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Wer hat Angst vor dem bösen Wolf?

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Rotkäppchen ist ein Märchen, in dem eine liebe Mama ein ebenso liebes Töchterchen, das eine Vorliebe für rote Kopfbekleidungen hat, auf den Weg zu ihrer ebenso lieben Großmutter schickt. Und weil das Mädchen so lieb ist, pflückt sie, ent­gegen dem Rat ihrer ach so lieben Mutter, ein paar Blümchen für die Oma. Diese kleine Schwä­che kostet das arme Mädchen, nebst der geliebten, und in diesem Fall unschul­digen Großmutter, fast das Leben. Und die Moral von der Geschicht’: Man muss der Mama immer folgen, dann passiert weder dem Töchterchen noch der Großmutter etwas, denn dann kann der böse Wolf nicht zuschlagen.

Oh ja, so kann man Märchen sehen, wenn man das denn will, und man kann sie so auch den armen Kindern erklä­ren. Die glauben gerne, was Mama, Papa oder die Großeltern ihnen nach dem Vorlesen der Märchen erzählen. Sie glauben ja auch an den harmlosen Osterhasen, der, wie ihnen versichert wird, nichts mit unmoralischen Frucht­barkeits­riten zu tun hat und sie glauben auch an den Weih­nachts­mann, der es nur gut mit ihnen meint. Glauben wir, die wir die Grundschule längst hinter uns haben, das auch? Mag sein! Jedem ist frei­gestellt, wie er oder sie Märchen sehen möchte. Aber da kommt ein bitterböser Gedanke auf: Ahnen wir nicht hinter den lieben und harmlosen Geschich­ten etwas ganz, ganz anderes? Lauert da nicht eine böse Schlange, die uns in Versuchung führen möchte, auf unser Leben zu sehen? Sollen wir mit Hilfe der Märchen Gutes von Bösem unterscheiden lernen, um uns so von unserer Unschuld zu befreien? Wollen Märchen beispiels­weise die irrige Vorstellung zer­stören, dass wir eine fröhliche Kind­heit im Paradies hatten und uns zum Hinsehen auf das zwingen, was alles schief gelaufen ist? Sollen wir akzeptieren, dass es in unserer Kindheit und Jugend Grausamkeiten und böse Menschen­fresser gab?

Oh ja, wir ahnen eine Wahrheit hinter den harmlosen Geschichten in den Märchen! Warum sonst wären alle Kitsch- und Garten­läden voll mit hässlichen Fröschen, die blöde grinsend und mit einer lächerlichen Krone auf dem Kopf, darauf warten, dass wir unser sauer verdien­tes Geld für sie über den Ladentisch schieben? Ist der Keramikfrosch nicht hässlicher als die Eidechse und wird er nicht dennoch mehr verkauft? Und warum verfolgen uns die treu dreinblickenden Püpp­­chen, die Schneewittchen und die ihr hörigen Zwerge darstellen, bis in unsere Nachtruhe? Nein, hinter den Geschich­ten, mit denen wir unsere Kinder be­glücken, steckt mehr. Die sind kein Kinderkram. Da gibt es knallharte Pornos und gnadenlose Horror­geschichten. Wenn der Prinz, angezogen vom Haar einer gewissen Rapunzel, diese in ihrem Kämmer­lein schwängert und die Rache einer Frau fürchtet, die mit besagter Rapunzel ein inzestuöses Verhältnis hat, dann ist dies keinesfalls eine sexuell harmlose Geschichte, die in Märchenform daherkommt. Hätte der junge Mann mit dieser Dame lediglich fromme Lieder gesungen, dann wäre das Märchen tatsächlich auch für prüde Men­schen kindertauglich.

Haben Sie schon einmal geträumt? Gut, ich weiß selbst, dass diese Frage an der Grenze des Blöd­sinns angesiedelt ist. Jeder hat schon geträumt, auch wenn sich nicht jeder an seine Träume erinnern kann. Wozu sich auch an etwas erinnern, das man ohnedies nur in den seltensten Fällen eindeutig versteht? Allge­meine Überzeugung ist, dass unser Unterbe­wusstsein im Schlaf mit dem ganzen Müll aufräumt, der uns den Tag über belästigt hat, und dass es mitunter Botschaften schickt, die ein gutes, leider meist eher ein ungutes Gefühl in uns hinterlassen. Wir fragen uns nicht, wie wohl ein Sigmund Freud geträumt haben mag, der glaubte, Träume seien Wunsch­erfüllungen. Da läuft man als Pubertierender auf einen Abgrund zu und will stehen bleiben, kann aber nicht, da verirrt man sich als Erwach­sener in einer Stadt, die man noch nie gesehen hat und ist verzweifelt. Also eine Wunscherfüllung sieht anders aus! Und wer träumt schon von wilden Sexpartys mit den Partnern seiner Tagträume? Und gerade weil wir die Traumsprache nicht verstehen, gehen wir nur allzu gerne davon aus, dass es nur Müll sein kann, der Nacht für Nacht auf uns ein­prasselt. Doch so ist es nicht! Wir können die Sprache des Unbewussten, der wir in Träumen und in Märchen begegnen, sehr wohl verstehen, denn ein Teil von uns spricht diese Sprache!

Wie aber deutet man Märchen oder Träume? Vorweg: Wenn Sie sich sicher sind, dass ein Märchen oder Traum dies oder jenes bedeutet, und Sie fühlen tief im Herzen, dass es so ist, wie Sie es sehen, dann lassen Sie sich von keinem Psychologen, Traumdeuter oder mir etwas anderes einreden. Arche­typen, also Urbilder, die in uns allen vorhan­den sind, sind nicht eindeutig. Und was Sie in einem Märchen sehen, das stimmt für Sie, obwohl der Rest der Welt vielleicht nur verständnislos den Kopf schüttelt. Es gibt keine Wahrheit, nur Wahrheiten. Welche davon die unsere ist, das lassen wir uns nicht vorschreiben! Deshalb meine Bitte: Nehmen Sie meine Interpretationen als Vorschläge, ein Märchen zu verstehen, und nicht als absolute Wahrheit.

Märchen, zumindest die Guten, sind aus einem Bauchgefühl heraus entstandene Geschichten, die uns etwas über das Leben erzählen, wenn wir bereit sind, ihnen zuzu­hören. Und da wird es bereits schwierig. Was ist denn die Sprache der Märchen? Es ist eine Sprache, die so vieldeutig ist wie die Bilder eines Traumes nach einem üppigen Mahl. Damit sind wir bei einem Problem, das sich bei der Märcheninter­pretation immer stellt: Sie sind unter mehreren Perspektiven deutungsfähig. Ist Rotkäppchen eine junge Jakobinerfrau, die sich gegen die herrschende Kaste der Feudalherren stellt, also eine Symbolfigur der französischen Revo­lution, ist sie ein vom Patriarchat bedrohtes Mäd­chen, das den Mann, dargestellt als Wolf, fürchten muss, oder ist sie eine ungehorsame Göre, die lernen sollte, dass man besser Mamas Regeln befolgt? Letztendlich gibt es bei der Deutung von Märchen keine Sicher­heit. Die eine Interpre­tation erscheint uns plausibel, eine andere an den Haaren herbeigezogen.

Doch egal wie wir Märchen verstehen oder verstehen wollen, eines sind sie immer: Spannend! Die hier darge­stellte Sichtweise auf Märchen ist keine sozialpolitische; ich sehe in Märchen in der Regel geronnene Lebens­erfahrung, die in archetypische Bilder gekleidet, auch heute noch helfen kann, uns selbst und unsere Mitmenschen zu verstehen. Daneben sollten wir unser Alltags­wissen auf Märchen anwenden. Ist etwas logisch? Warum tut diese oder jene Person gerade das, was sie tut, und wie fügt sich das in ein Gesamtbild ein? So, wie wir einen zeitgenössi­schen Roman oder einen Film sehen, so können wir auch Märchen sehen, und zu verstehen versuchen.

Wie gesagt, was die Interpretation schwie­rig macht, ist, dass zwei Perspektiven auf das gleiche Märchen, die sich zu widersprechen scheinen, gleichzeitig richtig sein können. Nehmen wir zum Beispiel Aschenputtel.

Von Wölfen, Wäldern und wehrlosen Jungfrauen

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