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1. Erinnerung

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Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

(2. Mose 20,2-3)

Ich und du haben Erinnerungen, die länger zurückreichen als sich die Wegstrecke vor uns erstreckt.7

(Two Of Us, 1970)

Obwohl jedes Pop-Phänomen für denjenigen, der sich daran erfreut, aus dem Nichts aufzutauchen scheint, entspricht dieser Eindruck oft nicht der Wahrheit. Auch die Beatles bilden hier keine Ausnahme. Versucht man, die Entstehung, Entwicklung und den Erfolg der Beatles zu begreifen, dann ist der geschichtliche und regionale Kontext von elementarer Bedeutung. Genauso wie das Volk Israel im ersten Gebot dazu aufgefordert wird, sich auf die eigene Herkunft rückzubesinnen, haben auch John, Paul, George und Ringo ihre Vergangenheit häufig vor Augen und erinnern sich daran zurück, was sie einmal waren, bevor sie die Beatles wurden.

Ringo Starr und John Lennon werden 1940 geboren, Paul McCartney 1942 und George Harrison 1943 – alle vier in Liverpool, jener großen Hafenstadt des armen und industriereichen Nordens, der für seine industrielle Produktivität im Zweiten Weltkrieg mit schweren Bombardierungen bezahlen musste. Verglichen mit der Zeit, als die Schiffswerften dort florierten, ist Liverpool heute eine sehr viel kleinere Stadt. Als die vier Jungen dort zur Welt kommen, ist Liverpool ziemlich multikulturell geprägt: Es gibt dort die erste afrikanische Gemeinschaft Großbritanniens (ein Erbe des Sklavenhandels, für den die Stadt ein wichtiger Knotenpunkt war), dort ist die älteste chinesische Gemeinschaft in Europa ansässig, dazu mehrere zehntausend Iren (Nachfahren der zwei Millionen Iren, die im 19. Jahrhundert nach der großen, durch die Kartoffelfäule bedingten Hungersnot einwanderten), es gibt eine jüdische Gemeinschaft, die ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert hat und eine islamische Gemeinschaft, die schon seit dem Jahre 1887 eine Moschee besitzt. Liverpool ist die Stadt der zwei riesigen und bizarr anmutenden Kathedralen – eine anglikanische, die an ein düsteres, neugotisches Schloss erinnert, und eine katholische, die einem aus Glas, Eisen und Stahlbeton errichteten Indianerzelt ähnelt. Beide wurden im 20. Jahrhundert erbaut und stehen sich auf zwei Hügeln gegenüber. Die Hope Street (Straße der Hoffnung) verbindet beide Kirchen miteinander.

Wer während eines Krieges zur Welt kommt, hat sicherlich am eigenen Leib unter Entbehrungen und rationiertem Essen (das auch noch für viele Folgejahre rationiert bleibt) zu leiden, aber er ist auch einer der ersten, der von der Wehrdienstpflicht befreit ist. Liverpool, einstiger Knotenpunkt des verlorenen (britischen) Weltreichs, ist auch die erste Stadt, in die der Rock’n’Roll aus den Vereinigten Staaten Einzug hielt. Junge Leute experimentieren mit Musik und hier etabliert sich eine von den Beatles praktizierte und dann von ihnen selbst wieder verworfene neue Art, die Skiffle-Musik.8

In dem Elend, das in einer Stadt herrscht, die vornehmlich aus armen Arbeitern und Kleinbürgern besteht, beginnt man nun, den Duft der großen Freiheit zu atmen. Die Generation der Beatles, die sich aus den Fesseln einer erstarrten und erstickten Gesellschaft befreit, ist in Wirklichkeit schon vorher durch historische Ereignisse befreit worden. Dazu zählen die Niederlage Hitlers, das Ende des britischen Weltreiches und der Aufstieg der ehemaligen Kolonie Amerika zur Weltmacht. All dies nimmt die Last der Verantwortung, die damit einhergeht, die Nummer Eins der Welt zu sein, von Großbritannien.

Die vier Beatles vertreten die Stadt Liverpool in gebührender Weise. Ringo, der von seinem Vater, einem Konditor, verlassen wurde, verbringt seine Kindheit wegen seiner instabilen Gesundheit im Krankenhaus und fasst Zuneigung zu seinem Stiefvater, der ihm sein erstes Schlagzeug schenkt. John, dessen Vater (ein Matrose) ihn allein zurücklässt, wird von seiner Mutter an die spießbürgerliche Tante Mimi weitergereicht. Paul ist der Sohn eines Baumwollhändlers und einer Hebamme und George schließlich Sohn eines Busfahrers und einer Verkäuferin.

Die vier jungen Musik- und Sittenreformer versäumten es nie, sich die Erinnerung an eine gemeinsame vergangene Zeit, an die sie sehnsüchtig zurückdachten, wachzuhalten, zumindest bis zum Zeitpunkt der Trennung. Der überwältigende Ruhm, der ihnen zuteilwurde, schnitt sie von ihren Wurzeln ab.9

Häufig trauerten die Beatles einer Vergangenheit der Freiheit und Sorglosigkeit nach. Und so verwandelte sich die Erinnerung in nostalgische Sehnsucht, wie wir es etwa bei John in dem Song Help! (1965) hören:

When I was younger,Als ich jünger war,
so much younger than todaysehr viel jünger als heute,
I never needed anybody’sbenötigte ich niemals Hilfe
help in any wayvon irgendjemandem,
but now these days are goneaber nun sind diese Tage vorbei,
and I am not so self assured.und ich bin nicht mehr so selbstsicher.

Am Ende von Cry Baby Cry (1968) antwortete Paul darauf:

Can you take me backKannst du mich dahin zurückbringen,
where I came from,von wo ich gekommen bin,
can you take me back?kannst du mich dahin zurückbringen?

Die Art und Weise, in der die einzelnen Mitglieder der Band ihre Erinnerungen an die Vergangenheit bearbeiteten, ist jedoch nicht einheitlich. Für Paul schließt Erinnerung auch die Vergangenheit eines ganzen Volkes und seiner Familie mit ein. Aus diesem Grund umschmeichelte er in einigen Songtexten den Stil der vierziger Jahre und lässt damit bewusst „die guten alten Zeiten“ erstehen. (So wie beispielsweise in den Alben Your Mother Should Know und Honey Pie, beide aus dem Jahr 1968, aber auch im sehr viel jüngeren Soloalbum Kisses On The Bottom von 2012). Erwähnenswert ist auch der Traum von einer idyllischen Zukunft aus When I’m Sixty-Four (1967), in dem Paul sein Leben als alter Mann dem Zuhörer in einem traditionellen Bild mit Pantoffeln, Enkelkindern und Ausflügen vor Augen hält. Als Paul McCartney im Jahre 2006 dann tatsächlich sein 64. Lebensjahr vollendet, ist es für ihn jedoch ein bitteres Jahr. Es ist nicht von Idylle, sondern von der Scheidung von seiner zweiten Frau Heather Mills geprägt, die ihn mehr als 70 Millionen Euro kostete.

Für John Lennon vermischten sich oft Vergangenheit und Gegenwart und ließen auf diese Weise, je nach der aktuellen Lebensphase, auch die Erinnerungen verschwimmen. Symbolisch für diese Vermischung ist, dass er seine Frau Yoko Ono mit seiner Mutter Julia identifiziert. Anzeichen hierfür kann man in dem Song Julia (1968) finden, den er seiner Mutter (nach der er sich sehr sehnt und mit der er wenig Zeit verbringen konnte) gewidmet hat. Hier nennt er sie unter anderem „Ocean Child“, also „Tochter des Ozeans“, was die Übersetzung des japanischen Namens Yoko ist. Im gleichen Album, dem White Album, finden wir den Song Happiness Is A Warm Gun, der sich auf den Geschlechtsakt mit „Mother superior“, also Yoko bezieht.

Interessant ist auch, dass der erste Song von John Lennons Soloalbum John Lennon / Plastic Ono Band den Namen „Mother“ trägt und in ergreifenden Worten den eigenen Eltern gewidmet ist:

Mother, you had me,Mutter, du hast mich gehabt
but I never had you […]aber ich habe dich nie gehabt […]
Father, you left me,Vater, du hast mich verlassen,
but I never left youaber ich habe dich nie verlassen
I needed you,Ich brauchte dich,
but you didn’t need me […]aber du brauchtest mich nicht […]
Mama don’t goMama, geh nicht weg
Daddy come home.Papa, komm nach Hause zurück.

Das Album Mother lässt die bedeutende Rolle erahnen, die Yoko Ono innehatte, um die Gespenster aus John Lennons Kindheit zu besänftigen.

Johns besonderer Blick auf die Gegenwart und Vergangenheit gleichermaßen gestattet es ihm bereits einige Zeit vor der Auflösung der Beatles, ein Stück über die Band zu schreiben. In Glass Onion (1968) singt John davon, wie es ihm gelingt, einen Schritt beiseitezutreten und sich die Band „in einer Glaszwiebel“ anzusehen. Ein Bild, das weitaus suggestiver ist als die klassische Glaskugel, da es den Aspekt der Schichten in sich trägt, die, nachdem sie entfernt wurden, den Blick auf das Herzstück der eigenen Identität und der Identität der anderen freigeben.

In den erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Paul McCartney und John Lennon, die auf die Trennung der Beatles folgten, fällt besonders auf, dass Lennon in dem Song How Do You Sleep? seinen Lieblingssong aus der Feder von McCartney und dessen seinerzeit aktuellen Erfolgssong zitierte, beides Songs, die sich auf den Aspekt der Zeit beziehen:

The only thing you’ve doneDas Einzige, was du gemacht hast,
was yesterdaywar gestern
and since you’ve gone you’reund seitdem du weggegangen bist, bist du
just another daynur ein anderer Tag

Zudem offenbart die Zeile „seitdem du weggegangen bist“ eine Schuldzuweisung, die der ähnelt, die dem Vater entgegengebracht wird, als fühlte sich John nun erneut von einem Familienmitglied verlassen.

Ringo Starr hat keinen erwähnenswerten Bezug zur Vergangenheit und zu seinen Erinnerungen, während George Harrison einen originellen Ansatz verfolgt, der durch seinen Weg in der östlichen Religiosität begründet ist. Dadurch wurde er vielleicht zum berühmtesten Anhänger der Hare-Krishna-Bewegung, ein bisschen so, wie es heute Tom Cruise bei Scientology ist. Karma und die darin verortete wiederkehrende Abfolge der Dinge vermittelten George den Eindruck einer Quasi-Ewigkeit, die ihm – dem Jüngsten der vier – gestattete, Texte zu verfassen, die in ihrer extremen Einfachheit sogar noch ungleich tiefgängiger und reifer erscheinen. In dem Lied Long Long Long (1968) singt er von der sehr langen Zeit, die zwischen dem Zeitpunkt, als er das Bewusstsein über Gott verloren hatte, und dem Moment, als er sich das Gottesbewusstsein wiedererwarb, lag. Hier ist hinzuzufügen, dass für Harrison der Gott der Christen identisch mit Krishna ist, was Letzterem natürlich zugutekommt.

Das erste Gebot, auf das sich alle zehn Gebote gründen, beschreibt die Souveränität Gottes, aber es geht in ihm auch um das Bewahren der Erinnerung an die Vergangenheit und um Identität. Es ist das einzige Gebot, das nicht mit einer Vorschrift, sondern mit einer Aussage – „Ich bin“ – beginnt, die an das zuvor geschehene Errettungswerk anknüpft (die Befreiung der Israeliten aus Ägypten, dem Land ihrer Versklavung). Und erst auf Grundlage dieser Identitätsbestimmung setzt sich das Gebot mit einer Vorschrift fort: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ Die Erinnerung und das Bewusstsein der eigenen Vergangenheit ist eine notwendige Voraussetzung, wenn es darum geht, ein Volk zu gründen oder auch das Leben eines Menschen oder, wie in unserem Falle, vierer junger Engländer.

7 „You and I have memories / Longer than the road / That stretches out ahead.“

8 Skiffle-Musik wird beispielsweise auf dem Banjo, aber auch auf selbst hergestellten und improvisierten Instrumenten gespielt, wie etwa Töpfen und Schüsseln aus Metall.

9 Da waren Orte wie die Endhaltestelle der Buslinie von Penny Lane oder das von der Heilsarmee geführte Waisenhaus „Strawberry Field“ dabei, die auch in ihren Liedtexten auftauchen.

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