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Lügenpropheten – Prophets of Deceit
ОглавлениеNun bedarf es derjenigen politischen Propagandisten oder Demagogen, die genau diese Dispositionen ansprechen. Wer ist das? Wie geschieht das? Welche Tricks wenden sie an? Auf welche Voreinstellungen und Grundhaltungen ihrer Gefolgschaft treffen sie real? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der fünfte Band der Studie Prophets of Deceit, der von Leo Löwenthal und Norbert Guterman im Zusammenhang mit den oben erwähnten Vorurteilsstudien erstellt wurde.
Gesellschaftspolitische Defizite können individuelle Leiderfahrungen hervorbringen, die Stabilität des Individuums bedrohen und sich als Unzufriedenheit bis hin zur Gewalt gegen Minderheiten äußern. Nun geht es dem politischen Propagandisten nicht darum – so Löwenthal –, »das Wesen der besagten Unzufriedenheit rational zu definieren. Vielmehr versucht er jede bei seinem Publikum existierende Desorientierung zu bestärken, indem er alle rationalen Demarkationen verwischt und stattdessen spontane Aktionen vorschlägt«. Diese »spontanen Aktionen« sind umso erfolgversprechender, je klarer zu erkennen ist, gegen wen sich die Aktion richten soll.
Der »Lügenprophet«, so die Verfasser, reduziere politische und gesellschaftliche Missstände oder soziale Verwerfungen auf ethnische Gruppen, auf personifizierte Feinde. Er betont mantraartig die »notwendige Eliminierung von Personen«, aber nicht die Veränderung der gesellschaftlichen Ursachen. Dort also, wo nach einem »Was ist schuld an der Misere?« gefragt werden müsse, stellen die Demagogen die immer wiederkehrende rhetorische Frage »Wer ist schuld an der Misere?«. Und die Propheten der Täuschung antworten am lautesten: »Wir wissen, wer schuld ist, lasst uns nur machen.« Die Personifizierung des Unbehagens an den herrschenden Verhältnissen löst sich so von der politischen Kritik und der rationalen Argumentation ab und der Gedanke über die politischen und ökonomischen Ursachen tritt völlig in den Hintergrund. An die Stelle rationaler Argumentation über soziale Probleme tritt eine scheinbar einhellige Meinung über die Schuldigen, die schnell von allen geteilt werden kann. An diesem Punkt treffen sich Propaganda und Machtwille des Agitators mit seiner Gefolgschaft. Löwenthal schreibt: »Die Anklagen [des Agitators] beziehen sich zwar auf eine soziale Wirklichkeit, aber nicht in der Form rationaler Begriffe.«4
Diese emotionalen Sedimente weiß der Agitator besonders in gesellschaftlichen Krisensituationen für seine Zwecke zu nutzen. Er aktiviert, spielt mit individuellen Angstgefühlen, die längst zum Grundbestand des Lebens in modernen kapitalistischen Gesellschaften gehören. Heute sprechen wir von »Entsolidarisierung, von sozialer Entgrenzung, von Exklusion«.5
Löwenthal nennt diesen Zustand des Menschen im heutigen Dasein: »das große Unbehagen«. Die Mobilisierung der Ängste unter den sich rasant verändernden Lebensumständen und globalen Entwicklungen, ist ein zentrales Motiv der Propaganda. Dem Agitator liegt daran, die Ängste und die Enttäuschungen an die Oberfläche der Unzufriedenen zu spülen, um sie aus ihrer Passivität zu lösen und sie als Instrument gegen die scheinbaren Verursacher zu mobilisieren. Aus Ängsten aufgrund einer unsicheren Situation kann Hass werden auf die scheinbaren Verursacher, die an der eigenen Misere schuld sein sollen. Der Agitator erzeugt das Unbehagen zwar nicht, »aber er verstärkt und verfestigt es, weil er den Weg zur Überwindung der Ursachen versperrt«. Die individuelle Enttäuschung über die vom System vorgegaukelten Glücksversprechen wird gewendet in die gesellschaftliche Lossagung von geteilten Werteorientierungen, gedeutet als Zerfall und Auflösung von quasi naturgesetzlichen Zusammenhängen, die nur zum Abgrund führen können. Daher setzt der Agitator gar nicht auf wirkliche Alternativen, sondern er »verkündet den Untergang«.6
Die scheinbare Alternative, die er formuliert, beschränkt sich auf ein Entweder-oder. Sie ist nur eine scheinbare, da die Grundprinzipien menschlichen Zusammenlebens reduziert werden auf ein Gegeneinander und nicht auf ein Miteinander. Das ist aber eine unhintergehbare Konstante für friedfertige Gesellschaften und ein grundlegender normativer Wert, der »soziale Kitt« (Adorno), der eine heterogene Gesellschaft zusammenhält: gegenseitige Anerkennung als Form gerechter, gleichberechtigter und materieller Partizipation.
In der Propagandasprache, so interpretieren die Autoren, seien widersprüchliche gesellschaftliche Verhältnisse so nachhaltig auf die individuell erfahrene Erniedrigung reduziert, dass nur ein autoritärer Befreiungsschlag einen Sieg im Kampf um das Überleben sichern könne. Das verspricht der Agitator und er weiß auch, gegen wen sich das zu richten hat. Daher nimmt die Beschreibung eines Feindbildes in der politischen Agitation einen solch zentralen Stellenwert ein. Die vermeintlichen Einwanderer, Andersgläubige, Fremde, Flüchtlinge, Menschen, die nicht ins Bild der Heteronormativität passen, seien verantwortlich für Gottlosigkeit, moralischen und geistigen Zerfall, für das Auflösen der natürlichen Volksgemeinschaft, wie es auch heute in der neonazistischen und fremdenfeindlichen Propaganda rechtsextremer Gruppen und deren verlängertem parlamentarischen Arm heißt.7
Der Agitator vermeidet jedoch das Wort »Ausgrenzung«. Er spricht von notwendiger Säuberung, oder wie Löwenthal es nennt: von »häuslicher Reinigung«, die an den alltäglichen Hausputz erinnere, der schließlich in jedem ordentlichen Haushalt notwendig ist. Hier trifft die Propaganda auf die Alltagssprache, die weiß, was das bedeutet. Was der politische Agitator zur Behebung der Misere vorschlägt und seinem Publikum bildhaft vermittelt, sind nicht selten handfeste Aktionen. Sie kommen in solchen Metaphern wie »wegwerfen, rausschmeißen, beseitigen« zum Ausdruck und suggerieren die Notwendigkeit, das Heft nun selbst in die Hand nehmen zu müssen. Nur wenn die vermeintlich Schuldigen vertrieben, eliminiert sind, ist der »Feind« besiegt.
Löwenthal notiert Zitate aus verschiedenen Reden der Demagogen: »Alle Flüchtlinge […] müssen in die Länder zurückkehren, aus denen sie kamen« und »alle Ausländer und ehemaligen Ausländer müssen deportiert werden«.
Das klingt heute allzu bekannt, auch wenn sich verschiedene rechtsradikale Demagogen mittlerweile um eine moderatere Sprache bemühen und die Feinde vielfältiger geworden sind. Heute sind es nicht nur Juden und Muslime. Es sind Menschen, die nicht in das stromlinienförmige, einfache Weltbild einer wie auch immer »ursprünglichen Zugehörigkeit« zum deutschen Volk passen. Und ich möchte hinzufügen: Wer der Meinung ist, rassistische Hetze, rassistische Gewalt, gar Morde träfen uns alle, hat nicht verstanden, was Rassismus ist. Es trifft nicht uns alle, sondern Menschen, die sich von diesem konstruierten alle in Hautfarbe, Kultur, Religion, sexueller Orientierung unterscheiden! Die zerstörerische Missachtung, dass Menschen durchaus unterschiedlich sind und anders leben, betrifft eben nicht alle!
Als Juden und kritische Intellektuelle wurden Marcuse, Löwenthal, Adorno, Horkheimer und andere Mitarbeiter des Instituts von den Nazis 1933 zur Flucht und ins Exil gezwungen. Die Columbia University in New York war die erste Station in den Staaten. Ebenso für Hannah Arendt, die Beobachterin des Eichmann-Prozesses 1961 in Israel, den sie analysierend zusammengefasst hat in ihrem nicht unumstrittenen Band Die Banalität des Bösen. Sie schreibt in ihrem 1943 publizierten Aufsatz Wir Flüchtlinge: »Als Flüchtling hatte bislang gegolten, wer aufgrund seiner Taten oder seiner politischen Anschauungen gezwungen war, Zuflucht zu suchen. Es stimmt, auch wir mussten Zuflucht suchen, aber wir hatten vorher nichts begangen, und die meisten unter uns hegten nicht einmal im Traum irgendwelche radikalen politischen Auffassungen. Mit uns hat sich die Bedeutung des Begriffs ›Flüchtling‹ gewandelt. ›Flüchtlinge‹ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem Land neu anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.«8
Knapper werdende Finanzmittel Ende der 1930er Jahre erfordern von den Institutsmitarbeitern, sich nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten in amerikanischen Arbeitszusammenhängen umzusehen. Horkheimer und Adorno verlassen New York 1940 in Richtung Westküste nach Los Angeles. Dort beginnen sie mit ihrer Gemeinschaftsarbeit Dialektik der Aufklärung, präziser formuliert, mit der Arbeit zu Elemente des Antisemitismus.
Enttäuscht darüber, dass Marcuse nicht in der Nähe der Verfasser der Dialektik der Aufklärung in Kalifornien bleiben kann, geht er Ende der 1930er Jahre nach Washington, wo Franz Neumann bereits beim Office of Strategic Services (OSS) arbeitete.9 Dort nimmt Marcuse, vermittelt durch Löwenthal, erst eine Stelle im Office of War Information (OWI), dann ein Jahr später (1941) im OSS an. Mit Neumann erarbeitet er dort den Text Staat und Individuum im Nationalsozialismus. Die Verfasser deuten die Zustimmung weiter Teile der deutschen Bevölkerung zum Nationalsozialismus zentral unter zwei Aspekten: Zum einen biete das NS-System eine neue »wirtschaftliche Sicherheit« und zum anderen ein »Zugehörigkeitsgefühl«, das sich gerade in den Umbrüchen der Weimarer Zeit diffus aufzulösen schien. »Die individuelle Freiheit der präfaschistischen Ära war für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung gleichbedeutend mit ständiger sozialer Unsicherheit. Seit 1923 hatte es keine Versuche mehr gegeben, eine wirklich demokratische Gesellschaft zu etablieren. Stattdessen breiteten sich Resignation und Verzweiflung aus. Kein Wunder, dass die Freiheit nur allzu bereitwillig für ein System eingetauscht wurde, das allen deutschen Familien ein sicheres Leben versprach. Der Nationalsozialismus verwandelte das freie in das wirtschaftlich abgesicherte Subjekt, und an die Stelle des gefährlichen Ideals der Freiheit trat die schutzversprechende Realität der sicheren Existenz.«10
Das OSS war eine Forschungsgemeinschaft exilierter Wissenschaftler, meist aus Europa, die das nationalsozialistische Deutschland, dessen Ideologie und Propaganda, gestützt auf Antisemitismus, Rassismus und Ariertum, die Verwobenheit von Politik, Wirtschaft, Militär und Recht – hier zu nennen Franz Neumanns Werk Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944 (1942/1944) – und die Vorbereitung, dann Durchführung des systematischen Massenmords an Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Oppositionellen sowie die Kriegsrhetorik und militärischen Eroberungsfeldzüge untersuchte. Das geschah durch Auswertungen von Reden unterschiedlicher Nazifunktionäre, von Radiobeiträgen, von Propagandaschriften, politischen Publikationen, von Befehlsanordnungen an die SS und SA und administrativen Anweisungen der Nazibehörden.
In den 1940er Jahren erstellten Dossiers identifiziert Marcuse die für den technischen Erfolg notwendigen und in sich logischen Handlungsabläufe, die effizient und wirkungsvoll sein sollten, aber in ihrem Gesamtergebnis zerstörerisch wirkten, als eine »irrationale Rationalität«. Eine Rationalität, die alles an Kriterien von Effizienz, Erfolg und Nützlichkeit messe, folge nur einem pragmatischen Zweck: die Mittel erfolgreich einzusetzen. Letztlich griff im NS-System alles gut ineinander: vom Sammeln der jüdischen Bevölkerung auf den öffentlichen Plätzen – jeder konnte es sehen – und dem Lösen der Fahrscheine für die Deportationszüge über die Kontrolle durch die Schaffner und Lokführer bis zu den Selektionsbeamten an der Rampe und den »Beschäftigten« an den Gaskammern. Schließlich gab es die politische Propaganda der antisemitischen Ausgrenzung, die Gleichschaltung der gesellschaftlichen Sphären, der Aufschwung und die Aufrüstung im militärischen Bereich, alles war durchschaubar. »Technokratie« nannte Marcuse diese Verflochtenheit von Gesellschaft, Politik und Großindustrie in dieser Zeit.
Die Katastrophen des zwanzigsten und 21. Jahrhunderts bestätigen die Aktualität dieser Kritik. Kriege – wir sehen es in Syrien –, die flüchtende und schutzlose Menschen durch die Welt treiben, zur Verhandlungsmasse degradieren, in Lagern isolieren sowie aktuell globale Umweltkrisen, verursacht auch durch den ungezügelten Kapitalismus, bedrohen das Aufklärungsprojekt, das einmal mit der Idee einer vernünftig organisierten und freien Gesellschaft verbunden war.
Neben den politischen und propagandistischen Strategien der Nazis müsse aber noch etwas anderes dazu geführt haben, dass die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung dazu brachte, sich von Hitlers Politik so viel zu versprechen, dass, wenn nicht zu aktiver Unterstützung des Systems, aber doch zu mehrheitlicher Gleichgültigkeit gegenüber den europäischen Juden führte, die dann in den Vernichtungslagern ab Ende 1941/Beginn 1942 vergast, erschossen oder erschlagen wurden.
Im Zentrum der Feindanalysen steht der Text »Die deutsche Mentalität – Memorandum zu einer Untersuchung über die psychologischen Grundlagen des Nationalsozialismus« und im Untertitel heißt es weiter etwas zu optimistisch »und die Möglichkeiten ihrer Zerstörung«, datiert vom Juni 1942.11
Diese Möglichkeiten scheinen bei Marcuse schon sehr früh in realistischen Pessimismus umzuschlagen. So schreibt er am 16. August 1944 an Max Horkheimer: »Wenn wir wüßten, dass mit dem Zusammenbruch Deutschlands die ›bösen Mächte‹ eliminiert wären, dann wäre es tatsächlich ein heller Horizont, der sich vor uns abzeichnete. Aber wir wissen es besser und alle Anstrengungen können vergebens sein, sogar für die Generationen, die noch kommen. Wie auch immer, Wunder können geschehen. So fühle ich es. Was wir hier (im OSS) tun können, um eine halbwegs sensible Politik auf den Weg zu bringen, tun wir, und wenigstens einige Dinge scheinen in das Denken und Tun der ›jeweiligen Verantwortlichen‹ einzudringen.«12
Letztlich kapitulierte Marcuse vor der Weigerung der amerikanischen Politik, die Empfehlungen zur Entnazifizierung zu übernehmen. Er verließ das OSS, das dann am 18. September 1947 durch den Central Intelligence Act, vom CIA abgelöst wurde.
Wie wir heute wissen, verlief während der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland die Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen nur schleppend. Die Politik hatte weitgehend kein Interesse, die meisten Menschen im Lande waren überzeugt, verführt worden zu sein. Hitler – ein verwirrter Einzeltäter? Hitler und seine Mittäter manipulierten also 17,3 Millionen Soldaten, die in der Wehrmacht nur ihre Pflicht erfüllten, egal wie der Befehl auch lautete?13
Es sind mutige Menschen wie der hessische Staatsanwalt Fritz Bauer, die sich trotz gewaltiger Widerstände in der frühen Phase der Bundesrepublik vehement dafür einsetzen, dass die Verbrechen des NS-Systems nicht verschwiegen und dessen mörderische Schergen zur rechtlichen Verantwortung herangezogen werden sollten. Es drohte die Verjährung von Mord. Die »Aufarbeitung der Vergangenheit« ist politisch weitgehend nicht gewollt. Die gut funktionierenden neuen Systeme, getrieben von einem kapitalistischen Markt, sollten so schnell es geht wieder ins Laufen kommen.
Theodor W. Adorno hat in seiner Arbeit Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?14 1959 eindrucksvoll herausgearbeitet, wie schwer es sein würde, mit Bildungsmaßnahmen, zum Beispiel gegenseitigem Kennenlernen – sozialarbeiterisch ausgedrückt: interkulturellen Begegnungen –, den erneut auftauchenden antisemitischen Vorurteilen entgegenzuwirken:
»Ich glaube auch nicht, daß durch Gemeinschaftstreffen, Begegnungen zwischen jungen Deutschen und jungen Israelis und andere Freundschaftsveranstaltungen allzu viel geschafft wird, so wünschbar solcher Kontakt auch bleibt. Man geht dabei allzu sehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden, während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, daß er überhaupt keine Erfahrung machen kann, daß er sich nicht ansprechen läßt. Ist der Antisemitismus primär objektiv-gesellschaftlich begründet, und dann in den Antisemiten, dann hätten diese wohl, im Sinn des nationalsozialistischen Witzes, die Juden erfinden müssen, wenn es sie gar nicht gäbe.«15
Der Antisemitismus ist keine Charaktereigenschaft irgendeiner bestimmten Volksgruppe! Juden haben auch kein »besonderes Gen«, das sich durch »Selektionsdruck« (Sarrazin) weitervererbt hat und so der Antisemitismus als Reflex darauf biologisch zu begründen versucht wird. Das ist nichts anderes als ein Motiv des dumpfen, tiefbraunen biologistischen Rassismus. Es waren Etienne Balibar und Stuart Hall, die in den letzten Jahrzehnten darauf hinwiesen, dass dieser Biorassismus zwar noch unterschwellig existiere, aber einem »Rassismus ohne Rassen« gewichen sei. Oder, wie es Albert Memmi formuliert hat: »Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.«16
Längst verschleiern rechtsextreme Gruppierungen ihre rassistischen und nationalistischen Ausgrenzungsideologien mit modernen Begriffen wie Ethnopluralismus oder führen die Eigenständigkeit der Kulturen als Beleg dafür an, das Eigene gegen das vermeintlich Fremde abschotten zu müssen. Schon 1955 schrieb Adorno in Schuld und Abwehr: »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.«17
Marcuses Analysen einer »neuen deutschen Mentalität« kommen ohne rassentheoretische Erklärungen aus. Es ist sein Verdienst, dass er Begriffe wie »Rasse« oder »Blut und Boden« auch in modernen Gesellschaften als nicht veraltet interpretiert, sondern diese durchaus als ideologische Sedimente in modernen Gesellschaften abgelagert und auch abrufbar sind.