förmlich vor sich her. Ja, man kann sagen er zwang ihn im Schwäbischen, in Furtwangen war das, Marketing und Vertrieb zu studieren.“
„Und das kann man so einfach, jemanden zwingen?“
„Georg hatte die Argumente auf seiner Seite und setzte Carsten unter Druck.“
Bevor Remsen mit einer vertiefenden Frage nachlegen konnte, ging sie selbst in die Offensive: „Georg machte ihm unmissverständlich klar, dass Carsten nicht einen Cent von ihm erben werde. Er hatte sogar entsprechende Dokumente von seinem Anwalt anfertigen lassen, die er Carsten vorlegte. Es fehlte nur noch seine Unterschrift.“
Vaterliebe grenzenlos … ‚Father and Son, Cat Stevens‘, als Cat Stevens noch Cat Stevens war. Den letzten Teil murmelte er fast vor sich hin. Ist doch schön, wenn es immer wieder Analogien zur Realität gibt.
„Was meinten Sie bitte?“ Frau Weilham schaute etwas irritiert drein.
„Nichts weiter. Mein Kollege ist ein ausgesprochener Kenner der Musikszene und sucht dort immer wieder Verbindungen mit der Wirklichkeit.“ Hanns-Peter Ulrich war inzwischen zum Gespräch hinzugekommen. Von Kriminalassistent Nöthe ließ er sich dessen Erkenntnisse kurz zusammenfassen; diese jedoch abgebrochen, weil er die Zeit dafür als Verschwendung betrachtete.
„Nach dem Studium, vor etwa drei Jahren, ist Carsten dann als Account Manager zu CodeWriter gegangen. Anfangs haben beide den Streit von damals weiter ausgetragen. Karl Hausmann, Georgs Partner, spielte den Vermittler, um zu schlichten. Als das nichts brachte und das Klima bei CodeWriter nicht besser wurde, fing er mit Georg an, über einen Verkauf der Firma zu sprechen und drohte dabei, dass das für beide ein schlimmes Verlustgeschäft werden würde. Irgendwie haben sie sich dann doch arrangiert; einige Abende im Red Rooster und jede Menge Guinness und Malts gingen wohl dafür drauf.“
Oh ha, mal lernt noch was bei der Arbeit. Remsen notierte sich eifrig den Namen des Pubs notiert. Gehört hatte er schon davon, er sollte in nächster Zeit den Laden mal testen. Klang auf jeden Fall verlockend.
„Gibt es denn zwischen Ihrem Mann und dem Karl Hausmann Konflikte?“
„Ich denke ja. Nicht offen, aber so latent, unterschwellig wie sagt man: Ein kalter Krieg mit freundlicher Maske? Spätestens seit dem Herzinfarkt hatte Georg auch nicht mehr die Lust, wahrscheinlich auch die Kraft nicht mehr, um sich gegen Hausmann zu stellen. Beide beschäftigten sich schon länger mit anderen Ideen, um die Firma weiterzuentwickeln. So richtig haben beide sich nicht mehr verstanden. Sagen wir mal so: Als Georg so nach und nach im Sommer mit der Arbeit wieder anfing, ließ sich Hausmann die Rolle des Tonangebers nicht mehr streitig machen.“
„Wo war Ihr Mann gestern Abend, Frau Weilham?“ Kriminaloberkommissar Ulrich wollte sich in das Gespräch einbringen; eher wichtigmachen, dachte sich Remsen, denn Fragen wiederholt man in einem Interview nicht.
So glich Remsen selbst diesen Fauxpas aus: „Hier zu Hause und ist heute früh zu seinem freien Tag aufgebrochen. Ist mit dem Auto und dem Rad unterwegs.“ Zu Frau Weilham gewandt: „Frau Weilham: Wissen Sie, wann er wieder hier ist? Ist er auf seinem Handy erreichbar?“
Jetzt schaute Remsen seinen Kollegen an, denn der müsste wissen, ob vorhin Nöthe und Frau Weilham ihn erreichen konnten. Gib wenigstens ein Zeichen Hansi! Er tat es tatsächlich, nickte kurz, nur für Remsen wahrnehmbar. Sein Grinsen im Mundwinkel signalisierte, dass er erkannte, in welche Situation sich Remsen selbst manövrierte. Der spekulierte und versuchte seine Wissenslücken vom Nachmittag zu überbrücken. Immerhin verfügte Ulrich von Nöthe Informationen aus erster Hand. Hätte Remsen geahnt, dass Nöthe nichts zu vermelden hatte und Ulrich auch nicht mehr als er wusste, wäre er sicher forscher vorgegangen.
„Meist am frühen Abend. Er schaut gerne die Sportschau und verfolgt die Bundesliga. Wird wohl bald hier sein; seine Bayern müssten heute wieder dran sein.“
„Nah dran, die spielen erst morgen gegen Nürnberg.“ Ulrich strahlte. In der Bundesliga kannte er sich auch; hatte ihm doch sein alter Herr zum Eintritt zum 50. ein Jahres Abo von dem Pay TV Sender geschenkt, der alle Spiele live überträgt. Seitdem ist Hanns-Peter ein wandelnder Statistiker.
Remsen war beeindruckt. Ja, gelegentlich schaute auch er Fußball. Seit St. Pauli wieder oben mitspielt, interessierte er sich etwas mehr dafür. „Könnte also noch etwas dauern?“
Das Gespräch war seltsamerweise ins Stocken geraten. Bisher wissen sie nur, dass ein Firmenwagen der CodeWriter gestern in den Unfall verwickelt war. Und dass die Insassen ermordet wurden. Mehr erzählten sie der Weilham auch nicht, man weiß ja nie. Wie es aussah, hielt Nöthe dicht und zerstörte nicht gleich mit einem Anfängerfehler die übliche Vernehmungstaktik.
„Frau Weilham, wir müssen noch mal auf ihren Sohn zurückkommen. Wissen Sie, ob er gestern unterwegs war, wo er jetzt ist? Wir müssen auch ihn vernehmen.“
„Das sollte kein Problem sein, er eigentlich ist er mit Eva und Paul zu Hause. Heute bei dem Wetter macht es draußen ohnehin keinen Spaß. Die wohnen zwei Straßen weiter unten. Ich kann ja mal anrufen…“
„Nein, nein – wir gehen dort gleich mal vorbei.“
Remsen liebte Überraschungseffekte, denn sie brachten ihm Vorteile. Gerade bei der Erstvernehmung kommt es darauf an, dass für die Betroffenen keine Zeit der Vorbereitung blieb. Selbst wenn der Befragte wenige Minuten Zeit fand, sich auf Vernehmungen einzustellen, könnten die Ermittlungen unendlich lange dauern. So seine Erfahrungen, auf die er auch dieses Mal bauen würde.
„Könnten Sie aber bitte noch meine Frage beantworten?“ Remsen war nicht gerade ein geduldiger Mensch und Frau Weilham war nur bedingt auskunftsfreudig, weshalb sie erneut die Abwehrhaltung einnahm. „Welche meinen Sie denn? Wo er gestern war oder wo er sich jetzt aufhält?“
Bevor Remsen in die Luft gehen konnte, kam ihm Ulrich zuvor: „Beide bitte, wenn es keine Umstände macht.“ Der Seitenhieb saß, denn Frau Weilham merkte, dass ihre Art des Zeitspiels bei beiden Kommissaren auf keine Gegenliebe stieß. Hoffentlich kommt der Georg gleich. Was interessiert mich das Firmenauto und eine unbekannte Tote?
„Soweit ich es mitbekommen habe, war Carsten in der letzten Woche zu einem Kundentermin unterwegs. Bitte nicht fragen, ich weiß nicht wo und habe auch keine Ahnung bis wann. Er müsste gestern oder vorgestern zurückgekommen sein. Warum auch nicht?“
Sie verzögerte die nächste Aussage, weil sie nicht nur Zeit gewinnen wollte, sondern weil sie natürlich nicht wusste, was Carsten und Eva heute machen. Manchmal fahren sie auch ganz spontan übers Wochenende zu Freunden.
„Ob Carsten zu Hause ist, kann ich nicht sagen. Wenn sie wegfahren, mal für ein, zwei Tage, fragen sie mich nicht extra – sie machen es einfach.“
Remsen und Ulrich schauten sich nur kurz an und wussten, was der jeweils andere dachte. Auch wenn beide sowas von grundverschieden waren und sich nur bedingt mochten; sie waren Partner und Profis bei der Arbeit.
Remsen stand auf: „Frau Weilham, mein Kollege bleibt bei Ihnen, er hat noch einige Fragen an Sie. Ich schaue mal bei Ihrem Sohn vorbei. Könnten Sie mir bitte die genaue Adresse geben und mir den Weg beschreiben?“
Frau Weilham ging mit Remsen zur Tür, nannte die Straße und Hausnummer und zeigte ihm den Weg dorthin. Remsen bedankte sich und war froh, einige Minuten frische Luft zu schnuppern und in Ruhe nachzudenken.
Er fand das Haus der jungen Weilham‘s dunkel vor. Eigenartigerweise empfand es das überhaupt nicht dramatisch, denn wenn keiner da ist, wird auch keiner vermisst. Remsen sinnierte über zwei, ihm logische Szenarien: Wenn Carsten Weilham gestern in dem Auto saß und hier zu Hause nicht angekommen ist, würde seine Frau doch hier sein und warten. Und wahrscheinlich wüsste, dass Cordula Weilham auch. Das für ihn wahrscheinlichere Szenario war demnach aber, dass Carsten Weilham gestern bei seiner Familie war und diese heute einen ganz normalen Sonnabend verlebte, irgendwo auf dieser Welt, nur nicht hier in seinem Haus.
Trotzdem klingelte er, einmal, zweimal, mehrmals. Inzwischen wurde es dunkel; an einem Tag, an dem es ohnehin nicht richtig hell geworden ist; kalt war es auch. Nichts regte sich, kein Licht ging an. Er schlich um das Haus, ein Hund war weder zu sehen noch zu hören; auf eine Begegnung mit einem Vierbeiner hatte er nun wirklich keine Lust. Auch von hinten sah das Haus ziemlich verlassen aus. Okay, wieder zurück zur Plauderrunde mit Hansi.
In Gedanken spielte er die Optionen durch, die ihn jetzt blieben. Solange der Weilham nicht wiederauftaucht, kommen wir nicht weiter. Hausmann ist im Urlaub, Südamerika, da wird sich vorerst auch nichts tun. Wir sollten das einmal überprüfen, ob der Mann wirklich dort unten ist.
„Kundoban.“ Gleich nach dem ersten Klingeln war sie dran.
„Haben wir schon überprüft, ob Hausmann wirklich in Südamerika ist. Visum? Flugbuchungen? Ausreisen, usw.?“
„Jan, wir sind dran, haben aber bisher noch nichts gehört. Kommt Ihr voran?“
„Nein, nicht wirklich. Die Weilham weiß fast nichts, zumindest tut sie so. Der Alte ist noch auf Selbstfindung und beim Junior ist das Haus dunkel. Haben wir schon Informationen von der Bundespolizei? Ist gestern Abend an eine der Grenzübergangstellen der Audi auf wenigstens einer Überwachungskamera aufgetaucht?“
„Fehlanzeige bisher. Wir haben erst von zwei kleineren Übergängen das Material von gestern Abend erhalten; vom Autobahnübergang dauert es leider länger. Die haben mehr Kameras, Schichtwechsel usw. Wir wurden auf heute Abend vertröstet.“
Kundoban war noch mitten beim Sprechen, als sie das Freizeichen in der Leitung wahrnahm. Remsen hatte bereits aufgelegt.
Komischer Kauz!
So komisch, dass Kundoban auch fand, Remsens Aufmerksamkeit war schlagartig verflogen, als ein schwarzer SUV auf das Haus von Weilham jun. zusteuerte. Im Auto saßen zwei Frauen, soweit das erkennbar war. Ausgelöst von der Fernsteuerung ging das Tor genau in dem Moment auf, indem der SUV recht zügig auf das Grundstück einbog und in der Garage verschwand. Das Tor schloss sich nach kurzer Zeit selbst wieder. Von außen war zunächst nicht zu bemerken, dass jetzt jemand im Haus war. Remsen wollte noch etwas warten; vielleicht ging im Haus das Licht an, sodass klar erkennbar war, dass sich jemand darin befindet.
So war es denn nach einigen Minuten auch. Gleichzeitig wurden an allen Fenstern gleichzeitig die Jalousien heruntergelassen. Remsen machte sich fertig, um wohl wieder eine der bedrückendsten Aufgaben in seinem Job zu erledigen: Die Übergabe einer äußerst schlechten Nachricht an einen nahen Verwandten. Ob der Tote im Wald wirklich Carsten Weilham ist, muss noch geklärt werden.
Nach mehrmaligen Klingeln wurde ihm geöffnet. „Frau Weilham?“ Die Frau in der Tür trat zur Seite und deutete auf eine zweite Frau, die weiter hinten im Haus stand. „Ich bin Kriminalhauptkommissar Remsen, darf ich kurz reinkommen?“ Noch während er die Frage formulierte, stand er bereits im Flur, zückte seinen Ausweis und ließ die zweite Frau an der Eingangstür stehen.
„Frau Weilham, ich würde gerne Ihren Mann sprechen.“
Eva Weilham machte nicht gerade den allerbesten Eindruck. Ihr Gesicht war gerötet, wahrscheinlich stressbedingt; sie hatte verweinte Augen. Auch jetzt war sie wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Remsen war durchaus irritiert. Es kann nicht sein, dass sie mehr weiß, als bisher in den Medien zu hören und im Internet zu lesen war. Wir haben keine PK abgehalten, kein Journalist kann bisher mehr wissen.
Ausgeschlossen!
„Der ist gestern nicht wiedergekommen. Wahrscheinlich liegt er in den Armen einer Schnepfe und macht sich ein schönes Wochenende. So ein Schwein, ich will die Scheidung!“
Das Geld dafür kann sie sich wahrscheinlich sparen, dachte sich Remsen, während er darüber nachdachte, ob er gleich mit der Tür ins Haus fallen sollte. Zuvor wären ihm aber noch ein paar Informationen ganz lieb. Man muss immer abwägen, welche Taktik am besten greift.
„Gab es zwischen Ihnen beiden Streit? Schon länger? Intensiver? Hatte denn Ihr Mann einen Grund, offen für neue Freundinnen zu sein? Sie haben doch einen gemeinsamen Sohn?“
„Wissen Sie, Liebe ist eine Illusion für Schwächlinge. Ich spüre es, dass er mit mir und mit anderen Frauen seinen Spaß hat. Außerdem, was geht Ihnen das an? Das ist Privatsache.“
Die Frau kann ja richtig giftig werden. Trotzdem legte Remsen nach: „Frau Weilham, wo war ihr Mann genau. Mit wem hat er sich getroffen. Bitte helfen Sie mir, vielleicht finden wir ihn.“
„Warum hat eigentlich die Polizei Interesse an der Dienstreise meines Mannes? Können Sie mich mal bitte aufklären? Um was geht es hier eigentlich?“ Jetzt ging Eva Weilham in die Offensive; die letzte Frage schleudert sie fast aus sich heraus.
„Haben Sie noch nichts in den Nachrichten gehört?“
„Lieber Inspektor…“
„Hauptkommissar bitte.“ Remsen lächelte sie an.
„Wenn Ihre Frau die ganze Nacht nicht nach Hause kommt, dann hören Sie aufmerksam die Nachrichten, ja?“
Sie kämpft, das war augenscheinlich.
„Wahrscheinlich nicht, glaube ich zumindest.“ Bei mir kann keiner wegbleiben, kleiner Vorteil Lady.
„Gestern Abend gab es so gegen 22:00 Uhr einen Unfall mit Todesfolge. Da…“
„Ja, habe ich gehört. Und? Was hat das mit meinem Mann zu tun?“
„Das wollen wir rausfinden. Das Unfallauto war auf eine Firma CodeWriter zugelassen. Ein schwarzer Audi.“
„Wollen Sie sagen, dass mein Mann…?“ Das blanke Entsetzen stand ihr ins Gesicht. Jetzt war sie bleich und nicht mehr so rot; in Ihrer Haut möchte Remsen jetzt nicht stecken.
„Nein, wir haben eine Tote.“ Erstmal die halbe Wahrheit. „Und wer sind Sie denn?“ Remsen wandte sich an die Frau, die ihn ins Haus gelassen hat.
Sie nannte ihren Namen und konnte sich ausweisen. Eva rief nach einer durchweinten Nacht ihre beste Freundin heute Morgen an. Sie war sofort zu ihr gefahren, um bei ihr zu sein. Als beste Freundin von Eva Weilham stand sie im engen Vertrauensverhältnis zu ihr und wusste nur zu gut, dass Carsten Weilham nichts anbrennen ließ, wenn sich die Gelegenheit ergab. Das führte in den letzten Monaten zu viel Streit in der Familie geführt. Aber eine ganze Nacht war Carsten noch nie weggeblieben. Bis Mittag warteten sie. Dann rief Eva bei ihren Schwiegereltern an, erreichte aber nur Cordula. Georg war wie sonnabends immer nicht da, auch telefonisch nicht erreichbar. Sie konnte Eva kaum beruhigen, kein Wunder, wenn sie von ihrem Mann so enttäuscht wird. Immer und immer wieder versuchte Eva, Carsten auf dem Handy zu erreichen – vergeblich. Am Nachmittag haben sie sich in der Stadt etwas abgelenkt, sofern das überhaupt möglich war. Den Paul konnten sie dann bei einem Freund aus der Kita über Nacht unterbringen; der hat sich gefreut und die Eltern waren ganz unkompliziert. Wie es weitergeht, weiß sie auch nicht.
Oh doch. Remsen legte sich seinen Plan zurecht und arbeitete ihn jetzt genauso ab. Er entschied sich für einen Frontalangriff.
„Könnten Sie bitte uns kurz alleine lassen?“ Diese Bitte ging an Evas Freundin. Ihre Augen suchten etwas verzweifelt Eva, die aber nur kurz nickte und zu verstehen gab, dass es für sie okay ist.
Wieder allein nahm Remsen sich Eva vor. „Bitte antworten Sie genau: Wo war Ihr Mann? Wen hat er getroffen? Wer waren auf der Dienstreise seine Gesprächspartner?“
Eva beschlich ein ganz komisches Gefühl. So unsicher, so kotzelend fühlte sie sich noch nie. Hoffentlich war Carsten nicht in dem Unfall verwickelt. Trunkenheit am Steuer, Fahrerflucht. Oh Gott, wie schnell kann man in so etwas verwickelt sein. Sie hatte ganz tief im Inneren die leise Vorahnung, dass ihr Leben kurz davorstand, eine unselige Wendung zu nehmen. Jetzt durchhalten, Eva! Sie machte sich selbst Mut, soweit das in dieser Situation noch möglich war.
„Er ist am Dienstag zu einer Dienstreise nach Lemberg aufgebrochen. CodeWriter waren wohl schon länger dort in Kontakt zu neuen potenziellen Kunden. Carsten, Georg und ein, zwei andere der Firma waren im Laufe des Jahres auf einige Messen und Kongresse in Russland, Polen und der Ukraine. In anderen Ländern wohl auch; weiß aber nicht genau wo überall. Mit einem Interessenten aus der Sicherheitsbranche waren sie sich handelseinig; soweit ich das mitbekommen habe. Das ist eine Firma aus der Ukraine, aus Lemberg oder der Umgebung. Genaueres, kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Die Firma kenne ich nicht.“
„Aber Sie haben doch mit Sicherheit im Laufe der Woche mit Ihrem Mann telefoniert. Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie so gar nichts wissen wollen. Wer bei CodeWriter wusste was von dem geplanten Deal?“
„Vor allem Karl Hausmann. Der muss das eingefädelt haben. Hausmann war schon seit längerer Zeit drauf und dran, die Geschäfte in Richtung Osteuropa auszuweiten. Georg, mein Schwiegervater, stand deswegen dauernd mit ihm im Clinch. Ich gehe auch davon aus, dass der Herzinfarkt Anfang des Jahres auf den Dauerstreit zurückzuführen ist.“
Remsen wurde nun doch langsam ungeduldig. „Wer wusste noch was? Ich kann mir nicht vorstellen, dass vor so einem wichtigen Auftrag nicht die halbe Firma mitgefiebert hat, ob der Vertrag auch tatsächlich zustande kommt.“
„Das müssen Sie Georg fragen, wenn er von seinen Wochenendeskapaden zurück ist. Aber was hat das alles mit Carsten zu tun?“
„Sie gehen davon aus, dass er eine Bekannte hat, bei der er sich gerade vergnügt, richtig?“ Gegenfrage, das beliebte Rezept von Remsen, seine Gesprächspartner unsicher zu machen.
Eva war wieder kurz davor, die verlassene Ehefrau zu geben und loszuheulen: „Was glauben Sie denn? Gestern noch telefonierte er auf der Rückfahrt mit mir und erzählte etwas vom Stau auf der Autobahn. Als wenn in Polen alle genau am Freitagnachmittag dort unterwegs sind, wo mein Carsten gerade langfährt. Geglaubt habe ich ihm das sowieso nicht.“
„Wissen Sie, mit dieser Art von Glauben kann ich nichts anfangen. Wo ist Ihr Mann?“ Die Frage formulierte Remsen so, dass selbst Frau Eva Weilham aufwachen musste. Ein letzter Versuch, dann wird es ernst. Er musste noch mehr von ihr herausbekommen; allerdings erschien ihm das immer mehr aussichtslos.
Remsen ließ nicht locker. „Was ist mit Ihrem Mann, Frau Weilham? Sie wissen, wo er ist. Falsche Scham bringt uns hier nicht weiter. Wir ermitteln in einem Unfall mit Todesfolge und Sie geben hier die verlassene Ehefrau.“ Das kam jetzt nicht mehr so angsteinflüsternd rüber, da Remsen es auf die ruhige und sanfte Tour versuchte.
„Ich kann Ihnen nichts sagen. Gestern am späten Nachmittag rief von seinem Handy aus an und sagte, dass er auf der Rückfahrt sei und noch vor Mitternacht zu Hause sein würde. Ich habe aber an seiner Stimme gespürt, dass da was war. Sie klang anders, angespannter als sonst. Der war nicht allein im Auto, ganz sicher.“
„Hatte er öfters mal, na ja sagen wir, sich woanders ausprobiert?“ Höflicher ging’s für Remsen nicht.
„Hören Sie, wie können Sie annehmen, dass Carsten ein Frauenheld ist? Er liebt mich und seinen Sohn über alles.“ Innerlich brach in ihr etwas zusammen, wohl ihr letzter Mut an Widerstand. „Na ja, im letzten Jahr war er öfter geschäftlich ja in Osteuropa; da soll für etwas Geld alles zu haben sein. Vielleicht hatte Carsten sich da öfter…“, bedient, dachte sich Remsen.
Ihm war inzwischen jede Rücksichtnahme egal: „Frau Weilham, ist das ihr Mann?“ Er holte ein Foto vom Unfalltoten aus seiner Tasche, legte es vor ihr hin und fixierte die Frau.
Ein herzzerreißender Schrei. Sie riss die Augen entsetzt auf und sackte in sich zusammen. Remsen stand unschlüssig daneben: Was jetzt tun? Diese Entscheidung nahm die verbannte Freundin ab, die wie auf Kommando in das Zimmer stürzte und sich um Frau Weilham kümmerte. Die lag halb schluchzend, halb heulend und ziemlich verkrampft auf dem Zweisitzer. Ihre Freundin nahm sie in die Arme und versuchte sie zu beruhigen. Dabei sah sie das Foto auf dem Tisch und nickte Remsen zu.
Schöne Scheiße!
Er suchte die Küche, verlief sich dabei im dunklen Haus, fand sie aber doch. Nachdem er ein einem der Schränke Gläser fand, ließ er den kalten Hahn eine Zeitlang offen und vergewisserte sich mit dem Hausfrauenfingertest, dass das Wasser angemessen kalt war. Die ersten zwei Gläser gehörten ihm. Er füllte ein zweites Glas und wollte es der Frau Weilham zur Stärkung bringen.
Sein Handy hielt ihn davon ab. Auf halben Weg kehrte er um, stellte das Glas ab und nahm das Gespräch entgegen. Dr. Ansbaum.
„Es war vergleichsweise einfach: Es ist Carsten Weilham. Wir konnten eine auffällige Narbe am rechten Oberschenkel entdecken und damit die einschlägigen Krankenhäuser in Vesberg kontaktieren. Bei einer privaten Chirurgie mit angeschlossenem Bettenlager haben wir einen Treffer gelandet. Der Abgleich der Bilder brachte die Bestätigung. Carsten Weilham spielte in seiner Jugend recht professionell Fußball und erlitt dabei eine heftige Fleischwunde. Muss länger gedauert haben, bis er wieder laufen konnte. Er ist es, kein Zweifel.“
„Danke Dr. Ansbaum, seine Frau hat mir das gerade auch bestätigt. Das hilft mir weiter. Wissen Sie schon, wer die Tote ist? Haben Sie schon was rausgefunden?“
„Nein. Keine Auffälligkeiten; keine Fußballernarbe, kein Tattoo, Piercing am Bauchnabel und im Scharmbereich. Auch im Zahnbereich nichts Auffälliges festzustellbar. Sollte es tatsächlich eine Osteuropäerin sein, dann haben die bei der Zahnpflege jede Menge hinzugelernt.“
„Osteuropa könnte stimmen; wahrscheinlich war Weilham die letzten Tage dort und hat seine Gespielin gleich mitgebracht. Jetzt wissen wir aber, wo wir ansetzen. Vielleicht erfahren wir über den alten Weilham oder CodeWriter noch mehr. Danke Ihnen Doc.“ Remsen drückte das Gespräch weg.
Frau Weilham fing sich inzwischen wieder etwas; zumindest sah es so aus, als er wieder ins Zimmer eintrat. Mit ihrer Freundin führte sie eine Art stumme Kommunikation.
„Frau Weilham, ich hoffe es geht Ihnen wieder besser?“ Remsen schaute etwas genauer hin, um zu prüfen, ob er sie mitnehmen kann. Sie sparte mit Worten, legte ihre Antwort in einen besonderen Blick ihrer Augen. Remsen deutete das als ein ‚Ja‘.
„Bitte machen Sie sich etwas frisch. Draußen wartet ein Streifenwagen. Sie müssen ihn identifizieren. Bekommen Sie das hin?“ Er reichte ihr das Glas Wasser.
Ihre Freundin spielte nun ungefragt ihre Beschützerin: „Sie sehen doch, wie es ihr geht. Das kann doch bis morgen warten. Nehmen Sie doch Rücksicht.“ Etwas hysterisch die Frau, zumindest für Remsen.
„Nein, das kann nicht warten. Es muss schnell gehen; wir suchen jetzt immerhin einen Mörder, vielleicht auch zwei oder mehr. Und wir haben hier zwei Tote und müssen ganz schnell die Spur aufnehmen. Das werden Sie doch verstehen. Begleiten Sie Frau Weilham?“
Sie gab auf, nickte nur und wandte sich Eva Weilham zu.
Remsen holte einen Beamten aus dem Streifenwagen ins Haus, instruierte ihn und schickte ihn ins Zimmer. Er selbst hatte jetzt jede Menge zu tun und begann zu telefonieren.
„Dr. Ansbaum? Frau Weilham wird gleich von den blauen Chauffeuren zur Identifizierung zu Ihnen gebracht. Noch ist sie etwas durcheinander, aber in einer Stünde müsste sie spätestens da sein. Eine Freundin wird sie begleiten. Ich gehe nochmal zu seinen Eltern; vielleicht erhöht sich bei Ihnen heute Abend die Besucherzahl noch einmal.“
Die Ausbeute kann sich sehen lassen: Wir kennen den Toten, wissen dass er in der Ukraine und nicht allein im Auto war und das CodeWriter mit drinsteckte. Das nenn ich mal einen Faden. Remsen klopfte sich virtuell auf seine eigenen Schultern.
Er rief in der W36 an und teilte seiner Kollegin die neue Entwicklung mit. „Er ist es. Der Tote ist Carsten Weilham. Nöthe soll alles über ihn und seiner Familie rausfinden. Wo er studiert hat, welche Freunde und Geschäftspartner er hatte, welche Hobbys er pflegte, wo er sein Bier trank und ja, wenn es sein muss, wo er seinen Testosteronspiegel abgebaut hat. Ich will alles wissen.“
Remsen war in Fahrt gekommen und holte nur kurz Luft: „Machen Sie sich über die Firma schlau; wir müssen alles über CodeWriter rausbekommen. Irgendwelche Unregelmäßigkeiten, Rechtsstreit, Steuern usw. Und nehmen Sie mir mal den Hausmann unter die Lupe. Notfalls holen wir ihn aus den Anden oder vom Amazonas wieder zurück. Und vom Weilham dem Alten auch. Ich will von dem alles, aber auch alles wissen. Keine Ahnung wo der gerade steckt; Sie vielleicht?“ Blöde Frage dachte sich Remsen gerade noch, als er sie gestellte.
Kundoban schien alles mitgeschrieben zu haben, jedenfalls machte sie nicht unbedingt den Eindruck, als wenn der Schwall an diktierten Aufgaben sie überforderte. „Wir haben schon von beiden Weilham's die Handyverbindungslisten vom Provider angefordert. Hausmanns Nummer haben wir noch nicht. Bei CodeWriter ist am Sonnabendabend niemand erreichbar.“
„Der Provider muss das wissen, die Nummer kennen. Die Firmen haben doch meistens so was wie Firmenverträge und alle Nummern bei einem Provider. Fragen da doch nochmal nach.“ Und Schluss; er drückte das Gespräch einfach weg.
Auf dem Weg zurück zu den Weilham‘s und zu Ulrich checkte er noch kurz seine Mails. Kundoban teilte ihm inzwischen mit, dass der Audi der CodeWriter etwa kurz nach 21 Uhr gestern Abend den Grenzübergang nach Deutschland passiert hat. Hat sie mir gar nicht erzählt, dachte er sich beim Lesen. Auf der Überwachungskamera war nur zu erkennen, dass zwei Personen im Auto saßen. Wie üblich, ein Mann am Lenkrad, eine Frau auf dem Beifahrersitz. Der Grenzschutz will noch andere Kameras auswerten, die tiefer hingen und so angebracht waren, dass sie bei guten Lichtverhältnissen auch die Gesichter in den Autos erkennen konnten. Das dauert aber, da das nicht die neuesten Geräte waren und keine Remote Bedienung möglich war.
So langsam wurde das Bild von gestern Abend zumindest für ihn etwas klarer. Für seine Ermittlungen hoffte er, dass der Fahrer im Auto tatsächlich der junge Weilham war. Es würde passen und vieles erleichtern. Während er noch den Gedanken nachhing und sich die nächsten Schritte überlegte, klingelte sein Handy erneut.
„Jan, komm her, der Weilham ist jetzt da und brüllt hier rum. Seine Alte ist einem Nervenzusammenbruch nah.“ Hansi der alte Polizist hat die Flatter. Und Remsen dafür eigentlich kein Verständnis, aber das so dringend nach ihm gerufen wird, kam ihm, egoistisch gedacht, nicht gerade unrecht.
„Werde bloß nicht zum Terroristen; halt dich zurück, ich bin gleich da.“ Remsen beschleunigte seinen Schritt. Nebenbei beorderte er per Telefon einen weiteren Streifenwagen zum Anwesen der Weilham's. Wenn der Alte durchdreht, kann man jede Hilfe gebrauchen.
Er klingelte; sein Kollege öffnete ihn sofort; hat wohl an der Tür gelauscht.
Remsen stürmte ins Haus und hielt schon im Flur seinen Ausweis in der Hand. „Remsen. Sie sind Herr Georg Weilham?“
Derart überrumpelt nickte Weilham nur und wollte gleich wieder zu neuen Tiraden ansetzen. Remsen schnitt ihm das Wort: „Wir ermitteln in einem Mordfall, betreffend Ihrer Familie und Ihrer Firma. Ist Ihnen das klar?“ Fast brüllte er die Frage raus und den Firmenchef an.
Weilham schüttelte entsetzt den Kopf und bekam kein Wort raus. Vielleicht war es Atemnot, er ist ja vorbelastet, oder der Mann war einfach nur überrascht. Dafür sprang Frau Weilham ein: „Mord in der Familie? Was wollen Sie damit sagen? Was ist hier los?“ Ihr Temperament schien mit ihr durchzugehen und sie stürzte auf Remsen zu. Hansi kam ihm überraschenderweise zu Hilfe; hätte Remsen gar nicht gedacht, und hielt Frau Weilham zurück.
„Wir haben Grund anzunehmen, dass bei dem Unfall gestern Abend zwei Insassen zu Tode kamen; ermordet wurden. Einer der Toten war eine Frau, der andere …“ Jetzt schnürte Remsen die Kehle; sein Mund war ganz trocken. Einer der beschissenen Momente in seinem Job.
Ulrich nahm ihm die Bürde ab: „Der Tote ist höchstwahrscheinlich Carsten Weilham. Wir haben von der Kriminalmedizin recht verlässliche Hinweise und müssen jetzt sichergehen. Wir brauchen deshalb Ihre Bestätigung, ob er es wirklich ist. Könnten Sie…?“
Cordula Weilham brach in tiefes Schluchzen aus. Für eine Mutter recht gefühlsarm, aber nicht ganz echt, konstatierte Remsen, der sich inzwischen wieder im Griff hatte. „Kann ich ein Glas Wasser bekommen? Hole ich mir auch selbst.“ Als beide Weilham's instinktiv nickten, suchte er heute Abend zum zweiten Mal eine Küche.
Georg Weilham schien inzwischen so etwas wie einen Zusammenbruch zu erleiden. Ulrich trat auf ihn zu, nahm den linken Arm und fühlte seinen Puls. Schaut weniger schlimm aus, entschied er, als er sich sicher war, dass der Rhythmus halbwegs in Ordnung war.
„Herr Weilham, ich muss Ihnen einige Fragen stellen; wird es gehen?“ Weilham zuckte nichtssagend mit den Achseln, halb nickte er und schien sich innerlich auf die Fragen vorzubereiten.
„Ich muss Sie jetzt fragen, wo Sie gestern Abend waren?“
Weilham dachte kurz nach und antwortete langsam: „Nach dem Büro war ich zum Essen in der Innenstadt verabredet. Danach bin ich nach Hause gefahren und habe mich auf den Tag heute vorbereitet. Sachen gepackt, Fahrrad auseinandergenommen usw. So gegen 22:30 Uhr sind wir schlafen gegangen, stimmt’s Cordula?“
Frau Weilham nickte zustimmend.
„Wo waren Sie mit wem zum Essen?“ Ulrich hielt schon Notizbuch und Stift bereit.
„Bei L’Angelo in der Sonnenstraße.“
„Mit wem?“ Weil Remsen sich in das Gespräch mit einschaltete, schaute Weilham etwas irritiert. „Mit einem Kunden, der einer unser sensiblen ist.“ Scheinbar wollte er nicht so einfach mit den Namen rausrücken. Remsens Erfahrung aber sagte, dass Weilham gleich aufgeben wird; also nicht nachlassen.
„Der Kunde hat sicher einen Namen – oder gibt es diesen überhaupt nicht?“
Weilham stutzte tatsächlich nur kurz. „Igor Abtowiz, Inhaber der Safety Objects. Es war ein übliches Routineessen, um die Kunden bei Laune zu halten. Wasserstandsmeldungen abfragen; Kundenbindung – mehr war da nicht.“
Ulrich, korrekt und ordentlich wie immer: „Wir werden das überprüfen.“
„Machen Sie doch; Sie werden nichts finden. Wir waren dort, gestern Abend.“ Weilham kam das alles so bedeutungslos, gar sinnlos vor; es geht um seinen Sohn und eine unbekannte Tote an seiner Seite.
Bei Remsen allerdings schrillten derart die Alarmglocken, dass er fast ein Schädeltrauma bekam. Die Tote eine Osteuropäerin, vermutlich. Weilham ist mit einem Russen beim Essen. Sein Sohn macht in der Ukraine Geschäfte. Da stinkt was ganz gewaltig.
„Ist Safety Objects denn schon Ihr Kunde? Was für eine Art Kundenbeziehung haben Sie mit dem Herrn Abtowiz?“ Ulrich wollte es mal wieder; dieses Mal musste er es ganz genau wissen.
„Vor etwa 4 Jahren gab es die ersten Kontakte, dann irgendwann haben die unsere Software gekauft. Wir sind auf Sicherheitssoftware spezialisiert; besser für Software die Sicherheitsfirmen einsetzen. Seitdem gab es immer mal wieder Anpassungen, Ergänzungen, Zusatzaufträge. Aber das ist doch jetzt egal, oder? Wie geht’s denn jetzt weiter? Wo ist mein Sohn?“
Ulrich übernahm die Antwort: „Das klären wir noch. Ich würde Sie beide bitten, mitzukommen. Sie müssen Ihren Sohn identifizieren. Ich begleite Sie; in ein paar Minuten?“
Zusammen mit seinem Kollegen ging Ulrich vor die Tür. Da beide nicht rauchten, eine echte Seltenheit in diesem Beruf, gingen sie vor dem Haus etwas auf und ab. Zunächst wortlos, nachdenklich. Dann machte Remsen den ersten Zug: „Organisierte Kriminalität. Sicherheitsfirma; von einem Russen geführt.“
„Da ist was schiefgelaufen und der Junior musste dran glauben. Mittelpunkt oder Versehen?“ Ulrich spielte im Kopf einige Szenarien durch. „Geschäftemacher? Mittelpunkt! Und wer ist die Tote?“
„Fragen wir gleich mal nach, wenn die beiden da sind. Bin gespannt ob der Weilham weiß, dass sein Sohn nicht alleine unterwegs war; ob es eine Freundin, Geliebte oder was auch immer war.“
„Die verheimlichen uns was, das sagt mir meine innere Stimme.“
„Was meinst du: Zeugen oder Verdächtige die beiden?“
„Sowohl als auch. Der alte Weilham ist mit Sicherheit unser Hauptverdächtige, zurzeit zumindest; auch wenn es sein Sohn ist oder jetzt war. Das muss aber nichts heißen.“
„Mal ehrlich, geht hier bei euch Geschäft über Familie?“
„Mensch Jan, deine Vorurteile sind so was von hartnäckig. Wie lange geht das noch?“
Remsen zuckte nur mit der Schulter und wählte inzwischen schon wieder Kundoban‘s Nummer.
„Hallo, können Sie bitte mal alles über Safety Objects und einen Igor Abtowiz in Erfahrung bringen.“ Nein, das war keine Frage, eher die versteckte Form einer klaren Anweisung.
„Jan, wir stecken hier voll in Arbeit; mehr Leute sind nicht verfügbar. Wir tun, was wir können.“
„Okay. Okay. Ich bin gleich bei Ihnen; muss jetzt auflegen.“ Die Weilham's fingen sich leidlich und traten gerade aus dem Haus.
„Herr Weilham, noch eine Frage: Wo war Ihr Sohn gestern eigentlich?“
„Bei einem Kunden, in der Nähe.“ Kurz und knapp, aber tonlos und ohne nachzudenken gab Weilham seine Antwort. Trotzdem mit Kalkül, denn die Polizei muss ja nicht gleich alles wissen. Er aber wollte jetzt wissen, was ihr überhaupt los ist. Und natürlich, ob sein Sohn wirklich tot ist. Das wäre sein Ende. Und er würde es durchziehen.
„In der Nähe? Geht es auch genauer?“ Remsen deutete Ulrich, den Firmennamen und die Adresse zu notieren. Am Tatort und eigentlich immer bei Ermittlungen ist er der Chef. Hanns-Peter notierte, was Weilham ihm diktierte. Beide Kommissare waren sich einig: Wir fragen später nach. Zwischendurch lassen wir die Angaben überprüfen. Doch Remsen sah sich schon in dieser Nacht bei einem langen Verhör mit Weilham, denn jetzt war klar: Er greift zu Lügen.
Cordula Weilham zeigte sich langsam ungeduldig und drängelte zum Aufbruch. Die nasse Kälte an diesem dunklen Novembertag hat sicher genauso dazu beigetragen, wie die Sorge um ihren Sohn.
Remsen hatte aber noch nicht genug: „Wissen Sie, wer die Tote sein könnte? Die…“ Er brach den Satz ab, da er kurz davor war, gegenüber den Weilham's ihren Sohn als tot zu deklarieren und herauszustellen, dass Frau Weilham jun. sich bester Gesundheit erfreute.
Jetzt war es an Frau Weilham, etwas lauter nachzufragen: „Wieso eine Tote? Soll die auch im Auto gewesen sein? Carsten war doch alleine unterwegs. Georg sag du mal was.“
Der hatte nichts Besseres zu tun, als nur zu nicken und in den Streifenwagen einzusteigen, dessen Türen für die beiden inzwischen geöffnet waren.
„Dauert es länger?“
Frau Weilham bekam entweder nichts mit oder war tatsächlich unwissend: Sie soll ihren Sohn identifizieren und es unklar, wo der die letzten Tage war und wer die Dame an seiner Seite war. Mutmaßlich.
Remsen setzte seinen ahnungslosesten Blick auf, denn er anbieten konnte und drehte sich weg. Sein Buick stand einige Parklücken weiter vorne.
Auf dem kurzen Weg dahin sog er die frische Luft tief auf. Dann im Auto entschied er, nicht gleich loszufahren. Er musste nachdenken. Ausnahmsweise blieb seine Soundanlage still. Wer Remsen genau kannte, das war eigentlich niemand, wusste, dass er damit seine Energie kanalisierte. Nichts sollte ihn stören; nicht einmal sein einzigartiger Musikgeschmack.
In einem kleinen, typischen Backsteinhaus in einem Vorort von Delft klingelte ein Telefon.
Lange.
Recht lange.
So war es ausgemacht.
„Ja.“ Der Angerufene nahm nach quälender Dauer dann doch das Gespräch entgegen.
Er hatte es erwartet. Und er war sich sicher, dass keiner diesen Anruf verfolgen kann. Seine Techniker leisteten ganze Arbeit und entwickelten ein eigenes IP-Protokoll. Damit wird das übliche SIP überlagert. Nach einem zufällig zusammengestellten Verwirrkurs wird jede Einzelverbindung, jede Strecke mit differenten Anonymisierungsalgorithmen geschützt, bevor sein eigenes Telefon angewählt werden kann. Über eine Funkstrecke mit bisher ungenutzten Frequenzbereichen. Der Anrufer ruft keine Nummer an, sondern wählt ein Codewort. Mit den zurückgegebenen Sequenzen und speziellen Signaturen als ganz individuellen Key, muss der dann ein weiteres, gerade erst zusammengestelltes, neues Codewort anwählen. Erst dann startet der Verbindungsaufbau. So arbeitete er schon immer.
„Auftrag ausgeführt. Vollständig.“ Der Anrufer hatte es merklich eilig, seine Botschaft loszuwerden und das Gespräch beenden zu wollen.
Der Angerufene ließ sich Zeit, sehr viel Zeit. Seine Irritationen musste er verbergen; der Anrufer sollte seine Erregung, besser Erzürnung, keinesfalls spüren. Keine Schwächen zeigen.
„So manche Wahrheit geht von einem Irrtum aus. Oder Lüge.“
Der Anrufer war fassungslos. Keine Antwort, keine Reaktion, die ihm daraufhin einfiel.
Wieder verging eine unerträglich lange Zeit, bis der Angerufene erneut sprach: „Bis morgen früh ist es erledigt.“ Er brach das Gespräch ab.
Der Angerufene wandte sich seinen Monitoren zu. Er sah Georg Weilham und seine Frau in ein Polizeiauto steigen. Er sah den verfluchten Kommissar, der selbstsicher zu seinem Auto ging. Er sah, dass überhaupt nichts erledigt war.
Verdammte Scheiße!