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Atombombensuche im ewigen Eis

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Am 21. Januar 1968 kam es in Grönland zu einem atomaren Zwischenfall. „Broken Arrow“ hieß das US-Codewort dafür. Und dieser „gebrochene Pfeil“ löste weltweit in den Redaktionen der großen Nachrichtenmagazine hektische Betriebsamkeit aus. Schnell war bekannt, dass eine achtstrahlige B 52 des strategischen Bomberkommandos der US-Air Force in der Nähe der amerikanischen Air Base Thule mit vier Wasserstoffbomben an Bord abgestürzt sei. Die Nähe zum Stützpunkt deutete darauf hin, dass der Pilot noch eine Notlandung versucht hatte. Diese riesigen Maschinen waren damals nahezu ununterbrochen in der Luft, wurden sogar während des Fliegens aufgetankt.

In der Redaktion des „stern“ wurde die Entscheidung gefällt: Wir müssen da hin. Als Reporter wurden der Fotograf Fred Ihrt und ich ausgewählt. Allerdings teilte mir der Presseattaché der amerikanischen Botschaft in Bonn, zu dem ich gute Beziehungen pflegte, gleich mit, dass die Angelegenheit vom Pentagon restriktiv behandelt werde. Es dürften zwar Journalisten an die Absturzstelle fliegen, aber nur eine begrenzte Anzahl: 20 aus den Vereinigten Staaten und 20 aus Europa. Als große und angesehene Zeitschrift habe der „stern“ zwar gute Chancen, einen Platz zu bekommen, aber keinesfalls zwei. Nein, sagte mir der Presseattaché, er könne da auch nichts zu meinen Gunsten drehen. Es bestünde keine Chance und zuständig sei auch nicht er, sondern der Presseattaché in Kopenhagen.

Damit war für mich die Sache eigentlich gelaufen. Ich bin trotzdem am nächsten Tag mit dem Fotografen nach Kopenhagen geflogen. Von hier aus sollte die Maschine mit den Journalisten nach Grönland, was damals noch dänische Kolonie war, starten. Der dortige Presseattaché bestätigte mir noch mal, was der Mann in Bonn schon gesagt hatte; der Platz für den Fotografen sei sicher, aber für mich bestünde keine Chance. Wir spazierten durch die Stadt und kauften für Fred Ihrt Winterkleidung ein. Schließlich sollte es in die nördlichste Inuit-Siedlung gehen, die nur 200 Kilometer südwestlich des Nordpols liegt.

Für „stern“-Fotografen Fred Irth (re.) war mein Verhalten ein grober Verstoß gegen Freundschaft und Kollegialität. Aber mir war wichtig: Ich hatte die Story.


Ich beschloss, Fred Ihrt noch zum Flughafen zu bringen. Ein wenig neidisch schaute ich mir dort die Truppe an, die nach Grönland fliegen würde: Paris Match war vertreten, Helmut Sorge vom „Spiegel“, Journalisten der großen britischen Blätter Sunday Times, Sunday Telegraf, Guardian, der italienischen Epoca, wohl auch der eine und andere Holländer und Skandinavier sowie Vertreter der großen Agenturen. Vor allem waren es Fotografen, denn die Bilder von der Absturzstelle waren für die Redaktionen das Wichtigste. Mit diesen konnten sie ihren Lesern anschaulich erklären, was in Grönland passiert war. Und dann ereignete sich etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Der amerikanische Presseattaché kam zu mir und sagte: „Randy, we got one more place, if yo want to fly with us ...“ In mir jubelte alles. Ich konnte mitfliegen! Nur, ich stand da im Übergangsmantel. In Kopenhagen herrschten zwar auch minus zehn Grad, aber das war ganz erträglich. Als ich den Mann auf meine dünne Kleidung aufmerksam machte, winkte der nur ab und deutete auf die in Winterpelze gekleideten Kollegen. Das spiele überhaupt keine Rolle. Wir würden alle in Thule sofort neu eingekleidet.

Plötzlich war ich also an Bord der Maschine, hatte keinerlei Gepäck dabei und dankte dem Himmel. Das war etwas ganz Tolles, mitten im Winter nach Grönland fliegen zu können. Nur wegen der Bekleidung hatte ich doch leichte Bauchschmerzen. Und es wurden dann nach der Landung auch dramatische 200 oder 300 Meter, die ich vom Flugzeug bis zur Empfangshalle zurücklegen musste. Wir wurden in Baracken der Air Base gebracht. Diese liegt romantisch von Bergen umgeben. Aber das sah ich erst später, als die Fotos von Fred Ihrt vorlagen. Denn nur in der Langzeitbelichtung des Fotografen war das Gebirge zu sehen. In Thule war es 23 Stunden am Tag völlig dunkel und nur eine Stunde war es etwas grau. Allerdings war es im Lager der Amerikaner hell. Und überall standen Autos mit laufenden Motoren und aufgeblendeten Scheinwerfern.

Die Baracken waren modern ausgestattet. Man kam erst in eine Schleuse mit ganz erträglichen Temperaturen. Im Wohnbereich war es dann so warm, dass man hätte nackt herumlaufen können. Wie versprochen wurden wir eingekleidet, bekamen dick gefütterte Stiefel, Hosen, Jacken, auch eine Gesichtsmaske gehörte zur Ausrüstung. Kurz darauf wurde eine Pressekonferenz angesetzt, denn die ganze Welt wollte endlich wissen, was los ist.

Wie erfuhren Folgendes: Bei einem B 52-Langstreckenbomber seien aufgrund elektronischer Probleme mehrere Triebwerke ausgefallen und der Pilot habe sich daher zu einer Notlandung entschlossen. Als er aber die Maschine nicht mehr kontrollieren konnte, habe er der Besatzung den Befehl zum Aussteigen gegeben. Sieben der acht Männer seien ein paar Kilometer von der Basis einigermaßen heil auf dem Boden angekommen, einer sei umgekommen. Das Flugzeug selbst sei auf das fünf bis sieben Meter dicke Eis aufgeschlagen. Es habe eine gewaltige Explosion gegeben, das Eis sei dabei geschmolzen und die Maschine samt vier Wasserstoffbomben tausend Meter tief ins Meer gesackt. Das Ganze habe sich innerhalb einer knappen Minute abgespielt.

Die Amerikaner versicherten uns, dass auch künftig nichts passieren könne, da die Bomben nicht gezündet seien. Anschließend sei das Eis über der Absturzstelle wieder zugefroren. „Es liegen vier Bomben bei Thule“ titelte der „stern“ später.

Man erklärte uns auch, dass die Restbestände an Trümmern von Spezialisten in Schutzkleidung eingesammelt würden. Wegen der extremen Kälte und möglicher Plutoniumstrahlung dürfe ein Einsatz nicht länger als maximal zwanzig Minuten dauern. Deswegen waren ständig Helikopter unterwegs, die die Leute abholten und neue zu ihrem Einsatz brachten. Auch uns Journalisten boten die Amerikaner einen Helikopterflug an. Allerdings sei man so in Anspruch genommen, dass nur eine einzige Maschinen für einen Flug für insgesamt fünf Presseleute zur Verfügung stehe. Und es würde auch bei dem einen Flug bleiben, da es am nächsten Tag zu einem Wetterumschwung und Eissturm kommen und man dann gar nicht mehr fliegen würde.

Wir wurden gebeten, vier Pools zu bilden und zu entscheiden, welche Fotografen fliegen würden. Der fünfte Platz sollte unter den übrigen 36 ausgelost werden. Für Europa wurden Paris Match und Fred Ihrt vom „stern“ ausgewählt, die anderen beiden Plätze bekamen die Amerikaner. Dann erhielten wir übrigen eine Nummer. Plötzlich kam Helmut Sorge auf mich zu: „Ihr ‚stern‘-Leute habt doch schon einen an Bord, können wir nicht vereinbaren, dass du mir deinen Platz abgibst, wenn du gewinnst?“

Ich sagte: „Ja, das könnten wir machen.“

Die Verlosung fand statt und zum ersten und letzten Mal in meinem Leben gewann ich bei einer Lotterie. Ich hatte tatsächlich den übrig gebliebenen fünften Platz. Helmut Sorge stürzte auf mich zu und umarmte mich: „Da habe ich ja Glück gehabt und ich danke dir!“ Meine nächsten Sätze holten ihn allerdings gleich auf die arktische Erde zurück: „Das weiß ich jetzt nicht, ob ich dir das Ding gebe.“ Der „Spiegel“-Mann, aber auch mein Fotograf standen verdattert da. Wieso, das sei doch so verabredet gewesen. Ich hätte doch sozusagen mein Ehrenwort gegeben, Sorge den Platz abzutreten. „Weißt du“, meinte ich, „das ist in meinem Leben die einzige Chance, im Winter in Grönland auf das Eis zu kommen, wo eine Maschine mit vier Wasserstoffbomben durchgesackt ist.“ Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte mich entschieden, ich würde den Platz behalten.

Dieser Entschluss hatte mehrere Folgen. Der „stern“ war als einziges Nachrichtenblatt mit zwei Leuten an Bord. Fotograf Fred Ihrt, der wesentlich älter als ich und für mich eine Art Vaterfigur war, stellte sich für den Rest seines Lebens bei jeder Begegnung mit mir theatralisch mit dem Rücken an die Wand und sagte, geh du erst vorbei. Denn es sei viel zu gefährlich, in der Nähe eines Typen zu sein, der offenbar auch die eigene Großmutter umbringen würde, um an eine Story zu kommen.

Für ihn, der im Krieg gekämpft hatte, war mein Verhalten ein grober Verstoß gegen Freundschaft und Kollegialität. Für ihn musste man ein gegebenes Wort halten. Und Helmut Sorge hat nie wieder ein Wort mit mir gewechselt. Es herrschte fortan tiefe Feindschaft, wofür ich Verständnis habe. Es gab damals eine harte Konkurrenz zwischen „Spiegel“ und „stern“ und er wusste nicht, wie er seinen Leuten erklären sollte, dass ihm ein Besuch der Absturzstelle verwehrt geblieben ist, während der „stern“ mit zwei Leuten vor Ort gewesen war.

Helmut Sorge war wirklich am Boden zerstört. Er hat dann im „Spiegel“ eine verlogene Geschichte veröffentlicht, wie er sich mit dem Hundeschlitten zur Absturzstelle durchgekämpft hat. Die war vielleicht sogar spannender als meine, nur dass sie eben nicht der Wahrheit entsprach. Sorge hatte sich lediglich bei den Eskimos einen Schlitten und Hunde gemietet und sich fotografieren lassen. Auf das getürkte Material fiel auch der „DDR-Augenzeuge“, eine Dokumentarfilmreihe, herein, der in seinem Bericht über den Absturz eines US-Bombers in der Polarsternbucht als Fremdmaterial den Zeitungsausschnitt „Mit Hundeschlitten auf der Spur nach den Wasserstoffbomben“ einbaute.

Aber ich saß wirklich in diesem Helikopter und flog zur Unfallstelle. Und es hat sich gelohnt. In der totalen Dunkelheit Grönlands sahen wir plötzlich eine schier unglaubliche Szenerie. Die Amerikaner hatten Leitungen verlegt und große Kerosinlampen leuchteten die gesamte Fläche aus, auf der das Flugzeug explodiert war. Eine Anzahl von Männern war dabei, mit einer Art von Staubsaugern die herumliegenden Trümmerstückchen aufzusammeln. Die Bruchstücke waren bis zu zwei Meter tief in das Eis eingeschmolzen. Ich sah mir das an und war sehr froh, zu den wenigen Leuten zu gehören, die das zu sehen bekamen. Nach 20 Minuten wurden wir wieder zurückgeflogen. Jetzt hieß es, das Material so schnell wie möglich in die Redaktionen zu bringen.

Unmittelbar nach der Landung unseres Helikopters erfuhren wir, dass eine halbe Stunde später eine Maschine nach Kopenhagen fliegt. Diese könne aber nur Material mitnehmen. Diese Chance nutzten natürlich die Fotografen. Die Bilder waren viel wichtiger als die Geschichten. Die hätte man in Hamburg auch aus Agenturmaterial machen können, wobei es aber für eine Zeitschrift schöner ist, schreiben zu können, die eigenen Leute sind dabei gewesen. Fred Ihrt gab jedenfalls seine Filme mit einigen schnell geschrieben Notizen ab. Mir riet er, alles in Bewegung zu setzen, damit ich meine Geschichte schnell nach Hamburg kabeln könne. Satellitenverbindungen gab es ja damals noch keine, nur eine Telefonverbindung nach Labrador in Kanada. Es meldete sich ganz leise eine Dame, die mich auf meinen Wunsch, mit Hamburg in Germany zu sprechen, erst einmal mit New York verband. Von dort landete das Gespräch in einer Zentrale in Frankfurt am Main und wurde schließlich in die „stern“-Redaktion nach Hamburg umgeleitet. Ich schrie der Sekretärin meine Geschichte durch und war anschließend völlig glücklich. Und dann kam ein Eissturm, der uns für Tage in die Baracken verbannte.

Abenteuerlich war auch die Rückreise nach Europa. Nach dem Ende des Eissturms wurde uns angeboten, mit einer Maschine der US-Air Force in die USA zu fliegen. Einige der Journalisten wollten lieber auf einen Flieger nach Kopenhagen warten, aber ich kletterte mit Fred Ihrt und weiteren Reportern über eine Steigleiter in den achtstrahligen Boeing-Militärtransporter. Da man uns die Arktiskleidung wieder abgenommen hatte, fror ich prompt mit den Händen an der eisigen Leiter an und riss mir Hautfetzen ab. In der Maschine war es genauso kalt wie draußen, da die Ladeklappen offenstanden. Ich erlebte das, was ich bis dahin nur aus Landser-Heften über den Russlandfeldzug und Stalingrad gelesen hatte: 20 Journalisten kauerten sich ganz eng zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen. Schließlich war alles verladen, die Klappen gingen zu und die Maschine startete. Gleichzeitig fuhr die Heizung hoch und innerhalb weniger Minuten wurde es kochend heiß. Bis auf einen Schützenpanzer war der ganze Frachtraum leer. Wir saßen an den Wänden auf Bänken wie in den Filmen die Fallschirmjäger, bevor sie an die Luke geführt werden, um rauszuspringen. Eine Toilette gab es nicht, nur ganz hinten ein paar Rohre zum Reinpinkeln.

Nach einer Zwischenlandung in Neufundland, wo wir an Bord blieben, landeten wir auf einem Luftwaffenstützpunkt in Newark im Bundesstaat New Jersey, etwa 30 Kilometer südlich der Stadt New York. Bis dahin hatte ich über Passangelegenheiten nicht nachgedacht, jetzt aber wurde das zu einem Problem. Fred Ihrt hatte einen Pass mit amerikanischem Visum, ich einen Pass ohne amerikanisches Visum. Mir wurde mitgeteilt, ich dürfte gar nicht hier sein. Geduldig fing ich an, den Behörden zu erklären, dass ich von der US Base Thule käme, Journalist sei, über den Bomberabsturz geschrieben hätte und nur nach Europa zurückwolle.

Tja, hieß es, man müsse mich sofort zum internationalen Flughafen bringen und die bundesdeutsche Botschaft informieren: Ich würde abgeschoben. Das war ein Erlebnis. Bis dahin war mein Bild von den Amerikanern als Befreier 1945 positiv geprägt gewesen, durch diese Aktion hat es sich verändert. Nicht, dass ich schlecht behandelt wurde, aber ich wurde abgeschoben. Seitdem weiß ich, dass die amerikanische Bürokratie jede andere Bürokratie in der Welt übertrifft. Man brachte mich mit einem Miliärfahrzeug zum internationalen Flughafen. Dort empfing mich der deutsche Presseattaché mit der Frage: „Was haben Sie denn gemacht?“ Dann wurde ich in die nächste Lufthansa-Maschine nach Europa gesetzt. Als ich wieder in der „stern“-Redaktion erschien, war unser Beitrag, mehrere Seiten lang und mit vielen Fotos versehen, längst erschienen. Und, was damals äußerst wichtig war, eine Woche früher als die Geschichte im „Spiegel“.

Übrigens habe ich lange geglaubt, dass die vier Wasserstoffbomben noch immer im Meer schlummern, wie uns damals die amerikanischen Militärs versichert haben. Gewundert hatte mich nur, dass die amerikanischen Soldaten und die dänischen Spezialisten, die da mehrfach zur Absturzstelle geflogen worden waren, ziemlich unzeitgemäß verstarben. Es musste also doch sehr gefährlich gewesen sein. Im Internet kann man jetzt nachlesen, dass die Amerikaner 57 Millionen Liter radioaktiv verseuchten Schnee in versiegelten Spezialcontainern abtransportiert haben. Und aus einem in US-Archiven entdeckten Schreiben von General Edward B. Giller an die US-Atomenergiekommission ist die Rede davon, dass das Flugzeugwrack und drei der Bomben beziehungsweise Bruchstücke von ihnen gefunden wurden. Was aus der vierten Wasserstoffbombe – jener mit der Nummer 78252 – wurde, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im August 2000 berichtete die dänische Zeitung „Jyllands Posten“, diese Bombe würde noch immer im Meer liegen. Prompt dementierte das ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, alle vier Bomben seien durch das Feuer zerstört worden. Uns wurde damals gesagt, sie seien alle mit dem Wrack versunken.

Ach los, scheiß der Hund drauf!

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