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Lebenslange Freundschaft als Präfiguration der Utopie1

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Martin Jay

Kaum jemand wird die ehrgeizigen Ziele der talentierten und heterodoxen Gruppe von in Deutschland geborenen, streitbaren Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts bezweifeln, die mit dem Institut für Sozialforschung, das später unter dem Namen Frankfurter Schule bekannt wurde, verbunden sind. Oft gemeinsam, manchmal aber auch alleine, widmeten sie sich den dringlichsten Problemen ihrer Zeit. Sie kombinierten Erkenntnisse aus vielen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und versuchten, ihre theoretischen Überlegungen durch innovative empirische Untersuchungen zu bereichern und zu überprüfen. Inspiriert von einer Vielzahl philosophischer Traditionen und Impulsen aus religiösen und ästhetischen Quellen, stellt ein bedeutendes Motiv ihrer moralischen Empörung das unnötige Leid und die Ungerechtigkeit der Welt, die sie umgab, dar. Das Spektrum ihrer Themen reichte von der Weltwirtschaft bis zur Krise der bürgerlichen Familie, von den hohen Künsten bis zur Populärkultur, vom autoritären Staat bis zur autoritären Persönlichkeit. Sie versuchten nicht nur, die Ära des Kapitalismus zu verstehen – sei es in seiner entstehenden, klassischen, monopolistischen oder staatlichen Phase –, sondern sie spekulierten auch kühn über den Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte und erweiterten das Konzept der »Aufklärung« um die frühesten Bemühungen der Menschheit, eine feindliche Umwelt zu meistern und die Selbsterhaltung der Spezies und ihrer einzelnen Mitglieder sicherzustellen. Trotz des Misstrauens gegenüber der hegelianisch-marxistischen Kategorie der Totalität, die sich auf eine triumphale Metaerzählung der Menschheitsgeschichte als dialektischen Fortschritt in Richtung einer sozialistischen Zukunft stützte, verloren sie nie vollständig ihre ganzheitliche Perspektive. Auch die nachfolgenden Generationen der Kritischen Theorie waren überzeugt davon, dass grundlegende Fragen auch umfassende und tiefgreifende Antworten erforderten, die nur durch die Synthese und die gemeinschaftlichen Anstrengungen der kritischen Theoretiker geklärt werden konnten. Das zeigt sich noch in Jürgen Habermas’ bemerkenswertem, 1.700 Seiten umfassenden Abschiedsgeschenk Auch eine Geschichte der Philosophie2.

Paradoxerweise konnten viele Intellektuelle der Frankfurter Schule die Hindernisse nicht ignorieren, die eine systematische Gesamtdarstellung ihrer theoretischen Erkenntnisse über eine Welt, die zunehmend undurchsichtig schien, verhinderten. Das taktische Mittel einer »Kritischen Theorie kleingeschrieben« reagierte performativ auf das, was Habermas als »die neue Unübersichtlichkeit«3 der modernen Welt bezeichnet hatte. In Werken wie Horkheimers Dämmerung, Walter Benjamins Einbahnstraße und Theodor W. Adornos Minima Moralia finden sich meist komprimierte Aufsätze, Aphorismen und Epigramme. Die gelegentlich gnomisch-kryptischen Formulierungen, die sich nur indirekt auf nachhaltigere Argumente und erweiterte Beobachtungen stützten, wurden bewusst nie vollständig ausgeführt. Zuweilen begnügten sich die Autoren mit Fragmenten. Es finden sich Ausführungen und Positionen mit scheinbar unvereinbaren Widersprüchen. So widersetzen sich ihre Analysen einer konsequenten Harmonisierung und Vereinnahmung durch den traditionellen Wissenschaftsbetrieb.

Wie Georg Simmel vor ihnen und Siegfried Kracauer und Ernst Bloch in denselben Jahren, verließen sie sich eher auf Denkbilder als auf die starre Präzision wissenschaftlicher Literatur. Diese Denkbilder sollten Funken entzünden, die die Düsternis durchdringen und zu den »profanen Erleuchtungen« führen, die, wie Benjamin hoffte, einen Einblick in eine andere und bessere Welt liefern könnten.4

Die nie gelöste Spannung zwischen ihren totalisierenden Bestrebungen und der Schwierigkeit, einen Weg zu finden, die gesellschaftliche Totalität darzustellen, war mehr als ein Spiegelbild intellektueller Einschränkungen. Es drückte auch auf experimenteller Ebene die Auswirkungen dessen aus, was Adorno bekanntermaßen als »beschädigtes Leben«5 bezeichnete, das geprägt war von der Zerstörung ihrer politischen Hoffnungen, dem erzwungenen Exil und der hartnäckigen Widerstandsfähigkeit eines erstickenden Status quo.

Eine der äußerst beunruhigenden Prognosen der Kritischen Theorie war, dass der Ort für eine sinnvolle individuelle Entwicklung, der einst von der bürgerlichen Familie angestrebt wurde und als mögliches Modell künftiger Emanzipation auf einer allgemeineren Ebene hätte gelten können, fragwürdig geworden war. Mit dem Niedergang der traditionellen Familie, die einst als »Zufluchtsort in einer herzlosen Welt«6 und Quelle ethischer Orientierung galt, wurde die Sozialisierung der Heranwachsenden zunehmend anfällig für Marktanforderungen, staatliche Interventionen und den Einfluss professioneller Eliten. In der Tat konnten sich nur wenige Beziehungen in der modernen Welt der Anziehungskraft dieser mächtigen Kräfte entziehen.

Es existierte jedoch eine verdeckte Ausnahme, die für den eigenen Kampf der Frankfurter Schule, dem Druck, der Assimilation und Konformität zu widerstehen, von entscheidender Bedeutung war: die Bindungen persönlicher Freundschaften. Sie dienten als lebenswichtige Sehnen, die der Skelettstruktur des Instituts seine Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verliehen. So konnten die zahlreichen Ortswechsel des Instituts, zu Beginn innerhalb des europäischen, dann des amerikanischen Kontinents, darauf von Kontinent zu Kontinent und wieder zurück, überleben. Für viele deutsche Denker unterschiedlicher politischer Überzeugungen schien das Ideal freundschaftlicher Bindungen eine Perspektive für eine zukünftige ideale Gemeinschaft zu sein, die als sogenannte präfigurale »Utopie kleingeschrieben«7 gedacht werden konnte. Das anschaulichste Beispiel war die außergewöhnliche, praktisch lebenslange Verbindung zwischen Max Horkheimer und Friedrich Pollock.8 In einem Vertrag, den sie als Jugendliche im Jahr 1911 schlossen, verpflichteten sich die Freunde gegenseitig, ihr Leben der Erfüllung eines gemeinsamen Schicksals zu widmen. Die Verbindung erneuerten sie 1935 während des amerikanischen Exils in einem zweiten Vertrag. Pollock erkannte bereitwillig den Vorrang von Horkheimers intellektueller Arbeit an und widmete den Löwenanteil seiner Energie der Verwaltung des unabhängigen Forschungsinstituts, obwohl er auch weiter wichtige Beiträge zu den Wirtschaftsanalysen der Frankfurter Schule verfasste. Pollock sorgte dafür, dass die Forderungen des Direktors Horkheimer umgesetzt wurden. Trotz seiner Ambivalenz, nach dem Krieg nach Europa zurückzukehren, folgte Pollock Horkheimer (und Adorno) und half beim Wiederaufbau des Instituts 1950 in Frankfurt, bevor er sich anschließend in die Schweiz, nach Montagnola zurückzog. Horkheimer und Pollock hatten dort benachbarte Häuser gebaut. Was Horkheimer in einem frühen autobiografischen Roman als sogenannte île heureuse bezeichnet hatte, blieb ein beständiger Mikrokosmos proto-utopischer Befriedigung in einer Welt voller Leid und Ungerechtigkeit.9

Dank der Veröffentlichung ihrer Korrespondenzen und anderer Archivquellen können wir nun die Bedeutung von Freundschaftsnetzwerken in der Geschichte anderer Mitglieder der Schule sowie ihre persönlichen Beziehungen zu assoziierten Persönlichkeiten wie Siegfried Kracauer, Paul Tillich und Alfred Sohn-Rethel10 erkennen. Horkheimers wachsende Intimität mit Adorno, Marcuses Nähe zu Franz Neumann, die anfängliche Wärme und spätere Distanzierung zwischen Erich Fromm und Löwenthal sind ebenso integrale Bestandteile der Geschichte des Instituts wie die intellektuellen und persönlichen Beziehungen zwischen Adorno und Benjamin. Manchmal spielten Frauen eine wichtige Rolle als Vermittler – Gretel Adorno stand Benjamin besonders nahe, Inge Neumann heiratete Marcuse nach dem Tod ihrer jeweiligen ersten Ehepartner, Felix Weils Ehefrauen gaben Horkheimer und Pollock oft Anlass zur Sorge –, aber im Großen und Ganzen drückten ihre Interaktionen die vorherrschenden homosozialen Beziehungen der Männer ihrer Zeit aus.11

Eine der langlebigsten und sich gegenseitig unterstützenden Verbindungen knüpften Leo Löwenthal und Herbert Marcuse, die sich kurz vor ihrer Flucht nach Amerika kennenlernten. Obwohl Marcuse Schüler Martin Heideggers gewesen und seine Dissertation über Hegels Ontologie bereits fertiggestellt war, die Heideggers Einfluss zeigte – Adorno publizierte 1932 eine etwas gemischte Rezension in der Neuen Zeitschrift für Sozialforschung –, empfahl Kurt Rietzler, ein Philosoph und ehemaliger Diplomat, der damals Kurator der Universität Frankfurt war, Horkheimer, Marcuse in den Kreis des Instituts aufzunehmen. Bald darauf wurde Löwenthal entsandt, um Marcuse in die neue Zweigstelle des Instituts nach Genf einzuladen. Marcuse hatte Freiburg im Dezember 1932 verlassen, als sich zunehmend herausstellte, dass seine Hoffnungen auf eine von Heidegger betreute Habilitation nicht verwirklicht werden konnten. An dem schicksalhaften Tag, dem 30. Januar 1933, als Hitler Reichskanzler wurde, trat Marcuse offiziell dem Institut bei. Nach einem Jahr in der Schweiz schloss er sich den anderen Institutsmitgliedern in ihrem neuen Zuhause in New York an. Wie aus einem scherzhaften Brief vom 7. Juli 1934 hervorgeht, den Marcuse an Löwenthal sandte, der als letztes Mitglied des Instituts12 Europa verlassen hatte, waren beide bereits enge Freunde geworden. In einer sarkastischen Anspielung lästern sie, es sei eine »Ehre mit dem Direktor [Horkheimer] am Montag in einem Pullman-Schlafwagen nach Lake Placid fahren zu dürfen.«

In Anbetracht seiner späteren internationalen Berühmtheit ist daran zu erinnern, dass Marcuse in jenen frühen Jahren weniger prominent war. Löwenthal, der 1926 zum Institut kam, war nach 1930 zusammen mit dem Ökonomen Henryk Grossmann einer der Hauptassistenten von Horkheimer. Als die Zeitschrift für Sozialforschung 1932 mit ihren Veröffentlichungen begann, übernahm Löwenthal eine wichtige redaktionelle Rolle. Er war verantwortlich für den umfangreichen und bald schon hoch angesehenen Rezensionsteil. Marcuse veröffentlichte zwei Jahre später seinen ersten Aufsatz in der Zeitschrift. Zu diesem Zeitpunkt hatte Löwenthal bereits drei veröffentlicht, unter anderem seinen wichtigen Aufsatz Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur.13 Als Adorno in den Institutsangelegenheiten bedeutender wurde und Horkheimers Vertrauen als dessen wichtigster theoretischer Mitarbeiter gewann, sah sich Marcuse zunehmend an den Rand gedrängt.14 Letztendlich wurde er aus dem Gemeinschaftsprojekt ausgeschlossen, das dann in der Dialektik der Aufklärung mündete.

Obwohl Marcuse und Löwenthal in der interdisziplinären Organisation des Instituts unterschiedliche Aufgaben zugewiesen wurden, trugen sie zur kollektiven Entwicklung der Kritischen Theorie bedeutend bei. Sie teilten beide ein starkes Interesse an ästhetischen und kulturellen Fragen. Ihre Freundschaft vertiefte sich während der Zusammenarbeit des Instituts mit der Columbia University in New York, die aber schon Anfang der 1940er Jahre langsam nachließ.15 Nach einem Jahr, das Marcuse mit Horkheimer, Pollock und Adorno in Los Angeles verbrachte, während Löwenthal an der Ostküste blieb,16 wurde ihre Beziehung nach der Rückkehr nach Washington erneuert. Dort arbeiteten beide in den amerikanischen Organisationen, die das nationalsozialistische System analysierten. Marcuse war zusammen mit Neumann und Otto Kirchheimer im Büro für strategische Angelegenheiten, während Löwenthal, der seine Kollegen im Office of Strategic Service (OSS) beneidete, für das Büro für Kriegsinformationen, das Office of War Information (OWI), arbeitete17. Als Horkheimer, Adorno und – mit einiger Zurückhaltung – Pollock nach dem Krieg nach Frankfurt zurückkehrten, blieben Marcuse und Löwenthal in den Vereinigten Staaten. Letztendlich lehrten beide an der University of California, Löwenthal in Berkeley und Marcuse in San Diego.

In dieser Zeit entdeckte die Neue Linke auf beiden Seiten des Atlantiks das Erbe der Kritischen Theorie und Marcuse erlangte als kritischer, aber auch solidarischer Vertreter der Bewegung der revoltierenden Jugend Ende der 1960er Jahre internationalen Ruhm18. Ab den 1970er Jahren vertiefte sich ihre enge Verbindung. Marcuse schrieb 1970 eine glühende Einführung für eine neue Ausgabe von Löwenthal und Gutermans Prophets of Deceit, in der Marcuse die Relevanz des Buches für das Amerika dieser Zeit betonte (eine Behauptung, die nach fünfzig Jahren immer noch aktuell erscheint)19. Löwenthal gab Marcuse Unterschlupf in seinem Sommerhaus in Carmel Valley, Kalifornien, als Rechtsextremisten und der Ku-Klux-Klan Marcuses Leben mit Morddrohungen bedrohten. Beide drückten ihre Solidarität mit den Frankfurter Studenten aus. Die Revoltierenden kritisierten Horkheimers und Adornos Ambivalenzen gegenüber deren Aktionen und forderten, die militanten Implikationen der klassischen Kritischen Theorie zu verwirklichen.

Marcuses und Löwenthals jahrzehntelange Freundschaft in einer Welt, in der die Integrität anderer traditioneller Werte wie Solidarität und Selbstlosigkeit immer wieder zerstört wurden, zeugt von der bedeutenden Kraft, die von diesen engen Bindungen damals ausging.

Die im Band präsentierten Aufsätze, Kommentare, Primärtexte und Briefe zeigen die persönliche Zuneigung der beiden in den Staaten verbliebenen Theoretiker. In den vielen verschiedenen Anreden und Abschiedsgrüßen der Briefe, die im Laufe der Jahrzehnte ausgetauscht wurden – »Untier«, »Lieber Vater Marcuse«, »Dear Loontool«, »Dear LL«, »Leochen«, »Dear Herb«, »Leo Dear« –, spüren wir die Wärme, sogar gelegentlich regressive, kindliche Freundschaft, die ihren zwischenmenschlichen Kontakt belebte. In Eros and Civilization lobte Marcuse Friedrich Schillers »Spieltrieb« als Quelle einer utopischen Version von Schönheit und Freiheit, die den instrumentellen Erfordernissen der Arbeit und dem Fetisch der Produktivität entgegengesetzt ist.20 Marcuse und Löwenthal waren engagierte Mitarbeiter bei der Entwicklung der Kritischen Theorie und arbeiteten mit ihren Kollegen zusammen, um die ernsthafte wissenschaftliche Agenda des Instituts umzusetzen und vielleicht letztendlich die Welt zu verändern. Aber in der spielerischen Intimität, die ihre dauerhafte Freundschaft ermöglichte, lag etwas von der Präfiguration der Utopie.

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Dies ist nicht das erste Mal, dass Peter-Erwin Jansen Materialien aus den Archiven von Marcuse und Löwenthal auswählt und kommentiert. Die Beziehung, die sich zwischen einem literarischen Herausgeber und den im Archiv zurückgelassenen Materialien, die er oder sie sortiert, bearbeitet, zusammenstellt, zur Publikation für andere Wissenschaftler freigibt, kann gelegentlich so emotional sein, dass dies das Interesse der Öffentlichkeit blockiert. Allzu oft kann es zu einer eifersüchtigen Torhüterrolle für den Herausgeber werden, der entschlossen ist, den idealisierten Ruf einer verehrten Figur nicht zu beeinträchtigen. Die Erlaubnis, unveröffentlichtes Material zu lesen, kann verdächtig verweigert werden und möglicherweise werden peinliche Dokumente unter Verschluss gehalten. Das gegenteilige Ergebnis ist auch möglich, wenn der Zugang zu privaten Materialien zeigt, wie viel Ton sich tatsächlich in den Füßen eines scheinbaren Helden befindet, und ein bewundernder Redakteur sich in einen desillusionierten Staatsanwalt verwandelt. Kein Mann ist, wie eine bekannte Formulierung sagt, ein Held für seinen Diener, der mit seiner schmutzigen Wäsche umgehen muss. Aber es ist wichtig, sich auch an Hegels berühmte Korrektur dieses Ausspruchs zu erinnern: »Es ist nicht so, weil Helden keine Helden sind, sondern weil Kammerdiener Kammerdiener sind.«

Ein kluger und rücksichtsvoller Redakteur wird die Extreme zwischen einer Idealisierung der Helden und des desillusionierten Zynismus eines Kammerdieners vermeiden. Er oder sie wird die Werke, die das anhaltende Interesse an einem Autor rechtfertigen, sorgfältig auswählen und präsentieren, während die allzu menschlichen Eigenschaften, die ungefilterte Archivunterlagen offenbaren könnten, sensibel kommentiert werden. In den Fällen von Marcuse und Löwenthal erfordert dies auch die Geduld und Standhaftigkeit, um etwa 40.000 Seiten des Ersteren und 75.000 Seiten des Letzteren im Archiv in Frankfurt durchzulesen.21 Im Laufe der Jahre wurden die Mitglieder der Frankfurter Schule von Redakteuren gut betreut, die eine Vielzahl unveröffentlichter Materialien zur Verfügung gestellt und sorgfältig ediert haben. Seit Adorno und Gershom Scholem in den 1960er Jahren bei der ersten Ausgabe von Benjamins ausgewählten Werken zusammengearbeitet haben, haben die »Frankfurter« von der intimen Kenntnis nicht nur der Texte, sondern auch der darin enthaltenen Ideen profitiert, die von ihren Herausgebern publiziert wurden.

Allerdings wurden die Ergebnisse, wie auch das Beispiel der Adorno-/Scholem-Ausgabe von Benjamin zeigt, nicht immer allgemein anerkannt, insbesondere von jenen, die politische Motive für redaktionelle Entscheidungen unterstellten.22 Solche Anschuldigungen konnten jedoch einer genauen Prüfung nicht standhalten, und im Großen und Ganzen sind ihre Nachlässe nicht unbeachtet geblieben. Jetzt wird erkennbar, dass die immer noch wachsende internationale Rezeption der Frankfurter Schule nur durch die außerordentlichen Bemühungen von Rolf Tiedemann, Alfred Schmidt, Gunzelin Schmid Noerr, Robert Hullot-Kentor, Helmut Dubiel und Douglas Kellner ermöglicht wurde, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen. Sie waren nicht nur die Vermittler zwischen dem Archivprotokoll und der öffentlichen Rezeption der Figuren, deren Werke sie sorgfältig bearbeitet haben, sondern sie haben auch maßgeblich zur Interpretation der Hinterlassenschaften beigetragen, für deren Bewahrung sie so viel getan haben. Peter-Erwin Jansen ist ein würdiges Mitglied ihres angesehenen Unternehmens.

1 Übersetzung von Peter-Erwin Jansen. Für die Unterstützung bedanke ich mich herzlich bei Harold Marcuse.

2 Habermas (2019).

3 Habermas (1985).

4 Richter (2007).

5 Adorno (1951).

6 Diese Formulierung stammt von Christopher Lasch (1995): Haven in a Heartless World: The Family Besieged, New York. Die problematische Geschlechterdynamik der patriarchalischen Familie und deren Erosion wurde von denjenigen betrauert, die diese Dynamik nur unzureichend erkannten. Horkheimers ambivalente Bemerkungen zur Verbreitung der Geburtenkontrolle bei Frauen veranschaulichten die Gefahren einer solchen Position. Siehe auch: Horkheimer, Max (1970): Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, Hamburg, S. 74.

7 Explizit behandelt Siegfried Kracauer das Thema Freundschaft in: Über die Freundschaft, Frankfurt a. M. 1917/18. Zur Diskussion über die Bedeutung für »rechte Denker« siehe: Bures, Eliah Matthew (2014): Fantasies of Friendship: Ernst Jünger and the German Right’s Search for Community in Modernity, Ph. D. Dissertation, U. of California, Berkeley.

8 Vgl. Emer (2015) und Lenhard (2019).

9 Lenhard/Pollock (2019), S. 41.

10 Kracauers Beziehungen zu Adorno und Löwenthal zeigen dies am deutlichsten. Siehe dazu: Martin Jay (2003), ders. (2005) und ders. (2018).

11 Die kulturelle Bedeutung homosozialer Beziehungen im Gegensatz zu homosexuellen Beziehungen wurde erstmals herausgearbeitet bei Kosofsky Sedgwick, Eve (1985): Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire, New York. Solche Beziehungen bestehen sowohl zwischen Frauen als auch zwischen Männern. Aber die führenden Persönlichkeiten des Instituts waren alle Männer. Gelegentlich wird argumentiert, dass Frauen als Vermittler von Begierden im homosozialen Bereich zwischen Männern auftreten, eine Behauptung, die die Rolle von Inge Werner Neumann Marcuse neu beleuchten könnte. Laut Sohn Thomas, der später den Namen Osha annahm, haben DNA-Tests bewiesen, dass er tatsächlich Marcuses leiblicher Sohn war, der gezeugt wurde, als sie mit Neumann verheiratet war. Vgl. Defender of the Homeless, The San Francisco Chronicle, 16. Juni 2019.

12 Adorno, der erst 1938 emigrierte, war in diesen Jahren kein vollwertiges Mitglied des Instituts.

13 Löwenthal (1932/1980), S. 309–328.

14 Adornos negative Einstellung gegenüber Marcuse war bereits bekannt, so in seinem Brief vom 15. Mai 1935 an Horkheimer, worin er über Marcuse urteilt, er halte ihn »für einen durch Judentum verhinderten Faszisten«, der aus dem Institut geworfen gehöre. Vgl. Horkheimer (1995), S. 347. Siehe auch: Adorno an Walter Benjamin vom 25. April 1937, als er Marcuses Aufsatz Über den affirmativen Charakter der Kultur als »mäßig«, »mit Weimarer Bildungsstoff aufgefüllt« und als Arbeit eines »fleißigen Oberlehrers« beschreibt. In: Adorno/ Benjamin (1994), S. 235/236. Dort finden sich ebenfalls abwertende Äußerungen gegenüber Löwenthal und Fromm.

15 Vgl. Thomas Wheatland (2009), Kapitel 2.

16 Löwenthal (1987), S. 82.

17 Vgl. Katz (1989), Kapitel 2 und Neumann/Marcuse/Kirchheimer (2016).

18 Zur amerikanischen Rezeption dieser Jahre siehe: Robert Zwarg (2017).

19 Löwenthal/Guterman (1949/1970). Vorwort Marcuses übersetzt aus dem Englischen und mit einer ausführlichen Einleitung, Jansen, P.-E. (1993), S. 40–42.

20 Vgl. Marcuse (1967), Kapitel 9.

21 Angaben von Jochen Stollberg, Nachlass Leo Löwenthals im Archivzentrum der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., in: Jansen (2000) (Hrsg.), S. 175.

22 Vgl. hierzu: Heissenbüttel, Helmut (1967): Vom Zeugnis in Fortleben der Briefe, Merkur 21. Dies war der erste Teil einer Reihe von Kritiken, die hauptsächlich in der radikalen Zeitschrift Alternative (Berlin) auftauchten. Einen weiteren Angriff aus einer anderen Perspektive löste Hannah Arendt aus. Vgl. Müller-Dohm (2011).

Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen

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