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DIE KREUZIGUNG DES
DR. WOHLMANN

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»Typisch«, grunzte Stahnke und ließ die blickdichte Gardine zurück vors Fenster fallen, »einen dicken Jaguar vorm Haus stehen haben, aber lauthals jammern, dass die Kohle nicht mehr reicht. Ärzte. Bäh.«

Wie um seine Schmähung zu unterstreichen, tupfte sich der Hauptkommissar einen Tropfen Heilpflanzenöl unter die Nase. Das allerdings hatte ganz praktische Gründe, denn in der Praxis von Dr. Wohlmann stank es mörderisch. Buchstäblich. Und was da so stank, war der Doktor selbst.

»Und?«, fragte Stahnke, als Polizeiarzt Dr. Mergner aus dem Behandlungsraum ins Wartezimmer trat, wo der Hauptkommissar schon seit geraumer Zeit genau das tat, wozu das Zimmer gedacht war. Er tat es ungern, aber professionell. Seine Hände steckten nicht etwa deshalb in den Taschen seines Trenchcoats, um seine leitende Position zu unterstreichen. Jedenfalls nicht nur. Stahnke wusste, dass die größte Bedrohung für Spuren an Tatorten tollpatschige Polizisten waren. Also hielt er sich zurück und die Hände bei sich. Spuren und sonstige Fakten waren für die Kriminaltechniker da, für die Fotografen und die Ärzte. Sein Job war die Kopfarbeit, das, was er »die mentale Bewältigung eines Falles« nannte. Oft schon hatte er durch pure Gedankenarbeit Struktur ins postmortale Chaos gebracht. Nun ja, auch das Umgekehrte war ihm bereits widerfahren. Aber das stand auf einem anderen Blatt.

Mergner blickte so verwirrt drein wie immer. Seine ewig schief auf dem Nasenrücken hängende Nickelbrille mit den flaschenbodendicken Gläsern, auf denen sich ebenso viele Fingerspuren nachweisen ließen wie an manchem Tatort, sein wirrer Haarschopf und seine fahrigen Bewegungen stempelten ihn zur Karikatur seines Berufsstandes. Aber Stahnke, der die Außenwirkung seiner eigenen gut zwei Zentner und seines blondstoppeligen Rundschädels gut einzuschätzen wusste, ließ sich von Äußerlichkeiten längst nicht mehr täuschen. Mergner verstand sein Handwerk, auch wenn er dies zuweilen nach Kräften verbarg.

Der dürre Gerichtsmediziner warf seine langen Arme empor, so plötzlich und ruckartig, dass Stahnke unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. »Sie können sich’s aussuchen«, krähte Mergner. »Lungenperforation durch die abgesplitterten Enden mehrerer gebrochener Rippen. Innere Blutungen. Milzriss. Kreislaufzusammenbruch. Außerdem ist der Körper weitgehend dehydriert. Schon mal ’ne ganze Palette, nicht wahr? Und wer weiß, was ich sonst noch finde, wenn ich ihn erst auf dem Tisch habe.«

Mergner pflegte seine Leichen in Oldenburg zu öffnen, mit einer schier unglaublichen Präzision, von der sich Stahnke schon des öfteren hatte überzeugen können, ebenso widerwillig wie anerkennend. Reiner Zufall, dass Mergner gerade in Leer zu tun gehabt hatte, als der Leichenfund im Ärztehaus am Ostersteg gemeldet wurde.

»Danke«, sagte Stahnke. »Und was denken Sie?«

Wieder hob Mergner Arme und Hände, eine Geste, die alles zwischen Ratlosigkeit und Verzweiflung ausdrücken konnte. »Äußerste Brutalität«, stieß er hervor, »hab ich selten gesehen, so was. Ein Irrer, wenn Sie mich fragen. Vielleicht religiös motiviert. Sie wissen schon, Ostern und so.« Mergner raufte sich die Haare, befingerte seine Brille und vergewisserte sich, dass sein ausgeblichener Schlips auch wirklich schief hing. »Aber erwarten Sie bitte nicht, dass …«

»… auch nur ein Wort davon in Ihrem Bericht steht«, unterbrach Stahnke und nickte besänftigend. »Sie sind Mediziner, kein Kriminalist, und den Mörder muss ich schon selber finden. Ich weiß.«

»Genau.« Mergner blickte sich nach seiner Tasche um. »Und darum möchte ich auch verschärft gebeten haben, dass Sie ihn nämlich finden, den Mörder, allein schon aus standesmäßiger Betroffenheit heraus.« Er hielt inne, wie eingefroren mitten in der Bewegung: »Oder standesgemäßer? Wie sagt man?«

»Standesmäßige Betroffenheit ist schon standesgemäß, denke ich«, erwiderte Stahnke. Als Mergner die Stirn runzelte, schob er schnell nach: »Und was können Sie zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Der Verwesungsprozess ist schon recht weit fortgeschritten, beschleunigt durch die Hitze«, sagte Mergner, der gedanklich sofort umgeschaltet hatte. »Das erfordert einiges an Rechnerei. Aber ich sage mal: Karfreitag.«

Wieder nickte Stahnke. Mergners Da-war-doch-noch-was-Blick ließ er an seinem Pokerface, das er in langen Dienstjahren ganz nach Bedarf ein- und auszuknipsen gelernt hatte, abgleiten. Er bedankte sich herzlich und schüttelte den Polizeiarzt mit einem kräftigen Händedruck aus seiner Grübelei. Mergner zuckte die Achseln und ging.

Widerstrebend wandte sich Stahnke wieder dem Behandlungszimmer zu. Kramer kam ihm entgegen, kreidebleich. »Die Bestatter sind da«, sagte der Oberkommissar mit einer Stimme, deren gepressten Klang Stahnke unwillkürlich in der Rubrik »grünlich« einordnete. »Können wir ihn jetzt losmachen?«

»Gleich«, sagte Stahnke und schob sich an seinem Assistenten vorbei, ohne die Hände aus den Manteltaschen zu nehmen.

Karfreitag. Doch, da könnte etwas dran sein, überlegte Stahnke, während er Wohlmanns Leiche ein weiteres Mal betrachtete. Der leblose Körper des Kinderarztes saß auf dem grünen Linoleum, das verzerrte Gesicht eingesunken, der Leib aufgedunsen, mit dem Rücken an einen breiten Heizkörper gelehnt, die weit ausgebreiteten Arme mit Handschellen an die Heizungsrohre gefesselt. Tatsächlich gemahnte das Bild an eine Kreuzigung. Das Heizungsventil war bis zum Anschlag aufgedreht gewesen, und da es über die Osterfeiertage noch einmal recht kühl geworden war, hatte der Gasbrenner ganz hübsch gepowert. Den Kollegen von der Funkstreife, die als Erste alarmiert worden waren, war eine fürchterliche Hitze entgegengeschlagen. Und ein entsetzlicher Gestank.

Wohlmann war misshandelt worden, ob vor oder nach seiner Kreuzigung, musste noch ermittelt werden. Vermutlich war beides der Fall. Der oder die Täter hatten den Arzt geschlagen und getreten, hatten ihm mehrere Rippen gebrochen, Blutergüsse zugefügt und innere Organe verletzt. Dann hatten sie ihn seinem Schicksal überlassen, angekettet und mit fest verklebtem Mund.

Einige Zeit hatte er sicherlich noch gelebt, rasend vor Schmerzen, Angst und Durst. Seine Handgelenke waren blutig gescheuert, seine Kleidung von Kot und Urin verschmutzt. Wie lange mochte es gedauert haben, bis der Tod ihn erlöste? Karfreitag, Samstag, Ostersonntag, Ostermontag – die Praxis war über die Feiertage natürlich geschlossen, ebenso wie alle anderen im Haus, keiner der Kollegen hatte Notdienst gehabt. Das große Gebäude war praktisch menschenleer gewesen. Keine Chance auf Rettung, keine Hoffnung, nur brennende Hitze und Qualen bis zum Schluss.

»Ist gut«, sagte Stahnke. »Sie können ihn losmachen.« Die Kollegen machten sich ans Werk, die Bestatter öffneten den Leichenkoffer.

Kramer saß im Wartezimmer und blätterte in einer Zeitschrift mit braunem Pappeinband. Lesezirkel, alter Kram, wie in den meisten Praxen. Stahnke setzte sich neben seinen Kollegen. Eine Tageszeitung vom vergangenen Donnerstag lag aufgefächert auf dem niedrigen Tisch, Sportteil obenauf.

»Haben Sie die mitgebracht?«, fragte Stahnke.

Kramer schüttelte den Kopf: »Lag schon hier, als ich kam. Wieso? Soll ich sie ins Labor geben?«

Stahnke antwortete nicht. Vorsichtig blätterte er um, jede Seite nur mit den Fingerspitzen berührend. Regionalsport, Bundesliga, Lokalsport, darunter ein Block mit Bumsanzeigen. Es folgten zwei weitere Seiten mit Inseraten und ganz hinten die Familienanzeigen. Geboren, geheiratet, gestorben. Tja. Eigentlich konnte man Lebensläufe recht knapp zusammenfassen.

»Was waren das eigentlich für Handschellen?«, fragte er.

»Ziemlich professionelle Dinger«, sagte Kramer. »Kein Kinderspielzeug mit Sicherheitsknöpfchen. Leider. Diese haben Polizei-Qualität. Es sind aber ziemlich viele von den Dingern in Umlauf.«

»Ach. Und wo wird so was verkauft?«

Ein feines Grinsen spielte um Kramers schmale Lippen: »In Sexshops natürlich.«

»Natürlich«, bestätigte Stahnke eilig. »Na, dann wollen wir die mal überprüfen.«

»Schon veranlasst«, sagte Kramer.

Hin und wieder könnte ich ihn eigentlich loben, dachte Stahnke. Stattdessen aber fragte er: »Deutet denn irgendetwas auf Sexspielchen hin? Ich meine, es sollen sich ja schon Leute selbst erdrosselt haben beim Versuch, sich den Extra-Kick zu geben.«

Kramer brachte es fertig, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln, ohne dabei debil auszusehen. »Schon, aber das können wir ausschließen. Das hier übersteigt alle mir bekannten Sado-Maso-Praktiken. Ich meine natürlich, alle, von denen ich bisher gehört habe.«

»Natürlich«, bestätigte Stahnke. Das Grinsen verkniff er sich. »Also dann, was haben wir?«

»Dr. med. Hanno Wohlmann, 43 Jahre, verheiratet, keine Kinder. Niedergelassener Kinderarzt, alteingesessene Praxis vom Schwiegervater übernommen, Ehefrau arbeitet als Sprechstundenhilfe mit. Gut situiert, aber nicht übermäßig begütert.«

»Na, für einen Jaguar reicht es immerhin«, unterbrach Stahnke.

Kramer hob fragend die Augenbrauen: »Wieso Jaguar? Die Wohlmanns haben einen Passat, dunkelblau. Kein schlechter Wagen, aber kein Jaguar.«

Stahnke wies mit dem Daumen über seine Schulter; Kramer erhob sich halb und linste durch die Gardine. »Ach der«, sagte er. »Ist mir auch aufgefallen. Der gehört aber nicht Wohlmann, sondern einem seiner Nachbarn. Banker oder so.«

Stahnke nickte stumm. Dass ihm das immer wieder passieren musste! Ständig tappte er in die Falle seiner eigenen Vorurteile. Was ins Bild passte, wurde geglaubt. Glauben aber hieß nicht wissen. »Und nicht wissen heißt sechs«, pflegte sein alter Mathelehrer stets zu ergänzen. Man musste eben genauer hinsehen. Stahnke, setzen. Nur gut, dass er bereits saß.

Das Wartezimmer besaß zwei Türen; die eine führte zum Behandlungszimmer, die andere zum Flur mit der Rezeption, den weiteren Ordinations- und Therapiezimmern und dem Durchgang zu den Privaträumen. Vom Flur her war ein zaghaftes Klopfen zu hören.

»Bitte«, sagte Kramer.

Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet, und ein kleiner, vierschrötiger Mann schob seinen Kopf hindurch. »Brauchen Sie noch etwas?«, fragte er.

»Danke«, sagte Kramer. »Aber kommen Sie doch einen Augenblick herein, Herr Przybilski.«

Ein Bauerngesicht, dachte Stahnke. Rund, pausbäckig, stark geädert, flankiert von zwei leuchtend roten Segelohren. Drei zu eins, dass das der Hausmeister ist.

»Herr Przybilski ist hier der Hausmeister«, erläuterte Kramer.

Stahnke erhob sich, schüttelte dem Mann die Hand und lächelte ihm so leutselig zu, dass der gar nicht anders konnte als zurückzulächeln, obwohl ihm offenkundig gar nicht danach zu Mute war.

»Sie haben uns also angerufen«, stellte Stahnke fest; von irgendwem hatte er das aufgeschnappt. »Haben Sie auch die Leiche gefunden?«

Przybilski nickte. »Ja. Das Fräulein Weiß, die junge MTA, also die neue Sprechstundenhilfe, hat bei mir geklingelt. Weil sie nicht reinkam in die Praxis, nicht wahr, und weil es so roch. Ich habe dann aufgemacht, und zusammen sind wir rein.«

»Fräulein Weiß?« Stahnke blickte Kramer an.

»Schock«, sagte Kramer knapp. »In Behandlung. Noch nicht vernehmungsfähig. Wir werden benachrichtigt.«

»Und warum konnte die Dame nicht hinein? Hatte sie keinen Schlüssel? Immerhin arbeitet sie doch hier.«

»Doktor Wohlmann hat seinen Angestellten nie Schlüssel gegeben«, sagte der Hausmeister. »Nur er und seine Frau hatten welche. Einer von beiden kam immer als Erster, der andere ging als Letzter.«

»Und wer wäre heute dran gewesen mit früh da sein? Wohlmann oder seine Frau?«

»Der Herr Doktor«, sagte Przybilski. »Er wollte über die Feiertage noch Unterlagen für die Krankenkassen aufarbeiten, hat er mir letzte Woche erzählt. Seine Frau ist verreist. Besucht ihre Eltern in Bremen über die Feiertage. Soll erst übermorgen zurück sein.«

»Sie ist schon benachrichtigt«, kam Kramer Stahnkes Frage zuvor. »Die Bremer Kollegen haben das übernommen.«

Stahnke rieb sich das Kinn; seine Bartstoppeln raschelten leise. Er fixierte Kramer und fragte mit gedämpfter Stimme: »Haben Sie dieses Fräulein Weiß gesehen?«

Kramer nickte.

»Und?«

Kramer zuckte die Achseln. »Jung. Hübsch. Niedlich.« Er lehnte sich zurück. »Meinen Sie das?«

»Klar«, sagte Stahnke. »Und sie war neu hier in der Praxis, nicht wahr?« Ein verlockender Gedanke: Geldsack trifft Jungbrunnen, betrogene Gattin wird zur Bestie. Klischee, sicher. Aber warum war das Klischee? Weil es immer wieder vorkam.

Vorsichtig, Stahnke, dachte Stahnke. Denk an den Jaguar.

»Wer tut so was? Wer tut bloß so was?« Przybilskis Stimme klang halb erstickt.

Überrascht blickte Stahnke auf. Der Hausmeister stand gekrümmt da, das Gesicht in seinen Handflächen verborgen. »Er war doch so ein feiner Mensch, der Herr Doktor. Hat immer nur allen geholfen. Sich um jeden gekümmert, um die Kinder, hat sie gesund gemacht. Ein Wohltäter. Wer tötet denn so jemanden? Wer bringt so einen um? Und dann auch noch so.«

Stahnke legte ihm beide Hände auf die Schultern; dieses Maß an Vertraulichkeit mochte gerade noch angehen. »Genau das ist die Frage, Herr Przybilski«, sagte er. »Und genau deswegen sind wir ja hier. Um das rauszukriegen. Vertrauen Sie uns, wir werden den Mörder schon finden.« Fast hätte Stahnke über seine eigenen Worte den Kopf geschüttelt. Seit wann machte er denn so große Sprüche? Und so sentimentale obendrein?

Der Hausmeister rieb sich die Augen, bedankte sich und ging.

Alles in allem ein ziemlich peinlicher Auftritt, fand der Hauptkommissar.

»Blödsinn«, sagte Kramer.

Stahnke spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Wie – äh …« Sein Mund blieb stumm und offen.

»Blödsinn ist das. Von wegen Wohltäter Wohlmann. Der war als Kinderarzt nicht halb so gut, wie dieser Przy­bilski ihn hinstellt.«

Erleichtert stellte Stahnke fest, dass Kramer nicht ihn gemeint hatte. Dann erst registrierte er die Bedeutung seiner Worte. »Kein guter Arzt? Mangelndes Fachwissen oder menschliche Defizite?«

»Beides, wenn Sie mich fragen«, sagte Kramer. Der hagere Mann blickte zu Boden. Man konnte durch seinen Mantel hindurch sehen, dass er die Fäuste in den Taschen ballte.

»Ja«, sagte Stahnke, »das tue ich. Erzählen Sie mal.«

»Meine Tochter«, sagte Kramer. »Stephanie. Sieben Jahre alt. Sie erinnern sich?«

Der Hauptkommissar nickte. Kramer hatte den kleinen Blondschopf vor ein paar Wochen einmal mit ins Büro gebracht. »Girls day« – was das wohl zu bedeuten hatte? Allzu viel konnte Stahnke mit Kindern nicht anfangen, aber Steffi hatte ihm gefallen. Sie war unglaublich clever, eigentlich so gar nicht kindlich. Vielleicht deshalb.

»Sie hat nur ein Auge«, sagte Kramer. Und verbesserte sich schnell, als er den entsetzten Blick seines Vorgesetzten sah: »Natürlich sind beide Augen noch da, aber sie kann nur auf einem sehen. Das andere ist praktisch blind.«

»Das tut mir Leid.« Stahnkes Stimme klang brüchig.

»Ja.« Kramer fuhr fort: »Sie war erst sechs Monate alt, als mir etwas auffiel. Beim Füttern, wissen Sie. Da saß ich mit ihr im Kinderzimmer, nur die Nachttischlampe brannte, die Kleine war ganz entspannt, saugte mit Hingabe und schaute mich dabei an, die Augen weit offen und die Pupillen riesengroß. Ich konnte alles darin sehen, mich selbst, das Zimmer, alle meine Träume. Und plötzlich diese kleine Galaxis in ihrem rechten Auge.«

Mein Gott, Kramer, dachte Stahnke. Die Ratio auf zwei Beinen, beherrscht bis zum Gehtnichtmehr, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Dachte ich immer. Dieser Gegenbeweis war nun wirklich nicht nötig. Er wandte sich ab, als sein Kollege das Taschentuch zückte, und drehte sich erst wieder um, als Kramer weitersprach.

»Im selben Moment, als ich diesen Nebel bemerkte, wusste ich auch schon, was das war. Ich wusste es, aber ich konnte es nicht glauben. Statt genauer hinzusehen, wollte ich es einfach nicht wahrhaben, verstehen Sie?«

»Verstehe ich«, sagte Stahnke. »Und dann gingen Sie zu Wohlmann?«

»Er hat mir genau das erzählt, was ich mir zu hören gewünscht hatte. ›Ach, das kennen wir ja, überängstliche Eltern, die bilden sich alles Mögliche ein. Nicht wahr, hahaha, das wollen wir mal nicht so ernst nehmen, was besorgte Eltern so zu sehen glauben.‹ Tja. Ich hab’s ihm geglaubt, weil ich ihm glauben wollte, weil es ja so schön gewesen wäre, wenn es gestimmt hätte.« Kramer schluckte. »Hat aber nicht gestimmt.«

»Was war es denn?«

»Ein Blutgefäß, das da nicht hingehörte. Habe mich später über die Zusammenhänge informiert. Während der Entwicklung eines Embryos werden sozusagen Versorgungsleitungen für bestimmte Organe aufgebaut, zum Beispiel für die Augen. Und wenn die dann fertig aufgebaut sind und nur noch zu Ende wachsen müssen, werden diese Leitungen, also die Adern, wieder abgebaut. Eben aufgelöst. Ihre Substanz geht in den kleinen Körper mit ein.«

»Schlau«, sagte Stahnke.

Kramer lächelte: »Ja, nicht wahr? Ist schon eine tolle Sache, das Leben, so rein planungstechnisch. Nur leider wurde diese eine Versorgungsleitung nicht wieder abgebaut. Sie blieb bestehen, dort, wo sie nicht mehr hingehörte. Echter Planungsfehler.«

»Genetischer Defekt?«

»Vermutlich.« Kramers Blick ging an Stahnke vorbei ins Leere. »Die Ader saß als Fremdkörper an der Linse, weiß und gekrümmt, wie eine winzig kleine Galaxis, und hat sie getrübt. Wenn man rechtzeitig operiert hätte, wäre die Linse zwar wohl auch nicht mehr zu retten gewesen, auf jeden Fall aber hätte man die Sehfähigkeit des Auges annähernd erhalten können, und dann hätte Steffi die Möglichkeit gehabt, sich eines Tages als Erwachsene eine künstliche Linse implantieren zu lassen. Das kann sie jetzt abhaken.«

»Kann Steffi denn mit dem rechten Auge gar nichts mehr sehen?«

»Praktisch nichts. Selbst die restliche Sehfähigkeit, die paar Prozent, die anfangs noch nachzuweisen waren, wurde nicht erhalten. Das hat Wohlmann auch versaut. Falsch therapiert, zu spät, zu halbherzig. Der Augenarzt, zu dem wir später gegangen sind, hat’s gar nicht glauben wollen. Aber da war der Schaden schon angerichtet.«

»Und was hat dieser … dieser Doktor Wohlmann dazu gesagt?« Stahnke bekam seine Kiefer nur mit Mühe auseinander. Die verkrampften Muskeln schmerzten.

»Was er gesagt hat? ›Glückwunsch zu Ihrer Diagnose, Sie hatten ja wohl doch Recht.‹ Das hat er gesagt. Wirklich wahr. Steffi hat den doch überhaupt nicht interessiert. Ich bin damals aus dieser Praxis rausgegangen wie betäubt. Und nie wieder hingegangen. Wir haben sofort danach den Kinderarzt gewechselt. Wer weiß …«

»Ja«, sagte Stahnke. Nicht, dass er Kramer eine Affekthandlung zugetraut hätte. Eine Gewalttat schon gar nicht. Aber verstanden hätte er es. Was sicher ein Fehler war, überlegte er, denn schließlich war Rache keine Privatsache, sondern – tja, seine. Seine Sache. In gewisser Weise. Als Sachwalter des staatlichen Gewaltmonopols. Aber immerhin wäre dies schon Motiv Nummer drei. Erstens religiöser Wahn, zweitens Eifersucht, drittens Rache. Ein nettes Sortiment. Man musste nur noch seine Wahl treffen. »Rache«, murmelte er vor sich hin.

»Was?« Kramer schreckte hoch.

»Wir sollten uns doch mal die Patientenkartei durchschauen«, sagte Stahnke. »Vielleicht mit Mergner zusammen, der sieht bestimmt Dinge, die wir nicht sehen. Oder nicht verstehen. Wo sind denn die Akten hier?«

»In den Metallschränken nebenan«, sagte Kramer. »Steht jedenfalls dran. Die Dinger sind abgeschlossen. Aber da kommen wir schon ran. Soll ich den Przybilski rufen?«

»Przybilski.« Stahnke stutzte.

»Ja, Sie wissen doch, den Hausmeister …« Er unterbrach sich, weil Stahnke ungeduldig abwinkte. Da war etwas, kein Gedanke, keine Erinnerung, sondern nur ein Zipfelchen davon, irgend etwas Erhaschtes. Was?

»Die Zeitung«, sagte er. »Her das Ding.«

Kramer fragte nicht, sondern schob das Blatt wortlos über den Tisch.

Der Sportteil. Regionalsport, Bundesliga, Lokalsport? Nein. Huren- und sonstige Anzeigen auch nicht. Was war es?

Geboren, geheiratet, gestorben. Das war es. Die Todesanzeigen. Schnell überflog er die fett gedruckten Namen in den schwarz umrandeten Annoncen. Blätterte um, schaute, blätterte zurück. Nein, das war es nicht. Kein Przybilski. Kein kleines Kind dieses Namens, gestorben wegen ärztlicher Interesselosigkeit und Selbstüberschätzung, kein kleiner Engel, der nach Rache schrie.

Oder? Nicht so hastig, Stahnke, nicht so luschig. Schau genauer hin.

Er las die Lebensdaten der Verstorbenen. Erstaunlich, wie alt die Leute in Ostfriesland wurden … aber hier, geboren 1990, ein kleiner Junge. Aber er trug einen ganz anderen Namen und hatte auch nicht in Leer gelebt. Die Anzeige war mit einem Kreuz versehen und mit einem Spruch. Nein, kein Bibelwort: »Enttäuschtes Hoffen brennt heißer als die Hölle.« Ach herrje, wer ließ sich denn so was einfallen?

Stahnke sah zu Kramer hinüber. Der Oberkommissar hatte sich wieder hingesetzt, die Beine gespreizt, den Oberkörper geneigt, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt, die Handflächen gegeneinander gepresst und den Blick zu Boden gerichtet. Oh ja, auch er hatte gehofft. Obwohl er gesehen hatte und wusste. Aber da war einer, der hatte seiner Hoffnung Nahrung gegeben. Nicht aus Bosheit, nein, aus reiner Bequemlichkeit und Besserwisserei. Was war wohl schlimmer?

Stahnke wandte sich ab. Sein Blick streifte den Heizkörper. Schau genau hin, verdammt noch mal.

Wieder las er die Anzeige: »Enttäuschtes Hoffen brennt heißer als die Hölle. Viel zu früh … nach langem Leiden … in Liebe…«, dann die Namen der Eltern und Großeltern, Geschwister gab es offenbar keine, aber da: »Dein Patenonkel.« Und dahinter der Name.

»Also doch«, sagte Stahnke. »Erich Przybilski.« Das Bauerngesicht. Er hatte genau hingeschaut: Die Augen hinter den vorgehaltenen Händen waren trocken gewesen.

»Was?« Wieder wurde Kramer aus seinen Gedanken hochgeschreckt.

»Holen Sie Przybilski her«, sagt Stahnke. »Bitte. Und seien Sie höflich zu ihm.«

Stahnke und der Spökenkieker

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