Читать книгу 26. April 1986: Tschernobyl - Peter Bilhöfer - Страница 7

Prolog: Fünf Sätze, die die Welt verändern

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Es gibt nur wenige historische Ereignisse, die eine derartige große geographische und zeitliche Reichweite besitzen, wie das Reaktorunglück von Tschernobyl. Viele Menschen können sich noch sehr genau an den Moment erinnern, als sie die erste Nachricht von einer »Havarie« in der Sowjetunion vernahmen. Buchstäblich über Nacht wurde der Name einer ukrainischen Kleinstadt zum Inbegriff für die Schrecken des Atomzeitalters. Die Permanenz des Themas u. a. durch die Folgen für Mensch und Natur sowie die immer noch ungelöste Frage der abschließenden Sicherung des Unglücksortes sorgen dafür, dass das Kapitel Tschernobyl nach über drei Jahrzehnten alles andere als abgeschlossen ist.

Während die Menschen in einer global vernetzten Welt dramatische Ereignisse wie die Explosion in den ersten beiden Reaktoren im Dai-ichi-Kraftwerk von Fukushima 2011 oder die Anschläge vom 11. September 2001 nahezu zeitgleich an den Fernsehgeräten und im Internet mitverfolgen konnten, verlief das Bekanntwerden der Nachrichten über das Atomunglück von Tschernobyl im Jahre 1986 in völlig anderen Bahnen.

Das für den Titel des Buches angesetzte Datum 26. April 1986 ist im Grunde als ein symbolisches Datum für die deutsche Geschichte anzusehen – genauer gesagt: Nach mitteleuropäischer Zeit ereignete sich das Unglück in Tschernobyl am späten Freitagabend, dem 25. April um 23:23 Uhr.1

Durch die noch nicht vorhandene digitale Vernetzung und im Denken des Kalten Kriegs vergingen fast drei Tage, bis die sowjetischen Stellen die folgenschweren Ereignisse in ihrem Vorzeigekraftwerk nicht länger geheim halten konnten. Erst als skandinavische Messstationen erhöhte Strahlenwerte meldeten und in mehreren Atomanlagen in Nord- und Mitteleuropa die Detektoren Alarm schlugen, sah sich Moskau am 28. April dazu veranlasst, um 21:02 Uhr Ortszeit eine knappe, fünf Sätze umfassende Stellungnahme herauszugeben:

»Im Atomkraftwerk Tschernobyl hat sich ein Unglücksfall ereignet.

Ein Reaktor wurde beschädigt.

Maßnahmen zur Beseitigung der Unfallfolgen werden ergriffen.

Den Geschädigten wird Hilfe geleistet.

Eine Regierungskommission ist gebildet worden.«2

Trotz des sehr vagen Inhalts – ein erstes, »bearbeitetes« Bild vom Unfallort zeigte das sowjetische Fernsehen erst am 30. April – platzte die Meldung wie eine Bombe in die Nachrichtenlandschaft und verdrängte alle anderen Themen innerhalb weniger Stunden von der Tagesordnung.

Die Wirkung dieser ersten Verlautbarung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS am Montagabend, dem 28. April 1986 war umso stärker, da sie in der Bundesrepublik in eine recht ereignisarme Zeit zwischen dem einen Monat zurückliegenden Osterfest und den 1. Mai fiel: Während auf internationaler Ebene die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Libyen nach dem Bombenanschlag auf die Westberliner Diskothek »La Belle« und der folgenden Vergeltungsaktion der amerikanischen Luftwaffe gegen Tripolis und Bengasi zunahmen, debattierte das politische Bonn über Botschaft, Konzept und künstlerische Ausgestaltung einer in der Bundeshauptstadt geplanten zentralen Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Bundeskanzler Helmut Kohl (1930–2017) trat währenddessen seine Asienreise an, die ihn über Indien und Thailand zum Weltwirtschaftsgipfel nach Tokio führen sollte, wo Gespräche über Haushaltsdefizite, Zinssenkung, den Dollarkurs und Terrorismusbekämpfung auf der Tagesordnung standen.3

Das Wetter an diesem letzten Aprilwochenende schien sich geradezu der Nachrichtensituation anzupassen. In den meisten Gebieten Deutschlands wollte nach einem langen Winter der Frühling nicht richtig Einzug halten, der Himmel war zumeist bei Temperaturen um die 13 Grad grau und bewölkt. Viele hofften auf eine Wetterbesserung zum 1. Mai und blieben am Wochenende zu Hause.

So waren für die meisten Bundesbürger die »Highlights« des Wochenendes vom 26. und 27. April die Übertragung der Finalrunde der 51. Eishockey-Weltmeisterschaft in Moskau sowie der letzte Spieltag der Fußballbundesliga. Unfreiwillig komisch wirkt im Nachhinein auch das übrige Fernsehprogramm. Katastrophen ohne Ende betitelte die »Saarbrücker Zeitung« vom 25. April die Programmvorschau auf das Wochenende, an dem die Zuschauer u. a. die Filme Erdbeben (USA 1974) und Verschollen im Bermuda-Dreieck (USA 1976) erwartete.

Nach ersten Meldungen am 26. April beherrschte die Geheimdienstaffäre um das »Celler Loch« am Montag, den 28. April, die Schlagzeilen und versprach noch weitere Enthüllungen: Angeblich sollte der niedersächsische Verfassungsschutz im Juli 1978 ohne Wissen der damaligen Bundesregierung einen Bombenanschlag auf die Justizvollzugsanstalt Celle inszeniert haben, um so einen V-Mann in die »Rote Armee Fraktion« einzuschleusen.

Dies war auch der Stand der Dinge bei Beginn der »Tagesschau« in der ARD um 20:00 Uhr. Erst im Laufe der Nachrichtensendung erreichten Mitteilungen aus Moskau die Redaktion. Gegen Ende verlas Nachrichtensprecher Werner Veigel (1928–1995) einen Textauszug aus der TASS-Meldung und ergänzte ihn mit den Worten »Es wird aber nicht gesagt, wann sich das Unglück ereignet hat oder wodurch es verursacht wurde.« Der Ortsname Tschernobyl fiel in dieser Tagesschau noch nicht, stattdessen war von »einem Kernkraftwerk in der Nähe von Kiew« die Rede. Während sich die folgenden Nachrichtensendungen auf die veränderte Informationslage einstellten, fragten sich die meisten Journalisten nach dem Erhalt des genauen Wortlautes der TASS-Meldung, wo dieses »Tschernobyl« genau lag und wie die korrekte Aussprache lautete. Die falsche Betonung auf der letzten Silbe (»Tschernobühl«) hält sich bis heute in der deutschen Sprache.4

Auch die späteren Nachrichtensendungen glichen eher dem Deutungsversuch eines Orakels. So sprach Ruprecht Eser (*1943) zu Beginn des »heute-journals« um 21:45 Uhr von einer »sensationellen Nachricht aus Moskau«. Das Wort »sensationell« in diesem eher unerfreulichen Zusammenhang bezog sich freilich darauf, dass die Sowjetunion überhaupt einen Unfall und Schäden zugab. Über den Reaktortyp konnte der zugeschaltete Experte Karl-Heinz Lindackers (1932–2011) zwar keine genaueren Angaben machen. Doch die sehr hohen Strahlenwerte in Skandinavien erlaubten es dem Experten, ein relativ genaues Bild über das Ausmaß des Schadens geben zu können. Der Rest war – gezwungenermaßen – reine Spekulation.5 Ein ähnliches Bild ergab sich um 22:30 Uhr mit der Ausstrahlung der »Tagesthemen« in der ARD. Auch hier rätselte die Moderatorin Ulrike Wolf (*1944) noch über die möglichen Gründe des Unglücks während eine im Hintergrund gezeigte Landkarte mit der Ausbreitung der Strahlenwolke schon ziemlich genau den Ort des Unglückskraftwerks als Ausgangspunkt identifizierte.

Der nächste Tag zeigte eine völlig andere Nachrichtenlage. Während viele Tageszeitungen vom Zeitpunkt der Nachricht überrumpelt überhaupt nicht berichteten – die »taz« spekulierte fälschlicherweise sogar über einen möglichen Unfall im schwedischen AKW Forsmark – warteten die Fernsehnachrichten mit ersten Archivbildern und Hintergrundinformationen zum Kernkraftwerk Tschernobyl auf. Fortan war Tschernobyl das alles beherrschende Thema. Alle anderen Ereignisse, wie die sich anbahnende Affäre um das »Celler Loch«, die Spannungen mit Libyen oder der Tokioter Weltwirtschaftsgipfel waren nur noch Makulatur.

26. April 1986: Tschernobyl

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