Читать книгу Der Regulator und ich - Peter J. Gnad - Страница 8
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Drei Monate später beendigte ich meine Tätigkeit bei der Zeitung, heuerte beim Fernsehen an, ein Freund, ein Kollege, hatte mir diese Tür aufgestoßen, und es war leicht, ich hatte mir da ja auch schon einen gewissen Namen gemacht gehabt, man wusste, wen man da "bekam".
Ich verabredete, als Bedingung, eine kleine Auszeit, eben für die Reise nach Tibet, wo ich aber auch mit Material und einer Reportage zurückkehren wollte, als meinen Einstand in der neuen Redaktion der bewegten Bilder.
Ich hatte noch einige Male mit Rimpong, dem Chef-Lama in der Schweiz telefoniert, auch ein weiterer Besuch fand statt, ganz unkonventionell, gerade auch für einen tibetischen Mönch. Es war in einer Konditorei in Zürich. Da gab es in der Nähe, in Rikon eine große Tibeter-Gemeinde. Rimpong und ich waren mittlerweile regelrecht befreundet, wir lachten gemeinsam, auch über die gleichen Scherze, er verfügte ebenso wie ich, über einen sehr hintergründigen, eher schwarzen Humor.
Rimpong dachte an alles, er gab mir eine richtige Checkliste, mit Dingen die ich erledigen musste, vor der Reise, mit Details, was für Kleidung, bzw. auch Dinge die ich mitnehmen musste, die mir noch sehr dienlich sein konnten, im Kloster, in Tibet. Wir hatten sogar einige Flaschen Bier zusammen geleert, Rimpong hatte leuchtende Augen bekommen und ein gerötetes Gesicht, er war sichtlich euphorisiert, wollte am liebsten mitkommen, aber das ging nicht. Er wurde hier, in der Schweiz dringender gebraucht, als Oberhaupt der lokalen Gemeinde der Tibeter. Ich versprach, dass wir einander wiedersähen, wenn ich wieder zurück war, ich wollte auch genügend Fotos und Filme mitbringen - Rimpong sagte, er könne es kaum erwarten, die alte Heimat wiederzusehen, selbst wenn es nur auf Bildern oder in einem Video war.
Eine Woche später saß ich im Flugzeug nach Neu-Delhi und ein paar Tage später – ich wollte mich langsam an die asiatische Welt gewöhnen – saß ich im Flugzeug nach Srinagar, der Hauptstadt von Kashmir, von wo der Weg über Land fortgesetzt werden sollte. Ich verbrachte eine Nacht in einem der berühmten, schwimmenden Hotels, auf dem nicht minder berühmten Dal-See, in einem Zimmer, in dem schon Mahatma Gandhi geschlafen haben soll, aber derlei Legenden sollte man hier nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenken, das war unserem "Jägerlatein" sehr verwandt. Ich erwachte vom Plätschern des Wassers, es war alles sehr friedlich und die Sonne, die da über dem Himalaya aufging, war Belohnung genug für das äußerst frühzeitige Erwachen und Aufstehen. Es war die pure Erregung, die mich nicht länger schlafen ließ, am liebsten wäre ich sofort nach Norden aufgebrochen, aber ich musste mir erst ein Transportmittel, bzw. auch ein oder zwei Träger organisieren, denn dass ich dann in der bereits dünneren Luft, wenn der Weg zu Fuß fortgesetzt werden musste, keine physischen Hochleistungen vollbringen konnte, war klar, wie das Wasser im See.
Aber ein Tag reichte aus, um diese Vorbereitungen zu treffen, die Leute im Hotel waren mir behilflich, man war froh vermittelnd eingreifen zu können. Einer der Träger sah auch ganz so wie ein Sohn des Hotelbesitzers aus, die Zeiten waren schlecht, gerade wegen der politischen Wirren und der islamistischen Anschläge, denen hier in der Stadt, schon unzählige Menschen zum Opfer gefallen waren. Es kamen auch keine Touristen mehr, von nirgendwo, auch die Inder kamen nicht mehr, alles lag brach. Die schmucken Hotels zerfielen langsam, für notwendige Renovierungen war kein Geld mehr vorhanden.
Auch ich musste zusehen, hier wieder wegzukommen, wie man mich warnte, die Islamisten nahmen nur all zu gern Ausländer als Geiseln, um dann, wie billige Gangster, ein Lösegeld erpressen zu können und dies dann als "großen Sieg" zu feiern. In deren Hände zu fallen hatte ich überhaupt keine Lust. Ich verbrachte die folgende Nacht in einem anderen Hotel, betrieben von einem Bruder des Besitzers vom ersten Hotel. Noch vor Tagesanbruch startete man den Jeep, wo auch zwei bewaffnete Uniformierte Platz nahmen, es war ein bisschen eng, aber besser so, als anders. Die Straße nach Norden war gut, der Motor schnurrte, ein russischer Jeep, der war an harte Bedingungen gewöhnt, wie man alsbald auch feststellen konnte, nämlich als man ein Flussbett, mit relativ schneller Strömung durchquerte, wozu man eine Manschette mit einem Schlauch an den Auspuff anbrachte, sodass seine Öffnung nicht unter Wasser geriet. Es schaukelte bedenklich, aber das Gefährt holperte ohne Zwischenfall durch die Furt. Auch über felsiges Gelände, die Straße war nach einem Attentat der Islamisten unbefahrbar, man musste einen Umweg über das rauhe Gelände nehmen, kein Problem, der Jeep hielt allem Stand.
Die Straße war so gut, dass wir zügig vorankamen, am zweiten Tag waren wir in Leh angekommen, wo bereits das erste große Kloster meine Aufmerksamkeit erregte. Gewaltig saß es auf der Spitze eines steinernen Hügels. Einige Kilometer südlich zweigte ein Feldweg nach links ab, nun ging's in die Berge, aber richtig. Auch wieder an Klöstern vorbei, Chemrey, dann hinauf nach Chang La, weiter nach Osten, am heiligen Berg Kailash vorbei, den die Gläubigen, wie schon immer, völlig ungenügend bekleidet und barfuß umrundeten. Aber so nahe an den Berg kamen wir nicht heran, unsere Route führte weiter in die Einöde. Ich will jetzt nicht länger mit Wegbeschreibungen Langeweile erzeugen, die Landschaft war so gewaltig und urtümlich groß, dass man sich unwillkürlich klein und unbedeutend fühlte. Ich konnte verstehen, dass die Einheimischen, diese Berge als Sitz der Götter ansahen. Wenn die Götter zürnten, dann spürte man das hier unmittelbar und mit unbarmherziger Gewalt. Man konnte nicht anders als Ehrfurcht haben, vor der Majestät dieser Berge. Wir passierten den letzten Kontrollpunkt des Militärs, in Tangtse, fuhren weiter auf einer noch engeren Straße, Feldweg, Trampelpfad, wäre die korrektere Bezeichnung. Es wurde immer schwieriger, teilweise abschüssig, einmal stieg ich aus, traute dem Jeep nicht mehr, aber alles ging gut, ich stieg wieder zu.
Als mein Telefon läutete, war ich nicht verwundert, ich hatte unterwegs, schriftlich – per SMS – bereits mitgeteilt, dass wir auf dem Weg waren, dass wir Tangtse bereits passiert hatten und nun weiterfuhren. Die Antwort aus der Schweiz kam umgehend - wir wurden erwartet, ein Komitee sei bereits an der Straße, um mich an einem bestimmten Punkt in Empfang zu nehmen. Alles lief wie geplant, keine Störung im Getriebe.
Gerade als wir den großen See von Ladakh erreichten, den Pangong Tso, ein Naturereignis für sich, sahen wir die kleine Gruppe von Mönchen, sie hatten Tragtiere dabei, eines davon wartete auf mich.
Die Mönche bedeuteten dem Fahrer, den Uniformierten und den Trägern, dass man sie ab hier nicht mehr benötigte, sie würden für das weitere Fortkommen sorgen, hatten deshalb ja auch ihre Tiere mit dabei, um die Lasten zu tragen. Wobei ich anmerken muss, ich war sparsam ausgerüstet, hatte nur zwei Gepäckstücke, meinen eigenen Rucksack und einen weiteren Rucksack mit Geschenken, teilweise von Rimpong aus der Schweiz, teilweise von mir gekauft,als Gastgeschenke. Ich wollte nicht mit leeren Händen kommen. Ihre Unterstützung würde ich von nun an wohl brauchen, ohne sie war ich hier verloren, in dieser von Eis und Schnee starrenden tibetischen Welt.
Ein Detail gab es noch, das mich doch verwunderte, aber andererseits, auch das war verständlich, sie wollten keine Störungen von der Außenwelt erfahren, Touristen brachten nur Verwirrung.
Man verband mir die Augen und die künstliche Finsternis dauerte lange an, da waren Aufstieg auf einen Berg und auch der Abstieg, dann eine lange Wanderung durch ein Tal. Erst nach einer kleinen Ewigkeit, wie es mir schien, kam ein scharfes, kurzes Kommando, die Tragtiere hielten an. Die Augenbinde wurde entfernt, das Tageslicht schmerzte in meinen Augen, man machte eine kurze Rast an dem Fluss, der da gemütlich und unaufgeregt durch das Tal plätscherte. Zwei Mönche entfachten rasch ein kleines Feuer, zwischen zusammengeschobenen Steinen, eine Kanne mit Tee wurde aufgesetzt. Bald schon gab es einen heißen wohlduftenden Trunk, der meine Geister wieder belebte. Anschließend ging's weiter, über Stock und Stein, im wahrsten Sinne des Wortes, Berg und Tal, sogar unter einem Wasserfall vorbei, der Sprühregen war eisig kalt.
Es erinnerte mich unwillkürlich an ein Buch, das ich in meiner Jugend fasziniert gelesen hatte, die Geschichte von Shan-Gri-La, dem geheimnisvollen Ort, wo tibetische Mönche gar wunderliche Dinge vollbrachten, unter anderem sogar fliegen gelernt hatten.
Es gab aber auch andere Erzählungen, in denen von sogenannten "Elevationen" berichtet wurde. Mönche, die schwebten, über dem Erdboden, ohne jeglichen Bodenkontakt. Das war zwar kein "Fliegen", aber dennoch ein Abheben von der Erde. Natürlich glaubte ich solche Geschichten nicht, weder damals noch heute, aber es war ein schönes Märchen gewesen, ein moderneres Märchen, ohne Hexen oder verwunschene Prinzessinnen.
Und doch, als wir dem Kloster nahekamen - die Tragtiere beschleunigten unwillkürlich ihr Tempo, sie rochen den heimischen Stall - war es, als ob man in eine verzauberte Welt eintauchte. Der Wind trieb die Wolken über den Himmel, aber hier im Tal war es vollkommen still, kein Hauch regte sich.
"Rimpung Che !" sagte der Führer der kleinen Karawane, deutet auf einen Hügel, der sich an den Berg schmiegte, von ihm gewissermaßen den Rücken frei gehalten bekam. Die linke Seite des Hügels war eine steile Felsklippe, mit einem Überhang, unüberwindlich, bis vielleicht auf westliche Freikletterer, die auf solche Aufgaben geradezu spezialisiert waren. Es gab nur einen Weg hinauf, der führte in Serpentinen, in endlosen Schleifen, hinauf zu dem einzigen Tor, das Einlass zu dem Anwesen bot.
Wir gingen den Weg hinauf zu Fuß, es wäre zu gefährlich gewesen, auf den Tieren zu reiten, ein Absturz wäre zweifellos tödlich verlaufen, für Tier und Mensch. Das Tor war schon geöffnet und ein quasi offizielles Komitee aus ehrbaren Mönchen erwartete uns. Sie schlugen Schellen, Glocken klangen aus den Räumen, die Mönche lachten übers ganze Gesicht. Es war eine Sensation in ihrem Gefüge, ein Besuch aus fremden Landen. Die meisten hatten noch nie einen Fremden gesehen, bestaunten mich mit unverhohlener Neugier, umrundeten mich sogar, um mich von allen Seiten betrachten zu können. Ich lachte sie ebenfalls an. Der Lama kam mit langsamen, bedächtigen Schritten die Treppe vom heiligen Haus heruntergeschritten, näherte sich in gemessenen, ruhigen Schritten, blieb kurz vor mir stehen.
Er murmelte ein schnelles Gebet, sah in den Himmel hinauf und verbeugte sich anschließend vor mir. Dann kam er ganz nah an mich heran, fasste mich bei den Schultern und sah mir schweigend, fragend, in die Augen. Ich wusste nicht, wie lange das dauerte, denn auch schon dabei wurde mir ein bisschen mulmig, als ob mein Magen revoltieren wollte. Aber der Mönch lachte mich an und sprach in nahezu akzentfreiem britischen Englisch, fragte ob ich müde sei oder Hunger habe, ein Raum sei bereit, um mir Erholung von der Reise gönnen zu dürfen.
"Ich heiße Champa und bin der Khenpo, der Abt des Kosters, und ich habe schon viel von Ihnen gehört, Rimpong, in der Schweiz, hat ja regelrecht geschwärmt von ihnen – ich freue mich sehr, dass Sie nun wirklich hier sind, in Rimpung Che… und Ich freue mich auch, dass wir Sie hier unterrichten dürfen !"
"Guten Tag, ja, ich freue mich auch, dass ich hier bin, endlich da, wo ich mehr erfahren werde. Ich bin hergekommen, um von Ihnen, von Euch allen zu lernen, das ist der Weg, den ich gehen muss."
Man geleitete mich in mein Zimmer, das man extra mit westlichen anmutenden Stoffen und Schmuck hergerichtet hatte, sogar ein kleines UKW-Radio stand da auf dem Fensterbrett. Das Bett war weich, es roch nach Räucherkerzen. Nach einem kleinen Mahl mit Brot und Buttertee, legte ich mich schlafen. Erst am Tag darauf fühlte ich mich wirklich ausgeschlafen, begann meine Umgebung zu erkunden.
Ein junger Mönch kam heran, bedeutete mir in den Raum zu folgen, wo der Khenpo, der Abt, seinen Arbeitsbereich hatte. Auch einen Schreibtisch gab es da, einen Computer sogar, aber dieser war nur in Betrieb, wenn der Stromgenerator in Gang gesetzte wurde, was nicht allzu häufig der Fall war. Eine Verbindung zur Außenwelt gab es auf diesem Wege jedoch nicht, hier gab es kein "Netz", in das man sich einloggen konnte. Aber, ganz zentral am Tisch, das knallrote Mobiltelefon, man verfügte über einen Satellitenzugang, über ein indisches Netz. Telefonieren also konnte man, das war ja schon die halbe Miete. Ich lachte den Khenpo an, er wies mich an, mich zu ihm zu setzen, noch eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Er schlug mir jovial auf die Schulter, lachte aus vollem Herzen. Ich konnte nicht umhin, mit einzustimmen, obwohl ich keine Ahnung hatte, warum er lachte, lachte er vielleicht über mich. Nein, sein Lachen war frei von jeglichem negativen Unterton.
"Nein, ich freue mich sehr, dass Sie hier sind, denn nicht nur Sie werden hier etwas lernen, auch wir werden von Ihnen lernen, wir sind schon ganz, wie sagt man, neu-gierig…"
Champa stand auf, zog mich an der Schulter mit sich, wir traten auf die Plattform hinaus, das gesamte Bergpanorama vor uns, der Himalaya, rein und weiß, weiter rechts der gleißende See, die Sicht war atemberaubend. Der Mönch lächelte mich an.
"Verstehen Sie nun, warum das Kloster genau hier gebaut wurde, es hätte an keinem anderen Platz stehen können oder dürfen. Hier ist man ganz nah am Himmel dran, hier wohnt die Kraft, hier kann man sie manchmal wirklich mit den Händen greifen, dies ist der Ort dafür."
Ich stand wortlos, blickte in die gewaltige Arena, die sich da unter uns auftat, es war fürwahr, ein gewaltiger Anblick, man konnte sich der Kraft nicht entziehen. Ich fühlte ein seltsames Ziehen in meinen Muskeln, meine Nervenbahnen spielten verrückt, ich konnte nicht umhin, mich zu dehnen und zu strecken, es knackte in meinen Gelenken. Champa lächelte mich wissend an.
"Mein Freund Rimpong hatte vollkommen recht, ich sehe seine Meinung bestätigt, Sie sind ein "fruchtbarer Acker", wie wir das hier nennen, Sie müssen nur noch lernen, mit dem Pflug umzugehen und die Saat aufgehen zu lassen."
"Was muss ich tun, wann können wir mit dem Unterricht beginnen, ich kann es kaum erwarten von euch zu lernen, wie man den Pflug einsetzt, um dann auch ernten zu können."
Champa lächelte geheimnisvoll und schwieg erst noch, aber dann sprach er die bedeutungsvollen Worte, die ausgesprochen werden mussten, auf dass erst gar keine Missverständnisse aufkamen. Die Grenzen wurden genau bezeichnet und Räume abgesteckt, ein Bruch des Kodex bedeutete den absoluten Verrat am Karma, ein Betrug am Kosmos und damit den Verlust aller vorher erarbeiteten Bonitäten.
"Wir müssen und ich sage, wir müssen, können gar nicht anders, erst noch einige Prüfungen absolvieren, bevor jemand in das Innere des heiligen Wissens vorstoßen kann und darf. Man hat uns strenge Regeln auferlegt, die nun auch für Sie gelten, wenn Sie hier Klosterschüler sein wollen."
Champa lächelte nun kein bisschen mehr, seine Augen waren prüfend auf mich gerichtet, beobachteten mich ganz genau, schienen in mich hineinsehen zu können, es war mir so, als ob er eine Art Röntgen benutzte. Er lächelte wieder, schlug mir nochmals freundschaftlich auf die Schulter und grinste mich dann wieder an.
"Ich habe grenzenloses Vertrauen, in meinen Freund und Bruder Rimpong, er weiß genau was er tut, hat bislang sich noch nie geirrt – und, keine Angst, wir beißen nicht."
Wieder lachte er aus vollem Hals, schlug mir auf die Schulter, der Mann hatte Humor. "Wo haben sie Englisch gelernt, sie sprechen fehlerfrei."
"Ich habe in Dharmsala studiert, war eine Zeit lang auch Reisegefährte vom Dalai Lama, ich habe auch fast die ganze Welt gesehen, habe in teure Hotels gewohnt, mit Whirlpool oder Sauna, und ich weiß auch ganz gut, wie deutsches Bier schmeckt, nämlich sehr gut, manchmal bringt man mir ein paar importierte Flasche aus Indien mit."
Nun war es an mir, ein breites Grinsen im Gesicht zu tragen, ich seufzte, sehnsüchtig.
"Wissen Sie, dass wir hier, in Tibet, auch ein Bier haben, und man kann sich auch ganz schön betrinken, daran."
"Na, dann lassen sie doch ein Fass kommen, ich sage da nicht Nein… äh, aus was wird denn tibetisches Bier gemacht ?"
"Das ist pure Yak-Pisse, man lässt sie solange stehen, bis sie gärt, bis das Gebräu Blasen macht und blubbert, dann erst ist das Bier fertig, schmeckt sehr gehaltvoll und gut."
Ich muss ausgesehen haben wie ein schiefgesichtiger, schielender Hammel, denn nun bekam Champa einen ausgewachsenen Lachkrampf, sodass er sich schließlich sogar auf den gestampften Boden setzen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, das konnte in dieser Höhe doch recht gefährlich sein. Er lachte noch immer, als ich ihm die Hand reichte und ihn hochzog. Er hatte mich wohl an der Nase herumgeführt, dachte ich. Das bestätigte sich zwar, das Bier bestand nicht aus Yak-Pisse, es wurde vielmehr aus Gerste hergestellt, ein bräunliches Gemisch, das man Chang nannte und sich großer Beliebtheit in der Bevölkerung erfreute, aber ganz traute ich dem Frieden doch noch nicht. Es verwunderte mich zu hören, dass auch die Mönche dem alkoholischen Getränk durchaus nicht abgeneigt waren, etwas, das ich mir gar nicht vorstellen konnte, betrunkene Mönche. Was taten die dann ? Singen und krakeelen, Aggressionen rauslassen oder gleich einschlafen, wie weit ging das, mussten sie sich anschließend vielleicht auch übergeben, kotzende Mönche, wunderbar. Ich kicherte, gab mich ganz meiner Fanstasie hin.
"Wir haben bald ein Fest, das Frühlingsfest zu feiern, Sie werden das Biertrinken hautnah erleben können und auch selbst davon kosten."
An diesem Abend aßen wir gemeinsam, auch gemeinsam mit den andern Mönchen, das übliche tibetische Essen, Tsampa und Reis. Ich fühlte mich müde, es musste wohl die dünne Luft sein, die hier herrschte, man war ja doch einige Tausend Meter hoch oben, aber genau Angaben gab es nicht. Ich spürte aber, dass jede physische Anstrengung hier noch einmal so anstrengend war, wie im Flachland.
"Morgen stehen wir alle um fünf Uhr auf, man wird Sie wecken."
Der Unterricht begann mit den gemeinsamen Gebeten der Mönche, dann verschwanden alle wieder, man nahm das Frühstück ein, der übliche Butterte mit Fladenbrot. Etwa zwei Stunden später teilten sich die Mönche, eine Gruppe, die jüngeren, die noch nicht Zwanzigjährigen, gingen zum Gemeinschaftsunterricht. Die Älteren, um die Fünfundzwanzig, gingen zum Einzelunterricht, beziehungsweise auch schon in eine weitere Gruppe, in der man sich in der Redekunst, der Argumentation übte. Hier ging es mitunter auch ganz schön laut zu, weshalb dieses Haus auch am Rande des Klosters lag, um die anderen in ihren Andachten nicht zu stören. Es gab auch eine Fragestunde, eine Diskussionsstunde, dazwischen wieder eine Mahlzeit und schlussendlich noch ein Abendgebet.
Natürlich hätte es für mich keinen Sinn gehabt, an diesen Gebeten teilzunehmen, aber es war trotzdem sehr interessant, als Zuseher dabei zu sein. Eine Art Sing-Sang, mit Glöckchen und Schellen, manchmal sogar Trompeten, alles auch ziemlich laut. Champa beobachte mein aufkommendes Leiden, der Zeremonie beizuwohnen. Er trat zu mir, mit einem hölzernen Gefäß, das er mir lächelnd entgegenstreckte. Zwei kleine Kügelchen, aus Wachs, waren darin. Er deutete, dass ich mir sie in die Ohren stecken sollte, was ich umgehend tat. Dann lächelte ich ihn breit an, schüttelte dankbar seine Hände. So war das Getöse leicht zu ertragen, so konnte ich das Spektakel sogar genießen.
Ich kürze nun etwas ab, um nicht jeden einzelnen Tag zu schildern, den ich im Kloster verbrachte. Nach einigen Tagen fiel alle Nervosität von mir ab, ich ergab mich gewissermaßen in mein Schicksal, ließ mich treiben, alles andere hätte ohnedies keinen Sinn gehabt, ich war ja da, um zu lernen. Nur, bislang war von außergewöhnlichen Fähigkeiten, Kräften, noch keine Rede gewesen, geschweige denn, dass ich bei einem der Mönche derartige Anhaltspunkte fand, der Fluss der Zeit verlief gleichmäßig und ruhig, ohne große dramatische Ereignisse, ohne irgendwelche Besonderheiten. Bis ich eines Morgens hochschreckte, weil ich einen Schatten am Fenster gesehen hatte, einen menschlichen Schatten, der auch ein Gesicht hatte und so aussah, wie der Mönch, der mir immer den Tee ins Zimmer brachte. Nur, dass niemand von da draußen hereinsehen konnte, da war eine steile Felswand, wenn ich aus dem Fenster blickte und kein Weg, der am Fenster vorbeiführte. Wie konnte der Mönch durch das Fenster schauen ?
Als der junge Mönch dann kurze Zeit später zur Tür hereintrat um mir, wie gewohnt, den Tee zu bringen, schalt ich mich. Sicher war es nur meine Fantasie gewesen, die mir einen Streich spielte, ein kleiner Halb-Wach-Traum, nicht mehr.
Eines Tages machte man einen Ausflug, ins Tal, um mit einem Schafhirten zu verhandeln, einige Tiere zu kaufen, um bei dem Fest dann auch Gäste bewirten zu können. Sie hätten da so etwas, wie "Tag der offenen Tür", wo die Eltern der Jungmönche kommen durften, um ihre Sprösslinge zu besuchen. Die Leute waren stolz, wenigstens einen Sohn im Kloster untergebracht zu haben, das war eine große Ehre, für die Familie.
Ein Adler stieß herab, gerade als sie mit dem Schäfer verhandelten, riss ein neugeborenes Lamm, wollte es schnell davontragen. Der Schäfer schrie und fluchte, warf einen Stein nach dem Adler, die Schafe blökten in höchster Erregung.
Einer der bereits älteren Mönche stieß ebenfalls einen Fluch aus, hielt seinen rechten Arm ausgestreckt in die Luft, den Zeigefinger ausgestreckt, visierte den Adler an, murmelte einige halblaute Worte, senkte dann langsam seinen Arm. Der Adler senkte sich ebenfalls, genau mit dem Grad des Armes, des auf ihn weisenden Zeigefingers. Es schien als ob er in Turbulenzen geriet, verlor dramatisch an Höhe, stürzte fast, drohte seine Beute fallen zu lassen zu müssen, um sich selbst retten zu können.
Es war genau da, als Champa eingriff, den Mönch mit einem scharfen Kommando zur Ordnung rief, ihm befahl seinen Arm wieder in die Höhe zu richten, seine Intervention abzubrechen. Ein kurzer Satz in der Landessprache beendete das kurze Intermezzo, der Adler konnte nun mit seiner Beute davonfliegen.
Champa lächelte geheimnisvoll, als er mir in die Augen sah.
"Auch Adler haben Junge, die Hunger haben. Es geht immer um das rechte Gleichgewicht, das muss unter allen Umständen erhalten bleiben, sonst gerät alles aus dem Lot und das Chaos greift Raum."
Ich sah in seine Augen, wollte bestätigt haben, was ich eben miterleben durfte, nämlich den Einsatz von Kräften, die die westliche Welt als "übernatürlich" bezeichnete.
Champa lächelte mich an, nickte kaum merklich mit seinem Kopf, hielt meinem Blick stand, ohne mit einer Wimper zu zucken.
"Ja, das war es, worauf Sie gewartet haben, ein Zeichen, einen Hinweis und es ist ja auch genau deshalb, weshalb Sie hier sind, um zu davon mehr zu erfahren, zu lernen, ich weiß."
An den folgenden Tagen begann mein wirklicher Unterricht. Was ich bisher gesehen hatte, war ganz außergewöhnlich, was die Sitten und Gebräuche der Mönche anlangte, aber es war nicht "sensationell". Es war gut für meine Reportage, ich war nicht nur ein aufmerksamer Beobachter, sondern ich hatte auch immer meine kleine Kamera mit dabei, und ich hatte bereits Material für drei Filme. Aber ab nun war alles anders, denn nun kam man auf den Punkt !
Es war klar, dass ich lernen musste, mit dem was mir "gegeben" war, umzugehen, und es richtig einzusetzen, wann immer, wo immer ich wollte oder es vonnöten war.
Champa sprach dann auch gleich den Hauptpunkt an, aber nicht ohne die ethische Seite des Unternehmens nochmals klar und deutlich zu betonen. Nämlich, dass diese "Kräfte" einer geläuterten moralischen Haltung, nicht in "falsche Hände" geraten durften, denn man könne damit auch viel Schaden anrichten. Man durfte diese "Kräfte" nur dann einsetzen, wenn es zum Nutzen der Menschen diente.
Ich wusste nur zu gut, dass man mit diesen Kräften nicht spielen durfte, und natürlich hatte ich auch keinerlei Bedenken, den strengen ethisch-moralischen Gesetzen Rechnung zu tragen. Ich hatte ja tatsächlich vor, den Menschen zu helfen, ganz konkret und unbürokratisch, mit sofort eintretender Wirkung. Ich musste mich bemühen Champa nicht anzulachen, ob der leichten Variation seiner Regeln, zu meinen Gunsten. Ich befand mich noch immer im Fahrwasser derselben Regeln, wenngleich ich sie eben ein bisschen abwandelte oder erweiterte. Es war alles eine Frage der Position, die man einnahm. Ich hatte vor, tatkräftige Hilfe zu leisten, so viel war mir schon klar gewesen, als ich hierher aufbrach.
Der Schwan und vielleicht auch mein Lehrer… sie standen gewissermaßen als Taufpaten dabei, wenn ich meine Fähigkeiten hier im Kloster nun verfeinerte und handzuhaben lernte. Ich war noch immer im Rohzustand, ein unbehauener Stein, aber das änderte sich ab dem nächsten Morgen. Und es war Champa selbst, der den Unterricht vornahm, gelegentlich aber zog er seinen talentier- testen Meister hinzu, um die graue Theorie auch mit praktischen Beispielen zu untermauern. Das sah beim ersten Mal so aus, dass Djetsun, der Meister, fast geräuschlos eintrat. Ich hatte gar nichts gehört, aber auf einmal stand er hinter mir und lächelte mich an, als ich mich erschrocken umdrehte. Ich vermeinte seinen Atem in meinem Nacken zu verspüren, obwohl er doch mindestens 3 Meter von mir weg stand, seltsame Dinge gingen hier vor.
Er richtete seinen Arm nach hinten, die Tür schloss sich, wie von Geisterhand bewegt, fiel ins Schloss. Er grinste wie das berühmte und in solchen Fällen oft heranzitierte Honigkuchenpferd. Zumindest meine Vorstellung von einem, solchen wurde nun mit seinem Bild in Deckung gebracht. Ich lächelte zurück, kannte ihn ja schon von verschiedenen Begegnungen, bei denen mir aber nie aufgefallen war, dass genau er, der Großmeister in der Disziplin dieser übernatürlichen Veranlagungen und Kräfte war.
Es kann nicht darum gehen, mich hier nun in alle Einzelheiten des Unterrichts vertiefen, denn es ist nicht meine Absicht die Geheimnisse der Materie preiszugeben. Wenn jemand über solche Fähigkeiten verfügte, fand sich immer ein Weg damit umgehen zu lernen. Ich denke nicht im Mindesten daran, die gerade modische Neugierde im mystischen Bereich hier befriedigen zu wollen. Die Traumtänzer der Esoterik sollen lieber an ihre Glaspyramiden und Horoskope in den Tageszeitungen glauben. Ich will diese Klientel nicht bedienen, ganz im Gegenteil, die waren mir schon immer ein Gräuel gewesen.
Champa beschrieb mir die Vorgänge, die notwendig waren, um, wie Rimpong in der Schweiz es schon gesagt hatte, Feuer und Wasser ganz plötzlich zu vereinigen, eine "Explosion" herbeizuführen, aber dies eben nur… "virtuell", wie man so schön sagte, in unserer modernen Welt. Der Praktizierende machte sich davon lediglich ein gedankliches Bild und richtete all seine Aufmerksamkeit auf das Objekt, fast, als ob man mit einem Gewehr zielte, alle Energie auf einen ganz konkreten Punkt zu richten, um dann einen gezielten "Schuss" abzugeben. Die geballte Energie auf einmal und unmittelbar zu entladen, sie auf einen bestimmten Punkt zu konzentrieren, einem Brennglas ähnlich, zu fokussieren. Und die eingesetzte Kraft sollte auch nicht unkontrolliert eingesetzt werden, nur eine genau kalkulierte Menge an Energie verwandt werden, um nicht gleich alles zu "übersteuern", wie sich Champa ausdrückte. Haushalten, könnte man sagen - das musste ich lernen und die Energie zu bündeln. Genau dann, wenn es von Nöten, ob es spontan oder ein geplanter Einsatz war. Keine Zufälligkeiten, keine unabsichtlichen Entladungen, auch schon aus Selbstschutz, es konnte ja auch für mich gefährlich werden, wenn etwas "schief ging". Champa erwähnte, dass die Energie auch abprallen und auf mich reflektiert werden könne, was dann auch mein eigenes fatales Ende zeitigte. Ein Spiel mit dem Feuer und das ganz nah am Abgrund.
Mit einem Wort, ich musste lernen, wie beim Fußballspielen, den Ball zu führen, genau dorthin, wohin er sollte, nämlich ins Tor – auch da muss man mit den Kräften haushalten und taktisch vorgehen, um dann gezielt den Ball im Tor zu versenken.
Es waren Konzentrationsübungen, aus denen mein Lehrgang bestand. Ich verstand auch ganz genau, was man mir mitteilte. Es war wie eine Tür zu öffnen und in einen durchaus vertrauten Raum einzutreten, den man eigentlich schon kannte, nun aber, bei Licht, genauer betrachten konnte, um all Kleinodien, die da in Nischen und Ecken wohnten, zu bewundern. Es war eine andere Welt, in die ich da eintauchte.
Nein, nein, falsch, das war kein Fantasy-Märchen, in dem wir auf einem andern Planeten oder mit Hexen, Teufeln, Fabelwesen zu tun hatten. Nein, das waren ganz real existierende Mönche, und ihre Fähigkeiten waren ebenfalls ganz real, die Auswirkungen greifbar, sichtbar, erfahrbar, zumindest für mich, als Schüler.
Ja, Djetsun, der Meister, ließ ebenfalls Gläser zerplatzen, eines nur, weil sie nicht so viele Gläser hatten, eines "mir zu Ehren", wie Champa sagte. Andere Gläser verschob der Meister auf der glatten Tischoberfläche und holte sie auch wieder zurück. Er konnte Türen bewegen, Fenster schließen, aber er konnte auch und das war's was mich am meisten beeindruckte, ein Stück Holz, das man im Hof auf dem Boden platziert hatte, zum Brennen bringen. Um es nur Sekunden später, mit lautem Zischen zu löschen, obwohl da kein Wasser im Spiel war. Djetsun machte es größtes Vergnügen, mir zu zeigen, dass man auch Früchte oder andere Speisen damit zubereiten konnte, er brauchte kein Feuer um Tee zu kochen, das Wasser blubberte in Sekundenschnelle und war eiskalt, als ich den Tee kosten wollte. Djetsun und Champa lachten aus vollstem Halse, ich muss ausgesehen haben, dumm wie Bohnenstroh, völlig Perplex. Wenn man mir das in Europa, an der Theke einer Kneipe erzählt hätte, vor einigen Jahren noch, ich wäre gegangen, weil ich mir solch geballten Unsinn, einfach nicht angehört hätte, solches Zeug schon von Berufs wegen weit von mir wies. Obwohl ich da doch meine eigenen Erfahrungen bereits hatte, der Schwan, als auch mein Lehrer. Ich wollte "so Zeug" nicht glauben, ich lebte in der wirklichen Welt. Wo Dinge vom Sturm bewegt wurden, wenn überhaupt, aber nicht von Konzentration und irgendwelchen fabelhaften Energie-Schüssen.
Nach einigen Wochen, ich habe nicht mitgezählt, war es an mir, die ersten, von den Mönchen kontrollierten "Gehversuche" zu starten. Wir gingen dazu hinunter ins Tal, um ein paar Felsen herum, in eine geschützte Ecke, quasi einen Hinterhof, wo man Freiübungen machen konnte. Schon aus Schutz für das Kloster, seine Bewohner und auch die Tiere. Man brachte Holz, ein paar trockene Büsche, eine Gebetsmühle, ein Stück Stoff und auch Papier mit. Es dauerte ein paar Tage, bis ich die Mechanismen in mir im Griff hatte, die Bilder von dem zu erzielenden Ergebnis manifest machen konnte, in meinem Geiste, virtuell um dann eben den Befehl zu geben, eine Entladung zu erzeugen.
Es klappte, als ich schon dachte, dass ich es doch nicht fertigbrachte, mich abwandte und den Befehl mit Ärger, mit eigenem Ärger unterfütterte. Der Stein zerplatzte, einfach so. Er zersprang in Tausende kleine Splitter, als ob eine gewaltige Explosion ihn zerrissen hätte, nein, es gab gar keine Splitter, es sah nur so aus, der Stein war vielmehr verdampft, zu Staub, in einem Augenblick.
Himmel, was hat denn der geraucht, würde man sagen, wenn ich mit solcherlei Geschichten an die Öffentlichkeit träte. Man würde mich auslachen, mein Ruf als Journalist wäre perdu, so schnell könnte ich gar nicht schauen, wäre ich die Lachnummer der Branche, müsste auswandern, dann wär's vorbei mit allem.
Nein, die Fassade musste aufrechterhalten bleiben, ich wollte auch gar nicht über diese Seite des Klosters, der Ausbildung, berichten. Das Schweizer Fernsehen hatte auch schon Interesse angemeldet, als man von meiner neuen Redaktion dort anfragte, ob sie denn an einer Coproduktion interessiert seien. Gerade doch auch wegen Rimpong, der in der Schweiz bereits eine bekannte Persönlichkeit geworden war, als Chef-Lama der tibetischen Gemeinde. Die Schweizer mochten "ihre Tibeter", wie sie oft genug artikulierten. Ich fand sogar eine alte Fotografie von Rimpong, als er noch im Kloster gelebt hatte, hier auch selbst noch Student gewesen war. Das war außergewöhnlich genug, denn die Schweizer kannten ihn vornehmlich in einen modernen Anzug mit Krawatte gekleidet. Hier sah man ihn mit kahl geschorenem Kopf, in weinroter Robe, inmitten anderer Studenten.
Meine Studienzeit neigte sich langsam dem Ende zu, ich hatte alles gelernt, was ich lernen musste, alles Weitere wären nur mehr Wiederholungen von Wiederholungen gewesen. Ich wusste nun um die Geheimnisse, war mir auch der Verantwortung bewusst, ich würde nicht leichtfertig mit diesen Kräften spielen, dies auch nicht wollen, sie waren mir gewissermaßen selbst auch "heilig" geworden.
Der Abschied aus dem Kloster war schwer, ich konnte nicht umhin tatsächlich eine Träne im Knopfloch zu tragen. All die roten Männleins waren mir doch sehr ans Herz gewachsen, jeder Einzelne wollte gesondert umarmt werden, man beteuerte die ewig währende Freundschaft, die Gebetsmühlen drehten sich ohne Unterlass.
Es war am vorletzten Nachmittag, dass man Bier aus dem Keller holte, ein Abschiedsfest feierte, man aß und trank, vor allem trank man viel von dem Bier. Dann sah ich das erste Mal hautnah, wie betrunkene tibetische Mönche sich verhielten. Auch nicht viel anders als westliche Menschen, sie kicherten und machten Scherze und lachten noch lauter und noch mehr.
Diesmal verband man mir nicht mehr die Augen, als die Karawane von Tragtieren die "Straße" oder besser den Feldweg erreichte, wo man mich abgeholt hatte. Der Jeep wartete bereits auf mich, man hatte die Leute aus Srinagar mit dem Satellitentelefon angerufen und zum vereinbarten Treffpunkt beordert, und sie waren da, pünktlicher als die Eisenbahn oder westliche Transportunternehmen.
Ein paar Tage später war ich wieder in Neu-Delhi, auf dem Flughafen, wartete auf meinen Rückflug. Es war schon drückend heiß und feucht. Erst da wurde mir bewusst, dass ich fast vier Monate in dem Kloster verbracht hatte. Es war Mitte Juli und damit auch Monsun, das Wasser stand in dichten Nebeln in der Luft, Wolken zogen durch die Straßen und ballten sich über der Stadt wieder zusammen. Das Wasser kam kübelweise von oben, die Straßen waren überschwemmt, die Bettler saßen bis zur Brust in der Brühe.
Ich landete in Paris, es war der nächste Flug, den ich bekommen konnte, nur raus aus dieser Waschküche Neu-Delhi. Ich hatte das Gefühl, zerrinnen zu müssen, mein System vertrug die feuchte Hitze nur schlecht. Mein Kreislauf haderte damit, im Kreis laufen zu müssen, wollte Pausen einlegen, was ich natürlich tunlichst zu unterbinden versuchte.
Aber auch Paris war heiß und dampfte, es hatte gerade das erste Mal geregnet, nach einer längeren Trockenperiode, auch hier standen Schwaden in den Straßen. Das Hotel war gut und klimatisiert, ich schlief bald ein, war doch auch froh, wieder in der alten Heimat zu sein, wenngleich auch in Frankreich, aber egal, es war Europa, das zählte jetzt. Ich schlief bis Mittag, ging dann gemütlich auf den Montmartre, spazierte mit den andern Spaziergängern, es war Sonntag. Ich setzte mich in ein Straßencafé und sah den jungen Mädchen zu, wie sie keck mit ihren Arschbacken wippten, ihre jungen Brüstchen an die frische Luft ausführten, wie man kleine Hundchen mitnahm, zum Müßiggang. Sie waren sich ihrer Wirkung sehr wohl bewusst, sie genossen die Blicke der Männer, alt oder jung, in Begleitung oder nicht. Sie hatten dieses gewisse Lächeln im Gesicht, das sie als Herrscherinnen über alle Männer auswies, sie quasi auch noch dazu berechtigte, legitimierte. Der Königinnen waren viele, die da die Promenade entlang schlenderten, sich lasziv gaben, es war das alte Spiel von "Hasch mich, ich bin der Frühling". Ich gebe zu, ihre Reize blieben auf mich nicht ohne Wirkung, zu lange hatte ich nun in völliger Entsagung, im wahrsten Sinne des Wortes, im Kloster verbracht. In meinen Lenden regte sich etwas. Ich wusste aber auch, dass ich in der Zwischenzeit nicht schöner oder attraktiver geworden war und das Spiel des Eroberns nicht gerade erfunden hatte. Eher das Gegenteil, ich war auch nicht bereit den "Big Spender" raushängen zu lassen, dann konnte ich ja gleich ins Puff gehen. Ja, gleich ins Puff gehen, warum eigentlich nicht, das ersparte die lästige Suche und das wahrscheinliche Frust-Erlebnis. Vielmehr sicherte es mir die Beute, lieferte das, was ich wollte, nämlich einfach meinen hormonalen Haushalt wieder auszugleichen, den Überdruck abzulassen. Ich suchte nicht nach der großen Liebe, jetzt, in dieser Phase meines Lebens. Nein, ich war ganz einfach nur scharf wie eine Ratte geworden, bei all den Schenkeln und ihren Verheißungen.
Es war im Hurenviertel, dass ich unmittelbar gefordert wurde, all mein neues Können auch ganz unmittelbar einzusetzen. Ich hatte mich von einem Taxi absetzen lassen, spazierte die "Meile" hinauf, sah in jeden geparkten Wagen, scherzte mit den "Damen", die am Straßenrand standen und mich zu bezirzen versuchten, doch gerade mit speziell ihr mein "Glück" zu finden. Da waren ganz außergewöhnliche Exemplare dabei, so viel muss ich wohl hier zugeben. So manche Brustwarze zwinkerte mir zu, so mancher Hintern verhieß mir das verfügbare Paradies, so manche Lippen formten sich zu halb geöffneten, lockenden Schlitzen. Ich genoss es, ich hatte so lange keine schönen Frauen mehr gesehen, ich konnte mich gar nicht sattsehen. Am liebsten hätte ich mir wohl gleich eine ganze Truppe mitgenommen oder hätte mich auch mitnehmen lassen wollen, wohin auch immer, Hauptsache ins verheißene Paradies, samt allen Genüssen.
Dann einige Schritte weiter, um eine dunkle Ecke, ein Hinterhof, mit Abfalltonnen und jeder Menge Dreck auf dem Boden. Da waren Schreie und jemand - ein Mann - der laut fluchte, er schrie, ich konnte nicht verstehen was. Aber ich sah, dass er wütend auf eine Frau einprügelte, sie saß schon auf dem Boden, er trat nach ihr. Ihre Freundin, die hinter ihm stand und alles mit ansehen musste, versuchte ihn von ihr abzuhalten. Aber der Mann kannte keine Gnade, prügelte weiter auf die Frau ein, sie lag nun schon auf dem Boden. Er wollte gerade weiter auf sie eintreten, als ich es nicht länger ertrug, dem traurigen Schauspiel zuzusehen. Ich trat ins milchige Licht des Hinterhofes und räusperte mich. Der Mann nahm mich gar nicht zur Kenntnis. Ich rief ihn an, sagte. "Hey, du Schwein !"
Er drehte den Kopf zu mir, ließ von der Frau ab, kam auf mich zu. Ich musste ihn erst einmal stoppen, um die Frauen aus der Gefahrenzone entkommen zu lassen.
Ich befahl ihm innezuhalten, innerlich, konzentrierte mich ganz auf das quasi Erstarren seiner Glieder. Seine Schritte wurden langsamer, er hielt inne, kam mitten in einem Schritt breitbeinig zu stehen, starrte mich hasserfüllt an, konnte aber weder sprechen, noch sich bewegen. "Schnell, hauen Sie ab, dieser Mann wird Ihnen jetzt nichts tun. Verschwinden Sie, solange es geht."
Ich drehte mich ebenfalls um, der Mann stand noch immer wie angewurzelt, starrte den Frauen und mir wütend nach. Man konnte es sehen, sein Kopf war ganz dunkelrot vor Wut.
Eine der Frauen, die unverletzte, sie stützte die Andere, rief im Weggehen, dass sie wünschte, er wäre tot. Ich bog um die Ecke, zurück zu den Huren, sah aber noch im Weggehen, wie der Mann langsam in die Knie ging und dann, wie in Zeitlupe, auf die Seite fiel und sich nicht mehr regte.
Dies war meine erste, gezielte Tötung gewesen, noch kein "Mord", denn es geschah ja ohne Planung, vielmehr geradezu aus Not der Situation geboren und gestorben.
Ein "Louis", ein Zuhälter, ein Blutsauger, ein mieses Schwein weniger. Wer würde nach ihm weinen ? Ja, ja, sicher, auch der hatte eine Mutter und so weiter, war mal geliebt worden, etc., aber vielleicht auch nicht. Es rannten ausreichend verbogene Krüppel, geistiger Natur herum, die zu allem fähig waren. Das lag schon so in der Natur des Menschen, der schlimmsten aller Bestien, wie man so nonchalant, allgemein sagte. Kein Tier war so bösartig, wie der Mensch schlechthin. Er hatte eigentlich auch sein Überleben auf diesem Planeten nicht verdient. Irgendwann würde er sich zweifellos selbst vernichten, und das war gut so. Dann konnten sich, irgendwann, im Laufe der Jahrtausende, wieder andere intelligente Lebewesen weiterentwickeln, ohne von uns Menschen in unserem maßlosen Egoismus, ausgerottet zu werden.
Ich hatte kein schlechtes Gewissen, als ich wieder im Hotel war, aber die Lust war mir vergangen. Ich genehmigte mir noch ein Sandwich und ein Bier an der Bar, bevor ich mich wieder schlafen legte.