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Vierzig Millionen
für Dr. med. Schumann

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Die Meldung, die am 4. November 1966 aus dem Ticker lief, alarmierte die „stern“-Nachrichtenredaktion. Das höchste Berufungsgericht von Ghana hatte einstimmig entschieden, dass der frühere KZ-Arzt Dr. Horst Schumann, Jahrgang 1906, an die Bundesrepublik Deutschland auszuliefern ist. Damit war ein monatelanges Ringen zu Ende gegangen. Denn nicht nur die Westdeutschen waren an dem Fall interessiert, sondern auch die DDR. Bis dahin waren zwei Auslieferungsanträge abgelehnt worden. Schumann galt als Schützling des ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah. Er war inzwischen auch Staatsbürger Ghanas. Aber der Präsident war Anfang des Jahres gestürzt worden und eine der ersten Aktionen der neuen Regierung war die Verhaftung des Arztes gewesen.

Der Fall Schumann sollte mein erster großer Auftrag für den „stern” werden, bei dem ich im Oktober als Reporter angefangen hatte. Und wie immer in meiner weiteren Laufbahn spielten Kontakte eine wichtige Rolle.

Die tägliche Redaktionskonferenz war der Höhepunkt im Alltag der Illustrierten. Alle, die etwas zu sagen hatten oder glaubten, etwas sagen zu müssen, versammelten sich. Der Leiter der Nachrichtenredaktion trug die wichtigsten Informationen des Tages vor. Die Chefredaktion entschied dann, ob wir etwas unternehmen oder nicht.

An diesem Tag kam der Nachrichtenchef mit dieser Meldung aus Ghana und erläuterte, dass dieser Dr. Schumann einer der großen Verbrecher des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten gewesen sei.

Ich hatte zuvor noch nie etwas von einem KZ-Arzt Dr. Schumann gehört, wusste aber, dass es Konzentrationslager gegeben hatte und dass es dort nicht besonders freundlich zugegangen war. Über das Euthanasieprogramm wusste ich dagegen mehr, denn ich hatte den Krieg in einem katholischen Dorf verbracht, dessen Bischof als einziger in Deutschland öffentlich gegen das Euthanasieprogramm protestiert hatte: Das war Bischof Clemens August Graf von Galen, der „Löwe von Münster”. Aber Einzelheiten kannte ich nicht. Mit Geschichte und Politik hatte ich mich zuvor kaum beschäftigt. Das Hinterfragen der NS-Vergangenheit setzte erst mit der Studentenbewegung 1966/67 ein.

Die Chefredaktion war an diesem Dr. med. Schumann interessiert, aber man wusste nicht so recht, wie die Geschichte anzupacken war. Überdies war lediglich bekannt, dass er ausgeliefert werden sollte, aber nicht, zu welchem Zeitpunkt. Unklar war auch, wie es überhaupt in Ghana aussah. Im Januar war Kwame Nkrumah, einer der großen afrikanischen Staatsführer der ersten Jahre nach der Unabhängigkeit, gestürzt worden. Dieser hatte die Auslieferung Dr. Schumanns, der als Urwalddoktor arbeitete, nicht zugelassen, obwohl die Bundesrepublik als Gegenleistung 40 Millionen DM an zusätzlicher Entwicklungshilfe angeboten hatte. Sein Nachfolger, Kofi Abrefa Busia, dachte offenbar anders über die Sache. Er hatte großes Interesse an diesen zusätzlichen 40 Millionen DM und Dr. Schumann war für ihn ersetzbar.

In der Konferenz in Hamburg wurde das alles diskutiert. Auch dass in Ghana noch immer das britische Justizsystem galt, nach dem es für Journalisten verboten sei, ins Gefängnis zu gehen, um Interviews zu führen.

„Kann man da überhaupt etwas tun?”, fragte Nannen. Da meldete ich mich und sagte: „Ich bin mit dem Oberstaatsanwalt von Ghana bekannt.”

In der Runde wurden es totenstill. Bitte? Der kennt den Oberstaatsanwalt? Ich war damals erst 31 Jahre alt, hatte aber das Glück gehabt, für den „Rheinischen Merkur” außenpolitische Reportagen schreiben zu können. Zwar war das Gehalt niedrig, dafür aber waren die Freiheiten für einen Reporter groß. Die Redaktion saß damals in Köln und alles, was an Einladungen aus den Botschaften in Bonn und Köln eintraf, landete bei mir auf dem Schreibtisch. Mir war es überlassen, ob ich zu einem Empfang gehe oder nicht. Und bei einem dieser Treffen in Bonn hatte ich einen Menschen kennengelernt, der sich als Oberstaatsanwalt von Ghana vorstellte und mit dem ich mich später in Köln auf ein Gespräch traf.

Die Regierung der Bundesrepublik hofierte damals sehr die unabhängig gewordenen afrikanischen Länder. Das hing vor allem damit zusammen, dass man fürchtete, diese könnten die DDR diplomatisch anerkennen. Wenn afrikanische Regierungen Journalisten einluden, um von ihren Aufbauleistungen zu berichten, fand sich immer ein Weg für mich, hinfliegen zu können. So war ich drei- oder viermal an der Elfenbeinküste gewesen. Dort hatte ich mich mit dem Presseattaché angefreundet, einem Franzosen – in dieser Zeit waren noch viele Beamte Angehörige der ehemaligen Kolonialmacht. Zu dem habe ich eines Tages gesagt: „Lass uns mal nach Accra fahren. Ich kenne da den Oberstaatsanwalt.” Und so sind wir von Abidjan in die Hauptstadt von Ghana gefahren, haben den Oberstaatsanwalt besucht und gemeinsam zu Abend gegessen.

In der „stern”-Redaktion war man begeistert. Chefredakteur Nannen schaute mich an.

„Trauen Sie sich das zu? Wie wollen Sie vorgehen?”

Ich stotterte herum: „Das weiß ich noch nicht. Ich kann auch nicht garantieren, dass das klappt und ich wirklich an Dr. Schumann rankomme. Ich muss einfach vor Ort sein und schauen, was sich ergibt.”

Langsam kam ich in Fahrt und legte meine Vorgehensweise vor: „Als Erstes müssen Außen- und Justizministerium kontaktiert werden um zu erfahren, wann Dr. Schumann abgeschoben werden soll. Dann werden gewiss Beamte vom Bundeskriminalamt nach Ghana fliegen, um ihn abzuholen.”

Es stellte sich heraus, dass der Termin bereits Mitte November, also binnen einer Woche war. Am nächsten Morgen flogen der Fotograf Michael Friedel und ich nach Ghana. Wir haben die Botschaft kontaktiert und mit dem Presseattaché gesprochen. Dann sind wir zu meinem Oberstaatsanwalt gefahren. Der freute sich riesig, mich zu sehen. Ich erläuterte ihm unser Anliegen.

„Ja, aber ins Gefängnis dürfen Sie nach unserem Rechtssystem nicht. Vielleicht wäre es gut, wenn Sie erst mit dem neuen Ministerpräsidenten sprechen.”

Diesen Vorschlag griff ich gern auf. Es war immer gut, bei Recherchen ganz oben in der Hierarchie anzufangen. Hatte man die Chefs für sich gewonnen, lief alles andere auch. Überdies wirkte die Visitenkarte des „stern”, der damals eine Auflage von wöchentlich zwei Millionen Exemplaren hatte, als verlässlicher Türöffner.

Ich bekam sofort einen Termin beim Ministerpräsidenten. Im Interview ging es ausschließlich um politische Fragen. Erst hinterher fragte ich nahezu beiläufig nach Dr. Schumann und ob man diesen nicht vielleicht besuchen könnte. Kofi Abrefa Busia war einverstanden und wies den Oberstaatsanwalt an, das zu regeln. Der wiederum rief den deutschen Botschafter an, der mitteilte, in zwei, drei Tagen kämen Kriminalbeamte, um Dr. Schumann aus dem Ussher Fort Prison abzuholen und nach Deutschland zu bringen.

Jetzt ging es darum, den exakten Zeitpunkt herauszubekommen, zu dem Schumann abgeholt werden sollte, und kurz davor diese Kriminalbeamten kennenzulernen. Mein Ziel war es, nicht nur über den Abtransport des Arztes zu berichten, sondern mit ihm zu sprechen. Die deutsche Botschaft in Ghana war durch das Auswärtige Amt vorgewarnt und der Botschafter sagte klipp und klar, es bestünde keine Chance, ins Gefängnis zu kommen. Noch abweisender verhielt sich der Presseattaché. Aber das kannte ich von anderen afrikanischen Ländern. In den meisten Fällen half die Botschaft nicht, sondern versuchte eher, Dinge zu verhindern. Die Diplomaten hatten Angst, dass es Schwierigkeiten geben würde, die sie im Nachhinein ausbaden mussten. Und damit hatten sie aus ihrer Sicht durchaus recht.

Mit Hilfe des Oberstaatsanwalts erfuhren wir die Details, auch die von der Botschaft ausgearbeiteten Pläne für den Rückflug. Wir konnten also die Tickets so buchen, dass wir immer im selben Flieger sitzen würden wie Schumann. Mit Ghana-Airways sollte es nach Lagos in Nigeria gehen und weiter mit der Lufthansa nach Frankfurt am Main.

Pünktlich fanden wir uns am 22. November vor dem Gefängnis ein. Das befand sich in einem alten Fort, das die Holländer Anfang des 17. Jahrhunderts errichtet hatten. Wir lernten die beiden Kriminalbeamten aus Deutschland kennen und stellten uns vor. Der eine kam mir sehr bekannt vor. „Sie haben doch mal geboxt?”, fragte ich ihn. Der nickte. „Und Sie waren sogar mal Meister im Halbschwergewicht.” Das Nicken wurde noch freundlicher. „Sie sind ein bekannter Mann.” Das hat ihm geschmeichelt. Wir waren in den Kreis aufgenommen und hatten die erste Hürde gemeistert. Ohne das Wohlwollen der Beamten hätten wir nichts erreichen können.

Zusammen mit dem Oberstaatsanwalt und den Kriminalbeamten sind Michael Friedel und ich in das Gefängnis marschiert, in dem Dr. Schumann seit acht Monaten in einer Zelle saß. Zuvor hatte man uns genau instruiert, was fotografiert werden darf und was nicht. Streng verboten war es, in der Zelle Aufnahmen zu machen. Es war schnell klar, warum. Die Zustände in diesem afrikanischen Gefängnis waren schrecklich, davon sollte nichts nach außen dringen.

Es herrschte eine Temperatur von 40 Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent. Im Trakt war es dunkel. Es gab keine Fenster nach außen und die Zellen waren zum Gang hin vergittert. Es war wie in einem Zoo, nur dass hinter den Metallstäben keine Tiere hockten, sondern Häftlinge.

Die Wärter steuerten auf eine Zelle zu, in der vier Leute saßen: drei Schwarze und Herr Schumann. Der spielte gerade mit einem der Männer Schach. Prompt entfuhr einem dieser deutschen Beamten der Satz: „Herr Dr. Schumann, das Spiel ist aus.” Der kippte seinen König um und sagte: „Ja, ist in Ordnung.” Einer der Beamten fragte ganz höflich, ob er auf Handschellen verzichten könne. Schumann, ein weißhaariger, schmaler, unglaublich charmant wirkender, vornehmer Herr, gezeichnet von acht Monaten Gefängnis, nickte. Er werde keinen Ärger machen.

„Wissen Sie, ich habe damit gerechnet, dass ich abgeschoben werde. Und ich bin froh, endlich aus dieser Kloake rauszukommen.”

Er verabschiedete sich von den anderen Häftlingen mit Handschlag. Die Männer fingen bitterlich an zu weinen. Auch Dr. Schumann hatte Tränen in den Augen. Immerhin hatten sie lange Zeit zusammen in dieser kleinen Zelle verbracht und wahrscheinlich hatte er ihnen als Arzt geholfen.

Die Abschiebung von Schumann wurde ganz britisch abgewickelt. Aus einem kleinen Köfferchen wurden die wenigen Sachen herausgeholt, die er bei seiner Verhaftung dabeigehabt hatte. Das durfte Michael Friedel fotografieren. Auch wie sich Schumann einen Schlips umband. Vom Gefängnis fuhren wir direkt zum Flughafen. Dort stiegen wir in eine kleine, zweimotorige DC3 und waren nach einer halben Stunde in Lagos, wo uns zehn Polizisten erwarteten. Diese begleiteten uns zum Flughafengebäude, in dem wir warten mussten, bis die Lufthansa-Maschine startbereit war.

Bis dahin hatte ich mit Dr. Schumann kein Wort sprechen können. Als es jetzt daran ging, die Transitformulare auszufüllen, sah er mir über die Schultern und las, was ich als Beruf eintrug. „Tja”, sagte er, „das ist Schicksal.”

Mir war sofort klar, woran er dachte. Der Auslöser dafür, dass Schumann sich jetzt in dieser Situation befand, war ein Artikel in der Wochenzeitung „Christ und Welt” gewesen. In diesem war der Arzt als zweiter Albert Schweitzer gefeiert worden, weil er im Grenzgebiet von Sudan, Kongo und Französisch-Äquatorialafrika eine Leprakolonie leitete und „an manchen Tagen fünf, an manchen Tagen sieben Stunden” operierte. Durch diesen Beitrag wurden das „Comité International des Camps” und die deutsche Staatsanwaltschaft auf den Mann aufmerksam. Dr. Schumann musste fliehen und gelangte über Nigeria nach Ghana. Hier wurde er erneut von Reportern, diesmal vom „Daily Express”, entdeckt.

Schumann wusste jetzt also, dass ich kein Kriminalbeamter war, sondern ebenfalls ein Journalist.

In der Maschine schaffte ich es, zusammen mit dem Fotografen in eine Reihe mit den Kriminalbeamten und ihrem Gefangenen zu kommen. Damals gab es noch keine vorgeschriebenen Sitzplätze und die Flugzeuge waren auch nicht ausgebucht. Ich schaute immer mal zu Dr. Schumann rüber und lächelte ihn ein bisschen an. Er lächelte zurück. Als nach dem Abendessen die Kabine abgedunkelt wurde, fragte Dr. Schumann den Boxer, ob er sich nicht zu dem jungen Mann – er meinte mich – setzen und ein wenig mit ihm plaudern könne. An Flucht sei in dem Flugzeug ja ohnehin nicht zu denken. Der Beamte war einverstanden. Und so tauschten Dr. Schumann und der Fotograf ihre Plätze.

Dr. Schumann fing an, mir aus seinem Leben zu erzählen. Anfangs habe ich viele Dinge nicht kapiert. Schließlich hatte ich bis dahin geglaubt, dass die Kriegsverbrecher unmittelbar nach Kriegsende verhaftet und in den Nürnberger Prozessen und den nachfolgenden Verhandlungen verurteilt worden waren. Dieser KZ-Mann aber war 1945 als Truppenarzt an der Westfront in amerikanische Gefangenschaft geraten, im Oktober entlassen worden und hatte in Gladbeck im Ruhrgebiet zunächst als Sportarzt für die Stadt gearbeitet und später eine Stelle als Knappschaftsarzt erhalten. In dieser Position hätte er wahrscheinlich als anerkannter Arzt in Pension gehen können, wenn er nicht auf die Idee gekommen wäre, seinen Jagdschein zu erneuern. Dafür benötigte er ein polizeiliches Führungszeugnis. Und dabei kam heraus, dass in seiner Heimatstadt Halle an der Saale, die in der sowjetischen Zone lag, ein Haftbefehl wegen der Euthanasieverbrechen gegen ihn vorlag. Kurz vor seiner Verhaftung wurde Schumann durch einen Justizbeamten gewarnt und konnte sich nach Japan absetzen. Dort erfuhr er, dass im Sudan Ärzte gesucht wurden, und er ging als Urwalddoktor in den Südsudan. Das alles wusste ich aus den wenigen Unterlagen, die ich über Dr. Schumann im „stern”-Archiv gefunden hatte.

Aus dem Südsudan sei er geflüchtet, als zwischen dem Norden und dem Süden das Landes ein Krieg ausbrach, erzählte mir Dr. Schumann. In Ghana sei er sofort vom Gesundheitsministerium angestellt worden. Zuletzt war er Distriktsarzt in Kete Krachi in der Volta-Region im Osten des Landes.

Schumann bestätigte mir, dass letztlich immer einer an der jeweiligen deutschen Botschaft gewusst haben musste, wo er sich gerade aufhielt. Im Generalkonsulat im japanischen Osaka-Kobe hat er einen Pass beantragt und erhalten, im Sudan und später in Ghana musste er diesen verlängern lassen. Wenigstens einem Botschaftsmitarbeiter war immer klar, dass sich hier ein in Deutschland gesuchter Massenmörder versteckte.

Und ich saß nun neben diesem Mann, der mir ganz offen sagte: „Ja, es stimmt, ich war am Euthanasieprogramm auf dem Sonnenstein im sächsischen Pirna und im württembergischen Grafeneck beteiligt.” Er hatte zuvor vor dem Gericht in Accra, das über seine Auslieferung zu entscheiden hatte, zugegeben, während des Zweiten Weltkriegs die Tötung von 80.000 bis 120.000 geisteskranken Menschen überwacht zu haben. Das stand auch in der Agenturmeldung vom 4. November 1966.

„Was wollen Sie eigentlich über mich schreiben?”, fragte Schumann. „Meine Eindrücke, die ich beim Gespräch mit Ihnen gewinne”, antwortete ich.

„Was Sie da in diesen Konzentrationslagern gemacht haben, waren ja keine feine Sachen.”

„Nein, das waren keine feinen Sachen. Das mit der Euthanasieanklage, das ist richtig. Ich war der verantwortliche Mann in Grafeneck. Röntgen-Sterilisierungen habe ich auch gemacht, in Auschwitz ... Das war schlimm, was wir gemacht haben.”

Was dort durch Schumann und seine Mitarbeiter geschah, war von einer heute unvorstellbaren Brutalität. Es war gut, dass ich damals relativ wenig von dem wusste, was später bei dem Prozess gegen den Arzt herauskam. Dieser charmante Herr Dr. Schumann hatte erst Debile umbringen lassen, sonderte später arbeitsunfähige KZ-Insassen für die „Gasdusche” aus und hat dann Menschen mit Röntgenstrahlen sterilisiert. SS-Chef Heinrich Himmler habe eine billige Methode für Massenkastrationen rassisch minderwertiger Häftlinge gesucht und diese Versuchsreihen angeordnet, erzählte er mir im Flugzeug. Bei Männern seien die Hoden bestrahlt worden, bei Frauen die Eierstöcke. Wegen der hohen Röntgendosis habe das zu schrecklichen Verbrennungen und in der Regel zum Tod dieser Versuchspersonen geführt.

Es war schier unglaublich, was dieser Mann da trocken erzählte. Und wenn ich ihn ansah, saß da ein sanfter, außerordentlich sympathisch wirkender Opa, der Urwalddoktor, der 20 Jahre zuvor in Luftwaffen-Uniform als KZ-Arzt Tausende Menschen qualvoll verrecken ließ. Darunter auch einige Hundert jüdische Mädchen aus Griechenland.

Er muss sich besonders geschickt angestellt haben und hat das wie Josef Mengele, der Lagerarzt von Auschwitz, als Chance für seine wissenschaftliche Karriere gesehen. Da war keinerlei Gefühl der Menschlichkeit mehr, wenn er 14- bis 18-jährige jüdische Mädchen sterilisierte.

„Wissen Sie, ich habe diese Verbrennungen nie gesehen. Es hat Kontrolloperationen gegeben, an diesen habe ich aber nie teilgenommen.”

„Was geschah denn bei diesen Kontrolloperationen?” – „Nun, die Keimdrüsen mussten herausgeschnitten werden, damit man untersuchen konnte, ob die Röntgenbestrahlung erfolgreich gewesen war. Also, ob die Keimdrüsen durch die Bestrahlung wirklich unfruchtbar geworden waren. Das war in Block 10 in Auschwitz und geschah natürlich ohne Narkose. Dort liefen diese Versuchsreihen mit den griechischen Mädchen und mit Zigeunerkindern. Die armen Menschen.”

Schumann hat das streng wissenschaftlich gesehen. Er fühlte sich als Arzt im Dienst der Wissenschaft. Und für den überzeugten Nationalsozialisten waren Juden und Zigeuner keine Menschen. Es gab durchaus die Anordnungen aus Berlin, aber er hat sie gern und mit Eifer umgesetzt. Seine Erklärung war ganz einfach: Er konnte sich der Sache nicht entziehen und es steckte eine aus seiner Sicht vernünftige Idee dahinter. Sicher, es seien Menschen umgekommen, aber gleichzeitig starben auch Zehntausende an der Front.

Ich gab mir große Mühe, nicht nach dem Motto „Das ist ja schrecklich!“ über ihn herzufallen, und ließ ihn erzählen. Ich habe ihn auch nicht pathetisch nach dem hippokratischen Eid gefragt, aber schon, wie es dazu gekommen ist, dass er als Arzt diesen Drecksjob machen musste.

Dr. Schumann erzählte, dass er 1930 in die NSDAP eingetreten und die nationalsozialistische Idee sein Leben gewesen sei. Und selbstverständlich seien alle Direktiven, die aus Berlin vom Führer oder vom Reichsführer der SS gekommen seien, Befehle gewesen, die er zu befolgen hatte. Eigentlich habe er Pilot werden wollen, erzählte Schumann. Aber er habe sich als Luftwaffen-Oberleutnant die Hand gebrochen und dann sei diese erste Aufforderung aus der Reichskanzlei an ihn als besonders fähigen Mediziner gekommen, in Grafeneck die von Hitler angeordnete Aktion „Gnadentod” umzusetzen. Als „unheilbar krank” geltende Deutsche sollten umgebracht werden. Wie später die Staatsanwaltschaft ermittelte, waren unter Verantwortung Dr. Schumanns in Grafeneck seit 1940/41 829 und später in Sonnenstein 13 720 Geisteskranke ermordet worden.

Auch von seiner Familie erzählte er. Von seiner ersten Frau hatte er sich 1943 scheiden lassen. Die zweite war Krankenschwester in Pirna gewesen und wusste also ganz genau, was für Verbrechen da stattgefunden hatten. Sie war Schumann nach Afrika gefolgt, hatte es dort aber nicht ausgehalten. Sie lebt jetzt unter einem anderen Namen in einer deutschen Großstadt.

Schumann fragte mich, ob ich Grüße an sie übermitteln könnte, denn er werde wohl lebenslänglich zu Zuchthaus verurteilt. Ich musste ihm versprechen, die Adresse nicht journalistisch zu verwenden und er gab mir die Anschrift der Frau in Berlin.

Zwei Stunden hat er im Flugzeug erzählt, dann wurde er müde und schlief ein. Die Maschine kam frühmorgens in Frankfurt am Main an. Ich sagte ihm, dass heute in Deutschland Buß- und Bettag sei, damals ein bundesweiter Feiertag. Er sagte daraufhin etwas pathetisch: „Am Bußtag kehre ich nach Deutschland zurück. Das ist ja sehr symbolkräftig. Ich weiß, ich kriege lebenslänglich.”

Auf dem Flugfeld wartete eine Schar von mindestens 50 Fotografen. Ich stieg neben Dr. Schumann die Gangway herunter. Das sah so aus, als wäre ich einer der Kriminalbeamten. Es war auch kein Journalist da, der mich kannte. Ich flog noch am selben Vormittag von Frankfurt nach Berlin, um mit Schumanns Frau zu sprechen. Die lebte mit den beiden Söhnen in einer Schrebergartenkolonie. Ich richtete die Grüße aus und bekam ein paar Informationen über das gemeinsame Leben in Afrika. Sie war schon 1965 nach Deutschland zurückgekehrt.

Anschließend fuhr ich zurück nach Hamburg und habe die Geschichte geschrieben.

Was mich noch heute beschäftigt: Dieser Mann war einer der ganz großen schrecklichen Mörder der Nazis. Aber wenn ich heute Fotos von damals sehe, dann sieht der Herr aus wie ein Nobelpreisträger für Medizin oder Literatur.

Ich halte es für möglich, dass Schumann auf seiner Flucht bewusst nach Afrika ging, um als Urwalddoktor etwas von dem wiedergutzumachen, was er während des Nationalsozialismus Menschen angetan hatte. Er hätte sich ja auch, wie viele andere Kriegsverbrecher, unter einem anderen Namen nach Südamerika absetzen können. Aber er blieb Dr. Horst Schumann und lebte quasi auf Abruf. Jederzeit hätte einem Auslieferungsantrag stattgegeben werden können.

Ohne Zweifel hat er den Menschen im Südsudan und in Ghana sehr geholfen. Urwalddoktoren wurden von den Afrikanern bewundert, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass jemand freiwillig aus gesicherten europäischen Verhältnissen zu ihnen kommt, um zu helfen. Dass er auf die Menschen wie ein Homo sympathico wirken konnte, das ist mir im Gefängnis in Ghana klar geworden, als wir ihn abholten und seine Zellengenossen in Tränen ausbrachen. Vielleicht wäre aus Schumann ohne den Nationalsozialismus ein guter Arzt geworden; so aber wurde er zu einem der schlimmsten Verbrecher – allerdings zu einem, der im Gegensatz zu Josef Mengele in Vergessenheit geraten ist.

Bei dem Gespräch in der Nacht im Flugzeug hatte ich aber nicht den Eindruck, dass ihm die Tragweite seiner Euthanasietätigkeit und auch der Zustände in den Konzentrationslagern richtig bewusst gewesen ist.

Die erfolgreiche Geschichte über Schumann hat meine weitere Zeit beim „stern” positiv beeinflusst. Obwohl es auch in diesem Fall eine hitzige Diskussion in der Redaktionskonferenz gegeben hatte. Der „stern” war damals zwar in der Führungsebene mit lauter ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt, steuerte aber auf einen linken Liberalismus zu. Ich erinnere mich noch an die Frage des berühmten Erich Kuby, Autor und Filmemacher, ob wir denn einen NS-Massenmörder so menschlich darstellen könnten. Es war diese klassische Frage. „Ja”, sagte ich, „denn es lässt sich nicht bestreiten, dass das ein Mensch war.” Später hat Marcel Reich-Ranicki auf eine derartige Frage ähnlich geantwortet: Natürlich sei Hitler ein Mensch gewesen und kein Elefant.

In der „stern”-Redaktion fand die Mehrheit der Kollegen die Geschichte gut. Es sei richtig zu zeigen, wie normal diese Typen nach außen hin waren, obwohl sie für die Ermordung von mindestens 30.000 Menschen verantwortlich sind.

Übrigens hatte sich Dr. Schumann in den westdeutschen Justizbehörden gründlich geirrt. Zwar saß er vier Jahre in der hessischen Strafvollzugsanstalt Butzbach in Untersuchungshaft, das vor dem Landgericht Frankfurt im September 1970 eröffnete Verfahren gegen ihn wurde aber schon sieben Monate später eingestellt. Der frühere KZ-Arzt galt wegen seines ständig extrem hohen Blutdrucks als verhandlungsunfähig. Im Juli 1972 wurde er endgültig entlassen und lebte bis zu seinem Tod 1983 unbehelligt in Frankfurt.

Das hatte durchaus System. Auch Gerhard Bohne, Leiter der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten” und als Chef der Aktion „T 4“ zur Liquidation von Geisteskranken Vorgesetzter von Schumann, wurde 1968 für verhandlungsunfähig erklärt.

Ach los, scheiß der Hund drauf!

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