Читать книгу Schüchterne Gestalten - Peter Bergmann - Страница 5
ОглавлениеSonntag, 14. November 2010, noch früh am Morgen
Es war noch dunkel. Remsen tapste schlafwandlerisch von seinem Bett in den Flur, um sein Telefon gegen die Wand zu… Nein, ich brauche es noch. Außerdem fiel ihm ein, dass er es sein würde, der die Scherben wegzukehren hätte. Das war für ihn das ausschlaggebende Argument, pfleglich mit dem kleinen Quälgeist umzugehen.
„Guten Hansi.“ Um diese Zeit hatte er seine Zunge einfach nicht im Griff; Aussetzer waren vorprogrammiert. Das muss der Anrufer schlicht verstehen.
Auf seinen ungeliebten Spitznamen war Hanns-Peter Ulrich überhaupt nicht gut zu sprechen. Ich bin doch kein Wellensittich, ist dann immer seine Antwort.
Meistens kanalisierte Remsen zu erwartende Wutausbrüche seines Kollegen mit der Frage: „Streikt etwa die Kaffeemaschine oder warum rufst du an?“
Ulrich musste sich zusammenreißen, um nicht ausfallend zu werden. „Heute Nacht gab es ein kleines Feuerwerk. War aber letztlich nicht allzu schlimm.“
„Falsch verbunden; hier ist die Mordkommission. Übrigens die einzige von Vesberg.“ Trotz dieser Tageszeit war Remsen doch langsam auf Temperatur und seinen Spaß.
„Weilham sen. hat’s getroffen. Es war eine Art Molotow Cocktail, der durch das vordere Fenster ins Haus geworfen wurde. Nein zwei; beide vorderen Fenster sind angegriffen und zertrümmert worden. Weilham's haben ihr Schlafzimmer im Obergeschoß, zur Seite raus. Die Frau Weilham, Cordula Weilham hat sich bei uns gemeldet und gesagt, dass sie einen schwarzen SUV wegfahren sah. Marke und Kennzeichen hatte sie nicht erkannt; nimmt aber an, dass es deutsche Kennzeichen waren. Wahrnehmung im Unterbewusstsein meinte sie wohl. Die Feuerwehr war schnell da und konnte das Ganze genauso schnell unter Kontrolle bringen. Hätte deutlich schlimmer ausgehen können.“
„Fertig?“ Remsen war es überhaupt nicht gewohnt, von seinem Partner so lange Vorträge zu hören. Noch besser; er tat sich um diese Uhrzeit und vor allem vor dem ersten Kaffee richtig schwer, irgendetwas aufzunehmen und vor allem das auch noch zu verarbeiten.
„Ok, Hanns, wo bist du, in der Arkadenstraße?“
„Nein, noch zu Hause, schon fast auf den Weg dahin. Treffen wir uns da?“
Remsen dachte kurz nach: „Fahr du mal zu der Weilham und bringe alles in Erfahrung. Ich knöpfe mir den Alten vor. Wir sehen uns dann später.“ Remsen wollte schon fast auflegen: „Ach ja, mach vorher den Abstecher zur W36 und lass uns deine Kaffeemaschine da.“
Unter der Dusche fragte er sich einmal mehr, warum er sich diesen verfluchten Job ausgesucht hatte. Das muss in einem Anflug von Wahnsinn oder Schwachsinn passiert sein; er konnte sich nicht mehr daran erinnern.
Freizeit? Fehlanzeige.
Beziehung? Äußerst schwierig.
Gesundheit? Lieber nicht danach fragen.
Anerkennung? Dieser Mensch müsste erst geboren werden.
Politesse wäre doch was für ihn oder wie sagt man da bei einem Mann? Hilfspolizist? Politeur? Egal, ich bin Bulle; ein richtig Guter noch dazu. Nach kurzem Nachdenken beschloss er, dass er den besten Job auf der Welt machen durfte.
Zum Glück hatte die kleine Bäckerei bei ihm um die Ecke vor einiger Zeit den Sonntagsverkauf eingeführt. So bestand eine reelle Chance auf warme Brötchen; vielleicht einen Kuchen und vor allem richtig guten Kaffee; Soll ich Ihnen wieder einen Bohnenkaffee machen, fragt ihn seine Lieblingsverkäuferin jedes Mal.
Mit einem Blick auf die Uhr verließ ihn kurzfristig die Hoffnung; um diese Zeit hatte auch seine Lieblingsbäckerei noch nicht auf. Die am Bahnhof vielleicht schon? Oder soll er schon wieder auf die Aufbackdinger an der nächsten Tanke zurückgreifen?
Alles zu weit und umständlich obendrein; er setzte eine andere, viel einfachere Idee einfach um. Remsen hielt seinen Buick im laufenden Motor direkt in der Einfahrt zur Bäckerei und hielt seine Nase in den Nachthimmel von Vesberg. Ja, da war er wieder, dieser unwiderstehliche Geruch nach frischen, noch warmen Brötchen. Okay, für den Bauch ist gesorgt; da war er sich sicher. Und sein Biorhythmus? Der braucht immer und jeden Tag seine Menge Koffein morgens.
Auf sein Klopfen hin wurde ihm aufgebaut; der Bäckergeselle kannte ihn nicht und wollte gleich wieder schließen.
„Du wirst doch einem alten Nachtbullen was zu essen geben wollen?“ Normalerweise machte er so etwas nicht gerne, aber jetzt ging es ausnahmsweise einmal um ihn selbst: Da war ihm jedes Mittel recht. Er zückte seinen Dienstausweis und schindete damit beim Knaben richtig Eindruck. Und schon war er in der warmen Backstube; gab seine Bestellung auf.
„Habt Ihr vielleicht schon, noch, also habt Ihr Kaffee, bezahl ihn auch.“
Beide Weißmützen schüttelten so energisch den Kopf, sodass Remsen einsah, dass er hier und jetzt keinen Kaffee bekommen wird. Er zahlte die Brötchen und den Kuchen und verschwand.
Wieder im Buick verbreitete sich der Geruch nach Backstube in seinem Auto. Er griff zu und hielt sich an der Brötchentüte nicht lange auf; der Kuchen blieb unangetastet. Die Soundanlage gab Velet Underground – Sunday Morning her; muss in den späten 60er Jahren gewesen sein. Sein Instinkt sorgte dafür, beim Verlassen der Wohnung noch schnell die CD zu greifen. John Cale, Lou Reed – hier in Vesberg in seinem fahrenden Castle. Schade, dass es bis zur Arkadenstraße nicht so weit war…
Kundoban kam ihm eher zufällig entgegen: „Sie ist schon da und wartet auf Sie“, war ihre spröde Art der Sonntagmorgenbegrüßung.
„Guten Morgen erst einmal. Gut geschlafen? Ausgeruht für heute?“ Remsen entging nicht, dass durch die offene Bürotür ein wunderbarer Kaffeegeruch den Flur vereinnahmte und Körper und Geist sich gemeinsam darauf freuten. „Wer wartet denn auf mich?“
„Frau Weilham natürlich.“ Kundoban war patzig ihm gegenüber. Auch sie hatte kaum geschlafen und wurde heute schon früh wieder in die W36 gerufen.
„Sie war ziemlich fertig und hatte schon mehrmals nach Ihnen gefragt.“
Remsen verlegte ich jetzt auf Zeitspiel, denn er brauchte seine Anlaufphase. Er marschierte in sein Büro und prüfte in der Kaffeeecke, ob Ulrich die Maschine auch wirklich vorbei gebracht hatte. Sie war da und passte so gar nicht in die Rumpelbude: So toll sah das gute Ding aus. Und wurde hier dringend gebraucht. Die Grünpflanzen befanden sich halb in der Sommerdürre, halb im Winterschlaf und sahen durchweg traurig aus; die spießigen Bilder aus der Zeit vor der Vereinigung und der überall drapierte Firlefanz machten aus dem Büro eher ein Begegnungszimmer für Nostalgiker, als ein Raum zum Arbeiten. Hier müsste man mal ... Nicht sein Problem; jetzt nicht!
Mit dem Kaffeetopf in der einen und einem Stück Kuchen in der anderen Hand schaute Remsen sich um, wer um diese frühe Morgenstunde schon anwesend war. Neben Kundoban und ihm selbst, war nur einer der Verstärkertruppe bereits am Abtippen der Ermittlungsprotokolle von gestern.
Und Ulrich natürlich. Aber der war schon wieder weg, weil er auftragsgemäß zur Weilham gefahren ist. Das ist unsinnig, fiel Remsen gerade auf. Der alte Weilham schläft hier im W36-Hotel und seine Frau sitzt im Vernehmungsraum. Da draußen wird Hansi wohl niemanden mehr antreffen…
„In welchem VR ist die Weilham?“ Kundoban stellte sich schon auf das Gespräch ein und klemmte die Unterlagen unterm Arm. Sie hielt auf Remsens Frage hin den linken Daumen hoch: „Im ersten, da ist immer die Heizung über die Nacht an.“
„Was für eine Verschwendung; das muss wieder der Steuerzahler tragen.“ Remsen ist trotz der frühen Morgenstunde der Meister im Austeilen. „Ist Ulrich beim Gespräch mit von der Partei?“
„Warum denn, der ist doch zur Weilham gefahren, wegen heute Nacht. Ich wüsste nicht, dass er schon wieder zurück ist.“
Jutta Kundoban hielt kurz inne und dachte nach. Dann war ihr klar, warum Remsen so herum eierte. „Die Eva Weilham wartet hier, nicht die Cordula Weilham. Gestern Abend war sie in der Pathologie und hat ihren Mann identifiziert. Das nicht aushaltend ist sie schreiend zusammengebrochen. Ihre ach so tolle Freundin hat das noch getoppt. Die gab schon beim Geruch von Desinfektionsmitteln auf; halten doch nichts mehr aus die jungen Ladys aus der Upperclass. High Heels an, jede Menge Schminke in der Visage und eine Widerstandskraft wie ein Stück Schokolade in der Sonne.“
„Und Sie Jutta sind aus anderem, aus kernigem Holz. Richtig?“ Remsen wunderte sich wieder einmal, dass seine Kollegin so selbstbewusst austeilen konnte.
Die aber ignorierte die Bemerkung von Remsen und ließ sich in ihrem Redefluss nicht beirren: „Die Weilham ist dann nebenan im Krankenhaus behandelt worden; aber nur kurz, denn sie wollte unbedingt noch mal ihren Mann sehen. Ihre Freundin hängt noch immer am Tropf. Ihre Besucherin, Jan, hatte einige Zeit bei ihrem Mann zugebracht und ziemlich geweint. Sie fragte irgendwann nach Ihnen und ist bestimmt schon gut zwei Stunden hier.“
„Gut, dann hat sie uns ganz sicher jede Menge zu erzählen. Könnten Sie bitte den Weilham in den VR3 bringen?“ Remsen drehte sich um und instruierte den eifrigen Jungen aus dem Verstärkerteam, der noch immer Vernehmungsprotokolle übertrug, mit Anweisungen.
„Auf geht’s. Mal sehen was wir Neues von der Frau Weilham erfahren. Die Geschichte mit dem Brandanschlag auf das Haus ihrer Schwiegereltern behalten wir vorerst für uns, verstanden?“
Kundoban nickte und folgte ihrem Chef, inzwischen auch mit einem Kaffee in der Hand, in den VR1.
„Guten Morgen Frau Weilham, schon auf den Beinen heute Morgen? Ich hoffe, es geht so?“ Remsen musste gleich sticheln, damit das Gespräch sofort aus dem Schlafmodus erwachte. Mit der Beantwortung seiner Fragen rechnete er ohnehin nicht.
„Ich will wissen, wie es passiert ist und wer es war. Verstehen Sie; wir haben uns geliebt, haben einen gemeinsamen Sohn und plötzlich ist das alles weg?“
„Warum weg Frau Weilham? Ihrem Sohn geht’s doch gut, oder nicht?“ Remsen gab sich nach hin außen besorgt, war aber ansonsten der Taktiker; wie immer bei Vernehmungen. Sie nickte nur kurz.
„Wie es passiert ist, können wir recht genau sagen. Aber warum es passiert ist und wer es war – das wissen wir noch nicht. Das würden wir gerne von Ihnen erfahren. Dürfen wir das Aufnahmegerät hier einschalten?“ Er deutete auf das Gerät in der Tischmitte. Nachdem Frau Weilham genickte, startete er die Aufnahme, nannte die Namen der Anwesenden und den Zeitpunkt zu Beginn der Aufzeichnung.
„Ich kann Ihnen nichts sagen. Carsten ist am Dienstag zu einer Dienstreise in die Ukraine aufgebrochen und wollte gestern Abend zurück sein. Er rief jeden Tag an und gab mir das Gefühl, wie sehr ich ihm fehle. Und, dass die Gespräche dort ganz verliefen; richtig erfolgreich aus seiner Sicht. Dabei habe ich mich doch so sehr auf seine Rückkehr gestern und auf das Wochenende zu Dritt gefreut.“ Sie war den Tränen wieder sehr nah.
Remsen musste gegensteuern, um mehr zu erfahren: „Na ja, gestern bei der Befragung wollten Sie sich noch von ihm scheiden lassen. Sie waren überzeugt davon, dass er eine andere hat. Sie erinnern sich?“
Eva Weilham stellte ihre Trauerarie kurz ein, sah verzweifelt Remsen und Kundoban an. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.
Kundoban versuchte es, von Frau zu Frau: „Haben Sie es gewusst oder nur vermutet, dass Ihr Mann eine Geliebte hatte? Ich meine, das spürt man als Frau doch, oder nicht?“
Remsen war das definitiv zu viel Gefühlsduselei. „Also, wenn da was dran war und ihr Mann eine Freundin hatte, dann kennen Sie doch sicher ihren Namen. Frauen sind immer so neugierig und bekommen das ganz bestimmt schneller raus, als ein Mann sich den Namen seiner Geliebten merken kann. Vor allem, wenn es mehrere sind.“ Der letzte Satz rutschte einfach so raus.
Kundoban sah ihn entsetzt an und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Wenn er sie nicht schon so gut kennen würde, hätte Remsen es nicht bemerkt. Es wäre auch egal gewesen, denn es hätte Remsens Strategie ohnehin nicht beeinflusst.
„Fakt ist, Ihr Mann saß gestern Abend mit einer jungen Frau im Auto. Schon schade, denn beide haben’s nicht überlebt.“ Remsen setzte sein trauriges Gesicht auf; es blieb beim Versuch.
Kundoban übernahm wieder: „Sie sagten, er war in der Ukraine. Das muss bei CodeWriter doch jemand gewusst haben. Georg Weilham? Karl Hausmann? Oder wer?“
Eva Weilham antwortete prompt und pikiert: „Keine Ahnung; ich weiß nicht, wer da mit wem spricht und wer von der Dienstreise und den Kunden etwas gewusst haben könnte.“ Sie schaute unentschlossen rum; „Und wer da neben meinem Mann im Auto saß – keine Ahnung.“
„Sie wissen dann auch nicht, wie die Firma hieß, die Ihr Mann besuchte?“ Weil Frau Weilham den Kopf schüttelte, machte Remsen weiter: „Okay, Sie warten schon recht lange hier auf mich: Ich höre dann mal, was Sie uns zu sagen haben.“
Der Ball lag wieder im Feld der Frau Weilham: „Von Ihnen will ich wissen, was passiert ist. Wer war das, verdammt noch mal.“ Wie es aussah, war sie gleich wieder vor einem Zusammenbruch.
Jutta Kundoban versuchte sie zu beruhigen. „Wissen Sie irgendwas von Konflikten oder von Feinden oder so, die Ihr Mann hatte? Sie haben doch sicher mit ihm über seine Arbeit gesprochen. Ihrem Schwiegervater gehört die Firma; Ihr Mann war der potentielle Nachfolger. Die Arbeit Ihres Mannes war Teil Ihres Lebens. Erzählen Sie uns, was Sie wissen. Alles, im Detail und ganz genau, egal wie lange es dauert.“ Nachdem Remsen auf seine Art Frust über den unergiebigen Verlauf der Befragung rausgelassen hat, schien Eva Weilham doch noch was loswerden zu wollen.
„Georg und Karl Hausmann, also die beiden Partner, verstehen sich schon länger nicht mehr. Georg hat sich aufgerieben und einen Zusammenbruch gehabt.“
Remsen unterbrach sie: „Das ist nicht neu für uns. Ihre Schwiegermutter war schon so frei und berichtete davon. Was hat das jetzt alles mit dem Mord an Ihrem Mann zu tun? Vermuten Sie da was?“
Die letzte Frage ignorierte Eva Weilham: „Hausmann war schon immer für eine Ausdehnung der Aktivitäten in Richtung Osteuropa. Spätestens seit dem Ausfall von Georg Anfang des Jahres war niemand mehr da, der mutig genug Hausmann davon abhielt. Carsten auch nicht. Er hat also angefangen, in Polen und anderen Ländern ein Netz von potenziellen Kunden und Geschäftspartnern aufzubauen; aber der große Wurf gelang nicht. Carsten kann nichts dafür; da drüben ist einfach vieles anders.“
„Wie lange ist Hausmann eigentlich schon im Urlaub?“
„Genau weiß ich es nicht, er müsste glaube ich noch eine Woche weg sein. Möglicherweise.“
Remsen nickte: „Dafür das Sie angeblich nicht viel von CodeWriter intern wissen, ist diese Angabe aber recht genau. Das überprüfen wir natürlich.“ Er ließ die Worte kurz einwirken und fragte nach: „Gab es zwischen Hausmann und Ihrem Mann Stress? Hatte er mal was davon erzählt? Führte Hausmann mit ihm einen Stellvertreterkrieg?“
„Kann schon sein … nein, ich glaube nicht. Nur die üblichen Meinungsverschiedenheiten, wie sie nun einmal in Unternehmen zwischen Chef und Mitarbeiter vorkommen. Hausmann fasste Carsten nicht gerade mit Samthandschuhen an, nur weil er der Sohn seines Partners war. Vielleicht gerade deshalb nicht. Wer weiß das schon. Aber darüber hinaus ging der Streit nicht.“
Jutta Kundoban fiel eine weitere Frage ein: „Sagen Sie: hat Ihr Mann Ihnen alles von CodeWriter erzählt? Hatten Sie das Gefühl, dass er offen mit Ihnen gesprochen hat?“ Sie betonte etwas eigenartig das Wort ‚Gefühl‘.
„Wissen Sie, ob Ihr Freund oder Ihr Mann Ihnen alles erzählt. Wer will das schon wissen? Ich glaube, dass Carsten ganz ehrlich war. Wie heißt es doch: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Ich glaube es für mich.“
Remsen sah auf die Uhr und deutete seiner Kollegin an, dass er vom Gespräch nichts mehr erwartete. Also verließ er den Vernehmungsraum und überließ es seiner Kollegin, diese Befragung zu Ende zu bringen.
Über die Hintertür trat er hinaus an die frische Luft. Es war November: Grauhell, nass, arschkalt und der Sonntag versprach, nicht besser zu werden, als der Sonnabend war.
Hausmann könnte ein Schlüssel in dem Fall sein, muss aber nicht. Was hätte er davon, Carsten Weilham nebst Freundin zu beseitigen? Ob ein Dauerstreit oder gar die drohende Nachfolgeregelung eine mögliche Ursache sein könnte? Hat Georg Weilham vielleicht schon was in diese Richtung unternommen und Hausmann wollte das verhindern? Was sollte er dagegen haben? Dafür gleich zwei Leichen in Kauf nehmen? Unwahrscheinlich. Vielleicht wusste der Mörder nicht, dass neben Weilham noch eine Frau im Auto saß. Trotzdem, wir brauchen Hausmann; der muss doch da unten auffindbar sein.
Weilham sen. hatte einen Zusammenbruch und ist bislang nur halb wiederhergestellt. So richtig fit sah der Junge gestern nicht aus. Er musste die Nachricht vom Tod seines Sohnes zu verkraften, war aber trotz allem ziemlich anfällig. Welchen Grund sollte der haben, seinen Sohn… Nein, das passt nicht. Gut, die hatten in den Wanderjahren von Carsten etwas Zoff; das ist heutzutage eher normal, denn den Leuten würde sonst was fehlen; die Hörner müssen abgestoßen werden. Nein, als Täter oder Mitwisser scheidet der Senior erst einmal aus.
Aber warum lügt der?
Welchen Grund dazu hat er?
Und was war das gestern Abend im Red Rooster?
Weilham geht doch nicht am Freitagabend mit Abtowiz essen, um ihn einen Tag später zu verhauen. Bringt Weilham seinen Geschäftspartner Abtowiz mit dem Tod seines Sohnes in Verbindung? Und wenn ja warum? Genug Stoff für eine weitere Fragestunde.
Der VR3 war im Gegensatz zum VR1 wie immer ungeheizt. Weilham saß auf einem Stuhl vor einem Kaffee. Er sah verdammt schlecht aus; wahrscheinlich schlecht geschlafen? Seine Kollegin Kundoban beschäftige sich gerade mit dem Aufnahmegerät.
„Guten Morgen.“ Remsen sah Weilham überhaupt nicht an, sondern deutete gleich auf ein Foto. Beim Eintreten hielt er es Weilham vor die Nase.
Ihm fiel ein, dass er die Formalien zur Befragung und zur Tonaufnahme noch klären musste, bevor er die Vernehmung beginnen konnte.
Nachdem das erledigt war, legte Remsen los: „Vielleicht kommen wir der Wahrheit heute etwas näher. Was halten Sie davon?“
Weilham sah sich das Foto ganz genau an, lehnte sich zurück und ließ sich mit der Antwort Zeit; zu viel, wie Remsen fand. „Und? Der Audi VES CW 500 gehört doch Ihrer Firma und der Fahrer ist Ihr Sohn Carsten Weilham? Wer könnte die Dame auf der Beifahrerseite sein?“
Langsam, ganz langsam und sehr leise begann Weilham.
„Karl hatte auf einem Anwendertreffen in Moskau Geschäftsleute aus Lemberg kennengelernt, die aus der Sicherheitsbranche waren und in der Ukraine investieren wollten. Unsere Software überzeugte sie scheinbar. Carsten war auch mit und konnte denen alles zeigen. Wir überwachen mit unserer Software nicht nur Türen und Fenster; wir können viel mehr. Die Standards in der Übertragungstechnik, wie die bekannten IP-Protokolle, haben wir adaptiert und weiter ausgebaut. Wir haben eigene Uni- und Multicast-Szenarien entwickelt mit denen wir völlig unterschiedliche Tunneltypen nutzen. Der Vorteil ist: alle IP-fähigen Geräte lassen sich damit absolut sicher, abgeschirmt und anonym nutzen. Wir brauchen nur von der Netzwerkadministration die entsprechenden Löcher, der Rest ist unsere Sache, ganz allein. Dann…“
„Bahnhof.“
Remsen setzte Weilham ein Stoppzeichen, da er und augenscheinlich auch seine irritierte Kollegin nichts verstanden haben. „Was heißt das jetzt übersetzt?“
„Unsere Kunden können von einem Leitstand aus alles überprüfen und steuern. Dieser kann im Unternehmen oder bei uns, abgeschirmt und in sicherer Umgebung, betrieben werden. Wenn zum Beispiel nachts oder an Wochenenden eine Tür oder ein Fenster aufgeht oder die Scheiben eingeschlagen werden, können speziell angebrachte Sensoren das genau registrieren und Alarm schlagen.“
Remsen dachte kurz nach: „Das ist aber nicht so einzigartig; das können viele andere auch. Ganz bestimmt.“
„Schon, aber wir konnten Wärmesensoren entwickeln, die Veränderungen außerhalb eines festgelegten Toleranzbereichs feststellen können. Das sind Geräte für die Thermografie, die IP-fähig sind, also mit einem Leitstand verbunden werden können. So etwas Ähnliches wie eine Wärmebild- oder Infrarotkamera; aber nur so ähnlich. Wenn sich ein Mensch in einem Raum aufhält, dann kann die ausgestrahlte Wärme aufgenommen und analysiert werden. Wir können sogar für jeden einzelnen Menschen Wärmeprofile erstellen und beispielsweise Sicherheitsleute aus der Überwachung herausnehmen. Jede andere Bewegung wird registriert und verfolgt. Mit sofortigen Eskalationen und Alarmen…“
‚Thanks fort the Information‘, Van Morrison; Mitte der 80er Jahre eine grandiose Platte; irgendwie ‚no guru…’ hieß das Album; phantastisch, sollte ich mir heute Abend gönnen. Merk dir das Mal Jan.
„Und das ist die hohe Kunst von CodeWriter?“ Remsen blieb skeptisch; einerseits, weil er sich noch immer schwer tat, etwas zu verstehen; andererseits weil das Ganze sicher auch andere können, die Software für Sicherheitsfirmen entwickeln.
„Sicher. Wir haben das so weit getrieben, dass wir sämtliche Kartenleser, Türöffner und Zahlenschlösser mit in die Überwachung integriert haben; inklusive von Videoaufzeichnungen. Das ist rundum perfekt und erlaubt Sicherheitsfirmen, mit wenig Personal hochgradig effektiv Baustellen, unbewachte Fuhrparks oder Parkhäuser, Gewerbegrundstücke und universelle Gebäude wie Werkhallen oder Bürohäuser zu überwachen.“
„Dafür interessieren sich Kunden aus Osteuropa? Normalerweise verfügen die dort über genug Anabolika-Muskelprotze und jede Menge eigene Waffen. Technik ist doch für die ein absolutes Fremdwort. Old School, würde ich sagen.“
„Das denken Sie Herr Kommissar. Die Korruption dort ist weit verbreitet; unvorstellbar und vor allem undurchsichtig. Wenn jemand zum Beispiel einen Einbruch plant, dann besticht er einfach das Personal. Auf einen netten Nebenverdienst verzichtet dort niemand, das können Sie mir glauben. Je mehr ein Sicherheitsunternehmen auf Technik setzt, umso geringer wird das Problem der Bestechung. Klar, man könnte auch die Technik manipulieren; aber glauben Sie mir: Das hat bei uns noch niemand geschafft. Wir haben in der Entwicklung und während der Tests Nerds beauftragt, uns zu knacken. Selbst die Chaos Hacker haben es nicht geschafft. Für unsere Kunden ist das eine runde Sache; da nur ganz wenige die Software und die Technik wirklich verstehen, die Software ausgesprochen sicher ist und selbst die Übertragungswege nicht anzapfbar sind.“
„Gut. Aber wenn ich das richtig in Erinnerung habe, dann waren Sie doch immer gegen die Ausdehnung Ihrer Geschäfte in Osteuropa. Warum jetzt der Schwenk?“ Weilham rückt nicht mit der ganzen Wahrheit raus; dessen war sich Remsen ziemlich sicher.
„Wenn ich von Korruption spreche, dann betrifft es natürlich alle, die Deals dort machen wollen. Wer ist sich denn sicher, einen seriösen Gesprächspartner vor sich zu haben? Ist er von den Sicherheitsdiensten? Von welchem? Von der Mafia? Für wen arbeitet er? Wer weiß das schon? Gerade in der Sicherheitsbranche, da haben Sie sicher recht, regiert das Faustrecht und das Recht des Skrupellosen. Da können wir nur verlieren. Deswegen bin ich eigentlich dagegen gewesen.“
„Kommen wir zurück zu Ihrem angeblichen Kunden in der Ukraine. Wir hätten gerne den Firmennamen und die Adresse. Bekommen wir das hin?“
Weilham schaute etwas missmutig, nickte aber. „Zentrale Gebäudeüberwachung Lemberg heißt die Firma in Deutsch; hier ist die Visitenkarte vom Geschäftsführer dort.“ Er kramte aus seiner Jacke sein Etui mit den Karten hervor und buchstabierte den Firmennamen: ‚Штаб-квартира будівлю моніторингу Львів‘. Ein gewisser Dmytro Lypar. Karl setzte gleich nach seiner Rückkehr aus Moskau einen Privatdetektiv auf den an, um rauszubekommen, woher der kommt, wer seine Freunde sind usw. Negativ; der schien sauber zu sein, war früher so ein Apparatschik, sie wissen schon, Parteisoldat. Nicht auffällig, offensichtlich seriös.
„Die Karte können Sie uns doch sicher geben, ja Herr Weilham?“ Frau Kundoban ist erwacht und mischte wieder mit: „Wir werden das überprüfen. Zur Frau im Auto: Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte? Wer war sie?“
„Larissa irgendwie. Sie war dort so etwas wie eine Vertriebsmitarbeiterin. Carsten hat es letzte Woche geschafft und die Vertragsgespräche recht weit getrieben. Der Deal war, dass er Larissa mit nach Vesberg bringt und sie sich hier von CodeWriter einen Eindruck verschafft. Quasi als Vorbereitung auf den eigentlichen Besuch des Chefs. Herr Lypar wollte nächste oder übernächste Woche herkommen und den Kauf perfekt machen. Sie wissen ja selbst: in der Sicherheitsbranche kann man nicht vorsichtig genug sein. Das ist nicht nur bei uns so.“
„Larissa irgendwie? Genauer geht’s nicht?“ Remsen baute weiter Druck auf Weilham auf. Der aber schüttelte den Kopf und lieferte keine Antwort zur Frage.
„Jetzt würde mich noch interessieren, warum Sie uns angelogen haben, Herr Weilham. Das hat Ihnen immerhin jede Menge Ärger und eine Nacht hier bei uns eingebracht. Warum?“
Weilham war offensichtlich noch immer nicht bereit oder einfach nicht in der Lage, hierauf eine verwertbare Antwort zu geben. Nach einiger Bedenkzeit formulierte er es so: „Mit Safety Objects gibt es seit einiger Zeit Schwierigkeiten. Herr Abtowiz hat viele Kontakte nach Osteuropa und damit gedroht, dass wir dort kein Fuß auf den Boden bekommen. Deshalb wollten wir alle unsere Aktivitäten so geheim wie möglich halten. Das mussten wir auch, weil bei diesem Deal die Lemberger das ausdrücklich von uns verlangt haben. Wir sind dem nachgekommen, aber Abtowiz hat irgendwoher erfahren, dass wir in der Ukraine aktiv sind.“
„Moment mal: In der angespannten Situation waren Sie friedlich am Freitagabend mit ihm zum Essen? Das passt doch nicht zusammen. Was für Schwierigkeiten waren das?“
Remsen grübelte nach einer eigenen Erklärung, fand aber keine geeignete. Mal sehen, was Weilham liefern kann. „Er bat sogar darum; die Initiative ging von ihm aus. Als Geschäftsmann sollte niemand die Türen jemals komplett zuschlagen; meistens gibt es immer einen Weg zur Zusammenarbeit, auch wenn es manchmal schwierig ist. Aber dann drehte sich das Gespräch immer mehr um Osteuropa, den vielen Chancen und so. Ich hatte das Gefühl, dass er mich nur aushorchte. Ich fand das nicht gut und erklärte ihm das auch. Nach einem Telefonat hat er mich sitzengelassen und ist einfach gegangen.“
„Um ihn einen Tag später zusammenzuschlagen?“
„Abtowiz ist für CodeWriter ein Alptraum.“
„Glauben Sie, dass er etwas mit dem Mord an Ihrem Sohn zu tun hat? Aber bitte keine Ausflüchte Herr Weilham. Wir bekommen das sowieso raus.“
„Das kann niemand wissen. Aber da Sie mich fragen: Ja, ich traue dem das zu.“ Er schaute kurz auf seine Uhr: „War es das jetzt?“ Bei Weilham war jetzt nicht nur die Geduld, sondern auch die Kraft für weitere Fragen zu Ende. Er hoffte wohl, dass er nach Haus kann.
Remsen überlegte, ob er ihn jetzt mit dem Anschlag auf sein Haus konfrontieren sollte. Er schien abzuwägen, was mehr bringen würde: Ihm das jetzt zu sagen oder es darauf ankommen lassen, bis er zu Hause sieht, was passiert ist. Und ihm war noch immer nicht klar, um welche Schwierigkeiten es sich zwischen CodeWriter und Safety Objects handelte.
Er machte Kundoban ein Zeichen, die Aufnahme zu beenden. Das tat sie dann auch, entnahm das Band und verschwand mit Remsen aus dem VR3.
„Kaffee? Ich habe sogar noch Kuchen mit, frisch vom Bäcker heute Morgen.“
Auch wenn Remsen es nie zugeben würde, aber jetzt wünschte er sich, dass Hansi von seinem Einsatz wieder zurück wär. Vielleicht gibt es inzwischen Neuigkeiten im Büro. Fehlanzeige, er war noch nicht zurück.
Remsen und Kundoban holten sich frischen Kaffee und suchten mit der Kuchentüte in der Hand Plätze in unmittelbarer Nähe des Kaffeeautomaten. Beide brauchten eine kleine Auszeit, mussten sich regenerieren und nachdenken.
Jetzt wussten sie mit ziemlicher Sicherheit, dass die Tote im Auto eine Ukrainerin war und wahrscheinlich auf den Name Larissa hörte. Jetzt ist auch bekannt, dass es Stress zwischen Abtowiz und Weilham, eigentlich zwei Geschäftspartnern, gab. Warum, das muss noch ergründet werden.
Wenn endlich Hanns-Peter aufkreuzen würde, könnten sie etwas über den Brandanschlag heute Nacht bei Weilham's erfahren.
„Nöthe? Haben Sie mal einen Moment Zeit?“ Remsen erspähte seinen Assistenten, wie er sich gerade ins Büro schleichen wollte.
„Ja klar, was kann ich für Sie tun?“ Benjamin Nöthe, der ewig eifrige und selten gute Assistent in seinem Team. Remsen hatte davon durchaus klare Vorstellungen: „Nöthe, ich möchte Sie morgen im Flieger nach Lemberg sehen.“
Nöthe schluckte heftig: „Ich kann doch überhaupt kein Russisch. Das Glück des Spätgeborenen.“
Kundoban grätschte dazwischen: „Dort wird Ukrainisch gesprochen.“
„Und wo ist der Unterschied? Kalaschnikow, Balakov, Nemiroff. Was ist daran so schwer Nöthe? Soll ich Ihnen das mal erklären?“ Remsen sah das wie immer nicht so eng.
„War Balakov nicht ein bulgarischer Fußballspieler?“ Nöthe schaute richtig unsicher drein und war sich über die Reaktion seines Chefs ganz sicher im Unklaren.
„Seien Sie nicht so kleinlich Nöthe. Das bisschen Russisch oder Ukrainisch bekommen Sie schon hin; haben ja noch einen ganzen Tag Zeit dazu. Hier ist die Karte eines gewissen Dmytro Lypar; Chef einer Sicherheitsfirma. Carsten Weilham hat die Firma letzte Woche in Lemberg besucht. Wie es aussieht, war die Tote, eine Larissa irgendwas, eine Angestellte dieser Firma und auf den Weg nach Vesberg, um eine Vertragsunterzeichnung vorzubereiten. Dieser sollte nächste Woche von diesem Lypar unterschrieben werden. Bekommen Sie alles raus; alles, was Carsten Weilham und CodeWriter mit denen gemacht und besprochen haben. Vielleicht haben die Ukrainer Weilham beschatten lassen; soll nicht ganz unüblich dort sein. Schon gar nicht in der Sicherheitsbranche; alles nur Paranoiden.“
Nöthe stand jetzt ziemlich unsicher rum und suchte krampfhaft nach Ausreden. Er hatte keine Lust dorthin zu fliegen und fürchtete sich davor, sich in einer fremden Sprache versuchen müssen.
Ein letzter, zaghafter Versuch „Vielleicht geht morgen kein Flieger dorthin…“
„Dann nehmen Sie den Zug, das Auto, Ihr Fahrrad, aber bewegen Sie Ihren Arsch dorthin. Und zwar morgen!“
Klare Ansagen waren schon immer Remsens Stärke, auch wenn seine Kollegin missbilligend zu ihm rüber schaute.
„Dann müsste ich erst mal schauen, ob dort jemand wenigstens Englisch kann. Deutsch darf man ja nicht voraussetzen.“
„Nöthe, besorgen Sie sich ein Wörterbuch, machen Sie diesen Lypar ausfindig und melden Sie sich für morgen zum Gespräch an. Denken Sie an unsere Brüder in Lemberg; die müssen Sie vorher informieren, sonst landen Sie für viele Jahre in Sibirien.“
Eine Steilvorlage für Jutta Kundoban: „Jan, Sibirien gehört zu Russland und nicht zur Ukraine“.
„Na und? Tauschen die nicht immer noch Gefangene aus, weil da in Sibirien die Lager leer stehen?“
Nöthe war jetzt richtig blass. Das lag bestimmt nicht nur an dem frühen Sonntagmorgen und an die kurze Nacht davor. Nöthe drehte plötzlich ganz schnell ab und suchte den weißen gefliesten Raum.
„Und Nöthe noch ein Tipp: Drug‘s sind dort nicht immer Freunde. Schön vorsichtig sein bei dem, was Sie sagen und was Sie naschen“, rief Remsen seinem fliehenden Assistenten hinterher.
Kundoban tadelte ihn: „Das war nicht nett. Der hat jetzt schon die Hose voll.“
Prof. Eilers warf einen Blick auf die Krankenakte des in der Nacht neu eingelieferten Patienten. Eilers ist Chef der chirurgischen Intensivstation im Universitätsklinikum Vesberg, die sich um mehrfach verletzte Unfallopfer kümmert. Je nach Schwere liegen die Verletzten für längere Zeit im Koma und werden nach Möglichkeit wiederhergestellt. Einen derart lebensbedrohlich verprügelten Patienten hatte selbst Prof. Eilers in seiner langen Laufbahn in der Intensivmedizin noch nicht gesehen. Er runzelt seine Stirn und scheint davon überzeugt, dass dieser Mann längere Zeit sein Gast sein wird; sofern der seine Verletzungen überlebt.
Als Sofortbehandlung wurden gleich nach der Einlieferung alle Organfunktionen auf Beeinträchtigungen hin untersucht. In den Intensivzimmern stehen mehr Rechner und Monitore als in jedem Rechenzentrum eines mittelgroßen Unternehmens. Der Patient ist an allen Versorgungs- und Kontrollgeräten angeschlossen, die dem Klinikum zur Verfügung standen. Jetzt befindet er sich in einem künstlichen medikamentösen Schlaf, allgemein auch als künstliches Koma bekannt. Die inneren Verletzungen sind mutmaßlich so schwerwiegend, dass Prof. Eilers dem Patienten nur eine mittlere bis minimale Überlebenschance einräumte. Wahrscheinlich werden die Schäden an Lunge und den Nieren schwer zu reparieren sein. Nur wenn der Patient stark genug ist, kann er es schaffen. Äußerlich schien der Mann in sehr guter Verfassung zu sein, durchtrainiert und kaum Fett am Körper. Ob das reicht, kann in dieser frühen Phase noch nicht abgeschätzt werden.
Mit seinem Team machte Prof. Eilers an diesem Morgen seinen Rundgang und Station im Intensivzimmer Nr. 3. „Wissen wir schon, wer er ist?“
Die diensthabende Schwester, die schon bei der Einlieferung mit dabei war, schüttelte den Kopf. „Gefunden wurde er gestern Abend, etwa gegen 22 Uhr in einer kleinen Sackgasse, unten an der Uferstraße. Er besaß keine Papiere, kein Portemonnaie und kein Geld bei sich. Wir haben keine Hinweise auf eine Identität gefunden.“
„Wer hat das gemeldet?“, wollte Prof. Eilers wissen.
„Im Protokoll der Samariter stand, dass es ein Anwohner war. Der war angeblich mit seinem Hund eine Runde gegangen und fand den Verletzten. Name und Adresse sind notiert. Der hier wurde richtig übel zusammengeschlagen. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
Der junge Arzt der Wochenendbereitschaft war sofort in der Aufnahme, als die Einlieferung avisiert wurde. Auch die Erstaufnahme stammte von ihm. Der Arzt setzte darauf eine Sofortoperation an und trommelte aus dem Klinikum die besten Ärzte zusammen. Auch nach Meinung von Prof. Eilers konnte damit das Leben des Mannes gerettet werden. Vorerst zumindest. Jetzt muss der sich im Koma erst einmal stabilisieren und danach zusammengeflickt werden. Ein langer, sehr langer Weg zurück ins normale Leben.
Prof. Eilers schmeckte es nicht, dass sich ein nahezu totgeschlagener Mann mit unbekannter Identität in seiner Obhut befindet. Aus Erfahrung weiß er, dass das immer mit jeder Menge Ärger verbunden ist. „Ist die Polizei informiert?“
Der Bereitschaftsarzt bestätigte, dass das ein Routinevorgang sei und gleichzeitig mit den Samaritern die Polizei in der Aufnahme war. „Die Jungs meinten, dass es sich um einen Ausländer, vielleicht Osteuropäer handeln könnte. Sie konnten mir aber nicht erklären, woher sie diese Ahnung hatten.“
„Kommen die noch mal vorbei? Gibt es eine Vermisstenmeldung oder so? Angehörige müssten doch merken, wenn ein Mann nachts nicht nach Hause kommt. Wie ein Obdachloser sieht der nun wahrlich nicht aus – oder?“ Prof. Eilers beschlich das mulmige Gefühl, dass mit fortschreitender Genesung und Vernehmungsfähigkeit des Patienten die Polizei Stammgast in seiner Station werden würde. Prinzipiell ist das für ihn kein Problem, aber schön ist es auch wieder nicht.
Die Stationsschwester schaltete sich in das Gespräch ein: „Soweit ich das mitbekommen habe, wusste die Polizei gestern Abend noch nichts von einer entsprechenden Vermisstenmeldung. Die tauchen bestimmt heute nochmal auf und werden sicher versuchen, mehr über unseren Unbekannten zu erfahren. Jetzt können wir nur abwarten und hoffen, dass er sich stabilisiert.“
„Gut, seht gut.“ Prof. Eilers deutete auf den Bereitschaftsarzt: „Sie informieren mich umgehend, wenn die Polizei wieder ist. Auch wenn ich nicht hier auf der Station bin; Sie melden sich auf jeden Fall bei mir. Wir müssen erreichen, dass die Polizei unseren Betrieb hier nicht behindert.“
Damit drehte der Professor ab und auf das Zimmer Nr. 4 zu.
Kriminalrat Karl Dietering empfand nach so vielen Dienstjahren kein Vergnügen mehr daran, dass er am Wochenende aktiv werden sollte. Gestern am Samstag war es noch ganz einfach: Er hatte Kriminaloberkommissar Ulrich den von ihm wenig geliebten Remsen an die Seite gestellt und sich von dem auf den Laufenden halten lassen. Nachdem Remsen gestern Abend ihn über den aktuellen Ermittlungsstand unterrichtete, entschloss er sich, am Sonntag selbst in die W36 zu fahren und sich persönlich über die Arbeit seiner Mordkommission zu informieren. Wahrscheinlich steht heute noch eine PK an, denn die Pressegeier haben sicher schon vom Unfall erfahren. Dass es Mord war, wusste außerhalb des Teams aber noch niemand. Hoffentlich!
Er fand Remsen und die Kriminalassistentin Kundoban beim angeregten Plauschen in der Kaffeeecke. Kaum ist man mal nicht im Haus, schon lässt die Ernsthaftigkeit und das Engagement zu wünschen übrig. Dietering dachte sich seinen Teil und daran, dass Remsen keinen ruhigen Sonntag haben wird.
Remsen sah ihn kommen und fand, dass der Sonntag bisher ausgesprochen ruhig war. Das würde ab jetzt ändern und fragte sich, warum ihm plötzlich Van Morrison, „Hymns to the Silence“, in den Sinn kam. Eine Platte, die erst kürzlich aufgelegt und immer wieder und wieder hörte. Stimmt, auf der einen Platte dieser Doppelausgabe erinnerte er sich an „Village Idiot“: kurz und knapp: Trottel.
Immer diese nicht einfangbaren Assoziationen. Jan, mit dir wird’s noch einmal böse enden.
„Ach guten Morgen Herr Kriminalrat.“
Remsen machte noch nicht einmal Anstalten aufzustehen, um seinen Chef an einem Sonntagvormittag zu würdigen. „Setzen Sie sich doch zu uns, wir haben den allerbesten Kaffee in der W36 und sogar noch Kuchen von meinem Bäcker um die Ecke. Möchten Sie?“
„Kriminalhauptkommissar Remsen, wir sehen uns in meinem Büro. Umgehend, wenn ich bitten dar. Sie kommen bitte mit.“ Kriminalrat Dietering deutete auf Jutta Kundoban, die einen virtuellen Kampf mit Ihrer Kaffeetasse führte. Irgendwie sah man auch ihr an, was ihr Kollege Remsen von der Störung und der an ihm herangetragenen Besuchsaufforderung hielt. Sie nickte nur und konzentrierte sich auf den nächsten Schluck.
Im Büro des Kriminalrats Dietering bat dieser, seine Besucher Platz zu nehmen.
„Heute Nachmittag müssen wir eine PK ansetzen; die Medien haben schon Wind von dem Unfall bekommen. Lange können wir nicht mehr verhindern, dass es Mord war. Übernehmen Sie das Remsen?“
„Aber nur, wenn Sie mich begleiten Chef. Wie es aussieht, wird die Geschichte größere Kreise ziehen und einigen Rummel verursachen. Beide Toten waren auf dem Rückweg von einer Geschäftsreise aus der Ukraine. Dort führte Carsten Weilham mit einem potentiellen Kunden, einer Sicherheitsfirma aus Lemberg, Gespräche. Die waren wohl schon so weit, dass die Account Managerin der Ukrainer mit hierhergekommen ist, um sich die Firma CodeWriter genauer anzuschauen. Als Vorhut sozusagen, bevor die Chefs kommen und die Verträge unterschrieben werden.“
„Was macht CodeWriter? Ich kenne die Firma nicht. Sind die aus der Ukraine?“
Jutta Kundoban übernahm die Beantwortung der Frage: „Die sind hier in Vesberg ansässig und entwickeln Software für Überwachungsfirmen. Nicht allzu groß, aber doch recht erfolgreich und stabil im Geschäft. Die Interessenten aus Lemberg waren oder sind es vielleicht immer noch, Neukunden für CodeWriter.“
„Das klinkt nicht gut. Internationale Verwicklungen können wir uns hier nicht gebrauchen. Wo wir doch auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, gerade im wirtschaftlichen Bereich, angewiesen sind. Wenn rauskommt, dass eine Ausländerin hier ermordet wurde, fragen nicht nur die Medien ganz genau nach.“
„Bei allem Respekt Chef, das kann uns nicht interessieren. Wir haben zwei Tote, die gewaltsam um die Ecke gebracht wurden. Etwas stümperhaft wie es aussieht, aber effektiv.“
Dietering und Kundoban sahen ihren Kollegen leicht entsetzt an.
„Na ja, wenn man das Ergebnis betrachtet war es ganz sicher effektiv – oder nicht?“ Remsen musste was sagen.
„Herr Remsen, einen Mord mit effektiv zu beschreiben würde ja bedeuten, man könnte ihn in ein Lehrbuch für Nachahmer aufnehmen. Ist das nicht etwas sarkastisch?“
Der Ermittlungsleiter ging nicht weiter darauf ein und resümierte weiter: „Der alte Weilham, einer der beiden Chefs von CodeWriter, hat bis vorhin ein Spielchen mit uns gespielt und uns angelogen. Angeblich wäre sein Sohn bei einem Kunden in Berlin und nicht in der Ukraine gewesen. Dass die schöne Larissa neben dem saß, aus der Ukraine stammte und jetzt auch tot ist, konnte oder wollte er uns nicht erklären. Erst als wir ihm ein Beweisfoto vorgelegt haben, fing er an zu erzählen.“
„Was für ein Beweisfoto?“, wollte Dietering wissen.
„Grenzübertritt gestern Abend, exakt 21:07 Uhr. Mit dem Audi der CodeWriter VES CW 500 und mit der Beifahrerin. Weilham wusste ganz genau, wo sein Sohn die letzten Tage war. Nur wir sollten es möglichst nicht erfahren.“
„Danke Frau Kundoban für die Informationen. Haben wir noch etwas, was wir in der PK erzählen können?“
„Heute Nacht gab es einen Brandanschlag auf das Haus der Weilham's. Es ist aber nicht viel passiert, Cordula Weilham informierte sehr schnell die Feuerwehr und dann uns. Den Weilham behielten wir im Gewahrsam. Ulrich war heute Morgen rausgefahren und bisher aber noch nicht zurück. Vielleicht findet er Anhaltspunkte, wer das gewesen sein könnte. Die Medien fragen bestimmt danach, kann ich mir gut vorstellen.“
Dietering war klar, worauf Remsen hinaus holte: „Trotzdem; Sie kommen mit in die PK. Lassen Sie sich vorher von Ulrich alles erzählen; wir legen dann fest, was wir rauslassen.“
Es entstand eine Pause, in der alle drei so taten, als waren sie mit den Unterlagen beschäftigt, die sie jeweils vor sich hatten.
„Noch was?“
Remsen war jetzt wieder dran: „Weilham traf sich am Freitagabend mit einem Menschen, namens Abtowiz zum Essen...“
„Abto... wer?“
„Igor Abtowiz, Inhaber der Firma „Safety Objects. Eine Überwachungsfirma: Gebäude allgemein, Büros und Gewerbeparks, Parkhäuser und so weiter. Klingt etwas abenteuerlich, aber Abtowiz ist Pole und kein Russe. Und er hat aktuell zumindest eine weiße Weste. Safety Objects ist Kunde der CodeWriter und nutzt deren Software. Für Abtowiz haben die anscheinend jede Menge besondere Wünsche eingearbeitet, was wohl nicht reibungslos geklappt hat.“
Jetzt war Jutta Kundoban etwas konsterniert, denn die letzte Information kannte sie bislang nicht.
„War das die Ursache des angeblichen Streits zwischen den beiden?“
Remsen sah ein, dass er etwas aufklären musste: „Ich hatte gestern Abend Abtowiz angerufen und ihn ins Red Rooster bestellt. Natürlich musste ich mir eine Geschichte ausdenken, damit er neugierig wird und wirklich erscheint. Der Trick mit der Gegenüberstellung hat funktioniert.“
„Und das war dann diese Softwaregeschichte?“ Kriminalrat Dietering fand noch immer nicht den Anfang des Fadens, den Remsen schon eine gewisse Zeit spann.
„Nein, nein. Abrechnungsbetrug bei Spesen und vor allem Restaurantrechnungen mussten herhalten. Weil die beiden einen Tag vorher zusammen beim Italiener waren, hat Abtowiz offensichtlich kalte Füße bekommen und sich gleich über Weilham und CodeWriter ausgelassen.“
„Frau Kundoban, kümmern Sie sich doch bitte mal darum, was an dem Streit zwischen diesen beiden Unternehmen dran ist. Vielleicht hilft uns das weiter.“ Kriminalrat Dietering war in seinem Büro ganz der Chef und verteilte munter Aufträge.
„Das bringt uns heute in der PK keine Punkte. Noch nicht.“ Remsen empfand keinerlei Lust, sich auf dieses dünne Eis zu begeben und auf messerscharf gestellte Fragen der Journalisten keine brauchbaren Antworten parat zu haben.
„Das weiß ich Remsen. Was haben wir noch an Informationen, die wir ohne Probleme weitergeben können?“
Da beide Ermittler schwiegen und nicht den Eindruck vermittelten, weitere Fakten beisteuern zu können, richtete sich Dietering auf eine kurze PK ein. Sofern nicht Ulrich noch etwas Brauchbares bis dahin liefert.
„Okay, schaffen Sie mir den Ulrich herbei. Ich möchte Sie beide gegen halb vier hier in meinem Büro haben. Um 16:00 Uhr gehen wir vor die Presse. Und Remsen: Eine Rasur wäre bis dahin nicht schlecht. Vielleicht finden Sie noch eine vorzeigbare Krawatte.“
Ja Sepp, dachte sich Remsen, als er gemeinsam mit seiner Kollegin das Weite suchte. Ohne sich vorher nicht noch einmal zu seinem Chef umzudrehen: „Mein Typberater hat mich eindringlich davor gewarnt, Krawatten zu tragen. Wollen Sie seine Telefonnummer haben?“
Nachdem Dietering allein war, überlegte er, was noch tun könnte. Da er nun einmal schon im Büro war, sollten seiner Meinung nach auch andere keinen ruhigen Sonntag haben. Er suchte auf seinem Smartphone den Eintrag vom zuständigen Staatsanwalt, um ihn prophylaktisch zu informieren oder schlicht dem die Sonntagsruhe zu nehmen. Melden macht frei und belastet andere. Ein probates Mittel, um mögliche Angriffsflächen gar nicht erst anzubieten.
Nach einigem Klingeln nahm jemand auf der Gegenseite den Anruf entgegen: „Stiegermann hier.“
„Hallo Torsten, Karl Dietering. Muss dich leider stören, auch wenn es Sonntag ist. Vielleicht hast du schon gehört; wir haben einen Mordfall an der Backe: Internationale organisierte Kriminalität. Hier in Vesberg.“
„Davon habe ich noch nichts gehört Karl. Was ist genau passiert? Erzähl.“ Stiegermann schien wirklich noch überhaupt nichts zu wissen. Davon war Dietering überzeugt. Also erzählte er dem Staatsanwalt die wenigen Dinge, von denen er bisher erfuhr.
„Seit wann wisst Ihr, dass es Mord war, Karl?“
„Um ehrlich zu sein, schon bald nach der Besichtigung des Tatorts am Freitagabend. Zumindest äußerte Dr. Ansbaum recht schnell die Vermutung, die sich gestern dann bestätigte.“
„Sag mal, du willst mir erklären, dass Ihr seit gestern wisst, dass wir einen Mord mit zwei Toten haben und Ihr habt mich davon nicht unterrichtet.“ Was ganz ruhig begann, entwickelte sich bei Stiegermann zu einem echten Schreianfall. Trotz Sonntagnachmittag.
„Karl, kann ich mich überhaupt nicht mehr auf dich verlassen?“
Dietering brachte kein Interesse auf, ein Kräftemessen an einem Sonntag und am Telefon zu veranstalten. „Wenn du aufhören würdest so rumzuschreien und deinen Arsch hierher bewegen könntest, wären wir schon weiter. Die PK mit der Meute steigt nicht ohne dich. Um 16 Uhr, um ganz genau zu sein.“ Dietering drückte das Gespräch weg und warf sein Telefon auf das Sofa in seinem Büro.
Er selbst plumpste hinterher und fühlte sich genervt.
In Delft war die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Diese Dilettanten sind noch nicht einmal in der Lage, ein Haus nebst Bewohner abzufackeln. Einfach nur einen Auftrag auszuführen; ist das zu viel verlangt?
Der Plan war gestern Nacht gründlich schief gegangen. Dabei bestand er immer darauf, nur echten Profis den Auftrag zu geben. Aber nein, er ließ sich breitschlagen und griff schlussendlich auf unbekanntes Personal zurück.
Wird er alt und weich?
Auf einmal?
Oder kommt das schleichend?
Das kennt er nicht von sich. Seine Pläne zieht er in der Regel ohne Gezeter durch. Bisher war das immer so, sonst wäre er nie so weit gekommen.
Nicht mit mir Kollegen.
Was soll er jetzt tun?
Ihm läuft die Zeit davon.
Wem kann er jetzt noch vertrauen?
Er braucht eine Idee, schnell und gut.
Jetzt!
Sofort!
Aufgeregt lief er seinem Büro herum. Das könnte eher als kleines Rechenzentrum durchgehen. Der Raum war vollgestopft mit Servern, Monitoren, Kabeln und jede Menge Telefonen.
Eine Lösung muss her, sofort!
Er schaute wiederholt auf seinen Monitor und sah, dass der Schaden an beiden Fenstern von Weilham's Wohnhaus notdürftig behoben wurde. Auch im Haus drinnen scheinen die Beeinträchtigungen nicht so groß zu sein. Das Haus ist bewohnbar.
Entsetzt sah er auf seinen Monitoren, dass die Alte von Georg Weilham unversehrt mit einem Polizisten und offensichtlichen Handwerkern von außen die Schäden der Molotov-Cocktails begutachtete. Richtig erbost war er, als er Weilham putz und munter aus einem Taxi aussteigen sah.
Dabei ordnete er an, wirksamere Waffen zu verwenden; vom ihm aus Handgranaten. Von Weilham und der CodeWriter-Pest hatte er den Hals gestrichen voll.
Jetzt Ruhe bewahren.
Was war mit seinem Plan C?
Er goss sich einen doppelten Malt ein und ließ das hellbraune flüssige Gold über seinen Gaumen genüsslich in die Kehle fließen. Sofort stellte sich ein wärmendes und wohliges Gefühl ein. Augenscheinlich korrigierte der zweite Schluck seinen Puls auf beruhigendes Betriebsniveau.
Jetzt ist Nachdenken angesagt.
Er dachte über seinen Sicherheitsplan nach. Ein Plan, gedacht als Fallback-Taktik.
Für alle Fälle.
Für den Notfall.
Ist der jetzt eingetreten? Er sinnierte darüber und befand: Ja! Die Zeit drängte und Weilham ist noch immer der Störfaktor.
Als er seinen leistungsfähigen Rechner und die Kryptologie-Programme gestartete, gab er seine individuellen Eingangsinformationen ein. Stolz war er auf seine kryptografische Hashfunktion, die definitiv nur eindimensional verwendbar und niemals nachvollziehbar sein wird. Den HMAC lässt er zusätzlich mit zufälligen Kompressionsverfahren ermitteln. So ist nie ein Anruf, keine einzige Aktivität seinerseits durch niemanden nach verfolgbar. Selbstverständlich benutzte er dynamische Routing- und Anonymisierungsverfahren, um definitiv auszuschließen, dass er jemals lokalisiert werden konnte.
Obwohl er wusste, dass die Berechnungsverfahren trotz seines im Giga-Flop Bereich arbeitenden Rechners etwas länger dauerten, wurde er unruhig. Als aber die Töne des Wählverfahrens hörbar wurden – er war ein hoffnungsloser Nostalgiker und konnte auf die analogen Geräusche des Verbindungsaufbaus der Uralt-Telefonie nicht verzichten – konzentrierte er sich auf seine Botschaften.
Auf der Gegenseite nahm nach genau zweiminütigem Klingeln jemand ab: „Ja, hallo.“
„Wie abgesprochen. Holt sie euch und macht es hinter der Grenze.“
Soweit die knappe Anweisung. Weiteres war dem nicht hinzuzufügen.
„Überall ist Polizei. Wir kommen unbeobachtet nicht an die ran. Das Haus wird bewacht.“ Der Angerufene klang richtig verzweifelt und suchte nach Ausreden, um den erneuten Auftrag nicht ausführen zu müssen.
„Nicht mein Problem. Ich erwarte Vollzugsmeldung morgen früh. Wenn nicht, dann hole ich dich. Ich finde dich überall.“ Er legte auf und war zufrieden. Sie wussten nicht, wer er war und wer sie drängt, solch einen riskanten Auftrag zu erledigen. Diese Ahnungslosen; sollen sie doch im Ungewissen bleiben.
Nein, zufrieden sieht anders aus. Aber vorerst konnte er nichts mehr tun, also musste er sich mit dem begnügen, was er jetzt in die Wege geleitet hatte.
Bis morgen musste er warten und sich in Geduld üben.
Aber, wenn wieder nicht…
„Ulrich, was konnten Sie über den Anschlag noch rausbekommen?“
Dietering und Ulrich saßen im Büro des Kriminalrats. Nur Remsen widersetzte sich der mehrmaligen Aufforderung, stand am Fensterbrett angelehnt und schaute ausdruckslos auf die beiden. Er musste seinem Chef beweisen, dass er, Remsen immer noch derjenige ist, der mit genialen Ideen die beste Aufklärungsrate für sich reklamieren kann. Das sollte der Sepp nie vergessen.
Außer die üblichen Informationen über Zeitpunkt, Beobachtungen und Befragungen in der Nachbarschaft und der Begutachtung des Schadens, kam von Ulrich nicht viel. Dafür ergoss er sich in Spekulationen, die das Ergebnis des Einsatzes des Kriminaloberkommissars nicht wirklich aufbesserten.
„Sie machen einen Sonntagsausflug auf Kosten der Steuerzahler und liefern nichts? Ulrich, da habe ich mehr erwartet. Was sollen wir nachher der Presse erzählen? Spekulationen weitergeben, oder was?“
Ulrich sank auf seinem Stuhl immer mehr zusammen und konnte dem nichts entgegnen. Soll doch der Chef ihn abkanzeln: Wo nichts war, wollte er auch nichts erfinden. Dietering muss sich damit abfinden, dass weder die Weilham noch irgendein Nachbar mitten in der Nacht irgendetwas beobachteten.
So war es eben, basta!
Wenn es ganz eng wird, hilft auch Murphy nicht: Das hier ist eine Katastrophe für ihn. Zum Glück gab es jemanden, der ausnahmsweise mal nicht das Falsche machte. Eine Negation des Gesetzes von Murphy?
Ohne Anklopfen flog die Tür des Büros auf und Staatsanwalt Stiegermann trat ein. Wie es seine Art war, erwartete er, dass alle Anwesenden ihm die Aufmerksamkeit schenkten. Sein Auftritt. Als Erster drehte sich jedoch Remsen um und schaute aus dem Fenster; hinaus in den mausgrauen Novembersonntag. Leck mich, mehr fiel Remsen nicht ein.
Torsten Stiegermann galt als Überflieger in der Staatsanwaltschaft. Hier in Vesberg sah er seine Aufgabe nur als Übergang an. Kurzfristig und immer auf dem Sprung nach Größerem. Er verspürte keinerlei Lust, einen Tag länger als nötig auf diesem Provinzposten zu verharren. So ging er recht rigoros in seiner Arbeit vor und scheute sich durchaus nicht, auch mal die Falschen anzuklagen. Hauptsache für ihn war, dass seine Ermittler eine hohe Aufklärungsquote lieferten und er fleißig anklagen konnte.
In der Zeit der damaligen DDR konnte er Jura studieren. Ein Privileg, welches nur wenige genießen durften. Remsen kümmerte sich eigentlich nie darum, was Stiegermann früher so gemacht hatte. Es interessierte ihn schlicht nicht. Der Mann interessierte ihn ganz und gar nicht. Und er hätte auch nichts dagegen, wenn Stiegermann morgen nach Berlin oder Timbuktu versetzt werden würde. Wichtigtuer, Lackaffe mit eher primitiven Showfähigkeiten. Die bislang wenigen gemeinsamen Auftritte bei Pressekonferenzen und Gerichtsverhandlungen waren es wert, in einem Fortsetzungsroman erwähnt zu werden. Während Remsen Stiegermann überhaupt nicht akzeptierte und auch nicht mehr vorsah, das zu ändern, wusste zumindest der Staatsanwalt, dass er ohne die oft grenzgeniale Vorarbeit von Remsen nicht so blendend dastehen würde, wo er heute ist: immer mit einer Hand an der nächsten Sprosse der Karriereleiter.
„Was haben wir Greifbares? Können wir den Pressefutzis genug anbieten?“ Sein Blick schweifte durch den Raum und blieb zunächst beim Kriminalrat Dietering hängen. Der Ranghöchste war immer sein erstes Opfer, bevor er gerne den anderen Ermittlern dessen Grenzen aufzeigte. Nur die Anwesenheit von Remsen behagte ihm überhaupt nicht.
„Guten Tag Herr Stiegermann“, Dietering war im Dienst immer förmlich, während sich beide privat duzten. Da war mal ein Grillabend, den Kriminaloberkommissar Ulrich gegeben hat, mit jeder Menge Bier und viel Hochprozentigem, da haben sich beide auf das ‚Du‘ geeignet; halbherzig, wie es heutzutage üblich ist.
„Wir wissen wer die beiden Toten sind, können den Tathergang rekonstruieren und wissen auch, dass die beiden am Freitagabend über den Autobahn-Grenzübergang nach Deutschland eingereist sind.“ Viel mehr bot Dietering nicht.
„Russin“, lieferte Remsen nach, da sein Chef diese wichtige Information vergessen hatte.
„Ukrainerin, wie wir inzwischen wissen Jan. Carsten Weilham, so der Name des Toten war im Auftrag seiner Firma CodeWriter in Lemberg, um ein Geschäft dort einzufädeln. Das war offensichtlich so weit, dass die Account Managerin des neuen Kunden gleich mit zurück nach Vesberg gekommen ist, um die Vertragsunterzeichnung vorzubereiten. Das war die zweite Tote.“ Jetzt war es an Hanns-Peter Ulrich, einen weiteren Erkenntnisbaustein beizusteuern.
„Und das ist alles?“, wollte der Staatsanwalt wissen.
Dietering übernahm jetzt wieder das Zepter: „Auf das Haus des Vaters von dem Toten, Georg Weilham, ist in der Nacht ein Brandanschlag verübt worden. Das Ganze wurde von der Straßenseite des Hauses aus, gleich durch zwei Fenster, versucht; führte aber letztlich nur zu geringem Schaden. Offensichtlich sollte Weilham sen. beiseitegeschafft werden. Ob beide Taten miteinander im Zusammenhang stehen, wissen wir noch nicht.“
Staatsanwalt Stiegermann war es inzwischen anzusehen, dass sein Puls bedrohliche Frequenzen angenommen haben muss. Gestik und Gesichtsfarbe deuteten auf einen baldigen Ausbruch hin.
„Sind Sie denn hier alle bekloppt? Für was bezahlt sie der Steuerzahler eigentlich? Seit 48 Stunden haben wir zwei Tote und sie haben noch immer keine Ahnung, wer dahintersteckt. Was machen sie eigentlich den ganzen Tag? Soviel Ablenkung hat Vesberg doch gar nicht zu bieten. Wir haben gleich eine PK und nichts zu liefern. Ich nehme sie mir alle einzeln vor.“
Stiegermann nahm sich eine kurze Pause, um nicht minder leiser weiterzumachen. „Sie sind die längste Zeit in der Mordkommission gewesen. Remsen, sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede.“
Remsen zeigte sich unbeeindruckt und hegte keinerlei Ambitionen, seine deutlich sichtbar ablehnende Position am Fenster zu ändern oder gar aufzugeben: „Ein Gespräch findet mindestens zwischen zwei Personen statt. Bisher haben Sie hier nur rumgeschrien. Ich für meinen Teil beteilige mich nicht an ein Gespräch; mit Ihnen gleich gar nicht. Sir, bei allem Respekt.“
„40 bitte; 40 Stunden ist die Tat etwa her, dazwischen zwei Nächte und ein ganzes Wochenende.“ Kriminaloberkommissar Ulrich setzte auf Deeskalation, wohlwissend, dass auch er noch nicht mehr Informationen zur Aufklärung beisteuern konnte.
„Wir haben eine PK, mit Fernsehen. Heute Abend sehen die da draußen, wie dilettantisch die Mordkommission in Vesberg arbeitet. Und ich soll das vertreten?“
Wenn Stiegermann so weitermachte, kollabiert der Mensch und die PK findet tatsächlich ohne ihn statt. Eine amüsante Vorstellung, wie Remsen fand, denn prinzipiell gehört ein schreiender Staatsanwalt nicht in die Öffentlichkeit. „Hören Sie: Die Tote ist eine Ukrainerin. Gleich den großen Fall dahinter zu vermuten, klingt eher nach Karrieregeilheit. Vielleicht war das ein Auftragsmord von jemandem, der mit CodeWriter oder dem Weilham über Kreuz lag. Wir haben das Umfeld ausgeleuchtet und noch nicht viel gefunden. Weilham's Frau, ich meine die Junge, sprach von einer intakten Familie und ein Umfeld mit dem üblichen Stress.“
„Remsen, das klingt ja alles ganz toll. Darf ich das der Presse nachher erzählen?“
„Das kann der Herr Krimimalrat machen, der hätte nicht so viele Probleme damit. Wenn Sie aber auf Fahndungserfolge aus sind, die Sie verkaufen wollen, dann denken Sie sich was aus. Meinen Segen haben Sie dabei jedenfalls nicht.“ Remsen fand Gefallen an dem Spiel und trieb inzwischen Stiegermann vor sich her. Nur merkte der das noch nicht.
„Vergessen Sie es Remsen. Sie machen da. Ich will Sie dort oben auf der Bühne haben. Sie werden Rede und Antwort stehen und schön auf die Fragen antworten. Zeigen Sie der Öffentlichkeit, wie wenig Sie an zwei Tagen zustande bringen. Versager.“ Man sollte Stiegermann irgendwelche Tabletten besorgen; die könnte er bei dem roten Kopf jetzt gut brauchen, befand Remsen.
Die anderen im Raum haben sich wohlweislich aus dem Streit herausgehalten. Entweder trauten sich Ulrich und Dietering nicht, dem Staatsanwalt Paroli zu bieten oder aber sie waren selbst mit der bisherigen Arbeit nicht zufrieden und hatten für den Streit nicht das richtige Blatt. Soll Remsen doch den ‚Bad Guy‘ spielen und allein den Schutzwall für die Mordkommission bilden. Immerhin ist er deren Leiter.
Der legte aber kräftig nach. „Während Sie Herr Staatsanwalt den Sonnabend im Wellnesstrakt eines Bordells hinter der Grenze verbracht haben, haben wir noch nicht einmal die eigenen Betten seit Freitagabend gesehen. Die Gerichtsmedizin hat gestern ganze Arbeit geleistet und uns ganz genau die Todesursachen erläutert. Wir haben die letzten Tage des Toten, sein Umfeld, seine Freunde und Feinde beleuchtet. Alles harte Polizeiarbeit, Herr Staatsanwalt. Nichts, aber auch gar nichts wird uns geschenkt. Was meinen Sie, wie viele Leute da draußen für uns Akten studieren, Informationen auswerten und Protokolle verfassen. Haben Sie jemals den Stallgeruch von Ermittlungsarbeit in der Nase gehabt?“
„Was interessiert mich Ihr Stallgeruch? Sie könnten übrigens durchaus mal eine Dusche vertragen, Remsen.“
Remsen drehte sich jetzt tatsächlich um und sah sein Gegenüber ins Gesicht. Er starrte ihn verächtlich an und machte Stiegermann damit klar, was er von ihm hielt.
„Wenn Sie bei der PK schmückendes Beiwerk brauchen, dann bedienen Sie sich draußen im Gewerbegebiet-Nord. Da im Thai-Puff werden Sie ganz sicher fündig. Wegen dem Stallgeruch müssten Sie allerdings die Nase nicht so hochtragen; die Damen dort sollen etwas kleiner sein. Einen schönen Tag noch.“
Während der Staatsanwalt vor einigen Minuten seinen ganz speziellen Auftritt zelebrierte, gönnt sich Remsen jetzt seinen Abgang. Gelassen, nahezu majestätisch ging Remsen auf die Tür zu, der er ganz andächtig öffnete und kräftig wieder zuschlug, als der draußen auf dem Flur war.
‚Your Mind is on Vacation‘, sang Van Morrison Mitte der 1990er. Und wird wohl auch nicht mehr wiederkommen, davon war Remsen fest überzeugt.
Was jetzt? Einen Plan B hatte auch Remsen auf die Schnelle nicht. Er sollte mal mit Van Morrison telefonieren, vielleicht fällt ihm ein Song dazu ein. Apropos einfallen: Er könnte sich ja einen ruhigen Sonntagabend machen und die noch ungeöffnete DVD ‚Live at the Hollywood Bowl‘ von ihm anschauen. Das wäre doch ein guter Plan B für heute. Die Ironie in der Idee erkannte Remsen erst später.
Die zum Nachmittag angesetzte Pressekonferenz wurde wie erwartet ein Fiasko. Oben auf dem Podium saß neben dem Staatsanwalt Stiegermann und Kriminalrat Dietering noch Kriminaloberkommissar Ulrich. Dietering gab der Kriminalassistentin Kundoban für den Rest des Tages frei. Er war davon überzeugt, dass die nächsten Tage von der Mordkommission insgesamt und auch von Jutta Kundoban jede Menge abverlangen werden. Sie war schon das ganze Wochenende voll im Einsatz, sodass einige Stunden Freizeit ihr sicher guttun würden.
Er rechnete jedoch fest mit Remsen, der mit Sicherheit die meisten Fakten beisteuern könnte. Auf seine spezielle Art, eine Mischung aus kumpelhaftem Gehabe und freundlich bestimmten Ausweichen von Antworten auf messerscharf gestellte Fragen schaffte er es immer wieder, die Pressemeute auf Distanz zu halten. Remsen ließ dabei nie ein Zweifel aufkommen, dass die Kollegen der W36 hoch professionell und mit Engagement ihrem Job nachgehen.
Dietering versuchte nach dem Crash mit Remsen, den Staatsanwalt zu besänftigen. Er musste bis zur Pressekonferenz Ruhe reinbringen und sich vor allem um Remsen kümmern. Einerseits brauchte er ihn; ihn, den erfahrenen und in vielen Hamburger Jahren gestählten Ermittler. Ja, er war schon sehr eigenwillig; deshalb akzeptierte ihn überhaupt nicht. Andererseits kollaborierte er durchaus mit seinen Kollegen und gab vielen Ermittlungen mit seinen unkonventionellen Ideen immer wieder den entscheidenden Kick. Wenn Remsen bei den Ermittlungen mitmischte, konnte Dietering eine recht hohe Erfolgsquote nachweisen. Auch und vor allem in seinem eigenen Interesse.
Remsen aber war nach dem Streit mit Stiegermann von der Bildfläche verschwunden. Sein Handy war aus, sein Büro unbesetzt und zu Hause schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
Dietering konnte Remsen durchaus verstehen. Torsten Stiegermann war karrieregeil und menschlich ein widerlicher Kerl. Im Grunde wusste das jeder im Kommissariat und bei der Staatsanwaltschaft, aber nur Remsen traute sich, seine Antipathie offen zu zeigen.
Das Ganze interessierte ihn jetzt nicht, er brauchte Remsen für die PK. Der Pager war die letzte Möglichkeit, ihn direkt zu erreichen. Remsen durfte den Pager nie ausschalten; eine der wichtigsten Regeln bei der Mordkommission. So ließ er Remsen anfunken und hoffte auf dessen Rückmeldung; kurzfristig oder besser sofort.
Remsen meldete sich nicht.
Der Presseraum war für einen Sonntag sehr gut gefüllt. Es waren die üblichen Verdächtigen der Boulevardpresse, aber auch Journalisten seriöser Zeitungen erschienen. Sogar drei Fernsehsender beorderten Kamerateams in die PK. Vor dem zentralen Platz auf dem Podium war eine ganze Batterie von Mikrofonen aufgebaut.
Dietering und Ulrich standen etwas abseits und redeten aufeinander ein. Der Kriminalrat verlegte sich auf die Strategie, eine simple Erklärung rauszugeben, die Ulrich auf die Schnelle verfasste. Weiteren Fragen wollte Dietering nur wenig Zeit einräumen, denn er war davon überzeugt, dass bei dem Aufgebot auf beiden Seiten die Mordkommission kaum Chancen haben dürfte, als Sieger aus der PK hervorzugehen. Außerdem war es noch nie seine Stärke, auf spontane Fragen genauso spontane Antwort zu geben. Er kannte seine beiden Mitstreiter nur zu gut und wusste, dass sich beide im Zweifel hinter ihm verstecken würden.
Remsen tauchte nicht mehr wie erhofft auf, dafür betrat Staatsanwalt Stiegermann unmittelbar vor Beginn der PK den Presseraum, schritt entschlossenen Schrittes nach vorne und nahm auf dem Podium rechts außen Platz. Ganz passend, fiel Dietering dazu nur ein.
Der Kriminalrat verlas im monotonen Ton die von Ulrich verfasste Erklärung. Ohne Emotionen. Ohne den Anschein zu erwecken. Ohne PK unnötig in die Länge zu ziehen. Als Dietering zum Ende kam, stellte er für sich fest, dass der Kriminaloberkommissar den bisherigen Verlauf und den Stand der Ermittlungen so gut zusammengefasste, dass er, Dietering, sich ganz spontan entschlossen hat, keine Fragen zuzulassen.
„Da wir zum aktuellen Stand der Ermittlungen nichts mehr sagen können, bitte ich Sie, auf weitere Fragen zu verzichten. Sobald wir belastbare Ergebnisse haben, werden diese an Sie weitergeben. Bis dahin bitte ich Sie, sich zu gedulden.“
Dietering sah zufrieden auf die Meute und machte Anstalten aufzustehen. Ohne auf Stiegermann und Ulrich zu achten, die aus unterschiedlichen Gründen keine Anstalten machten, ihn zu unterstützen, sah er die Pressekonferenz für beendet an.
Er machte allerdings seine Rechnung ohne die Presse. Sie drängten vor zum Podium oder schrien Fragen in den Raum. Dietering verglich die Situation mit einem Aufruhr eines Publikums am Ende einer Opernpremiere, welches sich äußerst schlecht unterhalten fühlte. Wie er spürte, hinkte der Vergleich, denn die Journalisten fühlten sich vor allem schlecht informiert.
So war es an Guther, einem Vertreter der überregionalen Tageszeitung, seine Fragen so zu stellen, dass Dietering und seine beiden Kollegen diese nicht ignorieren konnten.
„Herr Kriminalrat Dietering, nach meinen Informationen wurde auf dem Haus des Vaters eines der Opfer heute Nacht ein verheerender Brandanschlag verübt. Darüber haben Sie uns nicht informiert. Was können Sie dazu sagen?“
Kai-Uwe Guther war Journalist des Vesberger Tageblatts, eine Zeitung, die aufgrund ihres informellen Netzwerks und der sehr guten Recherchearbeit bekannt und viel beachtet war. Die Mitarbeiter des VT waren phänomenal in Politik, Gesellschaft und in der Wirtschaft vernetzt. Guther hatte sich über viele Jahre seinen Respekt und reichlich Anerkennung beim Vesberger Tageblatt hart erarbeitet.
Er wurde nach der Schulzeit Informatiker, EDV-Facharbeiter wie es damals exakt hieß. Diese Ausbildung musste er machen, da ihm das DDR-Regime aus unerklärlichen Gründen sein Traum, ein Jurastudium, verwehrte. So musste sich Guther mit der EDV arrangieren, was ihm mit der Zeit gelang. Er wurde sogar richtig gut darin, da er sich im Laufe der Jahre in der Kryptographie, den Netzwerkprotokollen und in dem Aufbau von Rechnerverbunden immer besser auskannte. Noch während der Wirren um die Wiedervereinigung sah er seine Chance gekommen und begann mit dem der Journalistik. Guther spezialisierte sich auf Gerichtsberichte, dem Aufarbeiten, vor allem dem Aufdecken von spektakulären Fällen insbesondere der Wirtschaftskriminalität. Vesberg war dafür ein dankbares Pflaster.
Guther beschäftigte sich schon seit geraumer Zeit mit der Entwicklung von IT-Firmen im Großraum Vesberg. Sein Chef war fest davon überzeugt, dass nicht alle davon legal zu Ruhm und Ehre gekommen sind. Guther sollte herausbekommen, welche Geschäfte die Start-ups von damals gemacht haben und welche Beziehungen es in Richtung Osteuropa gibt.
Im Visier hatte er auch CodeWriter. Obwohl die Firma nicht übermäßig groß war, sich seriös gab, war das Umfeld der Kunden von CodeWriter mehr als spannend. Guther war der Meinung, dass in der Sicherheitsbranche kaum etwas ohne illegale Absprachen und Korruption ablaufen würde. Speziell die Beziehung zwischen Hausmann und Weilham, die beiden Macher von CodeWriter und dem Igor Abtowiz, Chef der Safety Objects war Guther suspekt.
Der Anruf gestern Vormittag warf seine Wochenendplanungen komplett über‘n Haufen. Guther war im Presseraum anscheinend der Einzige, der wusste, wer der Tote war und dass dieser von einer Dienstreise aus der Ukraine zurückkam.
Nur wenige seiner Kollegen stellten den Zusammenhang vom Brandanschlag auf das Haus vom alten Weilham und den Toten vom Freitagabend im Wald so her, dass die daraus sprießenden Spekulationen den Kriminalrat Dietering wieder auf seinen Stuhl fesselten.
„Also, ich sag mal so: Wir haben keine Hinweise, dass der Tod von Carsten Weilham mit dem Brandanschlag auf das Haus der Familie Weilham sen. in direkter Verbindung steht. Wir ermitteln aber in alle Richtungen und gehen jeden Hinweis nach.“ Dietering erging sich wie immer in vergleichbaren Situationen in Plattitüden.
„Sicher, die Hinweise, die wir Ihnen geben.“ Der Spott der versammelten Presse war die zu erwartende Reaktion auf das inhaltsleere Statement des Kriminalrats.
Dietering versuchte sich auf dem unsicheren Terrain – der Offensive: „Gehen Sie davon aus, dass wir zum Tathergang jede Menge Hinweise aus der Nachbarschaft haben, die wir sorgfältig auswerten.“
„Herr Dietering, stimmt es, dass die Firma CodeWriter mit einigen ihrer Kunden im Rechtsstreit liegt? Können Sie Zusammenhänge zum Mord an Carsten Weilham herstellen?“
Kai-Uwe Guther war offensichtlich verdammt gut informiert. Jetzt war es an Stiegermann, nicht ganz unterzugehen. „Von welchem Rechtsstreit sprechen Sie Herr Guther? Die Firma CodeWriter hat sich nichts zu Schulden kommen lassen und arbeitet nach unseren Erkenntnissen absolut seriös.“
Stiegermann hatte vor lauter innerer Panik die schlimmste aller Taktiken angewandt und in aller Öffentlichkeit Unkenntnis kundgetan. Eine Steilvorlage, die sich Guther nicht entgehen lassen konnte.
„Herr Staatsanwalt: Die Firma Safety Objects hat vor einiger Zeit gegen CodeWriter Klage eingereicht. Hintergrund ist ein Streit mit dem Softwarehersteller über Funktionen in der Software, mit der sich die Arbeit von Safety Objects ausspähen lässt. Reden Sie nicht mit Ihren Kollegen vom Wirtschaftsdezernat?“
Kriminaloberkommissar Ulrich, der bis jetzt völlig unbeteiligt der Pressekonferenz beiwohnte, sackte innerlich zusammen. Sollte das der Grund sein, warum Weilham gestern bei der missglückten Gegenüberstellung auf Abtowiz losgegangen ist, sinnierte er, ohne gleich eine Antwort darauf zu finden. Er musste an Remsen rankommen, irgendwie.
„Herr Guther, Wirtschaftsdelikte stehen hier nicht zur Diskussion. Er haben zwei Tote und müssen herausfinden, wer Interesse an den Tod der beiden hat und Mörder der beiden ist. Geschäftliche Streitigkeiten können Sie gerne morgen bei der Pressestelle der zuständigen Wirtschaftskammer recherchieren. Andere Fragen bitte.“
Stiegermann versuchte mit seiner aufgesetzt arroganten Art die PK wieder in den Griff zu bekommen und ignorierte die Fragen der Journalisten.
Guther war im Laufe der Jahre Profi geworden und konnte abwarten. Genau in dem Moment, als seine Kollegen mit ihren mehr oder weniger verbalen Fragen durch waren, meldete er sich wieder zu Wort: „Soweit ich weiß, gab es gestern Abend zwischen Herrn Weilham und Herrn Abtowiz ein handgreifliches Treffen; im Beisein Ihrer Ermittler. Können Sie uns den Hintergrund erklären?“
Nein, das wollte Stiegermann nicht. Auch Kriminalrat Dietering verfügte weder über Detailkenntnisse noch über die Bereitschaft, dazu Stellung zu nehmen. So musste wohl oder über Kriminaloberkommissar Ulrich irgendetwas dazu sagen: „Wir erhielten gestern während der Ermittlungen davon Kenntnis, dass sich am Freitagabend beide zum Essen getroffen haben. Unser Ziel war es, mit einer Gegenüberstellung das zu überprüfen und das Verhältnis der beiden zu klären.“
„Herr Kriminaloberkommissar“, Guther legte nach, denn er sah sich als professionell an, „Warum steht eigentlich nicht der Leiter der Ermittlungskommission Remsen hier Rede und Antwort? Wir haben ein berechtigtes Interesse an Informationen aus erster Hand; das möchte ich unmissverständlich anmerken.“
„Remsen kümmert sich weiter um die Aufklärung und hat zu tun. Sie haben sicher Verständnis dafür, dass er hier nicht persönlich anwesend sein kann. Die ersten 48 Stunden sind immer entscheidend, für einen Ermittlungserfolg.“ Dietering stellte sich vor sein bestes Pferd im Stall und machte damit klar, dass die PK hiermit für ihn beendet war.
„Der Streit muss wohl so heftig gewesen sein, dass Georg Weilham gleich über Nacht von Ihnen in Gewahrsam genommen wurde? Welchen Grund führen Sie an, uns das bisher verheimlicht zu haben?“ Guther schien jetzt so richtig auf Betriebstemperaturen zu kommen.
Dietering ließ sich den Hieb nicht anmerken und antwortete lapidar: „Herr Guther, haben Sie Nachsicht, dass wir aus ermittlungstaktischen Gründen nicht alles im Detail erläutern. Wir hatten Grund zur Annahme, dass Weilham so erregt war, dass er durchdreht und noch weiteren Unsinn anstellt. Eine Schutzmaßnahme, so würde ich es sehen.“
„Auf Kosten der Steuerzahler? Nur um jemanden zu schützen, der selbst wegen Geschäftsbetrug und Vertrauensmissbrauch im erheblichen Umfang von Kunden angeklagt wurde? Wie rücksichtsvoll von Ihnen. Seine Frau sitzt alleine zu Hause und wartet auf Abtowiz. Da haben Sie sicher das Haus der Weilham's rund um die Uhr bewacht. Nur scheinbar sind Ihre Beamten eingeschlafen, sodass Abtowiz oder wer auch immer den Anschlag verüben konnte. Dürfen wir das so morgen drucken?“ Guther legte recht geschickt nach und erhoffte sich so, weitere Informationen.
„Herr Guther, das sind doch alles nur Spekulationen.“ Staatsanwalt Stiegermann würde jede Menge darum geben, diese PK möglichst schnell und ohne Gesichtsverlust zu beenden.
„Wenn Abtowiz nicht hinter dem Brandanschlag steckt, wen haben Sie denn im Visier?“ Die Frage von Guther, der inzwischen so etwas wie eine Privatfehde mit dem Podium führte, ging wieder an die Ermittler.
„Wie gesagt Herr Guther, wir ermitteln in alle Richtungen und können zum derzeitigen Stand der Ermittlungen noch keine weiteren Informationen dazu rausgeben.“ Dietering versuchte erneut, die Diskussion regelrecht abzuwürgen.
„Vielleicht weiß Remsen mehr darüber. Können Sie ihn bitte hierher beordern, Herr Kriminalrat?“ Ein Affront eines Journalisten gegenüber den Ermittlern. Jemand, der genau wusste, wie die Kräfteverhältnisse in der W36 waren und welche Rolle der Staatsanwalt spielte.
„Nein, das lässt sich nicht arrangieren Herr Guther.“ Basta, aus, Dietering hatte jetzt wirklich von den penetranten Nachfragen genug.
„Aber Herr Ulrich, Sie waren doch gestern Abend bei der Schlägerei mit dabei – können Sie uns darüber was erzählen, warum Sie ganz bewusst das Risiko einer Konfrontation und dann noch in einem Restaurant, in der Öffentlichkeit eingegangen sind?“ Guther grinste siegessicher den Kriminalbeamten an.
„Sie müssen wissen, dass Remsen die Gegenüberstellung veranlasste und sicher dafür seine Gründe hatte. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ Ulrich fühlte sich offenkundig unwohl in seiner Haut.
„Ach so, Sie arbeiten gar nicht zusammen. Das ist bemerkenswert und ganz bestimmt für unsere Leser höchst interessant. Die Ermittler behindern sich untereinander, stimmen sich nicht miteinander ab. Ja, sie reden noch nicht einmal über ihre Arbeit. Also, so könnten wir nicht arbeiten.“
„Herr Guther, Sie spekulieren hier nur rum und versuchen, die Arbeit unserer Mordkommission in den Dreck zu ziehen. Ich denke, wir können jetzt die Pressekonferenz beenden.“
Das halbherzige Machtwort vom Staatsanwalt Stiegermann krepierte schon auf halber Strecke, denn Guther legte nach: „Dann ist es sicher auch nur eine Spekulation, dass der Tote Carsten Weilham gestern Abend aus dem Osten zurückkam; genau aus der Gegend, in der sich Abtowiz sein langes Vorstrafenregister erarbeitet hatte. Was sagen Sie dazu Herr Staatsanwalt?“
Der Mann schien besser informiert zu sein als ich. Stiegermann war auf Dietering, nein, eher auf Remsen jetzt richtig sauer. Jetzt half nur noch die Flucht nach vorne: „Wir geben in den nächsten Tagen eine Pressemitteilung heraus, aus der Sie alles Weitere entnehmen können. Bis dahin bitte ich Sie, sich zu gedulden. Einen schönen Tag noch.“
Stiegermann schaltete sein Mikrofon ab und zeigte den anwesenden Journalisten im Saal damit deutlich, dass die Show für ihn jetzt vorbei ist. Egal, was die TV-Sender heute Abend dazu zeigten oder süffisant kommentierten. Die PK ist einzigartig schlecht gelaufen; das wird ein Nachspiel der besonderen Sorte haben.
Dietering und Ulrich folgten ihm und ließen die Journalisten mit ihren unbeantworteten Fragen im Presseraum zurück.
Jutta Kundoban ließ es sich nicht zweimal sagen und verplante den unverhofft freien Abend schnell. Jetzt saß sie bei ihrer Freundin Claudia. Während beide auf das Eintreffen ihrer bestellten Pizzen warteten, zappten sie durch die Programme.
Was soll an einem Sonntagabend vor dem Tatort schon Interessantes zu sehen sein? Als Jutta bei Claudia angerufen und sich angekündigte, erklärte diese ihr, dass Bit auch noch kommen würde. Wenn sie, Jutta nichts dagegen hätte, wäre sie willkommen.
Da Bit noch nicht da war, musste der Fernseher herhalten. Denn Jutta verspürte nach der kurzen und herzlichen Begrüßung plötzlich nur noch das Gefühl, erschöpft zu sein. Sie wollte sich einfach nur noch dahintreiben lassen. Jede Erklärung, jede Diskussion erschienen ihr mit einem Mal zu viel. Inzwischen bereute sie es, überhaupt hierhergekommen zu sein. Andererseits war sie auf der Suche nach Nähe, nach der Nähe zu ihrer Freundin, ohne sich gleich erklären zu müssen.
Jutta stibitzte sich die Fernbedienung und hangelte sich durch die Sender. Sie blieb bei einem lokalen Sender hängen, denn was da gezeigt wurde, fesselte sofort ihre Aufmerksamkeit. Unschwer konnte sie erkennen, dass es eine nahezu unkommentierte Übertragung der Pressekonferenz war, der sie entfliehen konnte. Dietering musste wohl schon seine Eingangserklärung vorgelesen haben, übrigens ein Ritual was er aus dem tiefsten Bayern mitbrachte. Sie wartete nun darauf, dass die Kamera auf Remsen schwenkte, denn der wird ja wohl der meist gefragteste auf dem Podium sein.
Dachte sie sich zumindest so!
Einigermaßen erstaunt stellte sie mit der Zeit fest, dass neben Dietering nur der Staatsanwalt und Hanns-Peter anwesend waren. Wo war Jan Remsen geblieben? Jutta suchte nach ihrem Handy und wählte die Nummer von Jans mobilem Telefon an. Nach einiger Zeit sprang seine Mailbox an; von ihm war nichts zu hören. Mist, die anderen Telefone bringen ganz sicher nichts, da Jan ohne sein Smartphone keine Sekunde mehr lebensfähig war.
Das kann doch nicht sein? Jan ist der Leiter der Mordkommission und nicht bei der PK dabei? Hat der alte Sepp; Jan hatte eine Vorliebe für schräge Spitznamen, ihn abkommandiert oder eine Spezialaufgabe verpasst? Dann wäre er doch an das Telefon gegangen; ihre Nummer hätte Jan bestimmt nicht ignoriert. Mit Hanns-Peter kann es nichts zu tun haben, die beiden mögen sich zwar nicht sonderlich, respektieren sich dennoch. Kann also nur Stiegermann dahinter stecken. Wenn Remsen ab- und bei der PK nicht wiederauftauchte, werden beide Krach miteinander haben.
Jutta war so angespannt, dass sie überhaupt nicht mitbekam, wie einer der Reporter ihre Kollegen in die Enge trieb. Ihre Freundin Claudia stand schon einige Zeit hinter ihr und massierte ihr den Nacken. Sie musste dringend ins Bett und mal so richtig ausschlafen.
„Den kenne ich“, meinte sie und deutete mit dem Kopf auf den Fernseher, „das ist einer vom Vesberger Tageblatt. Die müssen verdammt gute Drähte zu Informanten haben oder stellen es einfach geschickter als andere an. Die Zeitung liegt bei uns im Warteraum für Kunden, ich lese mir immer die regionalen Seiten durch. Da schreibt der Typ, Gutmann oder so, ziemlich viel.“
Jutta fand inzwischen den Faden und ihre Aufmerksamkeit wieder und korrigierte ihre Freundin ungern: „Guther heißt der Mann, meine Liebe.“
„Ach ja, Kai-Uwe Guther. Der schreibt aber nur Dinge, die er selbst recherchiert hat. Woher weiß der eigentlich, was ihr bei der Polizei so macht?“
Gute Frage, dachte sich Jutta. Von den wenigen Fetzen, die sie mitbekommen hat, gewann sie mittlerweile auch den Eindruck, dass der Mann wirklich gut Bescheid wusste. Daraus folgte nur die eine Frage: Wer ist das Leck bei uns?
An der Wohnungstür klingelte es; könnte nur die Pizza sein. Claudia ließ von Juttas verspanntem Nacken ab und drückte auf den Türöffner. Es war aber nicht der Pizzabote, sondern ihr gemeinsamer Freund, eher ein Bekannter aus alten Kinderzeiten und Schultagen: Edwin Bittling. Er stürmte in die Wohnung, umarmte Claudia mit einem Küsschen und bahnte sich den Weg in Richtung Fernseher.
Mann, ist der fett geworden, entfuhr es beinahe Jutta. Sie hatte Bittling schon eine geraume Zeit nicht gesehen. Sie konnte aber ihre Entrüstung gut verbergen und heuchelte ein freundliches Hallo.
„Habe ich schon im Autoradio gehört, spannende Geschichte. Bist du nicht mit dabei Jutta?“ Das obligatorische Küsschen bekam auch sie ab.
„Oh doch, seit Freitagabend fast durchgängig. Habe aber einige Stunden frei bekommen, um mich zu entspannen. Die nächsten Tage werden richtig anstrengend.“ Jutta brachte wirklich keine Lust auf, Bit vom Ermittlungsverlauf zu berichten. Abgesehen davon, dass sie eh nichts berichten durfte.
Rettender weise klingelte es erneut und jetzt war es der Mann mit der Pizza. Claudia bezahlte für alle und brachte strahlend neben den drei Kartons noch ein Präsent in Form einer Flasche Rotwein mit an den Tisch.
„Abendbrot meine Lieben. Kalte Pizza schmeckt scheußlich.“ Wie auf Kommando stürmten Bit und Jutta an den Tisch. Bit erbot sich als Mann, die Flasche Wein zu öffnen, während Jutta Besteck und Gläser aus der Küche holte.
Beide Freundinnen mochten Bit, der sich in den letzten Jahren als IT-Mann einen Namen gemacht macht. Davon verstanden sie aber nichts, sodass sie mit ihm darüber nie sprachen. Wobei, eigentlich hatte Claudia mehr Kontakt zu ihm. Sie war es auch, die ihren Edwin dabei half, mit der Frauenwelt zurechtzukommen. Zugegeben, ein hoffnungsloser Fall. IT-Freaks halten von Frauen wohl überhaupt nichts oder sie sind schwul. In etwa in dieser Gegend ist auch das Gefühlsleben von Bit angesiedelt.
Und sie stehen auf Kriegsfuß mit Weinflaschen, wie beide Freundinnen amüsiert mit ansahen. Offensichtlich war Bit gerade dabei, die erste Weinflasche seines Lebens zu öffnen. Entsprechend fielen die Kommentare aus. Jutta, die es genoss, mit Remsen bei sich oder bei ihm in der Wohnung einen guten Wein zu trinken und fast schon nebenbei die Fälle zu lösen, erlangte inzwischen Übung beim Öffnen von Weinflaschen. Sie half Bit nach einigen belehrenden Hinweisen aus der Bredouille und entkorkte gekonnt die Flasche. Das Einschenken übernahm sie gleich selbst. Die Pizza wurde kalt und Bit inzwischen dunkelrot, im Gesicht.
„Ich habe gehört, CodeWriter steckt da mit drin? Soll ich das mal checken? Die machen doch Sicherheitssoftware; wer weiß, was die da alles mit eingebaut haben.“ Edwin war froh, dass Jutta ihm aus dieser Peinlichkeit erlöst und mit jetzt Werbung plärrenden Fernseher gleich das richtige Thema geliefert zu haben.
„Wieso eingebaut? Software ist Software oder nicht?“ Jutta schüttelte verständnislos den Kopf und schob sich das erste Stück Pizza in den Mund. Sie kaute und wartete auf Erklärungen.
Bit war schon beim zweiten Stück Pizza, wobei bei ihm die Stücke etwa doppelt so groß waren.
So wartete er, bis er einigermaßen Luft zum Atmen und Sprechen bekam: „Wie naiv von dir. Die Entwickler stöpseln Funktionen an, die nicht dokumentiert werden. Keiner weiß, was die Software noch alles kann. Die Hersteller selbst können nur hoffen, dass die Entwickler keinen Scheiß machen. So ist das.“
„Und bei CodeWriter ist das so?“ Jutta kam aus dem Staunen nicht mehr raus und vergaß ihre Pizza. Claudias Gesten nach zu urteilen, konnte sie nicht einmal erahnen, wovon die beiden sprachen.
„Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich weiß aber, dass die Entwickler mit Bausteinen, das sind vorgefertigte Bibliotheken, arbeiten, und selbst nicht immer nicht wissen, was alles an Möglichkeiten die SDK-Hersteller da reinprogrammiert haben. Dann heißt es immer, geheime Funktionen entdeckt‘, die alles testende und nichts verstehende Boulevardpresse, die es auch für die Computer gibt.“
Auch wenn Jutta fast nichts kapiert hat, fiel ihr die Frage ein: „Was sind SDK-Hersteller?“
„Du wirst es nicht glauben Jutta, aber auch bei den Softwareentwicklern gibt es so etwas wie Arbeitsteilung. Keiner schreibt mehr alles selbst. Viele Funktionen mit einfachen und immer mehr komplizierten Aufgaben stellen Firmen her, die sich darauf spezialisiert haben. CodeWriter wird mit Sicherheit solche Programmierumgebungen auch nutzen oder ganze Programme zukaufen, damit die nicht mehr alles noch einmal entwickeln müssen. Aber leider, was in den zugekauften Modulen wirklich steckt, weiß dann niemand mehr so genau.“
„Aber was hat das jetzt mit meinem Fall zu tun? Also ehrlich Bit, ich verstehe nicht, was du willst?“ Jutta tat nicht nur so, nein, sie war verzweifelt. Dafür schmeckte der Wein so gut, dass sie sich bereits ein zweites Glas eingeschenkte.
„Ich weiß es nicht. Aber der Zeitungsreporter vorhin auf der PK sprach von einem Abtowiz. Der hat eine Sicherheitsfirma und die sind Kunde bei CodeWriter; haben bisher deren Software für die Überwachung genutzt.“
„Wieso bisher?“ Jutta biss sich beinahe auf die Zunge, denn Dietering gab ihr ja die Aufgabe, herauszubekommen, was zwischen den beiden Firmen in letzter Zeit gelaufen ist. Außerdem sprach der Journalist auf der PK von einem Verfahren vor der Wirtschaftskammer.
„Jutta, ich habe die Ohren offen. Vor einigen Jahren wäre ich beinahe bei CodeWriter gelandet, aber dann bekam ich ein tolles Projekt im Gameboard; das war spannender, also wurde nichts daraus. CodeWriter und Safety Objects streiten vor Gericht darum, dass CodeWriter angeblich eine Backdoor in deren Software eingebaut hat, mit der es möglich sein soll, über peer-to-peer Informationen abzusaugen. Gut für CodeWriter wenn das klappt, schlecht für die Kunden.“
Bit kaute weiter genüsslich an der Pizza und verschmähte die Weinangebote seiner Gastgeberin Claudia. Da es kein Bier gab, musste er mit einer Apfel-Rhabarber-Schorle vorliebnehmen. Was soll’s, er fühlte sich immer dann richtig gut, wenn er mit seinem Wissen Gesprächsgegenübern prahlen konnte.
„Jetzt verstehe ich wirklich nichts mehr. Um was streiten die sich?“ Jutta schaute Bit fragend an. „Was bitte Bit ist eine Backdoor? Ein Hintereingang oder so?“
„Angeblich kann CodeWriter illegal Verbindungen zu Kunden aufbauen, die deren Software einsetzen. Einmal im Netz der Kunden drin, können die wohl mit Agenten, das sind kleine Programme, die bei hergestellter Verbindung eingeschleust werden, gezielt nach Informationen suchen und diese zu sich übertragen.“
„Ach, du sprichst von Trojanern. Das habe ich schon einmal gehört.“ Jutta fühlte sich wieder auf etwas sicherem Terrain.
„Vereinfacht gesagt, ja. Aber in Wirklichkeit geht das heute viel komplexer ab. Man kann über die Rechner seiner Kunden weiter in andere Firmennetze eindringen, die mit den Kunden der CodeWriter zusammenarbeiten. Wie weit man das treiben kann, hängt vom Geschick der Entwickler ab.“ Das letzte Stück Pizza kämpfte ums Überleben, aber Bit war mit seinem Mahlwerk stärker.
Jutta hörte inzwischen mit dem Essen auf. Zu sehr beschäftigte sie sich mit dem, was Bit gerade Gesagte. Sie hatte weder eine Vorstellung noch irgendwelche Ahnung, wie so ein Ausspähen funktionierte. Kundoban beschlich das Gefühl, dass sie bei diesem Thema verloren war und ohne Hilfe versagen würde. Sie fühlte eine große Leere in sich und befand unbedingt mit Remsen darüber sprechen. Ansonsten würde sie als Schwachpunkt in der Ermittlungskommission wahrgenommen werden. Ihr war unwohl, fühlte sich überfordert, ausgelaugt.
Es entstand eine kleine Pause. Claudia schaltete zwischendurch den Fernseher aus, sodass es unheimlich ruhig im Zimmer wurde.
Jutta hatte plötzlich einen Gedanken. Jedoch überlegte sie es sich mehrmals und wog ab, ob sie es wagen könnte. Da Remsen telefonisch nicht erreichbar war, entschied sie sich, Bit einfach zu fragen.
„Sag mal Bit, könntest du nicht…?“ Sie kam überhaupt nicht zum Ende ihrer Frage. Aus zweierlei Gründen: Sie kannte das Ende der Frage gar nicht und wurde dazu noch von Bit und seinem übermäßigen Grinsen voll ausgebremst.
„Jutta, das mache ich doch gerne. Wo soll ich unterschreiben?“
Jutta konterte jetzt: „Du, das war kein Auftrag, sondern nur eine Bitte.“
„Klar, ich meine doch nur den Geheimhaltungsvertrag.“ Bit grinste immer breiter.
„Wenn du der Presse irgendetwas sagt, dann nehme ich dich in U-Haft. Untersteh dich.“
„Gerne, aber nur, wenn wir beide eine Gemeinschaftszelle bekommen.“ Bit entwickelte sichtlich Spaß, Jutta zu verunsichern und mit seinen Kenntnissen zu prahlen. „Keine Sorge Mädchen, ich schweige wie ein Grab. Wir Nerds reden ohnehin nicht gerne.“
„Sag nicht Mädchen zu mir. Und außerdem: Für einen Nerd bist du heute sehr gesprächig.“
Sie saßen noch etwas beisammen und tranken den Rest des Weins. Claudia schaltete Musik ein; irgend so ein Mainstream-Getöse, würde zumindest Remsen dazu sagen. Dessen war sich Jutta sicher, denn ihr selbst ging die Musik auf die Nerven.
Bit war inzwischen gegangen. Gleich nach Juttas Bitte oder Auftrag, egal wie er es sah, machte er Anstalten, um zu gehen. Wahrscheinlich sitzt er schon wieder zwischen seinen Servern und Monitoren und sucht nach „Backdoors“. So ein Typ, denkt sie sich. Wahrscheinlich ist er der Überzeugung, dass sein Schaffen nur durch Schlafen unterbrochen werden muss. Und Pizzaessen natürlich. Weltveränderer oder sowas. Wie überleben eigentlich Nerds?
Der Wein wirkte bei Jutta. Sie spürte eine unendliche Müdigkeit und haderte noch, ob sie gehen oder bei Claudia bleiben sollte. Nach dem Wochenende und in Erwartung einer nicht minder anstrengenden Woche wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine lange Nacht, mit Tiefschlaf und möglichst ohne Traum.
Claudia erahnte wohl die Gedankenwelt ihrer Freundin und schickte sich an, in die sonntägliche Badewanne zu steigen. „Kommst du mit? Ich massiere dich auch, damit du richtig gut schlafen kannst.“
Ob Jutta die Frage noch registriert hat, kann sicher keine der beiden beantworten. Jutta war eingeschlafen und offensichtlich in Schallgeschwindigkeit in die Tiefschlafphase entschwunden. Claudia seufzte, sie wäre so gerne mit Jutta in die Wanne gestiegen. Aber gut; sie besaß Verständnis für den Job ihrer Freundin. Sie zog ihr die Schuhe aus und brachte Jutta in eine etwas bequemere Stellung, die morgen beim Aufwachen nicht gleich Nackenschmerzen verspricht. Mit einer Decke sorgte sie dafür, dass Jutta über Nacht nicht friert. Claudia dämmte das Licht im Zimmer und schlich ins Bad.
Jutta wehrte sich nicht dagegen gewehrt. Ihr fielen einfach die Augen zu; sie fand es ganz gut, denn sie fühlte sich hier bei Claudia aufgehoben. Zu mehr konnte sich sie sich ohnehin nicht mehr aufraffen.
Jetzt schlief sie tief und fest, solange bis ihr Telefon klingelte.
Mitten in der Nacht.
In Delft.
Er telefonierte aufgeregt und organisierte seinen Plan C. Besser: Er korrigierte ihn.
Eigentlich wollte er bis morgen warten, aber nach vielem Hin und Her rang er sich dazu durch, es selbst in die Hand zu nehmen. Auf die Leute in Vesberg war noch nie Verlass. Ihm war das schon immer klar, nur hörte niemand auf ihn.
Lass uns das machen, wir bekommen das schon hin, damit vertrösteten sie ihn immer und immer wieder. Wie dumm von ihm, dass er darauf vertraute, als sie ihm die besten Auftragskiller aus ganz Osteuropa versprachen.
Dilettanten waren das und nicht mehr.
Wieder aktivierte er die Maschinerie, denn er wollte absolut sicher sein. Er wählte eine Nummer an. Eine, die er bisher als eiserne Reserve zurückhielt und nie nutzen wollte.
Nachdem der Angerufene sich meldete, begann er auch schon: „Ihr holt sie euch aus dem Haus. Wenn ich das richtig sehe, müsstet ihr im Dunklen über das linke Nachbargrundstück ungesehen rankommen. Euren VAN könnt ihr daneben parken, da müssten ein paar Büsche oder so etwas sein. Betäubt beide und weg damit. So schnell es geht verschwindet ihr mit denen. Ich will keine weitere Leiche im Haus, verstanden? Morgen muss Weilham weg sein, sonst wird es für euch ungemütlich, verstanden? Lenkt die Bullen ab und inszeniert in der Nähe einen Unfall oder eine Schlägerei. Das bekommt ihr wohl noch hin, oder?“
Er legte auf und begab sich in seinen Ankleideraum. Auf der Ablage neben der Tür lag sein Koffer, in den er lustlos und unkonzentriert Wechselsachen warf. Diese Reise wollte er so nicht antreten. Aber er musste die Geschichte jetzt durchziehen, ansonsten wird er selbst eines Tages als Treibgut aus der Nordsee gefischt. Mit seinen Auftraggebern ist nicht zu spaßen.
Sein Flugdienst signalisierte ihm, dass sie noch eine Flugerlaubnis bekamen, wenn er sich beeilen würde und sie innerhalb der ein bis zwei Stunden starten würden.
Zweifel überkamen ihn. Soll er oder soll er nicht? Er überlegte hin und her und irgendwann wischte er alle Gedanken beiseite: Ja, er musste es tun.
Es war schon 20 Uhr durch, als sich in der Geertryt van Oostentraat in Delft ein Garagentor öffnete und ein schwarzer Jaguar XJS sich in Richtung Flughafen auf den Weg machte. Der Fahrer wusste, dass es sehr schwierige Reise, vielleicht seine letzte, werden würde. Aber er trat sie an.
Remsen fühlte sich wohl, so richtig wohl. Er genoss seinen Laphroaig. Getreu seiner Devise, je älter umso besser, zeigte Stahlburg stolz den Ältesten seiner Schätze vor. Und teilte diesen mit ihm.
Oberstudienrat a.D. Dr. Kurt Stahlburg ist einer der wenigen Vertrauten in seiner neuen Heimat. Remsen hatte in einem seiner ersten Fälle in Vesberg mit einem Mord in Verbindung mit illegaler Schwarzarbeit zu tun. Ein Informatikprofessor ist Opfer seines eigenen Geschäftsmodells geworden. Dieser ließ Studenten seines Lehrstuhls für sich arbeiten und kassierte gleichzeitig bei seinen Kunden kräftig ab. Einer seiner Studenten fand das irgendwann nicht mehr witzig und wollte seinen Prof erpressen. Mit Hilfe von Dr. Stahlburg fand Remsen die richtige Spur. Studenten halfen ihm dann, den Fall aufklären.
Remsen ist seitdem mit ihm lose verbunden. Anfangs war Stahlburg noch im aktiven Dienst und leitete eine höhere Berufsfachschule für Informatik. Inzwischen ist er pensioniert und ein äußerst dankbarer Gesprächspartner für Remsen. Stahlburg ist im Alter noch immer rege und beschäftigt sich mit den Verwerfungen nach der Einheit. Er trennt säuberlich zwischen dem, was die Menschen hier erreicht haben und dem, was aus seiner Sicht den Bach runtergegangen ist.
Stahlburg ist ein Kind des Ostens. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs ist er mit seinen Eltern in einem Flüchtlingstreck in der Nähe hängengeblieben. Seine Eltern akzeptierten nie, dass sie aus der Heimat vertrieben wurden. So sahen sie den Aufenthalt in Vesberg nur als Übergang an und planten immer eine Rückkehr. Die Grenzen zogen für sie aber andere und sorgten dafür, dass aus den Plänen nie etwas wurde. Stahlburg machte Karriere in der DDR, obwohl er sich nie als angepasst, schon gar nicht als Mitläufer oder als Eiferer sah. Er konzentrierte sich auf seinen Beruf, ließ sich nicht beirren oder gar anwerben und umschiffte viele Klippen in der Diktatur; etwas geheimnisvoll manchmal, in jedem Fall mit Geschick und etwas Glück.
Mit dem, wie es heute gerne beiläufig heißt, Wendegeschehen, hat er so seine Probleme, noch immer. Was ist hier Mitteldeutschland? Die Mitte von oben und unten oder links und rechts? Stahlburg kam nie und kommt noch immer nicht mit der wenig differenzierten Betrachtung der Entwicklung seit ’89 klar. Für die Zeit der Pensionierung dachte er sich etwas Besonderes aus und machte keinen Hehl daraus: Er wird alles so aufschreiben, wie er es erlebte, es er es sieht und für sich als richtig befindet. Ob das Buch je erscheinen wird, ob es je gelesen wird, war ihm egal. Darauf angesprochen antwortete er, dass es seine Art des Friedenmachens ist.
Remsen holte sich in den Gesprächen mit Dr. Stahlburg Ideen und ließ sich davon leiten, so zu denken, wie es die Leute hier seit vielen Jahren tun und noch nicht so richtig ablegt haben. Stahlburg erläuterte ihm an den besonders langen Abenden, warum Skepsis und Misstrauen noch immer fester Bestandteil der geistigen Kultur in Vesberg und Umgebung sind. Und warum die Menschen hier so sind.
„Was bedrückt Sie Herr Remsen? Heute war ja die Pressekonferenz Ihrer Kollegen. Ich hab davon etwas mitbekommen im Fernsehen und mich schon gefragt, warum Sie nicht dabei waren. Sie sind doch der leitende Ermittler?“
„Ich hatte noch einen Termin für ein Essen. Schon länger, aber heute war mir so, die Einladung anzunehmen.“
Remsen schaute leicht schmunzelnd drein, sodass Stahlburg es eine mehr oder wenige geschickte Ausrede quittierte. Oder war es schon die Wirkung des Whiskys, die bei seinem Gesprächspartner eine aufgesetzt entspannte Stimmung erzeugte?
„Mal ehrlich Herr Remsen, der Staatsanwalt – halten Sie den für gut? So wie er auf die Journalisten losgegangen ist. Wie er sich gibt zeigt doch, dass er nichts in der Hinterhand hat. Dünnheutig, aufgesetzt, gereizt. Das macht man doch nicht. Schon gar nicht im Fernsehen.“
„Seit ich hier bin und mit ihm arbeite, komme ich mit ihm nicht zurecht. Ja, das stimmt. Aber er ist der Staatsanwalt und muss mit unseren Ermittlungsergebnissen umgehen können. Kann er aber nicht immer und versucht deshalb unsere Arbeit zu beeinflussen und sich dabei gleich noch zu profilieren.“
„Sie meinten wohl, Sie müssen zusammenarbeiten. Immerhin ist ein Procurator fast Ihr Vorgesetzter. Sie müssen sich arrangieren, denke ich.“
Remsen hielt noch immer sein Whiskyglas in der Hand. Mit beiden Händen tat er so, als wollte er das flüssige Gold darin wärmen und für immer und ewig konservieren. Nach einigem Nachdenken entschloss er sich für einen weiteren Schluck. Die Flüssigkeit drang durch seine Kehle sehr schnell bis in die Magengegend und wärmte ihn durch. Ein angenehmes und Remsen wohliges Gefühl. Mit einer Antwort ließ er sich Zeit.
„So ein Karrieretyp liegt mir einfach nicht. Stiegermann macht alles, um die Fälle möglichst schnell abzuschließen und manchmal klagt er einfach Unschuldige an. Hauptsache ‚Ergebnis‘ und ‚abgeschlossen‘. Überhaupt nicht fein ist er. Nein, der Mann ist mir nicht nur unsympathisch, er ist ein Widerling.“ Remsen setzte an und kippte einen weiteren Schluck Whisky in sich hinein. Er kannte sich und verspürte so nach und nach eine Wirkung seines Lieblingsgetränks.
„Wissen Sie, die Leute hier denken entweder ganz zurückhaltend, fast noch devot und unterwürfig oder ganz die Macher. So oder so! Das ist anders als bei Ihnen in Hamburg. Wenn wir hier früher nicht Mitläufer waren, mussten wir uns eine Strategie ausdenken, um nicht in die Fänge der Staatssicherheit und in deren Gefängnissen zu landen. Dieses perfide System machte es möglich, dass es selbst in Familien Spitzel gab; ja sogar Ehepartner sich dafür hergaben, ihre bessere Hälfte zu denunzieren. Wenn es sein musste mit Fotos und anderen Beweisen, sogar in ganz intimen Situationen. Schlimm nicht?“
Remsen dachte darüber nach, was Dr. Stahlburg gerade Gesagte. Er fand darauf keine Antwort, denn er war nicht von hier und wollte sich nicht darauf einlassen, zu verstehen, warum die Leute so sind.
Heute nicht, morgen nicht, niemals!
„Nordkorea lässt grüßen. Aber was hat das mit mir und dem Stiegermann zu tun?“ Für Remsen ist Stiegermann ein typischer Lackaffe, mit durchschnittlicher Begabung und so gepolt, möglichst schnell und ohne Hindernisse auf seiner Karriereleiter hinaufzukommen.
„Herr Remsen, Stiegermann ist ein lebendes Beispiel, wie jemand mit Hilfe des Apparats hochkommen konnte. Das müssen Sie wissen. Die Familie Grundberg war in Vesberg während der DDR-Diktatur stramm linientreu. Ich kannte noch den alten Grundberg, als der aus der russischen Gefangenschaft, lange nach Ende des Krieges, zurückkam und begann, hier die Zügel in die Hand zu nehmen. Er und ein paar seiner Gefolgsleute mit Russlanderfahrung fanden sich recht schnell zu einer Clique zusammen, drängten Unwillige aus den Ämtern oder waren sie gleich in Gefängnisse. Unberechtigterweise, ohne Grund. Oh doch, einen Grund hatte man schnell erfunden: Sie standen Grundberg und seiner Kommunistengarde im Weg oder wetterten gegen die aufkommende Diktatur. Jeder Widerstand wurde systematisch ausgetreten, die Leute brutal fertiggemacht. Sie kennen Bautzen II, Hoheneck, Brandenburg? Mitten in Berlin folterte die Staatssicherheit, niemand außerhalb der Mauern wusste etwas davon. Oder interessierte sich dafür. Hier in Vesberg gab es auch so einen Ort. Im Volksmund ‚Endstation Hölle‘ genannt; heute ein Museum. Wir schauen uns das mal an; ich nehme Sie mit. Und vergessen Sie Remsen, über Rechtsstaatlichkeit zu debattieren.“
Remsen brachte nach den letzten anstrengenden Tagen nicht mehr die Energie auf, all die Details zu durchdenken, von denen Dr. Stahlburg gerade sprach. Und nein, er wollte sich keinen Stasi-Knast ansehen.
Nicht mit Stahlburg!
Nicht mit einer Larissa, wenn sie noch leben würde!
Nein, niemals!
Nicht seine Welt!
Aus!
Vorbei!
Ich will heute nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit ließ merklich nach. War es die Wirkung des Laphroaig oder machte sich der Stress der letzten Tage bemerkbar? Oh ja, jünger wurde auch ein Jan Remsen nicht. Er begann sich einen Plan für einen stilvollen Abgang zurechtzulegen, um den Abend nicht unnötig auszudehnen. Aber ein paar Informationen brauchte er noch.
„Dr. Stahlburg, kennen Sie vielleicht Georg Weilham, einen der beiden Geschäftsführer der CodeWriter? Das ist eine Softwarefirma, nicht groß, müsste Ihnen aber bekannt sein.“
Der Oberstudienrat a.D. dachte lange nach und tat so, als hoffte er mit seinen suchenden Augen einen Hinweis in seinem Studierzimmer auf die Frage seines Gegenübers zu finden.
„Eigentlich mehr den anderen, Hausmann. Das ist ein alter Informatiker, immer neugierig auf neue Ideen und Techniken. Er hat bei uns öfter Vorlesungen gehalten. Die Schüler waren begeistert und wollten alle in der IT bleiben und groß rauskommen. Sind sie natürlich nicht, aber er hat nebenbei ganz lebendig Werbung für seinen Beruf gemacht. Er versteht was davon, sehr viel sogar. Als er dann mit Weilham CodeWriter gründete, habe ich beide etwas beraten. Na ja, ein paar kluge Ratschläge gegeben. Zur Seite gestanden eben.“
Dr. Stahlburg schaute recht zufrieden Remsen an, der immer noch hoffte, hier schnell und elegant wegzukommen. Auf der anderen Seite war er neugierig; vielleicht erfuhr er doch noch etwas wirklich Neues von ihm.
„Sie sagten, Hausmann hat mit Weilham... Wer war der Bestimmende, der Tonangebende? Soweit ich Georg Weilham kennengelernt habe, kann der nicht der Motor gewesen sein. War CodeWriter mehr Hausmanns oder mehr Weilham's Idee?“
CodeWriter! Das ist schon lange her, sehr weit weg für einen alten Mann. Stahlburg war ganz in sich versunken und versuchte sich, an die Zeit damals zu erinnern. Die verrückten Ideen von Karl, diesem Self-Made Menschen, der sich für viele Dinge begeistern ließ und dem selten was gelang. Er mochte ihn richtig und gab sich dafür her, mit ihm die Ideen für die neue Firma zu entwickeln, über Marktchancen und Potentiale zu diskutieren und ihn auf Risiken aufmerksam zu machen. Damals, so erinnerte er sich, gefiel es ihm, Karl und dann Georg Weilham als vertrauter Berater zur Seite zu stehen und von beiden gefragt zu werden.
„Das ist lange her, Herr Remsen. Es ist doch wie immer: Zwei Leute, Meister ihres Fachs, haben eine tolle Idee und wollen damit die Welt retten und nebenbei reich werden. Dann kommt jemand daher und rückt die Geister zurecht. Beliebt ist man da nicht. Nicht, dass ich etwas damals dagegen hatte. Nein, nein. Ich habe mich eher den Realisten gegeben und Fragen gestellt, die beide nicht hören wollten. Egal, CodeWriter wurde gegründet und hat in den letzten 15 Jahren einen guten Weg eingeschlagen. Ich glaube, dass eher Hausmann derjenige war, der in der Firma das Sagen hat. Wenn ich ehrlich bin, habe ich CodeWriter etwas aus den Augen verloren und erst wieder Anfang des Jahres von denen etwas gehört. Cordula rief mich an und erzählte von Torstens Zusammenbruch. Mir war klar, dass er an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gehen würde. Nicht klar war mir allerdings, dass die Ursache des Infarkts Karl war. So schätzte ich das nicht ein und erwartete es nie. Scheinbar waren beide so zerstritten, indem Karl Hausmann Torsten so unter Druck setzte, dass der sein Lebenswerk in Gefahr sah und der Konflikt dessen Gesundheit angriff. Was soll man machen, wenn man sich zwanghaft einigen muss, Herr Remsen?“
Remsen lauschte zwar den Ausführungen vom Studienrat a.D. Dr. Stahlburg, jedoch stellte er fest, dass er sich nichts davon merkte. Sollte er es zugeben oder einfach mit Fragen sein Interesse heucheln?
Stahlburg kam ihm zuvor und konfrontierte Remsen mit seiner Sicht auf die Dinge. „CodeWriter war erfolgreich die ersten Jahre, nicht übermäßig, aber immerhin. Nachdem Hausmann bei den Behörden anfangs Aufträge für wissenschaftliche Einrichtungen gewinnen konnte, kam Stillstand in die Entwicklung von CodeWriter. Die Astrophysiker-Geschichte, sagte ich damals immer, wird euch niemals ernähren: Ihr braucht neue Geschäftsfelder, habe ich immer gesagt. Dann kam der Deal mit Safety Objects, der mir nicht gefiel.“
Dafür, dass er nur anfangs mit dabei war und sich für die Anfänge von CodeWriter interessierte, war dieser Mann gut informiert. Remsen begann zu erahnen, dass er heute doch noch etwas Interessantes für seine Ermittlungen erfuhr. Seinen Abgang wird er etwas schieben müssen.
„Wir sprechen doch von Igor Abtowiz, dem Inhaber der Safety Objects. Was wissen Sie von dem?“ Remsen spitzte die Ohren, denn er hoffte, dass ihm sein Gegenüber jetzt von seinen eigenen Recherchen berichtete. Tatsächlich, er tat es.
„Wenn Abtowiz nicht ein Pole wäre, würde ich ihn als Wendehals bezeichnen. So wie viele andere hier auch. Zunächst dachte ich, er wäre auch einer dieser zwielichtigen Gestalten, die etwas legale und jede Menge illegale Geschäfte miteinander vermischen. Geldwäsche, Prostitution, Türsteher und Bodyguards – Sie wissen schon Herr Remsen, wie so etwas läuft. Ihr habt doch in Hamburg jede Menge davon.“
Remsen nickte nachdenklich und versuchte mehr oder minder geschickt mit dem Glas in der Hand die Aufmerksamkeit des Spenders dieser edlen Flüssigkeit auf sich bzw. auf das inzwischen leere Glas zu lenken. Dr. Stahlburg verstand schnell, denn auch sein Glas war leer. Gegen einen zweiten Whisky hätte auch er nichts einzuwenden.
Stahlburg schien Remsens Gedanken lesen zu können. „Noch einen Stimmungsmacher zum Manipulieren der Gedanken?“ Er stand auf, griff sich die Flasche Laphroaig und goss beiden nach. Sich zeitlassend nahm er in aller Ruhe wieder Platz, prostete Remsen zu und sog das braune Gold äußerst genüsslich ein.
„Bis Anfang der 1980-iger Jahre, als in Polen die Solidarnosc begann, den Kommunisten dort das Leben schwer zu machen, war Abtowiz bei einem berüchtigten Ableger der polnischen Staatssicherheit, dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit und darauf spezialisiert Informanten zu gewinnen, zionistische und feindlich gesinnte Leute ausfindig und wenn es sein muss, mundtot zu machen. Ich habe meine Erkundigungen eingeholt und Karl informiert.“
„Wusste Weilham davon?“ Remsen zweifelte an Dr. Stahlburgs Darstellungen; eine innere Stimme warnte ihn.
Der Oberstudienrat a.D. rutschte etwas nervös in seinem Sessel herum und zeigte sich unwirsch ob der Unterbrechung seines Gegenübers.
„Nein, nein. Weilham hätte dem Deal mit Safety Objects niemals zugestimmt, wen er gewusst hätte, mit wem sie es zu tun hatten. Schon früh schien sich Abtowiz tatsächlich als Chef einer üblen Truppe von Drogenbeschaffern versucht zu haben. Zumindest saß er einige Jahre deswegen hinter Gittern und musste für seine untauglichen Versuche büßen. So genau habe ich das nie rausbekommen. Was ich weiß ist, dass er über Verbindungen in Kaukasien an richtig harte Sachen rangekommen war und das Zeug in Polen und in Russland oder wie sich die Staaten gerade nannten, verkaufte. Es gab die üblichen Revierkämpfe, Tote und Ärger mit der Staatsgewalt. Seine eigenen Leute von einst spürten ihn auf. Ironie der Wende damals.“
Remsen dachte nach und suchte die Verbindung zum Mord an den jungen Weilham und seiner hübschen Mitfahrerin. Betrieben parallel zum Geschäft mit der Sicherheitssoftware Hausmann und Abtowiz noch illegale Dinge? Wenn ja, welche? Ist ihnen der junge Weilham in die Quere gekommen? Ahnungslos, zufällig? Setzte er sie unter Druck und wollte mit abkassieren? Musste er das mit dem Tod bezahlen?
Dr. Stahlburg genoss sichtlich einen weiteren Schluck aus seinem Glas, sog den Duft tief ein und ließ den Whisky langsam, ganz langsam durch die Kehle gleiten.
„Ich stellte mir dann die Frage, wie Abtowiz es schaffte, zu uns nach Vesberg und als Chef einer Sicherheitsfirma zu Ruhm und Ehre zu kommen.“
Remsen unterbrach ihn und wollte wissen, ob Hausmann und Abtowiz sich schon vor dem Deal kannten; wenn er sich in seiner Zeit als Pensionär schon einmal als Detektiv betätigte.
„Das glaube ich nicht, zumindest habe ich keine Indizien dafür. Abtowiz verließ nach seiner Haft Polen und wollte irgendwo in England neu anfangen. Viele Polen versuchten sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dort. Unser Freund war aber wenig bereit, regelmäßig zu arbeiten. Also verlegte er wieder sich auf illegale Geschäfte und importierte junge Frauen aus Osteuropa für Liebesdienste auf die Insel. Er versprach denen Jobs und gutes Geld, was ja nicht einmal gelogen war. Abtowiz hatte das Pech, den Yakuza, Sie wissen schon, der japanischen Mafia in die Quere zu kommen. Die waren gerade dabei, von Amsterdam aus in England Fuß zu fassen. Abtowiz kehrte der Insel den Rücken und ging nach Deutschland und blieb in Vesberg hängen.“ Stahlburg unterbrach sich selbst, sah selbstgefällig drein, denn er wusste ganz genau, dass er mit dieser Geschichte Remsen beeindruckte.
Oder auch nicht!
„Dr. Stahlburg, das ist ja fast schon ein richtiges Dossier. Das kostet Zeit und Geld. Und braucht vor allem Verbindungen, Kontakte. Mal ehrlich, warum haben Sie sich so sehr für Abtowiz interessiert? CodeWriter alleine ist mir ein zu dünnes Brett, rein argumentativ.“
„Warum so skeptisch Herr Remsen? Ich hab das für Karl gemacht. Der Junge hatte es endlich mal in der Hand, was aus seinem Leben zu machen. CodeWriter war damals ein noch kleines Pflänzchen, um es Leuten wie Abtowiz auszuliefern.“
„Eine Frage Dr. Stahlburg: Sind Sie an CodeWriter beteiligt? Kommt daher Ihr Interesse?“
„Selbst wenn ich unehrlich wäre, bekommen Sie es ja ohnehin raus. Ja, als Minderheitsbeteiligter, aber ohne Mandat, operativ in die Geschäfte einzugreifen.“
„Wer hat die Recherche finanziert? Hausmann? Sie? Oder wer?“ Remsen sah sich mal wieder bestätigt, nicht gleich alles zu glauben, was einem so erzählt wird. Selbst wenn eine vertraute Quelle, wie ein Dr. Stahlburg, als durchaus glaubwürdig einzustufen ist.
Da Stahlburg nicht antwortete, fragte Remsen weiter nach.
„Hören Sie Dr. Stahlburg, hier könnten Verbindungen bestehen, die uns helfen, den Mord aufzuklären. Sagen wir mal so: irgendetwas stimmt hier nicht. Hausmann ist angeblich in Südamerika, der alte Weilham vögelt jeden Sonnabend Nutten drüben in den Clubs und sein Sohn baumelt zeitgleich mitten in der Nacht an einem Baum. Seine unbekannte Mitfahrerin stammte wahrscheinlich aus der Ukraine und ist auch hinüber. Erklären Sie es mir!“
Dr. Stahlburg bat um eine Auszeit. Er erhob sich und schlürfte zur Toilette. Unnatürlich lange, für Remsen viel zu lange, hielt sich Stahlburg in seinem selbstgewählten Schutzraum auf. Remsen überlegte, wie er reagieren sollte. Er vernahm keine Anzeichen, dass sich bei Stahlburg im Bad irgendwas regte. Unruhig, ungeduldig wie er war, klopfte er an der Tür und horchte. Er vernahm einen dumpfen Hall und hörte, dass irgendwelche Gegenstände auf den Boden fielen.
„Dr. Stahlburg, alles in Ordnung?“ Nichts regte sich, keine Antwort, keine Geräusche mehr. Remsen entschied sich und drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen. Remsen sah sich um und stellte fest, dass in dieser alten Villa die Türen noch aus richtigem Holz und einigermaßen dick waren und wahrscheinlich nicht nur blaue Flecken garantieren. Remsen hörte noch einmal an der Tür und konnte noch immer nichts in drinnen hören.
Versuchen wir es. Er prüfte die Anlaufstrecke im Flur, versuchte aber erst einmal mit geringem Schwung. Wie erwartet regte sich nichts, die Tür gab nicht nach.
Ja, er musste.
Mit etwas mehr Anlauf startete Remsen den zweiten Versuch und sprang schwungvoll gegen die Tür. Mit einem heftigen Knall sprang die Verriegelung auf und die Verankerung des Schlosses löste sich. Holzspäne ragten heraus. Remsen trat energisch mit dem linken Fuß gegen die Tür, die nun endlich nachgab und auf ging.
Er stürmte in das geräumige Bad und sah Stahlburg mit heruntergelassener Hose neben der Kloschüssel liegen. Remsen nahm seinen linken unterm Arm über dem Handgelenk und fühlte von Stahlburg den Puls. Er lebte. Remsen schaute sich um und konnte nichts von einem Suizidversuch erkennen. Kein Messer, kein Blut, keine offenen Tablettenschachteln nichts.
Herzinfarkt!
Remsen rief auf der W36 an, gab seine Adresse durch und orderte einen Rettungswagen. Das Herz wahrscheinlich. In jedem Fall ein Zusammenbruch. Remsen war erschüttert, verzweifelt und vor allem entsetzt. Über die Wendung, die das Gespräch nahm, die enge Vernetzung des ehemaligen Studienrats mit CodeWriter und die unglaubliche emotionale Nähe von Stahlburg zu Abtowiz.
Warum beschäftigte sich Stahlburg so sehr mit Abtowiz? War es nur wegen Hausmann? Warum nur? Welche weiteren Verbindungen gab es zwischen den beiden? Leider schaffte es Stahlburg nicht mehr, ihm zu erklären, wer das Ganze bezahlt. So detaillierte Recherchen, in England, Polen und sonst wo auf dieser Welt kosten eine Stange Geld. Aus Eigennutz? Aus Welchem? Gut, er ist an CodeWriter beteiligt. Solange die Geld verdienen, verliert er keines. Das ist keine ausreichende Motivation, sich so zu engagieren. Und was ist, wenn Hausmann, Abtowiz und er, Stahlburg, so ganz nebenbei krumme Geschäfte machen. Hatte Stahlburg etwas mit dem Mord an Weilham jun. zu tun?
Am späten Sonntagabend landete die Cessna Citation Excel gut 150 km von Vesberg entfernt auf einem kleinen Flugfeld. Der Umstieg in den bereitgestellten Mittelklassewagen älterer Bauart dauerte nur wenige Minuten, um gleich darauf über den Autobahnzubringer in die Nacht zu verschwinden.
Nach wenigen Minuten Fahrtzeit schaltete er die Beleuchtung des Autos aus und hielt am Straßenrand.
Sicher ist sicher!
Er durchsuchte sein Gepäck und fand den eigens gebauten Peilsender. Jeder Laie würde das Gerät so nennen, aber es konnte viel mehr. Jetzt ging es erst einmal um seine Sicherheit. Mit eingeschaltetem Gerät umrundete er mehrmals das Auto. Er musste absolut sichergehen, dass ihn niemand orten und verfolgen konnte.
Nachdem er seiner Sache sicher war und er sich vergewisserte, verstaute er das Gerät wieder und setzte seine Fahrt fort.
Ziel war ein Anwesen, ein schon vor Jahren modernisierter und gekaufter Komplex von Wohnhaus und Werkstatt, welcher regelmäßig für diskrete Treffen mit Geschäftspartnern genutzt wurde.
Im Kellerbereich des Hauses hatten seinerzeit seine Mitarbeiter ähnlich wie in Delft damit begonnen, eine sichere Arbeitsstation aufzubauen. Wie von zu Hause aus, konnte er sicher und nicht verfolgbar telefonieren.
Die Fahrt dahin dauerte maximal zwanzig Minuten. Als er die Ortschaft erreichte und in die Straße einbog, suchte er in der Ablage nach dem Öffner, fand ihn und bestätigte den Knopf „Open“. Etwa dreißig Meter weiter vorne begann sich die massive eiserne Doppeltür langsam zu öffnen. Vorausschauend verzichteten sie beim Bau gänzlich auf Signalleuchten und Außenbeleuchtung, beziehungsweise sorgten dafür, dass diese wunschgemäß ausblieben.
Als sein Mittelklassewagen in der Einfahrt verschwand, schlossen sich die beiden Tore unmittelbar danach selbständig.
Jutta Kundoban schlug um sich, vergrub sich in ihr Kissen und unter die Decke, mit der Claudia sie vor dem Einschlafen zugedeckt hatte.
Nein, nein, nein. Jetzt nicht!
Ihr Telefon gab weder nach noch Ruhe. Der Anrufer war hartnäckig und legte nicht auf. Okay, jetzt war sie wach. Sie suchte nach dem Quälgeist und sah auf das Display „Jan Remsen“. Mehr widerwillig als mit Enthusiasmus nahm sie den Anruf entgegen.
„Wissen Sie, wie spät es ist?“
„Ja Moment, ich schaue mal nach.“ Remsen war tatsächlich auf dem Weg zur Uhr, um Jutta die Zeit anzusagen.
Dieser Spießer!
„Weit nach Mitternacht. Hatten Sie schon geschlafen? Es täte mir leid, Sie geweckt zu haben.“
„Wo waren Sie denn heute Nachmittag? Der arme Dietering war auf der PK richtig hilflos. Was gibt’s eigentlich? Warum haben Sie mich mitten in der Nacht angerufen?“
„Sagt Ihnen der Name Grundberg etwas? Sie sind doch von hier?“
„War mal ein Parteibonze in der Gegend, schon lange her. Entweder ist der jetzt uralt oder schon unter der Erde. Warum interessieren Sie sich für den?“
„Ich frage mich die ganze Zeit, warum CodeWriter mit Safety Objects Geschäfte gemacht hat, obwohl Abtowiz nicht gerade als seriös daherkommt.“
„Was wissen Sie, Remsen?“
„Ich probiere gerade eins und eins zusammenzuzählen und komme auf kein Ergebnis. Der alte Weilham geht zu der Zeit mit Abtowiz essen, in der sein Sohn einen Hirsch umfährt und danach am Baum bammelt. Abgeschlachtet, ausgeblutet. Tags darauf fallen beide übereinander her. Gefällt mir nicht.“
„Ja und, können wir das nicht morgen durchgehen? Ich möchte jetzt schlafen.“ So langsam wurde sie ungnädig mit ihrem Kollegen.
„Da ist noch was. Eigentümer von CodeWriter sind nicht nur Weilham und Hausmann. Da gibt es noch einen Dr. Stahlburg. Der wurde gerade in die Notversorgung gebracht. Umgefallen, irgendwie?“
„Den kenn ich, denke ich. Woher wissen Sie das?“
„Was, das mit dem Kollaps?“ Remsen mauerte, wie immer.
„Nein, das mit der Beteiligung von dem Dr. Stahlburg an CodeWriter. Warum hat uns das Weilham nicht erzählt?“
„Sie haben doch gesagt, steht alles im Internet. Ein wenig surfen und schon weiß man, dass Hausmann und dieser Stahlburg partiell miteinander arbeiteten. Stahlburg kannte den Hausmann schon sehr lange und assistierte ihm bei der Gründung von CodeWriter. Hausmann hielt immer mal wieder an der Berufsschule von Stahlburg Vorträge, so als Mann aus der Praxis; glaubwürdiger.“
„Was hat das alles mit unserem Fall zu tun?“ Jutta stierte ihr Telefon an und warf es wütend auf die Couch.
Remsen legte einfach auf.
Ich weiß es nicht, murmelte Remsen als Antwort.