Читать книгу Von Wölfen, Wäldern und wehrlosen Jungfrauen - Peter Hakenjos - Страница 6

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Aschenputtel ist eine erotisch-sexuell selbstbe­stimmte Frau, die aufbegehrt und die Initiative ergreift, um der Bevormundung ihrer Mutter und der Geringschätzung ihres Vaters zu entkommen. Sie zeigt der Welt, wer sie in Wirklichkeit ist, geht zum Prinzen und erobert ihn. Ja, sie motiviert ihn sogar, sie zu suchen, um sie mit sich auf sein Schloss zu nehmen. Wer also ist diese verwirrende junge Frau wirklich? Dieser Frage werden wir uns im Folgenden stellen.

Was können Märchen überhaupt sein? Ich denke, viele Märchen sind nichts anderes als Tagträume. Andere heben den Zeigefinger und zeigen uns, wie wir leben sollen. Dabei bedienen sich Märchen jenseits jeder Logik Bildern, die auch dem kritisch­sten Geist als Archetypen erscheinen müssen. Mit anderen Worten: Nimmt man Märchen ernst oder, besser ausgedrückt, als lesenswert, dann muss man sie den Träumen im Schlaf gleichsetzen, deren Sprache sie sprechen. Mit Plausibilität hat weder der Traum noch das Märchen etwas zu tun. Oder wäre es plausibel, dass eine Hexe ein Geschwister­paar verfolgt, das sich als Fische in einem Teich versteckt, und dass diese Hexe, um das Geschwis­ter­paar dennoch zu finden, den Teich leersäuft? Im Traum ist so etwas möglich. In der Wirklichkeit eher nicht.

Doch was bitte könnte der Tagtraum hinter dem allseits bekannten Märchen »Hänsel und Gretel« sein? Da soll doch der Hänsel aufge­fressen werden und die Gretel wird als Haussklavin gehalten, wobei den Beiden erst im letzten Moment die Flucht gelingt. Das soll ein Tagtraum sein? Eine Horrorge­schichte ersten Ranges, ein Tagtraum? Gut, Alpträume sind auch Träume, aber ob es sich jemand, der keine Suizidabsichten hat, als wün­schens­wert vor­stellt, aufgefressen zu werden, das möchte ich denn doch heftig bezweifeln.

Immer wieder taucht in Märchen die bitterböse Mutter auf, meistens als Stiefmutter, hier aber unverblümt als die leibliche Mutter. Der Vater ist meist dem Schicksal seiner Kinder gegenüber gleich­gültig oder aber ein harm­loser Trottel. Bei Hänsel und Gretel ist er ein an sich netter Kerl, der sich von seiner Frau zur bösen Tat überreden lässt. Ein Trottel? Mag sein. Lassen wir es einfach so stehen, aber hier haben wir das Motiv des Märchens als Tagtraum. Die Geschichte erzählt davon, wie man mit Hilfe von Intelligenz und Cleverness eine alte Hexe los wird und den lieben Vater für sich gewinnt. Wäre das kein schöner Tagtraum für Kinder, die unter einer bösen Mutter leiden? Wie schön wäre es, die alte Hexe loszuwerden, um den lieben Papa ganz für sich zu haben!

Bleiben wir dem Motiv des Tagtraumes treu und fragen uns am Ende hin und wieder, welcher Traum wohl das Motiv des Märchens gewesen sein könnte! Doch Vorsicht! Nicht jedes Märchen muss einen Tagtraum als Motiv haben. Denken wir nur an »Die kluge Else«, in der vor zu viel Nachdenken und Mitfühlen eindringlich ge­warnt wird. Die arme kluge Else scheitert in ihrem Leben, das prächtig hätte verlaufen können. Sie scheitert so erbärmlich, weil sie aus dem Grübeln nie heraus­kommt. Mitunter hebt das Märchen auch mahnend den Zeigefinger, es will uns dann belehren und vor Gefahren warnen.

Fragen Sie sich, lieber Leser, warum Sie ein bestimmtes Märchen ganz besonders lieben? Nein? Das sollten Sie aber. Sie sollten sich die Frage stellen, was gerade dieses Mär­chen mit Ihnen ganz persönlich zu tun hat? Und glauben Sie mir, die Frage danach, und vor allem die Antwort, die Sie erwartet, die wird span­nend sein und Sie weiterbringen. Den­noch, vergessen Sie nicht: Ihre mit Gewissheit gefühl­te Interpre­tation, auch die des Tag­traums, die ist für Sie die Richtige! Vergessen Sie auch nicht, dass andere Interpreta­tionen genauso richtig sein können. Eine andere Interpre­tation sieht das Märchen nur unter einer anderen Perspek­tive. Wir sollten mit einem freundlich-verstehenden Lächeln all jenen antwor­ten, die uns ihre Märchen­interpreta­tion als absolute Wahrheit verkau­fen wollen, denn Lächeln ist die schönste Art, jemand die Zähne zu zeigen.

Die Wissenschaft, gleich welcher Couleur, kann uns Informationen über die Herkunft von Märchen, vielleicht auch Sprachanalysen über die Zeit der Entstehung usw. liefern; die letztendlich gültige Bedeutung eines Mär­chens kann keine Textanalyse und keine noch so scharfsinnige Interpretation liefern. Ironi­scherweise ist dazu auch der Autor selbst nicht in der Lage. Hat er sein Werk abgeliefert, so ist er ein Interpret seines eigenen Werkes, so wie jeder andere Rezipient auch, denn Märchen sind Kunst und Kunst ist interpretationsfähig.

Doch jetzt hören wir auf, das Messer zu wetzen und beginnen, die Sau zu schlachten, um uns zu fragen, was sich hinter einzelnen Märchen wohl verbergen könnte.

Von Wölfen, Wäldern und wehrlosen Jungfrauen

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