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Sonnabend, 13. November 2010, in den späten Abendstunden

Remsen roch es schon auf dem Gang in sein Büro. Die haben doch nicht…? Doch, sie haben es getan: wieder beim Thailänder so eine Mischung aus halbgarem Fleische, gedünsteten Grashalmen und matschig-süßem Grünzeug bestellt. Reiskörner klebten dem Nöthe noch zwischen den Zähnen, als dieser den Chef erkannte und eine Begrüßung loswerden wollte. Dabei verteilte Nöthe etliche der Körner in seinem Umfeld. ‚Teilen‘ ist doch das Motto in der heutigen Facebook-Generation, oder nicht? Remsen schüttelte nur den Kopf.

Jutta Kundoban wischte sich die überschüssigen Körner ihres Kollegen mit Servietten weg. Vor allem jene, die es bis in ihre unmittelbare Nähe geschafft hatten und schmollte Nöthe mit einem derartigen Gesichtsausdruck, weil wenn es ihr Kollege fertigbrachte, ihr den Appetit gehörig zu vermasseln.

Remsen schaute von oben herab entsetzt in Kundoban‘s Styroporbehälter und meinte darin etwas krabbeln zu sehen. Zumindest kam es ihm so vor. Kundoban schaute ihn an und signalisierte ihm, dass sie eigentlich nicht …

Remsen war es egal und riss das Fenster auf: „Riecht ja hier wie in einer Frittenbude. Das Zeug kann doch keiner essen.“

Im Büro wurde es schnell recht kalt, sodass sein Team anfing zu murren. Es war ihm recht, denn er hatte sich für den Abend, gerade was sein Abendessen betraf, einen anderen Plan ausgedacht.

„Das Fenster bleibt auf. Wir treffen uns in drei Minuten alle am Kaffeeautomaten.“ Kaum gesagt, war er schon auf dem Weg dorthin, ohne nicht noch mal kurz im White Room reinzusehen.

Am Automaten angekommen, ließ eine brühend-heiße, dunkelbraun eingefärbte Flüssigkeit in einen Becher laufen, die nach Meinung der Automatenhersteller Kaffee sein sollte. Wenn Kaffee helfen soll, die Müdigkeit zu vertreiben, so weiß Remsen, dass er spätestens nach zwei von diesen Bechern hier Herzrasen mit aufgerissenen Augen bekommt. Deshalb versucht er meistens, diesen hier zu meiden. Aber jetzt am Sonnabendabend gab hier keine Alternativen, in der Zentrale vielleicht noch, doch bis dahin wollte er nicht… Und besser war die Brühe dort auch gerade, so seine Erfahrungen.

„Hier sind die Fotos der Überwachungskameras vom Grenzübergang. Exakt um 21:07 Uhr gestern Abend passierte Weilham jun. mit einer jungen Begleiterin und dem Audi VES CW 500 die Grenze und reiste nach Deutschland ein. Wir haben Fotos aus einschlägigen sozialen Netzwerken im Internet von ihm gefunden und mit diesen hier abgeglichen: Kein Zweifel: Carsten Weilham war da drin und jetzt tot.“

Jutta Kundoban war die erste aus dem Team, die zu ihm stieß, jedoch aus guten Gründen keinen Bedarf an Kaffee mehr hatte. Nöthe und die beiden Reservisten trafen inzwischen auch am Automaten ein; alle drei mit jeder Menge Unterlagen unterm Arm.

„Wir nehmen den Tisch da.“ Remsen deutete auf eine Besprechungsecke und steuerte darauf zu. „Dr. Ansbaum hat das auch schon festgestellt und Eva Weilham brach zusammen, als ich ihr das Foto ihres toten Mannes zeigte.“

„Jan, waren Sie mal wieder so einfühlsam wie der berühmte Holzklotz?“ Kundoban wusste einerseits, dass das Überbringen von Todesnachrichten auch ihr nicht leicht fiel, aber andererseits, dass Remsen nach dem „Jetzt-oder-Nie-Verfahren“ die Betroffenen einfach mit der Tatsache konfrontierte und abwartete was danach passiert. Wenn es irgendwie ging, dann überließ sie immer einem anderen ihrer Kollegen diesen Job.

„Haben wir inzwischen irgendwelche Anhaltspunkte, wer die Tote auf dem Beifahrersitz sein könnte?“

Da alle am Tisch mit dem Kopf schüttelten, war klar, dass sie in dieser Angelegenheit dringend mehr Informationen bräuchten. Möglichst schnell, möglichst viele.

„Herr Nöthe, was hat Ihnen die Frau Weilham erzählt?“ Bevor der junge Mann einschläft, wecken und befragen wir ihn doch mal. Remsen war angespannt und erwartete von seinem Team, dass alle sich ebenso in die Ermittlungen reinhängen. So wie er es vorlebte.

Benjamin Nöthe schaute etwas unsicher: „Naja, nicht so viel Verwertbares. Sie sprach von ihrem Mann, dem Herzinfarkt Anfang des Jahres und von der vielen Arbeit bei CodeWriter. Sie meinte, dass ihr Mann wohl schon ziemlich lange mit dem Partner bei CodeWriter, Karl Hausmann, im Clinch lag, unterschiedliche Auffassungen zur Firmenführung und zur weiteren Entwicklung hatten, aber auch, dass nach dem Zusammenbruch die Rangfolge bei CodeWriter geklärt sei. Etwas süffisant, eher abwertend betonte sie das.“

„Ja und, das war’s? Mehr nicht?“

„Sonnabends geht der alte Weilham immer seine eigenen Wege. Sie weiß wohl nur, dass er mit sich alleine sein will, viel Sport macht, immer sein Rad dabei hat. Meistens ist er zur Sportschau wieder zurück.“

„Okay, das kennen wir alles. Was meinte sie dazu früher? Vor CodeWriter? Vor der Vereinigung? Wie haben sie sich kennengelernt?“

„Da war sie sehr zugeknöpft. Hat an der Universität gearbeitet und lebt seit einiger Zeit zurückgezogen. Sie verbringt wohl viel Zeit mit ihrer Schwiegertochter und dem Enkel. Von Konflikten oder so erzählte sie nichts. Habe wirklich einige Male nachgefragt. Wie mir schien, ist sie mit sich und der Situation recht zufrieden; oder hat sich arrangiert – wie man’s nimmt.“

„Partei? Stasi? War da was?“ Musste Remsen dem jungen Assistenten alles einzeln aus der Nase ziehen? Er kam sich wie ein HNO-Arzt vor; nur wollte er nicht mit der Zange ...

„Von einer Parteikarriere war nicht die Rede, aber das lasse ich überprüfen.“ Nöthe deutete auf einen der beiden Verstärker im Team, der den Hinweis nur bestätigte. „Sie hat sich eher kritisch zur Situation vor der Vereinigung geäußert. Ich glaube nicht, dass sie mit den Diktatoren gemeinsame Sache gemacht hat.“

„Wie lange sind die beiden eigentlich schon zusammen, ein Paar?“ Jutta Kundoban, eine Frau, pragmatisch und scharfsinnig. Die Frage kam von ihr, nicht ganz ohne Hintergedanken, denn heutzutage ist es fast schon unanständig, wenn eine einmal eingegangene Beziehung ewig hält.

„Keine Ahnung, auch das sollten wir rausbekommen.“ Der Assistent vom Assistenten machte sich dazu einige Notizen.

Kundoban sah jetzt Remsen an: „Hat denn Georg Weilham oder die Eva Weilham nichts dazu gesagt, mit wem Weilham jun. unterwegs war?“ Der Angesprochene zuckte nur mit der Schulter und verneinte die Frage. Er konzentrierte sich auf die Frage, von woher Weilham gestern Abend wieder zurückkam.

„Bekommen wir von polnischer Seite Informationen, wo er überhaupt war? Die müssen doch auch eine Autobahnüberwachung haben; bei so vielen Fördergeldern, wie die von der EU bekommen. Es muss doch rauszubekommen sein, ob sein Auto gesichtet wurde.“

„Jan, du weißt doch, da brauchen wir ein offizielles Amtshilfegesuch, muss von ganz oben genehmigt werden. Jetzt am Sonnabendabend?“

Oh, da war sie wieder, die schlimme Stelle in ihm: „Diesen Sepp muss ich ohnehin heute noch informieren; da kann er gleich mal loslegen und uns helfen.“

„Hat keiner gehört.“ Das war mehr eine Anweisung in Richtung der beiden Unterstützer, dichtzuhalten und Remsens Entgleisung zu vergessen; ist ja immerhin der Chef.

„Gibt’s was Interessantes zu CodeWriter?“

„Eher nicht. Zumindest der erste Eindruck bringt nichts Außergewöhnliches. Die Bilanzen scheinen zu stimmen. Wenig Öffentlichkeitsarbeit von denen. Hausmann ist gelegentlich auf Konferenzen im Sicherheitsbereich unterwegs. Auf einer internationalen Fachmesse der Astrophysiker in Kairo ist er mal von einigen Jahren als Redner aufgetreten. Es ging angeblich um irgendwelche Verfahren für Auswertungen eines Forschungsteams für einen Kometen. CodeWriter entwickelte die Software dazu. Sonst eher nichts Aufregendes.“

Nöthe setzte ein strahlendes Lächeln auf, weil er weiß, dass er bei den Nachforschungen für CodeWriter recht viel beisteuern konnte.

„Machen Sie hier ein Schülerpraktikum oder was?“ Remsen hatte seine eigene, andere Meinung zu den Ergebnissen seines Assistenten. „Sie sollen Unregelmäßigkeiten feststellen. Nur die helfen uns weiter. Da kommt der Junior Chef von einer Dienstreise aus Osteuropa zurück und sie erzählen mir was von einem Astrologenkongress in Kairo.“

„Astrophysiker, Jan.“ Kundoban‘s schlechter, unnützer Versuch, zu schlichten.

„Mir doch egal. Ich brauche Indizien, wer hinter der Tat stecken könnte. Warum und mit welchem Motiv. Hatten die Weilham's Feinde? Oder der Hausmann? Oder alle zusammen? Das will ich wissen und nicht wie die Sterne stehen.“

Bei Remsen stiegen der Unmut und natürlich auch der Puls in ungekannte Höhen. „Verdammt lange dauert mir das. Zu viert wart Ihr dran und dann so was.“

„Ein Grashalm wird auch nicht länger, wenn man daran zieht, Jan.“ Kaum sprach sie dieses, hier und jetzt unselige Zitat aus, wusste sie: Das war blöd von ihr.

„Klar, jetzt liegen die gegrillt bei uns im Büro und alle werden satt davon.“ Grashalme, Thai-Fraß. Remsen schüttelte nur den Kopf und stand auf, um sich einen zweiten Becher dieser Brühe zu genehmigen. Er schlürfte uninspiriert zum Automaten und ließ seine Truppe am Tisch zurück. Einmal Self Pain Soup bitte.

„Remsen.“ Hansi meldete sich auf seinem Handy: „Was gibt’s Neues von der Identifizierung des Toten?“

„Ja – er ist es. Die Alte ist erstaunlich cool geblieben; nur unser Weilham wäre uns beinahe aus den Latschen gekippt. Einmal Herz, immer Herz. Ich lass die beiden jetzt nach Hause fahren.“

„Nein. Frau Weilham kann fahren, aber Georg Weilham bringst du bitte gleich her, am besten in den VR3. Ich erwarte dich dort.“ Jetzt kommt Bewegung in die Sache und Remsens Plan für heute scheint aufzugehen. Minimale Erfolge befeuern den Eifer, erleichtern weitere Schritte und hartnäckiges Nachfassen. Nur so lassen sich auch die kniffligsten Fälle lösen.

Der Vernehmungsraum Nr. 3 ist ihm von allen der Unangenehmste. Dort gibt es kein Fenster und nicht mal eine Heizung. Remsen liebt diesen Raum, weil dort die Vernehmungen erstaunlich kurz dauern. Muss wohl an der ganz speziellen Atmosphäre liegen; Remsen grinste in sich hinein. Was bisher noch niemand bekommen hat, ist immer noch sein Geheimnis: Von Hamburg her hatte er eine ganz besondere Vernehmungsmethode mitgebracht: die Qual des Stillsitzens. Eines Nachts kürzte er ganz einfach die beiden vorderen Beine des Stuhls. Jener Stuhl, auf dem die Vorgeladenen saßen, um etwa 6 bis 7 Millimeter. Seitdem achtete er peinlich darauf, dass der Stuhl niemals ausgetauscht wird und ausschließlich den Gästen vorbehalten blieb.

„Nöthe, Sie und Sie beide…“ er deutete auf die Verstärkung, „recherchieren weiter: CodeWriter; Weilham's, beide Sippen: Ob jung oder alt – heute und früher, ich will alles wissen; Hausmann ganz besonders und ach ja, gibt es schon Informationen zu Igor Abtowiz?“

„Noch nicht allzu viel Verwertbares. Er ist Inhaber einer Sicherheitsfirma, die sich interessanterweise recht seriös gibt. Nichts Auffälliges.“

„Nichts Auffälliges? Ein Russe führt ganz sauber eine Sicherheitsfirma? Klingt ganz so, als wenn ein Wahnsinniger die Klicke in Nordkorea zu Superdemokraten auf Lebenszeit ernannt hat.“

„Pole.“ Der ganz diskrete Hinweis aus dem Hintergrund kam von Kundoban. „Abtowiz ist ein Pole, kein Russe.“

„Okay liebe Leute, ab morgen sind eure Autos sicher.“ Schlechter Scherz, aber mehr fiel Remsen dazu nicht ein. „Das macht die Sache auch nicht besser. Und jetzt? Wenn bei der Sicherheitsfirma nicht mindestens eine Leiche im Keller liegt, verkaufe ich meine Vinylsammlung bei eBay – komplett.“

„Wenn es dafür Abnehmer gibt…“ Jutta Kundoban konnte sich das nicht verkneifen, denn sie wusste, dass Remsen das niemals übers Herz bringen würde und dass Safety Objects mit absoluter Sicherheit nicht sauber war. Tolles Wortspiel, so spät am Abend, fiel ihr aber erst später auf.

„Also los, worauf warten wir noch. Morgen früh um 8:00 Uhr sehen wir uns alle hier wieder.“ Remsen stand auf und wollte schon losmarschieren, drehte sich aber wiederum: „Hat jemand eine Kaffeemaschine, die er mal entbehren kann? Mit Kaffee dazu natürlich, bitte.“

Holla, aus dem Hintergrund kam eine Antwort: „Gebongt.“ Ulrich trudelte gerade heran, hatte die Frage, war wohl mehr eine Bitte, noch mitbekommen und wedelte so mit dem Arm, dass allen klar war: Morgen am heiligen Sonntag gibt es vernünftigen Kaffee.

„Was machen wir mit Weilham? Er sitzt im VR3 und wird von Minute zu Minute nervöser.“ Ulrich besaß zwar seine eigene Theorie, wie er vorgehen würde, aber er weiß, dass sein Partner bei Vernehmungen äußerst geschickt und clever vorzugehen weiß. Genau deshalb überlässt er bei Befragungen gerne Remsen das Feld.

Remsen deutete an, dass sie sich erstmal Zeit lassen und im Büro die Dokumente sichten werden. Sofern dort Luft und Temperatur wieder Normalwerte annehmen. Der Thai-Geruch war fast nicht mehr vorhanden und die Heizung voll aufdreht. Also rein.

Remsen griff sich die Fotos von der Überwachungskamera und zeigte sie Ulrich. „Sollte Weilham uns weiterhin anlügen, dass darf er gleich für heute Nacht hier einchecken. Mal sehen, welche Taktik er sich zurechtgelegt hat. Haben wir noch etwas in der Hand?“ Ulrich schüttelte mit dem Kopf und sah nicht so aus, als wenn er mit Euphorie der kommenden Befragung entgegensah.

„Herr Weilham, mein Beileid. Vielen Dank, dass Sie uns geholfen und Ihren Sohn identifiziert haben.“ Remsen machte eine Pause, auch wenn ihm das außerordentlich schwerfiel. Immerhin log der Mann nachweislich. Er wartete auf eine Reaktion, aber Weilham rutschte nur etwas unbeholfen auf seinem Stuhl umher. „Dürfen wir Ihnen was zum Trinken anbieten, Wasser oder Kaffee?“

Weilham reagierte kaum wahrnehmbar ablehnend und war mehr mit sich selbst beschäftigt, als auf die Fragen der Polizisten zu achten. „Ich will nach Hause; meine Frau ist alleine. Das ist einfach nicht gut. Ich muss zu ihr.“

„Wir haben da noch ein paar Fragen an Sie. Wenn wir alles geklärt haben, dann bringen wir Sie nach Hause.“ Ulrich mischte sich ein und versuchte Weilham zu beruhigen.

„Kommen wir noch mal auf die Dienstreisen Ihres Sohnes der letzten Woche zurück. Sie sagten vorhin aus, er hätte Kunden besucht. Wer war das genau?“ Remsen begann mit einer ganz perfiden Vernehmungstaktik; ganz harmlos anfangen und dann richtig zermürben.

„Ich sagte doch er war bei Safe Guard United; einem langjährigen Kunden, um über Budgets und Aufträge für das neue Jahr zu sprechen. Planungsphase eben, wie jedes Jahr.“

Während sein Hansi den Assistenten mimte, tippte Kundoban auf ihrem Smartphone herum.

„Wo finden wir den Kunden? Wer ist dort Ansprechpartner?“

„In Berlin, irgendwo in Mitte glaube ich. An den Namen des Ansprechpartners kann ich mich nicht genau erinnern; irgendwas mit ‚Berg‘, Linderberg oder so. Muss aber nicht stimmen; aus der Kundenbetreuung bin ich komplett raus.“

Remsen legte nach: „Und wann war Ihr Sohn beim Kunden? Bitte ganz genau Her Weilham.“

„Was wollen Sie denn? Glauben Sie mir nicht? Carsten war dort, soweit ich mich erinnere. Er fährt kurz vor dem Jahreswechsel alle Kunden an und macht mit ihnen die Planungen. Ist doch überall so – bei Ihnen nicht?“

„Unsere Kunden überlegen es sich meistens kurzfristig, ob sie mit uns in Kontakt treten. Das kann man so nicht planen. Zumindest kennen wir hier keine Planwirtschaft.“ Allgemeines Gelächter im Raum bestätigte, dass Remsen mit seiner Art des Sprüche Klopfens gerade zur Höchstform auflief. Remsen der Meister des objektiven Sarkasmus. Obwohl sich seine Kollegen nicht sicher waren, ob an ihm nicht schon Züge eines ausgeprägten Zynismus erkennbar waren.

„Vielleicht Herr Weilham können Sie jetzt noch die Angaben zu den Reisedaten nachliefern oder sind Sie da auch raus?“ Remsen ließ mit seinen sarkastischen Sprüchen nicht locker. Wenn er einmal in Fahrt war…

„Hören Sie, mein Sohn liegt da unten auf dem Seziertisch oder vielleicht schon im Kühlregal und ich soll mich hier auf Kleinigkeiten konzentrieren, die mich eigentlich nichts angehen.“ Weilham versuchte sich am Delinquenten-Aufstand; ja, er stand sogar auf und rieb sich am Hinterteil.

Schmerzt wohl etwa, dachte sich Remsen. „Hinsetzen.“ Recht schneidend kam von ihm der Befehl zur Herstellung der Vernehmungsordnung. Weilham tat es auch. Widerwillig, das sah man ihm an.

„So, und jetzt bitte Tag und Uhrzeit für alle Dienstreisen und Termine der letzten Woche Ihres Sohns.“ Bei Remsens unmissverständlicher und mit knallharter Stimme formulierten Anweisung zuckten alle etwas zusammen.

„Meines Wissens von Dienstagmorgen bis gestern Abend. Genauer müsste ich es im Reisekalender nachschauen. Hier habe ich keinen Zugriff darauf.“

Jutta Kundoban dachte wie gewohnt recht pragmatisch: „Herr Weilham, Sie sind Informatiker, Softwareentwickler, und Sie wollen uns erklären, dass Sie kein Smartphone haben? Hier auf Ihrer Website…“ sie zeigte auf ihr eigenes Smartphone „bewerben Sie Ihre Apps. Sie wissen doch was Apps sind. Oder soll ich Ihnen das erklären?“

Remsen mischte sich ein: „Ich erklär Ihnen das mit den Apps mal.“ Logischerweise hatte Remsen davon keine Ahnung, aber als Laie könnte er einen hervorragenden Schulmeister abgeben. Seine Kollegin schaute skeptisch drein.

Es war die entstandene kurze Pause, die das Gespräch ins Stocken brachte. Weilham schaute jetzt doch etwas verdutzt drein und beendete diese mit einer Gegenfrage: „Welche Frage soll ich zuerst beantworten?“

„Meine!“, mischte sich Remsen wieder ein. „Meine erste Frage nach den Dienstreisen. Dann können Sie uns gerne einen Vortrag zu Ihren Apps halten. Wir hören dann auch nicht zu.“ Wir müssen uns ja nicht jeden Unsinn anhören, dachte sich Remsen. Doch Zynismus der ausgeprägten Art, Arroganz oder eine Mischung aus beiden; das war auf jeden Fall Remsens schärfste Waffe. Selbst Ulrich musste das immer wieder anerkennen.

„Ich sagte doch, von Dienstag bis gestern.“ Er wollte in die Innentasche seines Jacketts greifen, aber wie auf ein unsichtbares Kommando sprangen Remsen und Ulrich nach vorn, um Weilham daran zu hindern.

„Lassen Sie uns das bitte machen, morgen soll ein schöner Tag werden.“ Und den will ich gerne erleben, wollte Remsen noch anfügen, aber er griff nach dem Smartphone und beließ es dabei. Die Dinger sind nicht ganz sein Ding, sodass er es gleich an Kundoban weiterreichte.

Die stand bislang an der Wand gegenüber von Weilham gelehnt, legte ihr eigenes Smartphone weg und nahm jetzt an der Seite von Weilham Platz.

„Die PIN bitte.“ Remsen erkannte, dass Weilham in dieser Phase des Gesprächs ohne Druck überhaupt nicht mehr funktionierte. Denn der schüttelte den Kopf und rührte sich nicht.

„Herr Ulrich, könnten Sie bitte mal bei der Rezeption einen späten Gast anmelden und nach einem Einzelzimmer nachfragen?“ Remsen bekam sichtlich seinen Spaß, was man von Weilham nicht sagen konnte. Aber, er war plötzlich bereit, der Polizistin seine vier Ziffern zu nennen.

Sie tippte diese ein und bekam Zugriff auf alle Apps. „Wie finde ich den Reisekalender?“

Weilham half ihr beim Navigieren, bis sie beim Kalender von Carsten Weilham waren. Kundoban machte dessen Kalender auf, suchte die vergangene Woche und staunte nicht schlecht. Nein, sie schaute richtig irritiert. Remsen merkte das natürlich und schaute verblüfft auf das Display des Gerätes, welches Kundoban ihm vor die Nase hielt: Kein Eintrag!

Weilham schaute auch verunsichert drein: „Ja, was ist jetzt? Was steht da?“

Remsen übernahm die Antwort: „Wenn Sie raten dürften, würden Sie auf ‚Nichts‘ tippen?“

„Nein, da muss was stehen. Carsten ist, äh war, recht gründlich. Sein Kalender war immer gepflegt.“ Jetzt schaute auch er verdutzt auf das Smartphone und stellte fest, dass der Kommissar nicht gebluffte. „Wie kann das sein?“

„Die Frage gebe ich gerne wieder an Sie zurück, Herr Weilham.“ Ulrich wollte auch mitmischen und brachte sich mit dieser Antwort wieder ins Gespräch ein.

„Aber er war dort. Ich habe mit ihm mehrere Male die letzten Tage telefoniert. Das können Sie doch da sehen.“ Er deutete auf sein Smartphone; jetzt in den Händen der Polizistin. Sie scrollte schon durch die Anruflisten und sah in der Tat einige Anrufe von Carsten an Georg Weilham; den letzten gestern Nachmittag, etwa 7 Minuten lang.

Remsen stand etwas abseits und war mit sich beschäftigt: Ich mag keine Karussells, aber der Gesprächsverlauf erinnerte ihn an die permanente Rückkehr zum Ausgangspunkt. So ahnungslos kann er als Firmenchef und Vater doch gar nicht sein. Fakt ist: Carsten Weilham war unterwegs, nicht allein und vor allem nicht in Deutschland.

Sein Trumpfass wollte er aber noch nicht ausspielen. Er will Weilham dazu bringen, dass er seinen Irrtum selbst korrigiert, so etwas wie eine zweite Chance erhält. Wenn Weilham nur unter den besonderen Umständen des Todes seines Sohnes die Spur verloren hat und sich nicht traut, das ohne Gesichtsverlust zuzugeben, will er ihm wenigstens eine Brücke bauen. So hat er das schon oft gemacht und damit jede Menge erreicht. Seine innere Stimme jedoch sagt ihm, dass hier was nicht stimmt und der alte Weilham, trotz des Verlusts seines Sohnes, immer noch klar im Denken ist. Also, warum lügt dieser Mensch? Was verheimlicht er uns? Und warum tut er das? Was spielt er uns hier vor?

Er muss sich mit diesen Fragen beschäftigen und Antworten finden. Heute noch. Remsen weiß, dass die ersten 48 Stunden ganz entscheidend sind, ob ein Mord aufgeklärt wird oder sich die Ermittlungen quälend lange hinziehen, bis sie dann ohne richtiges Ergebnis eingestellt werden. Außer den Ermittlern hilft ein Zufall. Daran mag Remsen nicht glauben. Andererseits ist Weilham sen. ja kein Verdächtiger, noch nicht. Zum Tatzeitpunkt war er nach gesicherten Erkenntnissen zu Hause und scheidet zumindest vorerst aus. Dumm nur, dass er falsche Angaben zur Dienstreise seines Sohnes machte, wissentlich und bewusst oder nur, weil er unter Stress stand. Es muss jetzt was passieren.

Karl-Heinz Egger, Chef der Unlimited IT Equipment AG in Vesberg, ist ein begüterter Geschäftsmann. Er ist es gewohnt, dass der Erfolg an seiner Seite ist und er die Geschicke selbst bestimmt. KHE, wie ihn Freunde und Hasser gleichermaßen nannten – von beiden gab es in seinem Umfeld jede Menge, war selbstbewusst, eigentlich mehr arrogant. Denn er sah sich als personifiziertes Alphatier; als eines jener Exemplare, die kein weiteres neben sich akzeptieren. Das machte es ihm leicht, sich gegenüber Mitarbeiter und Geschäftspartner so zu artikulieren, wie er es für richtig hielt. Kompromisse sah er immer dann angebracht, wenn sie nach seinen Vorstellungen eingegangen wurden. Er war sich seiner Starke, bestimmte die Spielregeln und überlies es allen anderen, sich diesen unterzuordnen. Jede Menge Leichen pflasterten seinen Aufstieg. Nicht Leichen im eigentlichen Sinn, sondern ehemalige Mitstreiter, die er aus recht unterschiedlichen Gründen aus dem Weg räumen musste.

Das war nicht immer so. KHE galt zu Beginn seiner Laufbahn eher mittelmäßig. Das war in der DDR damals aber kein Problem. Sein Studium schaffte er irgendwie und danach wenig motiviert, sich zielstrebig eine Karriere aufzubauen. Schnell wurde ihm klar, dass es in der ehemaligen DDR mehr Chancen des Aufstiegs und der Anerkennung gab, wenn er sich auf die staatstreue und parteipolitische Linie einließ.

Als Parteimitläufer begann er als kleines Rad im Parteiengetriebe. Egger lernte recht schnell, wie man sich unentbehrlich machen konnte. Klug brachte er sich in die Parteiarbeit ein und wurde zu einem Eiferer, der ihm neue Freunde und immer mehr Feinde einbrachte. Weil er sich als aktives Parteimitglied bewährte, wurde für ihn in einem Staatskonzern eine Position als Abteilungsleiter freigemacht.

Er gab den Wonneproppen, fühlte sich in der Aufgabe richtig wohl und drangsalierte die Mitarbeiter seiner Abteilung. Weniger aus fachlichen Notwendigkeiten heraus, mehr als Parteifunktionär und Agitator. Egger wollte aus seiner Abteilung eine Vorzeigeorganisation, vor allem in politischer Hinsicht machen. Die Partei sollte sich auf ihn und seine Mitarbeiter voll verlassen können. Denn er nahm sich Größeres vor: Er wollte der hauptamtliche Hauptparteifunktionär im Kombinat, wie man die großen Unternehmen damals nannte, werden. Das versprach ganz viel Geld, enorme Achtung ihm gegenüber und vor allem Macht. Macht, um über das ganze Unternehmen, die Generaldirektion, die Möchtegernchefs und vor allem die Mitarbeiter herrschen zu können. Dieser Weg war für ihn vorbestimmt; davon war Karl-Heinz Egger überzeugt.

Es kam anders, ganz anders.

Als die Ära des politischen Ungehorsams auch in der DDR einzog, wurde es zunächst für ihn recht ungemütlich. Einige wenige der Revoluzzer, wie Egger sie bezeichnete, setzten ihm heftig zu; Parteisoldaten wie er hatten von nun an keine ruhige Minute mehr. Glück für ihn war, dass anders als in anderen ehemals kommunistischen Frontstaaten, hier keine Hetzjagden veranstaltet wurden. Natürlich, es gab recht heftige Auseinandersetzungen mit den Reformern, aber es blieb bei Wortgefechten. Meistens jedenfalls.

Über seine Zukunft machte er sich immer noch wenige Gedanken, denn er war fest davon überzeugt, dass sich alles wieder einrenkt und so wird, wie er es gewohnt war. In diesem Verständnis war er erzogen, Alternativen dazu sah sein Lebensentwurf nicht vor. Bis zu jenem Tag, der im Oktober 89 alles, auch sein Leben veränderte. Nachdem die Parteiführung sich zum letzten Mal feiern ließ und alle Versuche, die sich anbahnenden Veränderungen bis zu diesem Tag im Keim zu ersticken relativ erfolgreich waren, verhinderte der Liebesentzug des großen Freundes Blutvergießen nach der Party. Die eigentliche Wende war da und KHE spürte es.

Egger dachte um und verließ seine Partei. Je eher, umso weniger erinnern sich die neuen Machthaber später daran, welche Rolle er in der Diktatur einmal gespielte. KHE war clever und inszenierte sich als Welterneuerer. Er setzte sich durch und übernahm die freigewordene Leitung im Unternehmen, dieses Mal als Direktor. Egger besorgte sich Bücher über Marktwirtschaft und Unternehmensführung. Nächtelang verschlang die Seiten und wandelte sich zum „Direktor gnadenlos“. So nannte ihn die Belegschaft immer mehr.

So paradox es auch klingen mag: Aus seiner Sicht kamen KHE die wegbrechenden Aufträge, später waren es ganze Märkte und der immer weniger wirksame Schutz der kommunistischen Finanzglocke zu Hilfe. Er betätigte sich als harter Sanierer und entließ vor allem jene Eiferer, die ihn selbst noch vor Kurzen aus dem Unternehmen vertreiben wollten. Obwohl monatlich die Umsätze immer weniger wurden, verstreute er bei seinen Auftritten vor der verbliebenen Restbelegschaft Zuversicht und appellierte an das Durchhaltevermögen. Egger konnte aber ebenso wenig verhindern, dass das Unternehmen der Insolvenz entgegen schlitterte, wie die Tatsache, dass damit seine Tage als Unternehmenschef gezählt waren.

Es musste Hilfe her.

Die kam in Gestalt der Treuhand. Noch vor der offiziellen Vereinigung gegründet, erhielt sie den Auftrag, die Unternehmen der DDR zu einem Spottpreis zu verscherbeln und den sogenannten Investoren den Zugriff auf neue Märkte zu sichern. Zumindest nahm Egger das so wahr und ihm konnte eigentlich nichts Besseres passieren. Da sein Unternehmen trotz der schlechten Entwicklung der letzten Monate noch über ausreichend Reputation, Wissen und gute Mitarbeiter verfügte, dauerte es nicht lange, bis er mit Anstaltsvertretern an einem Tisch saß.

Deren Plan war bereits beschlossene Sache; Egger konnte nur noch versuchen, das Beste daraus zu machen. Er nutzte seine Kontakte zu seinen damaligen Parteifreunden, von denen es einige in die Treuhand geschafften. Egger brachte Details zur geplanten Privatisierung in Erfahrung und empfahl sich bei den potenziellen neuen Eigentümern. Die Verhandlungen waren nervenaufreibend, denn die Rolle, in der er sich hierbei befand, war eher die eines Bittstellers. Und darin kannte er sich einfach nicht aus. Die Hoffnung, im neuen Unternehmen an vorderster Front mitzuspielen, schien sich lange Zeit nicht zu erfüllen. Das Unternehmen wurde für einen lächerlichen Preis einem global agierenden IT-Konzern zugesprochen; es entstand die Unlimited IT Equipment AG. Vesberg war anscheinend für die neuen Eigentümer ideal, um erst einmal hier und dann in Osteuropa gute Geschäfte zu machen.

Egger begrub beinahe seine Ambitionen, als das Schicksal es wieder gut mit ihm meinte. Aus lange für ihn unerklärlichen Gründen, zeigten die Besitzer der uIT AG doch Interesse an seiner Person, sodass recht schnell und im Stillen über seine Anstellung verhandelt wurde. KHE stieg zum mächtigen Vorstandsvorsitzenden der uIT AG auf und begann sofort, sich sein eigenes Reich zu bauen. Seine neuen Geschäftspartner brachten reichlich Kapital mit, machten klaren Vorgaben und ließen ihm jede freie Hand der Umsetzung. Egger wäre nicht Egger, wenn er diesen Spielraum nicht für sich genutzt hätte.

Inzwischen sitzt er fast 15 Jahre fest im Sattel. Mit eiserner Disziplin hat er die uIT AG zu einem erfolgreichen Unternehmen gemacht; ohne zu vergessen, Mitbewerber zu attackieren, ihnen mit legalen und durchaus auch anderen Mittel den Marktzugang zu erschweren oder gar die Kunden ganz abzuwerben. Sein Steckenpferd war von Beginn an die Geschäftserweiterung in Richtung Osteuropa. Oh, wie schön war es doch, dass die alten Kanäle und Kontakte noch immer funktionierten und sich auch dort viele ehemalige Kommunisten in Unternehmen oder Behörden festsetzen konnten.

Traumhaft!

Egger war realistisch genug, um sich seiner Sache nie sicher zu sein. Die uIT AG hatte jede Menge Feinde; viele davon befanden ganz speziell mit KHE im Streit. Denn KHE nannten ihn nicht nur Freunde. Es waren vor allem Feinde, alte Feinde, die nicht vergessen wollten. Die einen staunten ehrfürchtig, weil er trotz allem Erfolge nachweisen konnte; die anderen mit Abscheu, weil sie seine Skrupellosigkeit kannten und hassten.

An diesem trüben Sonnabend war Egger, wie so oft am Wochenende, in seinem Büro gewesen. Diese Tage ohne Störungen und ständige Unterbrechungen nutzte er ganz gerne, um nicht nur Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Hier in seinem Büro fand er die notwendige Ruhe, um über Geschäfte, neue Kunden, Chancen und Risiken zu sinnieren. Er legte sich seine Strategie für die nächsten Tage zurecht und brütete darüber, wie er die uIT AG noch erfolgreicher und seine Geschäftspartner in Holland noch zufriedener machen konnte.

Am späten Nachmittag des 13. November klingelte sein Mobiltelefon. Erst wollte er es ignorieren, denn Störungen mochte er besonders an den Wochenenden überhaupt nicht. Unwirsch griff er sich doch das Handy, um nachzusehen, wer von ihm was will. Ein wohlbekannter Name leuchtete auf dem Display. Jemand, den er lieber nicht ignorieren sollte.

„Hallo Torsten?“ KHE ergriff wie gewohnt die Initiative.

„Hallo Kalle, wollte mal hören, was du so treibst. Wir sollten uns mal wieder zum Essen verabreden.“

„Du, gerne. Warum nicht gleich heute Abend? Hätte ohnehin Lust, auswärts was zu essen. Kommst du mit? Jetzt hab ich leider wenig Zeit, muss noch ein paar Dinge fertigmachen.“

„Das wird leider nichts, muss gleich noch mal ins Präsidium. Die Kollegen der W36 haben einen recht abstrusen Fall vor der Brust: Mord mit einem Hirsch oder so ähnlich. Das wird mal wieder ein unruhiger Sonntag. PK und so weiter, du weißt ja.“

„Was es nicht alles gibt. Lass doch mal den Nachwuchs ran und gönn dir ein ruhiges Wochenende. Weiß man schon Genaueres?“ Informationen schaden eigentlich nur dem, der keine hat. Immer wachsam bleiben, Genosse. Ex-Genosse.

„Ein Auto einer IT-Firma ist an einen Hirsch geraten, CodeWriter glaube ich heißen die. Aber mehr weiß ich auch noch nicht und Kalle; ich würde es dir übrigens auch nicht sagen.“

Staatsanwalt Torsten Stiegermann nimmt es mit seiner Schweigepflicht sehr genau. Er weiß ganz genau, wem er wann Informationen gibt. Noch immer fühlt er sich gut vernetzt. Das war durchaus nicht immer so, denn gerade die unruhigen Wellen der Vereinigung hätten ihn beinahe weggespült. Aber eben nur beinahe.

„Wenn von dem Hirsch noch eine Portion übrig ist, dann denke bitte an mich. Im Herbst ist Jagdzeit. Mach’s gut und denke daran: Wir sollten mal wieder Essen gehen.“ KHE legte auf, um sofort einen anderen Eintrag seiner unendlich langen Kontaktliste zu suchen. Er fand ihn auch recht bald und wählte dessen mobile Nummer.

„Hallo?“ Ein kurzes Knacken in der Leitung machte ihn unsicher.

„Ja, was gibt’s?“ Scheinbar erkannte der Angerufene inzwischen, wer ihn da anrief.

„Die Polizei ermittelt in einem Mordfall. CodeWriter. Habt ihr was damit zu tun?“ KHE war dieses Mal direkt und unverschlüsselt. Egal wer hinter dieser Geschichte steckte; es gefiel ihm ganz und gar nicht.

Statt einer Antwort beendete sein Gegenüber einfach das Gespräch. Wortlos.

Fuck!

Jetzt bleibt nur abwarten. Stiegermann wird ihn schon informieren. Rechtzeitig, sodass er immer noch früh genug eingreifen kann. Hoffentlich geht die Geschichte für ihn und seine uIT glimpflich aus. Obwohl, ihm fiel überhaupt nicht ein, warum ein Mord bei CodeWriter mit ihm zu tun haben könnte. Nein, da ist nichts und da wird auch nichts sein.

Egger hatte trotz seiner Versuche, sich zu beruhigen, jetzt keine Lust mehr, im Büro zu bleiben. Er konnte sich nicht mehr konzentrieren. So ein Mist! Ich habe bis Montag noch jede Menge fertigzustellen. Dann eben morgen, am Sonntag; geht halt nicht anders. Er griff sich seine Dokumente und Unterlagen für morgen, um von zu Hause aus arbeiten zu können; führte schnell eine Sicherung durch und war sich richtig unschlüssig, was er jetzt mit dem Sonnabendabend anstellen soll. Er könnte ja über die Grenze in den Club fahren; wäre doch schön ein Bad mit einer Massage danach. Vielleicht ist die schlanke Lettin wieder da, die konnte so richtig gut… Nein, auch darauf meinte er, sich heute nicht freuen zu können.

Dieser Anruf vom Stiegermann versetzte ihn immer mehr in Unruhe. Viel schlimmer war, dass er überhaupt nicht ergründen konnte, warum. Für heute Abend blieben nicht mehr viele Alternativen: Was essen gehen, ein paar Bier oder ein guter Roter und dann morgen weitersehen.

Licht aus; Alarmanlage an.

Moldawien ist weit. Hier in Vesberg bricht langsam die Nacht herein. In Moldawien dürfte es schon dunkel sein. Die nasse Kälte schlich an seinen Beinen hoch; es wurde richtig ungemütlich. Ist er nicht mehr immun dagegen? Zweifel kamen auf, nagten an ihm. Scheiße, dass brauche ich jetzt nicht; überhaupt nicht. Zurück in die Gartenhütte war nicht mehr möglich. Obwohl? Die Dunkelheit wäre dafür sein Freund; aber nur ein Aufschub; nicht mehr. Nein, die Nacht musste er ausnutzen, um die Grenze zu überqueren und Deutschland zu verlassen. Wenn er erst mal in Polen ist, geht es sicher einfacher weiter. Dort sucht ihn keiner. Dort ist die Polizei längst nicht so gut wie hier, schon gar nicht nachts.

Er muss weg hier, das war ihm klar. Nur wie? Geld hatte er nur wenig, mit den paar Euros kommt er nicht weit. Das war ihm klar. Ihm würde ein Auto reichen, vollgetankt bitte, damit er es wenigstens bis zur Grenze schafft. Danach müsste er neu planen. Ein Auto muss also her. Darauf musste er sich jetzt konzentrieren.

Hier an der Uferstraße ist die Gelegenheit recht günstig; kaum Anwohner in der Gegend. Jetzt gegen Abend ist immer weniger Verkehr hier; viele abgestellte Wohnwagen und Transporter stehen herum. Da sollte eine kleine Selbstbedienung kaum auffallen. Er entschloss sich, es in einer angrenzenden kleinen Sackgasse zu probieren. Unauffällig, wie er es hunderte Male schon gemacht hatte, inspizierte er die Gegend, beobachtete die wenigen Passanten, die umstehenden Häuser und suchte sich ein Fahrzeug aus. Das hier wäre doch cool, nicht zu protzig, nicht zu alt, wenig auffällig. Seine Entscheidung: Der Ford im dunklen Grün soll es sein. Mit der Marke kennt er sich aus; die Fords lassen sich leicht überbrücken. Der hier hat noch keine Wegfahrsperre. Cool, dass die Ostdeutschen so wenig Geld für neue Autos haben. Damit ergeben sich jede Menge Mitnahmegelegenheiten für einen Profi wie ihn.

Die Grundausrüstung für so einen Bruch hatte er ohnehin dabei. Also – jetzt oder nie. Kein Kopfkino aufkommen lassen. Das verunsichert nur. Nicht nachdenken, handeln. So hämmerte man es ihm damals in der Ausbildung ein. Mut zur Tat oder sein lassen. Er musste. Er musste jetzt handeln, um hier wegzukommen.

Der Bruch ging recht schnell. Wie er es gelernt hat, versuchte er es an der Heckklappe. Die Verriegelung war bei den älteren Modellen noch mit einem weiteren Seil zur Sicherheit, quasi als Noteinstieg, gesichert. Das war den meisten Besitzern nicht bekannt; auch weil die Hersteller es natürlich in einem kleinen Versteck im unteren Rahmenbereich nicht sichtbar und zugänglich gemacht haben. Für ihn kein Problem; er brach das Gehäuse mit seinem Besteck auf und suchte das Seil. Ein kurzer Ruck und die Heckklappe gab nach. Hat doch prima geklappt. Jetzt muss er den Ford nur noch kurzschließen und hoffen, dass die Karre voll genug betankt war.

Irgendetwas irritierte ihn.

Er schaute.

Er schaute nochmal und stellte ziemlich erstaunt fest, dass der Ford hinten zumindest ein polnisches Nummernschild angeschraubt war. Mach ich hier alles falsch? Das geht überhaupt nicht. Ausländische Autos, so hatte er bei der Übernahme des Auftrags gelernt, werden vorzugsweise von der deutschen Polizei überprüft. Deshalb waren die Fluchtfahrzeuge ja auch mit deutschen Kennzeichen ausgestattet.

So ein Mist!

Los, denke nach. Du musst klar denken. Lass dir was einfallen. Er kannte die Motivationstechniken, die viel Kraft verlangten und immer dann zum Einsatz kamen, wenn die Lage hoffnungslos war. Seinem Eindruck, nach zu urteilen, war es eher komisch, aber nicht langweilig. Denke nach, sonst schaffst du hier nicht raus. Zu Fuß wird’s nicht gehen. Es ist viel zu weit bis zur Grenze. Niemand würde helfen. Jeder, den er nach etwas Essen und eine warme Unterkunft bitte würde, alarmiert mit Sicherheit die Polizei. Und in Erdlöchern übernachten, dazu war er weder motiviert, noch hatte er dazu die richtigen Klamotten an. Darauf ist er heute einfach nicht eingerichtet, das muss man doch verstehen – oder nicht?

Wo ist der Plan?

Wie kann es funktionieren, wenn er keinen Derartigen hatte? Zunächst: Mit polnischen Nummernschildern kommt er nicht. Ein zweites Auto aufbrechen? Wäre eine Option, ist aber auch ein Risiko. Er könnte auf einen Zug ausweichen, der ihn zur Grenze bringt. Mit den Kontrolleuren würde er schon fertig werden. Dunkel erinnerte er sich an eine eindringliche Warnung seiner Auftraggeber: Überwachungskameras. Somit fielen jeder Bahnhof und damit die Option ‚Zug‘ aus. Fahrrad? Für die rund 70 Kilometer bräuchte er gut drei bis vier Stunden, bei normaler Fahrt. Aber nachts, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mit Sicherheit das Doppelte. Außerdem würde ein Fahrradfahrer ohne Licht im nasskalten November prinzipiell verdächtig wirken. Fällt auch aus. Einen dieser Transporter hier? Die lassen sich auch recht leicht knacken; das weiß er aus Erfahrung – wenn nicht er, wer denn sonst. Viel zu auffällig: Es ist Wochenende, da haben selbst die Leiharbeiter mit den Transportern frei und saufen – natürlich in ihren schäbigen Unterkünften.

Bleibt also doch das Auto als die für ihn als sicherste Variante, um aus Vesberg rauszukommen. Aber nicht mit polnischen Kennzeichen. Ok, der Reihe nach – ganz ruhig, du hast es gelernt. Nur anwenden, handeln – nicht mehr. Schon gar nicht denken, nachdenken und zweifeln.

Kein Kopfkino.

Erst muss er rein, ins Auto und die Überbrückung hinbekommen. Wenn es sich starten lässt, muss er den Füllstand des Tanks prüfen. Mit einer zu geringen Restmenge darin braucht er mit diesem Auto keine weiteren Risiken eingehen. Dann muss er alle Lichter checken. Die Deutschen nehmen es damit sehr genau; in den Wintermonaten hält die Polizei alle Autos mit defektem Licht an. Selbst wenn nur eine Lampe schräg eingesetzt ist und blendet, gibt’s dafür einen Strafzettel. Typisch, die Deutschen. Bin ich froh, dass ich in Moldawien lebe. Hier wäre das nichts für mich. Jetzt braucht er erst mal deutsche Nummernschilder. Die gibt es hier zuhauf. Kein Problem für ihn; leichte Übung, das bekommt er hin.

Sein Plan!

Bevor er sich wieder unterm Auto hervor wand, spähte er erst einmal 360 Grad rundherum. Kein Fußgänger, auch kein Raucher an irgendeinem Fenster oder ein Hündchen, welches sein Frauchen oder Herrchen durch den nassen und kalten Abend führt. Sieht alles sehr gut und ruhig aus. Also hoch und rein ins Auto. Ganz gekonnt schlängelte er sich an der Rückseite hoch und schwang sich in den Kofferraum. Der Kofferdeckel blieb leicht angelehnt; einerseits als Sichtschlitz nach außen und andererseits als möglicher Fluchtweg. Als Aufklärer weiß er es ganz genau: Begebe dich nie in eine Situation, für die du keinen Plan B hast.

Niemals!

Im Kofferraum orientierte er sich erst einmal. Ruhe und Besonnenheit sind immer gute Ratgeber, um keine Fehler zu machen. Er ertastete etwas Kaltes im Inneren, konnte damit aber nichts anfangen und beachtete es nicht weiter. Mit ein paar Handgriffen, für ihn einfach und unendlich viele Male geprobt, konnte er die Verriegelung der asymmetrischen Rückbank lösen, dann die Rückenlehne umklappen und sich ins Wageninnere hangeln. Leichte Aufwärmübungen eines Aufklärers; genauso sportlich nahm er es.

Drinnen orientierte er sich erst mal und wagte einen Rundumblick nach draußen. Nicht, dass inzwischen jemand sich in der Nähe des Autos befand und sein Treiben beobachtete. Alles ruhig. Jetzt muss es schnell gehen. Bevor er die Kabel hinter dem Zündschloss suchte, stellte er schon mal den Sitz und den Spiegel so ein, dass er gleich nach dem Start wegfahren konnte. Tür auf, runter an den Kabelschacht und sich die richtigen Drähte geschnappt. Mit seinem Universalwerkzeug überhaupt kein Problem. Bevor er sich zum Kurzschluss entschloss, warf er nochmal einen Blick in die Umgebung. Er musste sicher gehen, dass er unbemerkt das Auto startete, da von da an bis zum Losfahren die gefährlichste Zeit ist. Jeder der etwas beobachten könnte, würde den Diebstahl bemerken und die Bullen verständigen. Sicherheitshalber schaute er sich im Auto nochmal um; nein, nichts Auffälliges.

Er öffnete das Handschuhfach, prüfte den Inhalt. Seine Finger erstarrten als seine Augen erkannten, dass die Schrift auf den paar Papierfetzen im Fach Deutsch war. Hier sind doch polnische Nummernschilder dran.

Oh nein!

Bitte nicht!

Seine Gedanken erfassten blitzschnell mögliche Szenarien: War das Auto von Deutschen verkauft worden? Oder hatten es polnische Autoknacker geklaut und bereits mit eigenen Nummernschildern umgerüstet? Er erinnerte sich an das kalte Metall im Kofferraum; sprang aus dem Auto und schaute nach: deutsche Nummernschilder. Das Prüfsiegel war noch gültig und nicht zerstört. Das war alles nicht gut; es beschlichen ihn düstere Ahnungen. Aber ein Weg zurückkam für ihn jetzt nicht mehr in Frage: Starten und nichts wie weg hier. Die Schilder müsste er später tauschen; nicht vergessen!

Das Überbrücken klappte wunderbar und schon stöhnte der Motor auf. Hauptsache er schafft es bis zur Grenze. Da würde er die Karre ohnehin stehen lassen und wird zu Fuß nach alter Aufklärer Art in Richtung Polen verschwinden.

Türen zu, Licht an; noch mal raus und prüfen, ob alle Lampen funktionieren. Er will keinen noch so kleinen Vorwand liefern, um angehalten zu werden. Alles los jetzt. Allerdings kam ihm jetzt in den Sinn, dass er sich einen viel zu komplizierten Rückweg aus dieser Seitenstraße aussuchte. Wird er alt? Scheinbar, denn sonst wäre er nicht so blöd gewesen, und hätte sich ein Auto von der anderen Straßenseite ausgesucht. Eines, mit dem er ohne Wendemanöver aus dieser Sackgasse hätte verduften können. Viel zu viel Zeit würde das Wenden kosten.

Trotzdem, er musste jetzt los – kein Kopfkino alter Aufklärer. Nicht nachdenken; einfach nur handeln jetzt. Er fuhr vor, suchte sich eine freie Stelle zum Wenden und stieß vor zur Uferstraße. So richtig gewöhnte er sich noch nicht an das Auto; wie auch, es war fremd und erst wenige Sekunden in seinem Besitz. Auch die Scheiben waren beschlagen; sonst hätte er erkannt, dass der Weg in die Uferstraße plötzlich versperrt war. Mist, was wollen die denn? Skinheads oder vermummter Mob? Er begann zu registrieren, dass sich vier dunkle Typen so auf der Straße aufgebaut hatten, dass er nur mit größtem Schaden die Uferstraße erreichen würde. Ein Blutbad war aber nicht vorgesehen und würde die Bullen schneller als gedacht auf ihn aufmerksam machen. Verfolgungsjagden mit diesem Auto hier – keine Chance. Er zitterte und konnte sich nicht konzentrieren. Ruhig, denke ruhig nach. Lass dich nicht in die geistige Enge drängen, finde einen Ausweg. Genauso lernten sie es damals bei der Roten Armee. Jede Situation, ist sie noch so ausweglos, kann beherrscht und gelöst werden. Immer! Die Ausbilder damals waren die skrupellosesten Menschen, die er jemals kennenlernen musste. Hoffentlich stimmt das auch jetzt noch, denn dann würde er mit vier Angreifern locker fertig werden.

Er ist Kampfsportler. Ok, er war es. Komm, erinnere dich. Versuche es mit Sambo oder noch besser Systema. Diese Kampfsportart ist im körperlosen Nahkampf präzise anwendbar und ausschließlich die sofortige Vernichtung des Gegners zum Ziel. Erinnere dich. Los konzentriere dich. Mit vier Typen wirst du fertig. Du schaffst es. Dafür bist du ausgebildet.

Nochmals checkte er das Umfeld vor weiteren unliebsamen Überraschungen und konnte durch die beschlagenen Scheiben nichts erkennen. Es musste jetzt schnell gehen; nur dann hatte er eine Chance. Er bremste kurz vor den Angreifern, zog die Handbremse an und war schon draußen. Was er noch mitbekam, war, dass sie polnisch sprachen und sofort zum Angriff übergingen. Eigentlich mussten sie das gar nicht mehr, denn gerade als er aus dem Auto sprang, traf ihn ein Schlag. So hart wie in keiner Folterzelle damals in den sibirischen Ausbildungslagern. Er sank zu Boden und sah sich Tritten ausgesetzt, die einfach nicht aufhören wollten. Polnisches Kauderwelsch drang anfangs an seine Ohren; allerdings ließen sich die aufgefangenen Informationen nirgends mehr speichern. Ihm tat alles weh. Völlig zwecklos versuchte er sich einzurollen, um wenigstens die Wucht der Schläge abzufedern.

Hatte er die Autodiebe überrascht? Waren sie einfach nur zu ihrem Beutefahrzeug zurückgekommen? Oder sie sich das Auto auf einem der Märkte gekauft und wollten jetzt nach Hause fahren? Fragen über Fragen … die klären wir aber heute nicht mehr … warum eigentlich nicht … woher wussten sie, dass ich … schlafen, einfach nur schlafen … aufhören … nicht mehr schlagen.

Er verlor das Bewusstsein.

Ulrich saß im Buick seines Kollegen. Dieser steuerte seinen SUV Richtung Innenstadt. Die Soundanlage war wieder aktiv: ‚Comes a Time‘, Neil Young. Etwas ruhiger als der Krach heute Nachmittag, fand Ulrich. Bis auf den Song, der Motorcycle Mama hieß; angeblich, denn es stand so am Display. Noch nie verstand Ulrich, warum Remsen solche unwirkliche und in seinen Ohren brachiale Musik mochte.

Sie waren auf dem Weg in das Stadtzentrum. Remsen versuchte sich an der Idee, etwas essen zu wollen. Von diesem Thai-Matsch Geruch, so verkündete Remsen, wird er sich wohl nie wieder erholen können. Er will was Festes haben; sein inzwischen leerer Magen hat sich zwischenzeitlich mehrmals und nachdrücklich gemeldet. Ulrich ahnte, dass es eine lange Nacht werden könnte und schon deshalb zugestimmt, mitzukommen. Denn Remsen bekam in solchen Situationen schon öfter geniale Gedanken und gab damit schon so manches Mal laufenden Ermittlungen die entscheidende Richtungsänderung.

Remsen stoppte die Befragung von Weilham und erklärte ihm, dass er im VR3 auf sie warten sollte bis sie wieder zurück waren. Nein, dessen Wunsch, nach Hause zu fahren, konnten die Herren Kommissare nicht entsprechen – noch zu viele offene Fragen. Nach dem Austausch der üblichen Floskeln willigte Weilham dann plötzlich ein, die beiden zum Essen zu begleiten. Auch für ihn könnte es heute etwas länger werden. Weilham durfte allerdings in einem der blauen Taxen Platz nehmen, die den Buick begleiteten.

Remsen lenkte seinen SUV zielsicher in die Theresienstraße. Spätestens jetzt wusste Ulrich, dass Jan ins Red Rooster will. Er hat davon gehört; halb Pub, halb Restaurant. Egal, was Gutes zum Essen und ein Bier wird’s wohl geben. Zu dritt betraten sie den Gastraum; Remsen vorneweg. Eine junge Kellnerin, Studentin mit Aushilfsjob nahm Ulrich an, kam auf Remsen zu. Beide tauschten kurz ein paar Informationen aus und schon deutete die mutmaßliche Studentin mit den Speisekarten in der Hand auf einen Tisch in der hinteren Ecke; Weilham und hinter ihm Ulrich hinterher.

Auf dem Weg dahin blieb Weilham urplötzlich stehen und starrte einen Mann an. Der saß auf einer Art Barhocker an einem der Bistrotische; vor ihm ein Bier. Äußerlich nichts Auffälliges, was Ulrich hätte beunruhigen müssen. Nur, der Angestarrte tat jetzt das Gleiche und ließ Weilham nicht mehr aus den Augen. Remsen flirtete mit der Kellnerin und war schon am Tisch, auf seinem Platz. Und wedelte mit der Speisekarte.

Da passierte es: Weilham stürzte sich mit der Kraft seiner gut 100 Kilogramm auf den Mann, den er zuvor angestarrte.

„Du Schwein, hast uns fertiggemacht. Ich bringe dich um; dich und deine verfluchte Bagage.“ Das wüste Geschrei ließ sämtliche Gespräche im Red Rooster urplötzlich verstummen. Schneller als Ulrich hätte eingreifen können, begann zwischen beiden eine wüste Keilerei. Der Angegriffene versuchte, den Attacken zu entkommen, was ihn aufgrund seiner Fitness ganz gut gelang. Ulrich und inzwischen auch Remsen zogen und zerrten an Weilham herum, bis dieser kapitulierte und von seinem Opfer abließ.

„Sind Sie Igor Abtowiz?“ Während Ulrich den noch immer wütenden Weilham zurückhielt, nahm Remsen Kontakt zum vermeintlichen Opfer auf.

„Ja, der bin ich und wenn ich richtig gehe, haben Sie mich hierher bestellt, ja?“ Remsen nickte kurz. „Ich wollte nur sichergehen, ob Weilham gestern Abend wirklich mit Ihnen essen war. Sie haben eine Legitimation für mich? Sicher, ist sicher.“ Remsen grinste Abtowiz an und prüfte das ihm entgegengehaltene Dokument.

„Moment.“ Remsen ging hinaus und ließ von seinen dort wartenden Kollegen den Ausweis prüfen. Ulrich stand wie ein überfahrenes Karnickel herum und konnte seine Gedanken nicht ordnen: Habe ich das richtig mitbekommen? Remsen arrangiert eine Gegenüberstellung und weihte ihn nicht ein? Das hat ein Nachspiel für seinen Partner, das wusste er jetzt ganz genau.

Wieder drinnen wollte Remsen von Abtowiz wissen, ob es gestern Abend auch so laut zwischen beiden zuging. Weilham versuchte zu stören, aber Ulrich drängte ihn an den reservierten Tisch.

„Nicht direkt, wir waren in einer Besprechung.“ Abtowiz fühlte sich richtig unwohl in der Situation. Der Bulle stellte ihm offensichtlich eine Falle.

„Die muss anscheinend einen schlechten Ausgang genommen haben oder warum war er so wütend auf Sie?“

„Herr Kommissar, ich denke, dass ich jetzt nichts mehr sage und auf meinen Anwalt warte. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht hierhergekommen.“

„Hatten Sie eine Wahl, Herr Abtowiz? Wenn Sie sich geweigert hätten, würden Sie jetzt nicht beim Bier, sondern in einem unsere schönen Vernehmungsräumen sitzen.“ Remsen überlegte: „Morgen um 9 Uhr bei uns in der W36, Arkadenstraße. Pünktlich, ich muss nämlich in die Kirche.“

Abtowiz sah seine Chance hier zu verschwinden und wollte zahlen.

Remsen kam ihm zu Hilfe: „Mach ich und raus jetzt. Vergessen Sie nicht 9 Uhr, von mir aus mit Verstärkung.“

Der Beamte, der Abtowiz’ Ausweis geprüft hatte, betrat gerade das Lokal, als Abtowiz durch die Tür entschwinden will. Er sah Remsen und schüttelte den Kopf. Remsen bedeutete mit einem Kopfnicken in Richtung Abtowiz, dass dieser den Ausweis wieder zurückhaben und gehen kann.

„Ach ja, und den hier nehmen Sie wieder mit auf die W36.“ Er deutete auf Weilham, der noch immer deutlich verunsichert in die Runde sah. Weilham stand auf und ging mit dem Beamten hinaus. Er sah sich kurz vorher nochmals um, aber Remsen und Ulrich hatten für ihn keine Aufmerksamkeit mehr. Dafür Hunger.

Während des Essens entspann sich einfach kein Gespräch. Der Tag war lang, vor allem Remsen kam sich vor, als wenn er seit Beginn der Zeitenrechnung nicht mehr geschlafen hatte. Er musste sich krampfhaft wachhalten, während sein Partner Hansi auf seinem Smartphone herum klimperte. So viele Mails und News kann man doch nicht erhalten, dachte sich Remsen.

„Was meinst du Hanns, war das gespielt oder warum ist Weilham so auf Abtowiz losgegangen?“

„Gegenfrage: Was macht Abtowiz genau im diese Zeit hier im Red Rooster?“

Remsen zuckte nur die Achseln: „Ich wollte gerne mit eigenen Augen sehen, wie Weilham mit seinen Geschäftspartnern auskommt. Weißt du, bisher hat er so heftig gelogen, dass ich ihm nichts mehr glaube. Gestern waren die zusammen essen und heute prügeln sie sich. Was soll man da noch glauben?“

Remsen war mit seiner Leistung zufrieden. Mit Überraschungsmomenten Fakten schaffen, war keine schlechte Idee von ihm. „Ja klar, Safety Objects ist ein Kunde von CodeWriter; die nutzen die Software von denen. Und dann ist deren Chef auch noch ein Russe. Sein Sohn kurvt in der Ukraine rum, sagt zumindest dessen Frau und der alte Weilham sagt uns, der Junge war in Berlin. Seit wann gehört Berlin zur Ukraine? Hanns, was sagt dein Handy dazu?“

„Pole.“

„Äh, Polen? Ich denke der Junior war in der Ukraine? Gehören die jetzt zusammen? Die veranstalten doch nur Fußballturnier in zwei Jahren miteinander?“

„Abtowiz ist ein Pole, sagt zumindest Kundoban. Die muss das wissen, denn sie hat das recherchiert.“

„Vorstrafen? Auffällig der Mann?“

„Wahrscheinlich, ich habe ihn zwar nur kurz gesehen, aber er besaß die Aura eines Professionellen mit langer Vergangenheit. Das finden die anderen ganz sicher raus, wenn die nicht schon wieder beim Thai sind.“

„Wenn die beiden gestern Abend tatsächlich zusammen essen waren, dann wundert mich der Angriff von Weilham umso mehr. Der war ja richtig brutal auf den Russen losgegangen.“

Ulrich schaute leicht verzweifelt seinen Kollegen an; der merkte seinen Denkfehler, oder war es ein absichtlicher Versprecher, recht schnell.

„Ja, ja, er ist Pole. Da war jede Menge angestaute Wut zu spüren. Und das in unserem Beisein. Sorry, da stinkt es gewaltig Hanns. Wenn wir buddeln, finden wir garantiert einige Leichen im Keller; bei beiden Unternehmen. Wetten?“

„Du weißt doch, ich spiele noch nicht einmal Lotto. Wetten kommt in meinem Kulturkreis nicht vor. Sollte für dich keine neue Information sein.“

Remsen hielt etwas länger als normal sein Bierglas in der Hand, starrte auf den dunkelgelben Inhalt des noch halbvollen Glases. Er würde es sicher noch eine Weile länger tun, wenn die junge Kellnerin nicht mit dem Essen erschien. Das war Grund genug, das Denken einzustellen und diesen Mordshunger zu bekämpfen. Den Fall lösen kann man später immer noch.

Unisono waren beide mit dieser Überlegung, unabhängig voneinander, einverstanden.

Viel später saß Remsen in seinem Buick. Er war einfach zu faul, um sich eine neue CD aus seinem Fundus herauszusuchen. So musste Neil Young noch mal ran. Comes a Time passte mit der untypisch ruhigen Gangart von Crazy Horse, die nur bei ein paar Titeln auf dieser CD mit ran durften, ganz gut in seine Stimmung. Er schloss die Augen und fühlte sich in die Weiten Kanadas versetzt. Er will dahin; jetzt und nicht irgendwann. Vesberg kam ihn so klein und provinziell vor; hier wird er bestimmt niemals heimisch. Kanada; on the Road again; Wälder; Berge; Bären. Fast wäre er eingeschlafen, würde nicht jemand an die Seitenscheibe klopfen.

Politessen, wer denn sonst.

Er ließ die Scheibe etwas runter und fragte lächelnd mit seinem Dienstausweis in der Hand, wie spät es denn wohl sei. Noch gilt hier etwa eine dreiviertel Stunde die Regel mit der Parkgebühr, musste er sich belehren lassen. Er parke hier ja gar nicht, er wäre im Einsatz; ob man das nicht sieht? Wohl kaum, sonst hätte Sie ihn nicht geweckt und ihn an seine Abgabepflichten erinnert. Die Stadt brauche eben alle Einnahmen, auch die seinen. Sie erkenne jetzt aber und sah ein, dass beide nur ihre Arbeit machten. Freundlich verabschiedete sie sich von Remsen. Zu einer Verabredung mit ihr schaffte es Remsen nicht mehr, denn die Dame vom Ordnungsamt war bereits anderen Parksündern auf der Spur.

Remsen parkte schon geraume Zeit vor dem L’Angelo in der Sonnenstraße. Jetzt spät am Sonnabendabend war nicht mehr viel Betrieb beim Italiener; ist ja keine typische Kneipe, in der man länger als nötig bleibt. Remsen würde dort ohnehin nur essen und im Refill sein Bier trinken. Kundoban hatte inzwischen Mails mit Bildern von Abtowiz und dem alten Weilham geschickt, sodass er eigentlich reingehen und nachfragen könnte.

Welche Verbindung gibt es noch zwischen den beiden? Immerhin war im Auto des jungen Weilham eine Frau; offensichtlich recht hübsch. Mädchenhandel, Prostitution?? Beschaffen die Weilham's Material für Abtowiz’ Geschäfte jenseits der Sicherheit? Was läuft da noch?

Er hatte schon im Büro von Safety Objects angerufen, aber dort niemanden am Sonnabendabend erreicht. Morgen ist auch noch ein Tag; ein Sonntag und ein arbeitsreicher dazu. Oder war es nur der Unfall, der Mord an seinen Sohn, der Weilham hat ausrasten lassen? Vermutet Weilham Abtowiz dahinter und ist er deshalb auf ihn losgegangen? Das macht man doch nicht, schon gar nicht, wenn man mit jemanden Geschäfte macht, vor allem wenn die etwas … na ja … illegal sind. Mutmaßlich. Auch wenn der eigene Sohn jetzt im Kühlfach liegt.

Gestern Abend lief zwischen beiden irgendein Deal ab und dabei etwas ist schief gegangen. Davon war Remsen fest überzeugt. Mal sehen…

Er stieg aus und schloss sein Auto ab. Tatsächlich, im Lokal war vor allem Personal unterwegs, räumte schon die Tische ab und begann den Raum zu säubern. Die noch wenigen Gäste sollten animiert werden, sich zu verdrücken. Jedenfalls sollten die bereits auf einigen Tischen gestellte Stühle dazu animieren. So kam es Remsen vor; so kennt er es von den Italienern; immer schön gastfreundlich, bis die Rechnung bezahlt ist. Der Chefkellner, zumindest spielte er sich Remsen gegenüber so auf, stürzte auch gleich auf ihn zu und gestikulierte wild herum.

„Schade Signore, wir habe schon geschlossen. Cucina finito. Morgen gibt’s ganz feine Pasta mit Trüffel von Mama. Musst du kommen, habe guten Platz für dich. Und ganz feinen Wein von meine Onkel.“

Der hört ja gar nicht mehr auf. Remsen grinste ihn an und keine Intention, hier jemals etwas zu essen oder sich mit dem Menschen ein Rededuell zu liefern. Das verliere ich doch sicher, das war Remsen mehr als klar. Also zückte er seinen Dienstausweis und deutete auf das Bild darauf und auf ihn: Das hier bin ich und ich will überhaupt nicht essen.

„Dottore.“ So schwellt bei den Jungs gleich der Kamm; da wird jeder Italiener gleich zehn Zentimeter größer. „Gestern Abend, waren Sie da auch hier?“ Remsen stellte sich auf eine lange Rede ein, die aber recht knapp ausfiel.

„Si, si, si. Ja, ich bin Chef hier; muss jeden Tag meine Gäste arbeiten.“

„Erkennen Sie diese beiden hier wieder?“ Remsen deutete auf das Display seines Smartphones und zeigte dem Kellner nacheinander die Fotos der beiden. Hin und her; her und hin. Immer wieder.

„Ja, die waren gestern da; haben ganze Menü gehabt. Weißt du Antipasti della Casa, die Beste von de Küchechef, Risotti verschieden, ganz feine Schiena di agnello und eine Flasche Nero trinken. Die beste Wein musst du wissen; trinken alle mit Schlips. Ist nicht billig, weißt du. Conti Zecca, tre Bicchieri, phantastico.“

„Wann waren die beiden gestern hier und wie lange? Aber bitte Dottore, ich möchte nicht wissen, was sie gegessen und getrunken haben. Prego.“ Fast bettelte er um eine kurze Antwort.

„Signore, ja feine Herren; so um 7 Uhr Abend; dahinten in der Ecke; dort am Tisch waren sie. Ja, so gegen 7 Uhr.“

„Danke und wann sind die gegangen?“

„Die eine Mann hat telefoniert und ist dann gegangen. Schnell ist die Mann raus. Die andere war noch langer da und hat Wein getrunken. Hat einen Grappa von mir bekommen. Die Mann. War so allein und traurig.“

„Ok, der hier ist zuerst raus, ja?“ Remsen zeigte auf Abtowiz. Der Kellner bestätigte durch sein Nicken, dass Remsen richtig getippt hat. „Wann war das etwa, um welche Uhrzeit herum?“

Der Kellner dachte nach und tauschte sich auf Italienisch mit einem Kollegen aus, der gerade vorbeikam. „So um 9 Uhr, oder eher. Nicht so lange da. Weißt du, wir Italiener essen in Ruhe; das ist ganz wichtig wegen die Bauch. Die Deutsche immer so schnell essen, musst du Grappa trinken, sonst ganz schwer in Bauch.“

„Ja, ja. Wann ist dann der hier gegangen?“ Remsen hatte von dem Gequatsche so langsam genug und machte auf Tempo.

„Nicht lange, halb nach 9 so, denke ich.“ Das könnte passen: Weilham sagte aus, dass er gegen 22 Uhr zu Hause war. Seine Frau bestätigte das. Abtowiz ist eher raus, bekam vorher einen Anruf und ließ Weilham sitzen. Der Unfall passierte so gegen 22 Uhr; da war Abtowiz nicht mehr hier? Gestelltes Alibi? Und jetzt vergiss Jan, dass es ein Unfall war: Es war Mord. Vieles deutete darauf hin.

„Wer hat von beiden die Rechnung beglichen?“ Die Antwort könnte ein Hinweis über den Status der beiden Geschäftspartner untereinander sein.

„Hat die erste Mann gemacht. War gut Coperto. Sehr großzügig.“

„Gut, danke. Vielen Dank Sie haben mir geholfen.“ So überschwänglich geht Remsen eigentlich nie mit seinen Gesprächspartnern um. Aber hier musste er sein Gegenüber mit den gleichen Waffen bekämpfen, um wegzukommen.

Nur raus hier!

„Signore, einen feinen Grappa. Ist kalt draußen.“

Remsen ließ ihn stehen, grüßte recht freundlich und entfloh dem Temperament des italienischen Restaurantbesitzers. Wie hält man das nur den ganzen Tag aus? Wahrscheinlich arbeitet dort kein Deutscher? Und wenn ja, dann landet der sicher schneller in der Klapse, wir es jemals erlauben würden.

Schon von weitem öffnete er das Auto und ging langsam auf seinen Buick zu. Kurz davor blieb er stehen und grinste die Frontscheibe an: Remsen griff sich den Strafzettel der hinter dem Scheibenwischer geklemmt war und wollte ihn schon zerreißen. Er überlegte es sich anders und ließ ihn in die Jackentasche verschwinden. Vielleicht wird es doch noch etwas mit dem Abendessen und der Politesse seiner Wahl.

Im Auto sitzend startete er den Motor und beschloss, dass der Tag lang genug war.

Schüchterne Gestalten

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