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DREI BRÜDER

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Die Ziegelmauer war rau, so rau, dass Handflächen und Wange schmerzten, als er langsam daran herunterrutschte. Rote Flüssigkeit sickerte ihm in die Augen, und er legte den Kopf in den Nacken, folgte mit dem Blick der dunklen, feuchten Spur am Mauerwerk, die nach oben zu weisen schien, dorthin, wo über dem schwarzen Schacht des Innenhofs ein sternenlöchriger Deckel aus dunkelblauem Nachthimmel lag. Wie der Eingang vom Tunnel ins Nichts, dachte er, während er auf die Knie sank. Oder der Ausgang? Der geheime Gang, durch den das Nichts in die Welt kam, immer nur nachts, um sie nach und nach aufzulösen, auszulöschen. Da war Wind, der ihm von oben her in die brennenden Augen fuhr, ganz plötzlich und unangenehm kalt. Von dort? Der Luftzug kreiselte im Karree der Mauern, ließ eingesperrte trockene Blätter raschelnd tanzen, zupfte an seiner Jacke, auffordernd, einladend. Dorthin? Zog es ihn an, sog es ihn ein? Hatte er es bemerkt, hatte es ihn bemerkt, hatte es bemerkt, dass er bemerkt hatte, aber was, was? »Aber nein«, stöhnte er, mehr beschwichtigend als ängstlich. Das half. Vorsichtig stemmte er die Füße auf den Boden, erst den rechten, dann den linken, stand langsam auf, stand, ohne erneut das Bewusstsein zu verlieren Ganz automatisch wischte er sich über die Augen, betrachtete seine Handfläche. Sie war rot, aber das war kein Blut, überraschenderweise. »Wein«, murmelte er.

Sein Hinterkopf fühlte sich an wie eine pulsierende Blase aus glühender Lava, und er stellte sich vor, wie ihm das Gehirn durch diesen Brei hindurch auf den Anzug rutschte. Der Kerl musste eine Flasche auf seinem Schädel zertrümmert haben, eine volle. Ob er noch da war?

Er atmete tief ein, unterdrückte den Hustenreiz und horchte auf das Rasseln in seinen Bronchien. Im selben Moment klappte hinter ihm eine Tür. Unwillkürlich zog er den Kopf zwischen die Schultern, in Erwartung eines weiteren Schlages, eine Bewegung, die den Schmerz neu aufwallen ließ und ihn beinahe genauso betäubt hätte wie ein erneuter Hieb mit einer Weinflasche. Hinter ihm aber war niemand, da war nur eine Tür offen.

Vorsichtig drehte er sich um, schob die Schuhsohlen über das unebene Pflaster des Hofes, um nicht in der Dunkelheit zu straucheln und zu stürzen. Die unverschlossene Tür pendelte erneut im Luftzug und verriet ihm die Richtung. Er bekam die Klinke zu fassen und betrat einen schmalen Gang, in dem es durchdringend roch. War hier frisch lackiert? Das war ihm vorhin gar nicht aufgefallen.

Möglicherweise waren es aber auch gar keine Lösungsmittel, die er hier roch, sondern Alkohol. Dies hier war der Gang zum Lager, und dort musste etwas zu Bruch gegangen sein. Mehr als nur eine Flasche Wein. Er tastete über den Putz, bis er den Lichtschalter fand, einen dieser altmodischen zum Drehen. Er drehte. Unter seinen Füßen spürte er einen dumpfen Schlag, dann einen zweiten gleich hinterher. Hörte es grollen wie von weit entfernten, gedämpften Kanonen. Dann wurde es hell.

Seine Lippen formten sich zu einem »o«, und ehe er noch »Scheiße« sagen und die geblendeten Augen schließen konnte, rollte es auf ihn zu, gelb und gleißend, wie damals, als er und seine beiden Brüder Vaters alte Lötlampe ausprobieren wollten und ihm die wulstige Feuerzunge plötzlich übers Gesicht geleckt hatte. Nur ungleich größer. Und heißer. Und von allen Seiten.

*

Das Brennen wurde stärker, hatte schon den ganzen Leib erfasst und stieg jetzt hoch bis zur Kehle, nahm ihm den Atem. Er krümmte sich, röchelte, schluckte krampfhaft, schnappte nach Luft. Lodernde Flammen in seinem Magen, glühende Lava in seiner Kehle, dumpfe Detonationen in seinem Kopf. Sein Herz raste in Panik. Er warf sich herum, spürte stechenden Schmerz in beiden Seiten, stöhnte auf, rieb sich die verklebten Augen und tastete nach dem Lichtschalter. Lautes Poltern verriet ihm, dass er die Wasserflasche umgeworfen hatte. Zweimal entwischte ihm das glatte Ding, dann hatte er die Flasche zu fassen, schraubte sie mit prickelnden Fingern auf, setzte sie gierig an – ein Tropfen nur, sie war leer. Durch sein Husten und Räuspern hindurch konnte er selbst nicht verstehen, was er da fluchte.

Hauptkommissar Stahnke richtete sich mühsam auf, erhob sich, streifte den Bademantel über und schlurfte ins Bad. Ein feuchter, leicht modriger Geruch erinnerte ihn daran, dass einige seiner in Gebrauch befindlichen Handtücher ein kaum geringeres Dienstalter hatten als er. Ächzend hockte er sich auf die Kloschüssel.

Während er pinkelte, bahnten sich saure Rülpser ihren schmerzhaften Weg nach oben und ins Freie. Es gab Augenblicke, da war er heilfroh, wieder allein zu leben. An der Wand neben der Tür hing ein kleiner Frisierspiegel, der noch von Katharina stammte. Ein Blick hinein bestätigte seine erste Diagnose. Er fühlte sich nicht nur wie ein Wrack, er sah auch so aus.

Stahnke spülte, beugte sich dann übers Waschbecken, ließ kaltes Wasser in die hohle Hand laufen und trank. Es war, als wasche er offene Wunden, und wieder begann sein Magen zu toben. Manchmal sehnte er sich direkt danach, sich zu übergeben, sich inwendig zu reinigen. Er erinnerte sich, dass es Religionen gab, die das Kotzen zum Lebensprinzip erklärt hatten. Sein Körper aber tat ihm nicht den Gefallen, der behielt alles bei sich und machte Fett und Schmerzen daraus. Und für den Finger im Hals war er einfach zu feige.

Er richtete sich auf, stemmte die Hände auf den Waschbeckenrand und näherte sein Gesicht dem schlierigen Badspiegel. Ein rötlich-graues, aufgeschwemmtes Gesicht mit grober Haut, tiefrot geränderten Augen mit dunklen Schatten darunter, kurzen, weißblonden Haaren über einer schuppig-rauen Stirn, einer rotscheckigen, nicht gerade zierlichen Nase und einem leuchtenden Pickel zwischen den Bartstoppeln am runden Kinn. »Hauptkommissar Stahnke, Mordkommission«, sagte er und lachte, womit er einen Hustenanfall auslöste, der seine wasserblauen Augen vollends in pralle, rotweiß gemusterte Kissen bettete.

Während die Kaffeemaschine vor sich hin prustete, löste Stahnke schnell den ersten Fall des Tages. Tatwaffe: Zweieinhalb Flaschen Bardolino, aus dem Supermarkt, Stückpreis zweiachtunddreißig. Tathergang: Totalkonsum trotz Warnung des Kollegen Kramer (»Der ätzt Ihnen die Magenwände weg!«). Tatbestand: Körperverletzung in Tateinheit mit Zersetzung der höchstpersönlichen Wehrkraft. Täter: Stahnke. »Festnehmen und wegschließen, das wäre das Beste«, knurrte der Hauptkommissar, während er die leeren Flaschen in den Altglas-Eimer gleiten ließ. Das größte Modell, das es zu kaufen gab. Auch schon wieder fast voll.

Das Telefon klingelte, und Stahnke wusste schon vor dem Abheben, dass es sein Assistent war. »Der Supermarkt in Ihrer Straße«, sagte Kramer. »Abgebrannt, letzte Nacht. Haben Sie’s nicht mitgekriegt?«

»Nein«, sagte Stahnke. »Geschieht ihm recht, außerdem.« Der Laden war weder billig noch gut sortiert, und muffigeres Personal gab es vermutlich nirgends in der Stadt. Trotzdem hatte Stahnke schon so lange dort eingekauft, dass ihm jetzt auf Anhieb gar nicht einfallen wollte, wo der nächstgelegene Supermarkt war. Macht der schlechten Gewohnheit.

Der Laden gehörte drei Brüdern. Der eine war Schlachter, der zweite Bäcker und der dritte Weinfachmann. Angeblich waren sie sich untereinander spinnefeind. Kaufmann war keiner von ihnen, allenfalls auf dem Papier. Den Fleischstand hatte Stahnke als reichlich unappetitlich in Erinnerung und die Backwarenabteilung als sehr armselig. Die Weinregale aber waren noch das Beste an dem ganzen Laden gewesen. Den Bardolino hätte er wirklich nicht kaufen müssen.

»Und?«, fragte Stahnke.

»Brandstiftung«, sagte Kramer. »Versuchter Versicherungsbetrug. Und es hat einen Toten gegeben.«

Stahnke antwortete nicht, weil er vollauf damit beschäftigt war, einen Rülpser zu unterdrücken, der im Falle eines Ausbruchs wohl den kollegialen Kontakt zu Kramer beendet hätte. Der Mann war tüchtig, unverschämt tüchtig sogar. Warum Kramer trotzdem nicht einmal den Versuch unternahm, auf der Karriereleiter an ihm vorbeizuklettern, war ihm schleierhaft. Zumal doch gerade jetzt ein guter Zeitpunkt dafür gewesen wäre.

»Der Tote ist einer der drei Besitzer«, fuhr Kramer fort. »Der Schlachter.«

»Verbrannt?«, fragte Stahnke. Bis auf ein leicht zischelndes Nebengeräusch, das an brutzelndes Fett erinnerte, brachte er das Wort ganz annehmbar heraus.

»Ja«, antwortete Kramer. »Aber vorher hat man ihm noch den Schädel eingeschlagen. Von hinten. Mit einer Weinflasche.«

»Aha«, sagte Stahnke. Etwa Brudermord? Nach dem Hinweis mit dem Versicherungsbetrug lag das nahe. Ha, Wein-Bruder! Vielleicht sollte er sich wirklich mal selber in Gewahrsam nehmen.

»Kramer, Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass ich heute frei habe«, sagte Stahnke.

»Ja.« Nichts weiter. Typisch Kramer. Stahnke seufzte, und diesmal entwischte ihm doch ein Rülpser, allerdings kein markerschütternder.

Schnell fragte er: »Gibt es schon ein Geständnis?«

»Ein Teilgeständnis. Der Bäcker und der Wein-Bruder haben die Brandstiftung zugegeben. Der Laden lief schlecht, ein ›warmer Abbruch‹ auf Versicherungskosten schien ihnen die einzige Rettung zu sein. Der Schlachter aber wollte dabei nicht mitmachen. Die beiden anderen sagen, er sei schon immer etwas komisch gewesen.«

Er hätte eben kein Hackfleisch aus eigener Produktion essen sollen, dachte Stahnke. »Inwiefern komisch?«

»Na ja, er soll an Ufos geglaubt haben. Und an Seelenwanderung.«

Stahnke lehnte sich zurück und betastete seinen geschwollenen Bauch. Die Lage der Leber war unangenehm deutlich zu spüren. »Unglaublich«, sagte er. »Ein esoterischer Schlachter. Aber wer hat denn nun seine Seele auf die große Wanderung geschickt?«

»Auf jeden Fall einer seiner beiden Brüder«, erwiderte Kramer. »Sie haben unmittelbar vor der Tat zusammen im Kontor gesessen und gestritten. Danach haben die beiden überlebenden Brüder literweise Lösungsmittel aus der Farben-Abteilung ausgekippt und angesteckt. Gemeinsam. Das geben sie zu. Was aber den Schlag mit der Weinflasche angeht – in diesem Punkt beschuldigen sie sich gegenseitig.«

»Saubere Brüder.« Stahnke konnte sich gut an die drei erinnern, schließlich war er ihnen oft genug im Laden begegnet. Der Schlachter-Bruder war der Jüngste des Trios gewesen, hatte aber mit seinem bleichen, schlaffen Gesicht wie der Älteste ausgesehen. Er hatte auf abweisende Art verträumt gewirkt, so dass man ihn kaum ansprechen mochte, und seinen weißen, faltigen Händen mit den langen, schmalen Fingern hatte man kaum zugetraut, ein Hackmesser wirkungsvoll zu führen. Ganz anders der Bäcker-Bruder: Klein, rundlich, lebhaft. Dunkle kleine Korinthenaugen in einem braunen Lebkuchengesicht, meist ein cleveres Grinsen um die Lippen, Marke bauernschlau. Aber ganz offensichtlich ebenso wenig wie sein Bruder in der Lage, einen Supermarkt ordentlich zu leiten. Mehr als einmal hatte sich Stahnke dort schimmeliges Brot andrehen lassen. Wie oft hatte er sich eigentlich darüber beschwert? Nie. Mit ihm konnte man es offenbar machen. Aber sicher nicht mit jedem.

Der dritte Bruder war ganz anders. Zurückhaltend, gelassen, höflich; seine rotgeäderten Wangen strahlten Kompetenz aus. Stahnke hatte sich mehrmals von ihm beraten lassen, und die Weine, die der Mann ihm empfohlen hatte, waren ihr Geld wert gewesen. Eine Menge Geld, zugegeben; dieser Bordeaux neulich, ein 96er Baron Philippe de Rothschild, über neun Euro die Flasche. Geschmeckt aber hatte der erstklassig, erdig und würzig, und vor allem war er ihm nicht auf den Magen geschlagen. Den blöden Bardolino hatte Stahnke fast heimlich gekauft, um seinen Ruf als Weinkenner nicht zu gefährden. Aber schließlich waren seine finanziellen Möglichkeiten begrenzt. Ganz im Gegensatz zu seinem Durst in letzter Zeit.

»Wo ist es denn passiert?«, fragte Stahnke. »Im Kontor?«

»Ja«, antwortete Kramer. »Das Opfer hat sich danach noch über den Innenhof bis ins Lagerhaus geschleppt. Jeder der beiden Verdächtigen gibt an, das Kontor als Erster verlassen zu haben. Der jeweils andere Bruder sei wenig später nachgekommen und habe behauptet, der Schlachter hätte seinen Widerstand aufgegeben und sei nach Hause gegangen. Danach haben die beiden dann gemeinsam das Feuer gelegt.«

»Und der Schlachter ist mitsamt dem Laden verbrannt«, ergänzte Stahnke. »Was meinen Sie: Im Affekt niedergeschlagen?«

»Weiß nicht«, sagte Kramer. »Von hinten und gezielt, das sieht mir eher wohlüberlegt aus. Heimtückisch.«

»Was war das denn für eine Flasche«, fragte Stahnke. Nachdenklich massierte er sich die Magengegend. »Ich meine die Tatwaffe. Was für eine Sorte Wein?«

Kramer wäre nicht Kramer gewesen, wenn ihn diese Frage überrascht hätte. »Rotwein. Ein Bordeaux, Baron Philippe de Rothschild. Jahrgang 1996.«

»Ach.« Stahnke richtete sich auf. »Standen denn da im Kontor mehrere Flaschen herum? Oder nur diese eine?«

»Diese und noch eine weitere«, sagte Kramer. »Die drei wollten über ein neues Sonderangebot entscheiden. Zwei Sorten standen zur Auswahl. Die andere war ein – warten Sie …« Es raschelte, Kramer blätterte in seinen Notizen. Stahnke erhob sich. »Da steht es«, sagte Kramer. »Ein Bardolino, und zwar …«

»Passen Sie auf«, sagte Stahnke. »Der Bäcker war’s. Sagen Sie es ihm auf den Kopf zu. Der klappt nach zwei, drei Stunden zusammen, darauf wette ich.«

»Aha«, sagte Kramer. »Und warum?«

»Heute habe ich frei«, sagte Stahnke. »Ich erklär’s Ihnen morgen. Aber bis dahin kommen Sie sicher selber drauf.«

Er legte auf, reckte sich ausgiebig und stellte erfreut fest, dass er Appetit bekommen hatte. Auf Brötchen. Aber wo sollte er jetzt welche herbekommen?

Unter der Dusche fiel ihm der Bordeaux wieder ein. Wirklich ein sagenhaftes Getränk. Leider etwas teuer.

Ob der Brand wohl die Weinabteilung verschont hatte?

Stahnke und der Spökenkieker

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