Читать книгу Von Wölfen, Wäldern und wehrlosen Jungfrauen - Peter Hakenjos - Страница 8
Aschenputtel – oder wie werde ich die, die ich bin?
ОглавлениеAschenputtel? Ist das ein Mädchennamen? Wie heißt das Mädchen denn wirklich? Hat sie überhaupt einen Namen? Wohl kaum. Anscheinend interessiert sich niemand für den Namen der jungen Frau. Hoffen wir, dass der Prinz, der sie in diesem berühmten Märchen auf dem Pferd nach Hause führt, diesen Namen erfahren wird. Viel wahrscheinlicher aber, als dass dieses erst bemitleidenswerte, dann beneidenswerte Mädchen einen Namen hat, eine Person war, ist es, dass es für den Erzähler nie ein Vorbild in der wirklichen Welt gab. Wer spart denn schon den Namen eines Menschen aus, den er kennt, und gibt ihm lediglich einen Spitznamen, wenn er ihn beschreibt? Tatsächlich gibt es Spuren des Aschenputtels in der römischen und griechischen Antike, selbst in China und Persien lassen sich Parallelen finden. Aschenputtel, wen wundert’s, ist ein Archetyp. Und wenn wir heute einen Roman lesen oder einen Film sehen, in dem ein armes verkanntes Wesen ein trostloses Schicksal fristet, um schließlich zu Ruhm und Reichtum zu gelangen, dann hatte auch hier Aschenputtel ihre Finger im Spiel. Als Beispiele seien nur »Pretty Woman« mit Julia Roberts als Film und »Jane Eyre« von Charlotte Brontë als Roman genannt. Meist sind die Aschenputtels unserer Phantasiewelten Frauen, die nicht nur träumen … aber das habe ich im Unterricht als Spanischlehrer lernen müssen.
Selbst im Leben eines Lehrers gibt es sogenannte Highlights. La Cenicienta, das spanische Wort für Aschenputtel, war eine Lektion in dem Spanischlehrwerk, mit dem ich unterrichten durfte. Jetzt kannte ich das Märchen – wer kennt es nicht – und hatte zu der Protagonistin selbstverständlich eine Meinung. Ganz klar, das ist die Frau, die still und unscheinbar zu Hause sitzt, billige Liebesromane liest und darauf hofft, dass irgendwann ein strahlender Prinz kommt, ihre Schönheit und ihren inneren Wert erkennt und sie aus dem Elend des Putzens und Kindergeschreis in eine schönere Welt entführt. Ich war mir da so sicher! Als ich diese Interpretation des Märchens vor der Klasse von mir gegeben hatte, meldete sich eine junge Frau (meine Schüler waren zwischen 16 und 20 Jahre alt) und meinte: »Also nein! Aschenputtel ist doch ungehorsam. Sie geht zum Prinzen, nicht er zu ihr. Sie ist eine Frau, die sich von ihren Eltern und ihrer Erziehung befreit, eine Frau, die sexuell selbstbestimmt ist.« So ungefähr hat sich meine Schülerin geäußert. Ich verstummte in Ehrfurcht vor dieser Sichtweise. Die Schülerin hatte Recht und ich, der ich als Lehrer doch alles besser wissen sollte ☺, habe nicht gesehen, dass ein Aschenputtel eine starke Persönlichkeit haben muss.
Und was ist jetzt richtig? Sehen wir uns das Märchen an. Nur so viel vorneweg, auch wenn ich mich wiederhole: In Märchen gibt es meist kein richtig oder falsch. Oft sind zwei, drei oder mehr Interpretationen möglich und begründbar, je nachdem, was der Interpretierende sehen will oder kann. Was nach einem Widerspruch aussieht, ist oft nur ein Perspektivwechsel, der alles in einem anderen Licht erscheinen lässt.
Märchen bedienen sich der Archetypen, die in uns vorhanden sind. C.G. Jung hat in ihnen das kollektive Unterbewusstsein erkannt. Auch wenn Archetypen nicht eindeutig sind und einem Wandel unterliegen können, helfen sie uns doch, die Märchen zu verstehen.
Zum Handlungsverlauf können wir uns wieder unseres Alltagsverständnisses bedienen. Welcher Vater, der seine Tochter als schön, brav und liebenswert kennt, ließe es zu, dass diese Tochter so gedemütigt wird wie Aschenputtel? Welcher Vater würde sich nicht wundern, wenn sich diese Tochter, der alles genommen wurde, lediglich einen Haselnussreis als Mitbringsel von einer Reise wünscht? Welche Mutter würde ihren Töchtern das Messer reichen, damit sich diese die Füße verstümmeln? Welcher reiche alte Mann würde seinen Taubenschlag, also eine Hütte, eigenhändig zerhacken, weil er Aschenputtel darin vermutet, anstatt die Tür zu öffnen, um nachzusehen? Die Liste unglaubwürdiger Ereignisse ließe sich auch in diesem Märchen beliebig ergänzen. Wir sind uns einig: So kann es nicht gewesen sein und man müsste schon sehr naiv sein, würde man dieses Märchen nicht wegen etwas Anderem, etwas Verborgenem, lieben. Ich höre jetzt den Einwand, dass es doch nur ein Märchen ist, und Märchen sind eben Märchen und keine realistischen Erzählungen. Realistisch ist Superman auch nicht, obwohl wir manchmal gerne die Fähigkeiten dieses gutaussehenden Mannes hätten, und dennoch versteckt sich nichts hinter der Geschichte dieses Comic-Helden. Doch da stocke ich. Haben wir nicht in Aschenputtel als auch in Superman das gleiche Motiv, das uns die Geschichten attraktiv macht? Etwas, das Sigmund Freud die Wunscherfüllung im Traum nennen würde? Die Wunscherfüllung im Traum ist in den meisten Fällen wirklich nur ein Traum – welcher Mann träumt schon davon, dass er Claudia Schiffer im Traum umarmt und mehr mit ihr anstellt, als über GNTM (Germany’s next Topmodel) zu diskutieren? Es ist eine Gemeinheit, dass wir nicht das träumen, was wir gerne träumen würden, weil wir es im Wachzustand nicht haben können. Die Gemeinheit, dass wir in unseren Träumen nicht unseren verborgendsten Leidenschaften nachgehen können, gilt nicht für Tagträume. Und das tun wir deshalb in Filmen und Romanen reichlich. Wer fühlt sich nicht hin und wieder schwach, hässlich und verkannt und wünscht sich nicht, endlich stark, schön und anerkannt zu sein? Wer wünscht sich nicht hin und wieder so stark und übermächtig zu sein wie Superman, wahlweise Supergirl, um irgendwelche Bösewichte, die einem die Vorfahrt genommen oder den Partner fürs Leben ausgespannt haben, straflos verprügeln zu können? In dem Märchen von Aschenputtel wie dem von Supermann können wir diesen Wunsch, diesen Tagtraum, erkennen. Mitunter sind wir schwach und hilfebedürftig und kein Mensch ist da, der uns hilft, so dass wir uns selbst helfen müssen und können; wir erleben, dass es möglich ist, aus dem Schatten anderer Menschen hervorzutreten. Eine schöne Vorstellung, oder? Doch lassen Sie uns jetzt zu den Details kommen.
Die erste Person, die im Märchen erscheint, ist die Mutter. Und Mütter sind im Märchen, selbstverständlich auch im wirklichen Leben, immer gut. Das wissen wir alle. Und wenn die Mutter, das geschieht selbstverständlich nur im Märchen, zu gut ist, dann muss sie sterben und die Stiefmutter nimmt ihren Platz ein, denn eine Stiefmutter darf böse sein. Man darf davon ausgehen, dass beide, Mutter wie Stiefmutter, dieselbe Person sind. So ist das nun einmal im Leben: Keiner von uns ist nur gut oder nur böse. Das mag mitunter ärgerlich sein, weil wir doch gerne den Bösewicht als nur böse sehen würden und die gute Mutter als makellos in der Liebe zu ihren Kindern. Um dem Bedürfnis, Mütter rückhaltlos als gut darzustellen und dem Wissen, dass sie das keinesfalls sind oder sein können, gerecht zu werden, spaltet man sie praktischerweise auf. Das erspart Ärger bei denen, die dem Märchen lauschen, und es ist einfacher, in Schwarz-Weiß zu malen, was dem Stil von Märchen entgegenkommt.
Die gute Mutter meint, ihre namenlose Tochter möge immer fromm und gut sein, dann wird der Himmel, und, na klar auch sie selbst, für sie sorgen. Woher die Gewissheit der Mutter kommt, dass ihr ein Platz im Himmel zusteht, das bleibt ein Geheimnis des Märchenerzählers. Aber wo schon sollten so grundgute Menschen nach ihrem Ableben anders hin als in den Himmel? Die gute Mutter stirbt und die Zeit der Trauer, der Kälte, geht vorbei, der Schnee schmilzt und damit ist der Vater wieder auf Freiersfüßen. Und wie das der Brauch in Märchen ist, sonst müsste die gute Mutter ja nicht sterben, er trifft die falsche Wahl. Eine üble Person mit zwei mindestens ebenso üblen Töchtern macht ab sofort unserer Protagonistin, dem Aschenputtel, das Leben zur Hölle. Bei Disney sind die üblen Töchter der Stiefmutter potthässlich. Schön wär’s, wenn die Bösen immer hässlich wären und die Guten immer schön. Irgendwie glauben wir doch alle daran, dass man bösen Menschen ihre Bosheit ansehen müsste, wären wir sonst so begierig darauf, von Verbrechern das Gesicht zu sehen? Selbst in Hollywoodfilmen wie in »Shallow Hal« (deutsch: Schwer verliebt) mit Jack Black und Gwyneth Paltrow weiß man, dass es sich so leider nicht verhält. Und so naiv wie Disney war unser Märchenschöpfer nicht. Die zwei Stiefschwestern sind ausgesprochen hübsch, wenn nicht gar schön. Seltsamerweise machen sie aus ihrer Stiefschwester das hässliche Aschenputtel. Wer gibt ihnen die Macht dazu? Die Stiefmutter?
Eher nicht, sie unterstützt ihre Töchter lediglich in ihrem schändlichen Tun. Die Holzpantoffeln und das schäbige Kleid bekommt Aschenputtel von ihren Stiefschwestern, ebenso weisen die ihr die Schmutzarbeiten zu. All das geschieht mit wohlwollender Duldung der Mutter. Es geschieht mit der zweigesichtigen Mutter. Ihr liebevolles Gesicht zeigt sie dem gehorsam-frommen Aschenputtel, ihr hässliches Gesicht der ungehorsamen und launischen Tochter, die, wie es Sitte bei Heranwachsenden ist, von den Hausarbeiten nicht allzu begeistert ist, vor allem nicht von den schmutzigen und anstrengenden. Die Schwestern erledigen für die böse Mutter die Grausamkeiten: Sie lassen das Aschenputtel sich schlecht fühlen. Doch wer bitte, sind die bösen Schwestern? Schließen wir uns der Meinung einiger Autoren, beispielsweise der Interpretation Verena Kasts in: »Vom gelingenden Leben – Märcheninterpretationen« an: Die zwei bösen Stiefschwestern Aschenputtels sind ihr eigener Schatten. Sie ist einerseits das brave Mädchen, das es allen, ohne zu widersprechen, recht machen will. Gleichzeitig hasst sie es an sich, dass sie auch eitel und selbstverliebt ist. Und das eitle und selbstverliebte Mädchen, das sie auch ist, hasst das unscheinbare Aschenputtel, das immer macht, was Papa und Mama wollen. Die böse Mutter liebt die eitle und materiell orientierte Tochter, die selbstbewusst auftritt und die sich vom Vater schöne Kleider und teuren Schmuck wünscht und verachtet das angepasste, duckmäuserische Aschenputtel. Die gute Mutter dagegen findet es super, dass die Tochter die ganzen Drecksarbeiten im Haus erledigt, so, wie es eine gut erzogene Tochter und spätere Ehefrau zu tun hat.
Wie ist das Verhältnis Aschenputtels zu ihren Eltern, wenn wir akzeptieren, dass die böse Stiefmutter nur das andere Gesicht der guten Mutter ist? Ihr Vater ist nützlich. Er bringt der braven Aschenputtel das Haselnussreis und er bringt dem eitlen Mädchen den Schmuck und die Kleider. Ansonsten? Wie so viele Väter, so ist er auch in dieser Familie eher eine Randfigur mit nützlichen Eigenschaften. Er ist es, der Geschenke bringt, er ist es, der den Prinzen auf das verhuschte Aschenputtel aufmerksam macht, das die böse Mutter lieber verschweigen würde.
Warum aber hat Aschenputtel zwei Stiefschwestern und nicht nur eine? Eine ist eitel. Sie wünscht sich schöne Kleider. Die Andere ist raffgierig, sie wünscht sich teuren Schmuck. Beide zusammen ergeben eine Persönlichkeit, die ein frommer und sparsamer Schwabe sich nicht als Schwiegertochter wünschen würde. Würde sich die eitle Tochter nicht auch Schmuck wünschen? Es kommt vermutlich nicht auf die Optik des Schmuckes als vielmehr auf seinen Wert an. Wir kennen dieses Verhalten nach materieller Absicherung durch Schmuck bereits von Marilyn Monroe aus dem Lied »Diamonds are a girl’s best friend«. Schmuck als materielle Absicherung für Frauen mag uns absonderlich vorkommen, in manchen Regionen der Welt ist es bis heute Sitte, eine Braut mit Gold und anderen Preziosen zu beschenken, um sie für den Fall des Todes ihres Mannes oder der Scheidung abzusichern.
Papa bringt Geschenke von einer Geschäftsreise mit? Er ging zu einer Messe. In die Kirche ging er sicherlich nicht, da wäre er auch mit seiner Frau und seinen Töchtern hingegangen. Und nach der Kirche kauft man eher selten Kleider und Schmuck ein. Die Frage, warum er denn seiner Frau nichts mitbringt, übergehen wir jetzt entspannt. Schließlich handelt die Geschichte von Aschenputtel und soll kein Märchen über eine wiederbelebte Liebe unter älteren Erwachsenen sein.
Dass Schmuck und Kleider eitle und geldgierige Töchter beglücken können, wird all jenen als einleuchtend erscheinen, die selbst mit derartigen Töchtern zu tun haben oder hatten. Aber warum um Himmelswillen will Aschenputtel ein Haselnussreis und noch dazu eines, das dem lieben Papa den Hut vom Kopf fegt? Dass es für Väter ärgerlich ist, wenn ihnen beim Spazierengehen oder bei der Gartenarbeit der Hut von einem Zweig vom Kopf gestoßen wird, weiß man, wenn man gerne und häufig Hüte oder Mützen trägt, wie es der Autor dieser Zeilen glatzenbedingt tut. Aber dass Aschenputtel auch noch weiß, dass ihrem Vater genau das passieren wird, obgleich er dies peinlichst zu vermeiden sucht, lässt uns erstaunen. Nicht nur, dass sie weiß, dass ihm der Hut vom Kopf gefegt wird, sie kennt auch noch die Pflanze, die diese Übeltat verüben wird! Wir können uns also fragen, welche Archetypen, welche Symbole sich hinter »Hut« und welche sich hinter »Haselnussstrauch« verbergen, ansonsten müssten wir zugestehen, dass Aschenputtel eine Hexe ist, die in ihrer Kristallkugel auch die Banalitäten sehen kann, die geschehen werden. Und so weit wollen wir in der Interpretation nun wirklich nicht gehen.
Der Hut galt bei den Germanen als Kennzeichen des freien Mannes. Er diente als Standeszeichen für Könige und Fürsten. Das leuchtet insofern ein, als ein Hut den Kopf betont und seinen Träger größer macht. Außerdem tragen in der Mythologie zwielichtige Gestalten wie beispielsweise der Nachtjäger oder die Kobolde Hüte. Zudem ist der Hut ein Mittel, sich unsichtbar zu machen. Diese Bilder wären alle tauglich dazu, zu verstehen, warum Aschenputtel sich wünscht, dass ihrem Vater der Hut vom Kopf gestoßen wird: Er soll kleiner werden, soll von seinem hohen Ross als dominierender Herr im Haus herunterkommen, er soll endlich sichtbar werden und sich nicht hinter seiner Frau verstecken oder aber die Bedrohung durch ihn als unheimliches Geschöpf soll verschwinden, er soll wieder der Mensch werden, der er bei der guten Mutter war. Oder? Habe ich vergessen, was ich anfangs geschrieben habe? Warum kann das nicht alles gleichzeitig richtig sein? Entscheiden Sie selbst, welche Version für Sie stimmig ist!
Warum aber wird der Hut ausgerechnet von einem Haselnussreis herabgestoßen? Die Bedeutung des Haselnussbusches wird schon dadurch deutlich, dass seine frischen Äste den Wünschelrutengängern zum Auffinden von Wasser gedient haben. Wasser symbolisiert Leben, es ist ein mütterliches Element, das auch Verderben bringen kann. Der Haselnussstrauch ist einer der heiligsten Sträucher unserer Vorfahren; getoppt wird er lediglich vom Holunder- und vom Wacholderbusch. Der Schlag der Haselnussgerte sollte Kraft und Gesundheit vermitteln und auch in der Erotik spielt der Haselnussstrauch eine gewaltige Rolle. Gab es im Herbst beispielsweise viele Haselnüsse, so erwartete man im darauffolgenden Jahr viele uneheliche Kinder. Ob die jungen Männer zusammen mit den Mädchen in den Wald geschickt wurden, um Haselnüsse zu sammeln, dabei aber auf dumme Gedanken gekommen sind, darüber wollen wir jetzt nicht nachgrübeln. Ich finde es in einem übertragenen Sinn plausibel, dass der Vater von seinem hohen Ross herabsteigen muss, schließlich liegt sein Hut auf dem Boden und schließlich muss er den Haselnussreis abschneiden. Pferde werden häufig als Archetyp für Vitalität im guten wie im schlechten Sinne gebraucht. »Mit ihm ist der Gaul durchgegangen« heißt, dass jemand seine Beherrschung verloren hat. Auf Gemälden werden oft nackte Menschen dargestellt, die ein Pferd beherrschen oder, vor allem wenn es Frauen sind, sich von ihm tragen lassen.
Vielleicht will uns das Märchen mit dem Herabsteigen vom Pferd, neben dem Abnehmen des Hutes, noch einen weiteren Hinweis geben, nämlich dass der Vater seine dominante Rolle aufgeben soll, um auf diese Weise Aschenputtel Leben (zurück-)bringen zu können. Auch der Wunsch, eine inzestuöse Beziehung zu beenden, könnte hinter diesem Bild stehen, wobei inzestuös nicht zwangsläufig mit sexuell gleichzusetzen wäre. Er steigt ab, schneidet seiner Tochter das Reis und die Folge ist, dass Aschenputtel den lebenden Zweig auf dem Grab der Mutter pflanzt. Unsere Friedhofsverwaltungen wären über dieses Verhalten der trauernden Tochter entsetzt, sollen unsere Gräber doch immer aufgeräumt und ordentlich aussehen.
Doch wir befinden uns ja im Märchen! Es geschieht, was geschehen muss: Aus dem Zweig wird ein mächtiger Busch, ein Baum. Gibt es ein schöneres Symbol des Lebens als Bäume? Sie wurzeln in der Erde, also im Hier und Jetzt, und ihre Äste greifen wie Arme in den Himmel. Genau das passiert auch. Die Wurzeln des Baumes dringen bis zum Sarg der Mutter vor, nähren sich von ihr und verwandeln den Haselstrauch. Ab sofort ist die gute Mutter wieder bei Aschenputtel und kann ihr direkt helfen. Erwähnte die Mutter nicht, dass sie vom Himmel aus ihrem braven Mädchen beistehen werde? Wir halten fest: Der Vater mit dem abgeschnittenen Haselnussreis sorgt dafür, dass Aschenputtel stark wird, indem sie den Zugang zu ihrer guten Mutter wieder findet. Was wundert es dann, dass vom Himmel, also aus den Ästen des Baumes, Kleid und Schuhe herabfallen, die Aschenputtel helfen, sich in eine wunderschöne Frau zu verwandeln. Mir ist nicht bekannt, ob es viele junge Frauen gibt, die unter Bäumen wie Aschenputtel, um Kleider aus Gold und Silber bitten, doch erscheint mir dies eher unwahrscheinlich zu sein. Wahrscheinlicher ist es, dass Aschenputtel die Liebe der guten Mutter in sich wiederfindet und mit ihr die Stärke findet, sich der Attribute ihrer dunklen Schwestern zu bedienen, nämlich sich herauszuputzen, sich schön zu machen und ihren Mitmenschen gegenüber selbstbewusst aufzutreten.
Bevor Aschenputtel ihre liebe Mutter um eine geeignete, den Prinzen beeindruckende Festkleidung bitten kann, muss sich Aschenputtel erst noch gegen die bösen Schwestern und die ebenso üble Mutter durchsetzen. Ihr eitles Ich sagt dem hässlichen Aschenputtel, dass sie unmöglich zu dem Ball gehen könne. Sie müsse dieses und jenes erledigen, um sich die Ehre zu verdienen, an diesem Ereignis teilzunehmen. Die Eitelkeit stellt also dem Aschenputtel den Fuß, nimmt ihr das Selbstbewusstsein. Sie muss sich die Ehre, sich einen Mann zu suchen, erst noch verdienen. Doch wie soll sie es schaffen, die Linsen aus der Asche zu lesen? Und da grätscht uns wieder ein Bild, ein Archetyp, ins Verständnis des Märchens. Linsen stehen ebenso für Fruchtbarkeit wie für das Leben und die Gesundheit. In Persien werden vor dem Nouruzfest Linsen auf einen Teller gegeben, die zu diesem Frühlings- und Neujahresfest zu keimen beginnen, um damit das neue Leben im Jahr anzukündigen.
Leben, Keimfähiges aus der sterilen Asche herauszuklauben, ergibt ein schlüssiges Bild für das Verständnis von Aschenputtel. Sie muss es schaffen, all das, was für sie zukunftsfähig ist, aus der Asche zu befreien, um sich ein erfülltes Leben zu verdienen. Dabei ist nicht jede Linse, nicht jede Anlage in ihr, es wert, gelebt zu werden. Und die Täubchen und Vögelchen lassen nur die Guten übrig, die anderen kommen ins Kröpfchen. Wie das? Tauben und andere Vögel helfen dem Aschenputtel, die Linsen aus der Asche zu fischen? Wir sind uns einig, diesen Gefallen würden unsere geflügelten Freunde uns höchst selten erweisen, selbst wenn wir sie um Hilfe bitten könnten. Eher würden sie sich sattessen und davonfliegen, egal ob die Linsen keimfähig und gut sind oder nicht. Damit geraten wir wieder ins Stocken. Wer sind diese geflügelten Tiere? Einfache Tauben können es nicht sein und auch an der Zauberkraft Aschenputtels dürfen wir berechtigte Zweifel hegen. Wenn es denn keine einfachen Tauben sind, sind es vielleicht die heiligen Tiere der Göttinnen der Liebe und Fruchtbarkeit? Soll die heilige Maria nicht auch durch eine Taube ihren Sohn empfangen haben? Und ist die weiße Taube nicht auch ein Symbol des Friedens und damit auch des Lebens? Hat also der Wunsch nach Sexualität, nach Leben, dieses Wunder bewirkt, dass sie die Kraft fand, aus der Asche das herauszupuhlen, was für ihre Entwicklung zur selbstbewussten Frau wichtig und gut war?
Und die Vögelchen des Himmels? Vögel sind in Märchen und Mythen häufig Ratgeber und da sie vom Himmel kommen, auch Ratgeber, die die gute Mutter geschickt haben könnte. Denn wenn die Mutter gut sein soll, dann muss sie auch an der Ent-Wicklung ihrer Tochter interessiert sein und ihr helfen, ihre verdrängten Persönlichkeitsbestandteile aus der Asche des Unbewussten, aus dem Schatten hervorzuholen und so zum Leben zu bringen. Dass das nicht einfach war, das zeigt uns die böse Mutter, die Mutter, die Aschenputtel mit Vorschriften und Regeln am Leben gehindert und ihr Selbstbewusstsein zerstört hat. Sie stellt immer schwerere Aufgaben, was eine gute Tochter, eine »richtige« Frau zu tun und zu lassen hat. Die Tauben und die Vögel helfen Aschenputtel, die guten Regeln von den schlechten zu unterscheiden und auszusortieren.
Die gute Mutter würde nichts fordern, sie hat Aschenputtel stark gemacht, die böse Mutter reizt zum Widerstand, sie möchte nur die glänzende, die schöne, die makellose Tochter präsentieren. Das aber möchte die aus der Asche geborene Aschenputtel nicht (mehr?). Sie will sich vom anerzogenen Überich der bösen Mutter befreien, sie will ihre wahre Schönheit zeigen, die Schönheit, die sie von ihrer guten Mutter mitbekommen hat, jenseits der Forderung, nur brav und fromm zu sein. Die gute Seite der Mutter hilft, denn sie liebt ihre Tochter und hat ihr damit Kraft geschenkt. Befreit von der Armseligkeit des Aschenputtels, ihren Minderwertigkeitsgefühlen, präsentiert sie sich dem Prinzen. Sie ist jetzt bereit zur Erotik des Tanzes und gewinnt ihn für sich.
Aschenputtel hat sich so gezeigt, wie sie ist. Jetzt ist es an ihm, ihr zu folgen. Das tut er, wie es sich für einen verliebten Jüngling auch gehört. Sie versteckt sich im Taubenschlag – der Vater zertrümmert die Hütte. Soll sie sich nicht mehr in ihren sexuell-erotischen Phantasien, also im Taubenschlag, verstecken können, sondern sich dem Prinzen stellen, endlich aufwachen? Der Vater will ihr dabei helfen, er zertrümmert ihre Zuflucht, klärt sie auf, wäscht ihr den Kopf.
Beim zweiten Treffen klettert sie auf einen prächtigen Birnbaum. Der Birnbaum gilt als zauberbrechend, er ist auch ein Fruchtbarkeitssymbol. Der Vater hackt den Baum um. Wer tut denn so etwas, einen gutgewachsenen und fruchttragenden Baum einfach umzuhacken, weil die Tochter auf ihm sitzen könnte? Und wenn es so gewesen wäre, was wäre mit dem armen Mädchen geschehen, wenn der Baum fällt? Danach wollen wir jetzt wieder nicht fragen. Logischer wäre es, dass der Vater dem Mädchen die Flucht in eine Traumwelt, abgehoben vom Boden in den Zweigen des Birnbaums, einen Traum also von Familie und Kindern, zerstört, damit seine Tochter endlich die Augen öffnet, war sie doch in ihrer Flucht vor dem Prinzen, der ihre Zukunft darstellt, in den Zweigen des Baumes gesessen. Denn: Der erste Schritt, seine Träume zu verwirklichen, ist aufzuwachen. Damit ist das Happyend unausweichlich nahe und uns hat sich ein anderes Bild Aschenputtels gezeigt. Das Bild einer jungen Frau, die nützlich sein will, die ihre Eitelkeit verachtet und sich in eine Traumwelt von idealer Erotik und familiärer Nähe geflüchtet hat, um sich so vor ihrem wahren Leben zu drücken.
Der Schuh entlarvt die böse Seite des Mädchens. Ich denke, die böse Mutter will, dass sich Aschenputtel verstellt. Aschenputtel versucht es zwei Mal, aber es misslingt. Sie ist nicht echt, nicht ehrlich. Sie ist nicht die, die sich aus den Linsen herausgefischt hat. Der Prinz will sie nicht. Er will das echte Aschenputtel. Erst als sie schmutzig, lediglich mit gewaschenem Gesicht, aus dem Keller auftaucht, erkennt er ihr wahres Ich. Sie muss sich nicht mehr verstellen und reitet mit ihrem Prinzen auf dem Pferd – Erklärung für das Pferd siehe oben – in das Abendrot wie einst Lucky Luke im Wilden Westen. Ende der Geschichte? Nein, es gilt noch etwas zu erwähnen. Wir ahnen einen Konflikt des Prinzen mit seiner Zukünftigen. Er will nicht die seelenlose und oberflächliche Kindfrau, hübsch und ohne Charakter. Er will das ungeschminkte und dadurch schöne Mädchen, das weder Aschenputtel noch eine makellose Schönheit ist. Und ist der Prinz wirklich ein Prinz, ähnlich wie bei »Pretty Woman«? Mir, als emanzipiertem Mann (bitte fragen Sie nicht meine Frau danach, wie »emanzipiert« ich bin!), kommen da nochmals Zweifel. Ich ziehe es vor, dass das Mädchen durch das Linsenklauben und Ringen mit sich selbst, ihren Animus, ihre männlichen Anteile entdeckt hat und so zur vollen Persönlichkeit gereift ist.
Ihr Vater holt das arme Aschenputtel aus dem Keller, er macht ihr Mut, sich nicht mehr zu verstellen, er steht zu ihr, nicht so der böse Anteil ihrer Mutter. Die gute Seite des Vaters, nicht der gleichgültige Vater, und die gute Seite der Mutter haben ihr die Kraft gegeben, sich aus den Albträumen der Kindheit und Jugend zu befreien, um damit weder das bedauernswerte Aschenputtel noch die oberflächlich schöne Kindfrau zu sein. Und das ist gut so! Am Ende rücken die Eltern in den Hintergrund, sie sind überwunden. Das Mädchen, sie ist ja nicht mehr das Aschenputtel, hat ihr eigenes Leben gefunden. An ihrer Seite bleiben lediglich die beiden Stiefschwestern, die Eitle und die Geltungssüchtige. Sie werden Aschenputtel ihr ganzes Leben lang nicht verlassen. Doch beide Schwestern verlieren ihr Augenlicht, die Tauben hacken ihnen die Augen aus. Die dunklen Schatten des Aschenputtels haben ihre Macht verloren. Die Tauben kommen nicht mehr geflogen, um zu helfen, sie bleiben dem Mädchen aber treu. Sexualität und Liebe wurden ein Teil von ihr und haben ihr die Kraft gegeben, Eitelkeit und Geltungssucht auf ihren angestammten Platz zu verweisen, sie sind blind und nicht mehr die Herrscher über das erwachte und vor allem sehende Aschenputtel.
Es mag sein, du magst kein Happyend. Kill-your-darlings ist mittlerweile zu einem beliebten Roman- und Filmschluss geworden und Märchen sind mehrdeutig, Aschenputtel auch. Wir können, wenn wir wollen, auch ein emanzipationskritisches Ende erkennen. Der Prinz, den lassen wir besser wie er ist: ein bessergestellter junger Mann, der seine Triebe unter Kontrolle hat (Pferd!) und auf seinem Pferd hinter sich Aschenputtel als Beute zu sich nach Hause trägt. Aber wie sieht Aschenputtel jetzt aus? Sie trägt immer noch die verdreckten Kittel, mit denen sie im Keller war – von Umziehen hat niemand etwas gesagt! Ihr Gesicht ist jetzt hübsch, so dass der Prinz sie attraktiv finden konnte. Daraus könnte man schließen, dass ihre gute Mutter ihr Ziel erreicht hat. Der eitlen und materiellen Tochter hat sie geholfen, indem sie sie mit Gold und Silber in der Kleidung wunderhübsch hat werden lassen. Die Mutter wollte also, dass Töchterchen gut aussieht, damit sie einen rechten Mann abbekommt. Und jetzt, am Ende? Jetzt ist sie sowohl das brave und fromme Hausmütterchen, das die gute Mutter von ihr wollte, sie hat die entsprechende Kleidung an, und sie hat ein hübsches Gesicht, denn ein Mann erwartet ja von seiner Frau nicht nur, dass sie putzen, kochen und den Haushalt versorgen kann, er will auch etwas Hübsches im Bett. Der Vater könnte zum Prinzen gesagt haben: »Nimm mein Aschenputtel, schau in ihr Gesicht! Die ist nicht nur hübsch, die schmeißt dir den ganzen Haushalt!«
Damit wären wir wieder bei dem alten Klischee der braven Hausfrau, die ganz dem lieben Ehegatten zu Willen ist und unser schönes Happyend wäre beim Teufel ☺. Das erwachsene Aschenputtel würde billige Liebesromane lesen und von einem Märchenprinzen träumen.
Märchen sind nun einmal nicht ein-deutig, sie sind mehr-deutig und Sie, Sie suchen sich die Version des Märchenverständnisses aus, die zu Ihnen passt.