Читать книгу Bin in Afghanistan - Peter J. Gnad - Страница 6

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"Mein Herr !" lachte die Tochter, konnte kaum weitersprechen, prustete los, "Ich bin bereits vergeben… und außerdem… sind sie mir viel zu alt !"

Alle lachten, man hatte Felsbergs Scherz wohl verstanden, und natürlich wusste auch er, dass dies in Afghanistan nicht so einfach ging, hatte außerdem ohnedies nicht im Ernst die Absicht zu heiraten, wen auch immer.

Ihr Name war Raudaba, einer Figur aus des berühmten Dichter Ferdausis persischen Heldenepos "Shah Nameh" nachbenannt. Und sie entsprach durchaus den alten Schilderungen, eine stolze, selbstbewusste junge Frau. Aber Felsberg wunderte sich dennoch, dass in diesem strengen Afghanistan auch solcherart Frauen zu finden waren. Denn sonst sah man nicht viel von der holden Weiblichkeit des Landes, die Burqa, der sackförmige Überwurf, den alle Frauen, laut alten Überlieferungen tragen sollten, zu ihrem eigenen Schutz, verhüllte einfach alles, ließ für die Trägerin nur ein kleines Netz, um überhaupt etwas sehen zu können.

Als 1973, der Schwager des Königs Zahir Shah, denselbigen entmachtete und dem König riet, doch gleich in Italien um Asyl anzusuchen und dort zu bleiben, ließ eben jener Usurpator der Macht, Daud Khan, eine Untersuchung durchführen. Er hatte Zeit im Westen verbracht und gefallen daran gefunden, wie Frauen sich dort verhielten, ließ den Koran durchsuchen, auf Stellen, die verhießen, dass alle Frauen die Burqa tragen mussten. Er stellte den obersten Mullahs, den Geistlichen, öffentlich die Frage, sie sollten ihm zeigen, wo denn im Koran stünde, dass Frauen komplett verhüllt sein müssten – es kam keine Antwort. Woraufhin Daud Khan die Burqa per Dekret abschaffen ließ.

Dies verhinderte zwar nicht, dass die meisten Frauen weiterhin die Burqa trugen, ganz einfach, weil ihre Männer es nicht erlaubten, aber es lockerte die Gesellschaft doch etwas auf. Im Erscheinungsbild der Stadt Kabul war es damals vollkommen normal geworden, dass Frauen unverhüllt gingen, gerade die junge Generation, die Studentinnen.

Heute, nach den Taliban und allen anderen islamistisch-extremistischen Gruppen, die wenigstens eines gemeinsam hatten, nämlich die Frauen wieder in ihre alte Rolle, ins alte Erscheinungsbild zurückzudrängen, zu unterjochen, ihnen sogar auch jegliche Bildung zu verbieten, war es nicht viel anders geworden.

Auch Jahre nach dem Hinauswurf der Taliban, hatte sich in dieser Beziehung noch immer nicht sehr viel verändert. Die Burqa gehörte nach wie vor zum gängigen Erscheinungsbild für Frauen. In Kabul, in der großen Stadt, sah man bereits wieder leichter verschleierte Frauen, nur mehr mit Kopftuch bedeckt. Aber draußen im Land, in den Tälern und Steppen, den Dörfern, hatte sich nicht viel, um nicht zu sagen, nichts verändert.

Am Abend, nach dem Essen, Felsberg hatte einen übervollen Bauch, saß er noch lange auf dem Dach des Hauses, beobachtete den klaren Sternenhimmel, konnte nicht schlafen, hatte wohl am Nachmittag bereits zu viel schwarzen Tee getrunken. Das Panorama des nächtlichen Hindukush, mit den weiß getünchten Spitzen, gleißend im hellen Licht des Mondes, die vielen Sterne, die ziehenden Wolken, die bereits den nahenden Herbst verhießen, war überwältigend. Er ging hinein, holte seinen Schlafsack aus dem Raum, legte sich auf dem Dach zum Schlafen.

Mirwais kam noch kurz zu ihm, blickte ebenfalls schweigend auf die sie umgebende Natur.

"Irgendwann, bald, werde ich wieder für immer hierher zurückkehren… in das Land meiner Väter, das Beste und Schönste das ich kenne, trotz all dem Wahnsinn hier !"

Felsberg konnte den Verlust der Heimat nachfühlen, auch er hatte ja ähnliche Erfahrungen gemacht, damals in Amerika.

"Weißt du… es ist ganz eigenartig mit den Afghanen, sie lieben ihre Heimat so sehr… und wo immer sie sind, auf dieser Welt, sie haben Afghanistan immer mit sich… und träumen alle, alle davon wieder zurückkehren zu können… sie möchten in afghanischer Erde begraben werden, so wie ihre Väter vor ihnen und ihre Söhne nach ihnen."

"Jaa, kann ich verstehen - Afghanistan ist schon etwas ganz Anderes. Ich kann's auch nicht sagen, warum gerade Afghanistan auch mich so fasziniert… es müssen schon die Menschen sein, sie sind etwas ganz besonderes… unvergleichbar mit allen anderen, in dieser Region !"

Sie schwiegen wieder, hingen eine ganze Zeit lang ihren eigenen Gedanken nach, bevor Felsberg leise das Wort an seinen Freund richtete.

"Sag mal, Mirwais, vertraust du mir ?"

"Selbstverständlich vertraue ich dir… ich würde dir, beispielsweise, auch bedenkenlos meine Frau und Tochter anvertrauen, kein Problem."

"Dann lass uns doch gemeinsam den Versuch mit den Edelsteinen wagen. Ich meine, wir können beide keine Steine kaufen, dafür fehlt es uns an Barvermögen… aber, vielleicht ginge das ja, sozusagen, in Kommission ?"

"Du meinst, wir nehmen einfach Steine mit und verkaufen sie dann… in Deutschland."

"Ja, oder auch in… Holland, Frankreich, England…"

"Da muss man aber auch Verbindungen haben, so einfach ist das nicht, da haben schon viele eine harte Landung erlebt, eine Bruchlandung !"

"Ja, natürlich, weiß ich auch, der Traum platzte bereits in den Siebzigern, als die Hippies glaubten, sie könnten mit Edelsteinen handeln, aber heute ist alles anders - wir sind erwachsen geworden und ich habe eine gute Verbindung, das erkläre ich dir noch, das mit dem Handel."

"Im Prinzip spräche nichts dagegen, wir könnten schon Steine bekommen, alles Mögliche, es gibt da im Norden auch noch Rubine…"

"Das hieße Smaragde, Rubine, Türkise und Lapis Lazuli, kein schlechtes Sortiment, für den Anfang… da müsste sich doch was machen lassen !"

"Wir sprechen morgen mit Nahim und wenn er einverstanden ist, dann machen wir einen konkreten Plan, mit allen Details, von wegen prozentualer Bedingungen, Zahlungen, Anteile und so weiter… das habe ich in Deutschland schon gelernt, man muss Dinge gut planen !"

"Brav… das hast du brav gelernt, ich bin stolz auf dich !"

Sie grinsten, Mirwais verschwand wieder im Haus, Felsberg fand kurz darauf doch den widerspenstigen Schlaf und versank nun in edelsteinhaltigen Träumen.

Der Sonne war unbarmherzig, auch schon am Morgen und Felsberg hielt es in dem sofort kochend heißen Schlafsack nicht mehr länger aus. Er holte ein Handtuch, ging zum Fluss hinunter, fand eine Stelle, hinter einer Flussbiegung, an der man baden konnte. Das Wasser, Schmelzwasser direkt von den Schneeregionen, war im wahrsten Sinne des Wortes eiskalt, Felsberg tauchte mutig unter, kam heftig prustend wieder ans Ufer, rieb sich mit dem Handtuch ab. Sein ganzer Körper glühte, als er kurz darauf seine Kleider wieder anhatte und zum Haus zurücklief.

Mirwais saß mit Nahim bereits im großen Raum, frühstückte, war bereits mitten in der Besprechung des Themas von vergangener Nacht.

Felsberg setzte sich zu ihnen, trank erst einmal Tee, aß frisches Brot, es gab sogar Marmelade, aus Pakistan, sehr süß, dafür aber undefinierbar. Er aß begeistert, ließ die beiden Freunde erst einmal die grundsätzliche Idee erörtern, bevor er in das Gespräch einstieg.

Man war sich dann auch bald über die Beteiligungen einig, über Lieferbedingungen, Transportmöglichkeiten, künftige Kontingente und Zahlungsbedingungen, ein Konto in der Schweiz. Man schüttelte einander die, Hände umarmte einander, brachten den "Deal" zum Abschluss.

Alle lächelten zufrieden, Oberst Nahim schloss die Verhandlungen, erklärte, dass die Edelsteine in einer Woche, in seinem Haus, in Kabul, zur Abholung bereit seien.

Mirwais erklärte, dass sie vorher noch nach Norden wollten, nach Badakhshan, wegen des Lapis Lazuli, und dass man möglicherweise länger als eine Woche unterwegs wäre, man käme eben, wenn man alles unter Dach und Fach habe.

Nahim nickte einverständlich, sicher, man könne sie jederzeit abholen kommen.

Nur der Leinensack mit den Türkisen, der sich nach wie vor in Mirwais Besitz befand, fand in dem Gespräch keinerlei Erwähnung. Sollten ruhig ihre Verfolger, als die Besitzer der Beute gelten, das erhöhte ihre Chancen, denn natürlich waren die Männer von General Habibullah, der bei dem Überfall ums Leben gekommen war, nun ihrerseits auch hinter ihren Gegnern her.

Am Nachmittag kamen viele Menschen der Gegend, von den Höfen weiter im Tal, von Safid Cher, vom Dorf, zu Besuch, Oberst Nahim hatte im Freien, im Schatten der Bäume Teppiche auslegen lassen, ein großes Mahl wurde vorbereitet. Anscheinend wurde die Gelegenheit auch immer genutzt um Gäste vorzuzeigen, Felsberg empfand es jedenfalls so, als ob ihm jedes Mal ein ganzes Dorf die Hand schütteln wollte. Aber es machte auch Spaß, denn da waren sie wieder, diese Bilder. Vor allem die Gesichter der Menschen faszinierten ihn zunehmend. Das Licht der Petroleumlampen zauberte eine längst vergangene Epoche der Menschheit zurück, Bilder von historischer Größe, einen Blick zurück ermöglichend, zurück in vielleicht biblische Zeiten. Die Menschen hatten in dieser Gegend schon immer so gelebt, so ausgesehen. Am Morgen konnte dann bereits alles wieder anders sein, wenn der eine oder andere in seinen Geländewagen stieg und sein Mobiltelefon bediente, über Satellit vielleicht mit seinen vor dem Krieg geflohenen Verwandten in Amerika sprach.

Felsberg genoss es einfach nur zusehen zu dürfen, das war schon genug, eingedrungen in eine geheimnisvolle Welt, voller Mysterien, Legenden, Erzählungen, lebendiger Geschichte. Er war wie hypnotisiert, schwor sich, dass er das nächste Mal eine Videocamera mitnehmen werde.

Danach setzte sich die Frau des Hausherrn zu ihm und verlangte von ihm Geschichten aus seiner Heimat zu hören, sie war sehr begierig von Frauen aus Europa zu hören, wie diese dort lebten, wie sie dachten, ob sie studierten, welche Berufe sie hätten und wie das denn allgemein so wäre, mit den Frauen in Europa.

Felsberg durfte kaum eine Pause machen, frischen grünen Tee trinken, sprach fast ununterbrochen, ihr Wissensbedürfnis war unerschöpflich. Aber auch Felsberg genoss es sich mit einer afghanischen Frau zu unterhalten, solcherart Gelegenheit bot sich nicht oft in diesem Land.

Am nächsten Morgen fand Felsberg überhaupt nicht zu sich, es war viel zu früh, kaum das erste Grau am Himmel zu erkennen. Aber es musste sein, der Tag würde ihnen noch einiges abverlangen.

Oberst Nahim bestand darauf, dass sie in seinen Geländewagen fuhren, sein Fahrer brächte sie bis nach Badakhshan, in die Gegend von Sar-e-Sang, zu dem Ort, wo man Lapis Lazuli schürfte. Nach einer kurzen Verabschiedung machen sie sich auf den Weg, denn Straße konnte nun nicht mehr die Bezeichnung für diese "Fahrbahn" sein.

An manchen Stellen war der ganze Hang weggerutscht, man hatte einfach schnell einen Bulldozer eine Durchfahrt räumen lassen, schon rollte der Verkehr wieder weiter. Wenn es auch kurzerhand durchs Flussbett führte, da war man nicht so empfindlich. Diese "Straße" war die einzige Verbindung durch das Tal , sie musste befahrbar bleiben. Im Bürgerkrieg war dies auch der einzige Weg, über den Anjuman und den Khawak Pass, um die Bevölkerung und die Tausenden von Flüchtlingen versorgen zu können.

Selbst der Geländewagen ein neueres Modell, saß manchmal auf dem Boden auf, die Löcher in der Fahrbahn erreichten eine Tiefe, die einen vermuten ließ, es müsste sich um Bombentrichter handeln. Tatsächlich war das Tal während des gesamten Bürgerkrieges, also dreiundzwanzig Jahre lang, nie von irgendwelchen Feinden eingenommen worden, weder von den Russen, noch von den Taliban. Die Bewohner hatten es verstanden, unter der Führung des legendären Massoud, jeglichen Versuch des Eindringens im Keim zu ersticken. Obwohl die Gegner alle möglichen Waffen einsetzten, von Panzern und Raketen, zu Flugzeugen und Hubschraubern, es hatte alles nichts genutzt, der Panjshir, als auch das benachbarte Tal von Andarab blieben immer frei von den "Dushmanan", den Feinden. Man verehrte ihre Kämpfer, wie Heilige, ihre Führer wie Götter, näherten sich ihnen nur mit gesenktem Blick, manche küssten auch ihre Hände.

Mirwais trug ein permanentes Lächeln im Gesicht, er sah diese Gegend, seit siebzehn Jahren, das erste Mal wieder. Seine Augen leuchteten, er sah mit einem Mal aus, wie ein kleiner Junge, der auf Entdeckungsfahrt ist. Immer wieder griff er nach Felsbergs Hand, drückte sie, wies ihn auf besondere Eindrücke hin, erzählte von seinen Erlebnissen aus der Kindheit, wie man den Fluss mit nackten Beinen durchwaten musste, um überhaupt zur Schule zu kommen, von den schwankenden Seil-Brücken, auf denen man mehr balancieren musste, als zu gehen, von den tosenden Fluten im Frühling, in die so mancher seiner Schulkameraden gefallen war, einige, die auch nie wieder aufgetaucht waren.

"Das Leben ist sehr hart hier, sehr hart, man kann sich das gar nicht vorstellen, ohne richtige Nahrung, ohne richtige Schuhe, nur Plastik-Schlüpfer, aus Pakistan, ohne Socken, Pullover, Handschuhe… ohne Winterkleidung… die Temperatur fällt hier manchmal bis auf minus fünfunddreißig, vierzig Grad ab, eine erstarrte Welt… es, es ist Wahnsinn…!"

"Ja, und warum gehen die Leute dann nicht weg hier, wenn die Bedingungen so hart sind… es gibt doch sicher auch freundlichere Landstriche !"

"Nein, das sind Panjshiris… die wollen nirgendwo anders hin… und wenn sie auch woanders leben müssen, zum Beispiel in Kabul… wie viele unserer Leute nun Regierungsämter innehaben, sie haben alle ihre Häuser hier im Tal, und sie kommen immer wieder, übers Wochenende, im Urlaub, sie sind wie… süchtig !"

"Hmmm, ja, kann ich schon verstehen, aber…"

"Das muss erst in dir reifen, warte ab… das nächste Mal fühlst du dich schon wie zu Hause und unsere Leute sind sicherlich auch ein wenig anders, verschlossener, misstrauisch… aber wenn du einmal einen Panjshiri zum Freund hast, dann geht er für dich durchs Feuer !"

"Ähh, du bist doch auch Panjshiri, oder ? Wenigstens ideell gesehen - und du bist doch mein Freund, oder ? Wir gehen einfach gemeinsam durchs Feuer, zusammen ist das ist das ganz sicher besser, als mutterseelen-allein."

Mirwais verstand den kleinen Scherz nur zu gut, lächelte ihn an, umfasste seine Schultern, drückte ihn freundschaftlich, sprach mit übertriebenem Akzent eines Ausländers..

"Panjshiris alle gut Freund… mit Dollares - ich bin nur dein "Nokar", ein treuer Diener seines Herrn !"

"Nein, nicht schon wieder Märchen aus "Tausend und einer Nacht"… vielleicht solltest du doch einfach ein "Muhadith" werden, dann kannst du überhaupt nur mehr Märchen erzählen, beruflich…"

"Ach was denkst du denn… ich bin deutscher Staatsbürger, mit Pass und allem Drum und Dran !"

"Ja-aa, das… das sieht man ja schon von Weitem… du bist ein "Feringhi", ein "Alleman", und alle fragen dich überall immer nur nach Bakshish !"

Mirwais lächelte, drückte ihn nochmals an sich, was zur Folge hatte, dass sie beim nächsten Schlagloch ein wenig mit ihren Köpfen zusammenstießen. Sie lachten, rieben sich ihre Kopfhälften. Die Abfolge der Schlaglöcher und sonstigen "Straßenhindernisse", ließ keine Pause, das Fahrzeug samt seinen Insassen schwankte wie ein Schiff in schwerem Sturm. Das Tal wurde zunehmend enger, man passierte den Zusammenfluss von zwei weiteren reißenden Bergflüssen bei Ao Khawak, wo eine steiler Weg über einen anderen, eben den berühmten Khawak-Pass nach Norden, ins Tal von Andarab führte, ein anderer Weg hinein nach Nuristan, ins "Land des Lichts", wo die Bevölkerung erst um 1930 islamisiert worden war, bis dahin hatte dieser Teil des Landes auch "Kafiristan", das "Land der Ungläubigen". Es war den Muslims bis dahin nicht gelungen, in dieses Gebiet vorzudringen, um ihren Glauben auch dahin zu exportieren. Die Kafiris hatten allen Eindringlingen blutige Schlachten geliefert, meist zu Ungunsten der Angreifer.

"Heute werden wir hier übernachten, das ist sicherer, bei anderen Freunden, auch Kämpfer… hier waren alle Kämpfer, sind alle Kämpfer… denn viele haben noch immer nicht begriffen, dass der Krieg nun auch wirklich vorbei sein muss !"

"Sie haben nichts anderes gelernt als zu kämpfen, erbeutete Panzer zu fahren, Mörser-Granaten abzufeuern, mit ihren Kalashnikoffs rumzuballern… man muss, glaube ich, ein wenig Nachsicht mit Ihnen haben… sie bräuchten alle eine Art 'Umerziehung'… 'Brainwashing' im guten Sinne, sie ihre Vergangenheit vergessen zu lernen, Schulungen für zivile Tätigkeiten !"

"Ja, hast schon recht, das wär's… aber… wer soll das bezahlen, wer sollen die Lehrer sein… bei uns gibt es nur Kämpfer… alle waren irgendwann mal bei den 'Mujaheddin'… und diejenigen Auswanderer, die tatsächlich zurückgekehrt sind, versuchen verzweifelt irgendein Geschäft aufzuziehen, sonst können sie ihre Familien nicht zu sich holen, nach Hause, sonst können auch sie nicht überleben !"

"Ein tödlicher Kreislauf… es wird lange Zeit brauchen… bis es wirklich besser wird in Afghanistan… und man kann nur hoffen, dass nicht wieder irgendein Land, ein Nachbar, versucht seine Finger hier ins Spiel zu bringen, sein Süppchen zu kochen !"

"Auf Kosten der Afghanen - so war es schon immer, schon seit Alexander dem Großen - was wirklich an ihm 'Groß' war, wir wissen es nicht, auch er hat Afghanistan überfallen, ausgeraubt, seine Menschen ermordet, Generationen von männlichen Nachkommen auslöschen lassen !"

"Ja, man sieht's noch immer, dass der mal da war…"

"Afghanistan war schon immer ein Schlachtopfer !"

"Es ist auf jeden Fall Zeit, dass sich etwas ändert, hier in dieser ganzen Region, in Pakistan geht's ja noch immer weiter… siehe Kashmir !"

"Die haben einen Großteil an Mit-Schuld in dieser letzten Misere... der Geheimdienst ISI und verschiedene islamistische Gruppen, Extremisten, die wollen die 'Weltherrschaft', das 'Welt-Kalifat' errichten !"

"Ich dachte, das wären die Russen gewesen, nicht die Pakistani… ist mir da was entgangen ?"

Mirwais sträubte sich etwas, sagte er wolle nicht alte Geschichten aufwärmen, man schwieg wieder für eine Weile, die Fahrbahn forderte ihren Tribut.

Als sie endlich bei einer Chaikhana ankamen, Mirwais erklärte, dass sie hier übernachten wollten, war Felsberg bereits alles egal, er spürte seine Knochen nicht mehr, zumindest nicht mehr einzeln, er bestand nur mehr aus überreizten Nervensträngen, hatte nur mehr Sehnsucht seinen geplagten Körper an einem ruhigen Platz, ohne Erschütterungen und Verrenkungen "ablegen" zu können. Der warme Reis mit Rosinen und Karotten, samt gekochtem Hammelfleisch tat dann auch den Rest. Felsberg sank in sich zusammen, der heiße Tee zum Abschluss, brachte auch bei ihm den Abschluss. Mirwais zeigte ihm eine Ecke, in der er seinen Schlafsack ausrollen konnte.

Felsberg sah gerade noch, halb trunken vor Schlaf, wie noch einige andere Gäste die Schenke betraten, ebenfalls aßen und sich für eine Übernachtung einrichteten. Zum Schluss kam noch ein Mann mit einem überdimensionalen Bart und einem großen schwarzen Turban auf dem Kopf zur Tür herein. Alle rückten sofort beflissen zur Seite, murmelten Begrüßungsformeln, auch der Fahrer und der Beifahrer ihres Geländewagens verneigten sich, hielten ihre Hände über ihre Herzen, murmelten die Formeln mit.

Felsberg dachte noch, dass ihn irgendetwas irritierte, er erkannte sogar noch was es war. Der Geruch. Es roch, wie jener Mann gerochen hatte, der ihn, wann, vor nur einigen wenigen Tagen, in der Nacht überfallen hatte wollen. Aber der war tot, mausetot, daran gab es gar keinen Zweifel, er hatte seine gebrochenen Augen gesehen. Er wunderte sich auch darüber, dass ihn dies überhaupt nicht berührte, obwohl ER doch dessen Tod verursacht hatte, er Michael Felsberg, deutscher Staatsbürger aus München, ohne irgendwelche afghanische Verwandtschaft. Und dann noch der Zwischenfall, als er schießen hatte müssen. Wie viele Menschen hatte er selbst nun schon auf dem Gewissen. Vor kurzer Zeit hatte er sich noch für einen überzeugten Pazifisten gehalten. Er grinste noch im Einschlafen, Pazifismus, ein überflüssige Maxime, in Afghanistan, vollkommen absurd.

Er merkte später noch, dass Mirwais sich mit seinem Schlafsack neben ihm zum Schlafen legte, dann umfing ihn endlich der gnädige Schlaf.

Aber es sollte keine ganze Nacht des Schlafes werden. Die Umstände, die sie bis hierher, an diesen Ort getrieben hatten, konnten nicht in Vergessenheit geraten. Schon deshalb, weil plötzlich, Felsberg erschien es, als hätte er gerade eben eingeschlafen, ein Reihe von Schüssen fiel. Sekunden darauf polterte es an der Tür. Mirwais sprang auf, hatte sofort sein Waffe in Anschlag, sprang zur Tür hin. Der Fahrt-Begleiter hatte seine Aufgabe als Wachtposten wohl ernst genommen, denn er trieb einen Gefangenen vor sich her, welcher vor allen, nun erwachten Gästen der Chaikhana, auf den Boden fiel und zu Wimmern begann. Eine schnell entzündete Petroleumlampe zeigte ihnen das verschreckte Gesicht eines Krüppels, der hilfesuchend seine Hände in die Luft erhob.

Krachend traf ihn ein Hieb mit dem Kolben einer Kalashnikoff, er fiel vornüber in den Schmutz, ein Fuß auf seinem Rücken hielt ihn am Boden fest. "Allah hu' akbar, la illa ha illa 'llah, mohammad rassul allahi…"

Der Mann leierte seinen Sermon herunter, hoffte wohl durch Anrufung seines Gottes Hilfe zu erhalten. Aber die Soldaten, die hier an der Chaikhana stationiert waren, kannten ihn und kannten daher auch keine Gnade.

Einer der Soldaten trat hervor, beschimpfte die wimmernde Figur, bespuckte den Mann, trat ihn mehrmals mit dem Fuß ins Hinterteil, er wimmerte.

Felsberg hielt es nicht länger aus, wollte sich einmischen, die Leute dazu bringen, von der bedauernswerten Kreatur abzulassen. Er trat auf den Soldaten zu, der noch immer seinen Fuß auf dem Rücken des Mannes hatte, bedeutete ihm, er solle den Mann freilassen.

Aber es kam gar nicht so weit. Eine der bärtigen dunklen Gestalten, ein Soldat der Bergstation, fasste dedn Gefangenen bei den dünnen Oberarmen, presste sie an seinen Körper an und hob ihn mit einer fast spielerischen Bewegung hoch. Der Mann trug ihn in eine Ecke des Raumes, setzte ihn dort etwas unsanft ab, befahl ihm mit einer bestimmenden Handbewegung, dort auch zu bleiben. Felsberg blieb verunsichert stehen, Mirwais bedeute ihm, ruhig zu bleiben.

Das Geschehen nahm denn auch eine ganz plötzliche Wendung, als man den Gefangenen auf ein Kommando hin, neuerlich auf die Beine hob und mit ihm nach draußen drängte.

Felsberg blickte Mirwais fragend an, aber Mirwais zuckte nur mit den Achseln.

"Das ist ein großer Glücksfall für Commander Yahsin… sie haben lange nach diesem Mann gesucht !"

"Aber er ist nur ein Krüppel, was wollen sie denn von ihm ?"

Mirwais lächelte ein grimmiges Lächeln und antwortete erst nach einer kleinen Pause.

"Ja, das ist zwar ein Krüppel, aber ein ganz berühmter, mörderischer Krüppel, heißt Wazir und er ist einer der besten Köche hier im Norden. Eines Tages, anlässlich eines Treffens, hat er da eine ganze Reihe von Generälen und Commander vergiftet, natürlich im Auftrag der Taliban, er ist ein vielfach gesuchter Mörder, man ist glücklich ihn gefangen zu haben."

"Er sieht aber gar nicht so aus, wie ein Taliban !"

"Jaa, weil sie sich mittlerweile alle die Bärte geschoren haben, sich ganz normal kleiden, sie verstecken sich, aber wir kennen alle ihre Namen !"

Felsberg stand auf, ging zur Tür, trat hinaus in die mondhelle Nacht. Man konnte die kleine Gruppe von Männern sehen, den Gefangenen zwischen sich, wie sie einen schmalen Pfad hochkletterten, hin, auf das Felsgrat zu.

Mirwais war unbemerkt neben ihn getreten, deutete zu den Soldaten hin und machte die unmissverständliche Geste des Halsabschneidens.

"Was, wollen sie ihm den Hals durchschneiden ?"

"Nein, vielleicht noch viel Schlimmeres… dieser Mann war auch Koch in verschiedenen Gefangenenlagern der Taliban. Man setzte ihn vornehmlich dort ein, weil er ganz besondere Vergnügen am Töten hatte, und er machte es immer sehr langsam, sodass die Menschen auch noch lange und sehr leiden mussten, er ist ein Tier !"

Felsberg war etwas geschockt, von der Selbstverständlichkeit, mit der hier über Leben und Tod entschieden wurde, wollte gerade zu einer Rede ansetzen, als ihm Mirwais vorab schon ins Wort fiel.

"Du musst noch viel lernen über Afghanistan, es ist nicht alles so einfach, wie es scheint, du darfst nicht mit "westlichem Bewusstsein" an das hier denken !"

"Aber es ist doch Mord mit Mord vergelten, da muss man doch was tun - ich meine, was ist mit Polizei, mit der Justiz ?"

"Mika, das ist Afghanistan, nach dreiundzwanzig Jahren Bürgerkrieg, wo zeitweise jeder gegen jeden gekämpft hat, diese Leute kennen nur Kampf, Waffen und Gewalt !"

Felsberg starrte in die Dunkelheit, aber die Gruppe der Männer war bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden. Mirwais wollte ihn an der Schulter wieder ins Haus ziehen, aber Felsberg schüttelte ihn ab. Er konnte nicht verstehen, wie auch Mirwais dieses Verhalten einfach stillschweigend tolerierte.

Er stand noch einige Zeit da, horchte in die Dunkelheit der Schatten, aber da war nichts zu hören.

Mirwais unterhielt sich mit dem letzten Wachposten, der Koch brachte gerade frisch gebrühten Tee, als Felsberg wieder eintrat.

Mirwais winkte ihn heran, sagte ihm leise er solle sich zu ihnen setzen, den Erzählungen des Soldaten zuhören, es gäbe da einige Details, die er wissen sollte.

Er sprach weiter auf den Soldaten ein, hörte ihm wieder zu und fing erst dann zu Übersetzen an.

"Der Mann, der Krüppel, ist berüchtigt in ganz Afghanistan, sogar die Taliban hatten Angst vor ihm, weil man nie wusste, was er ins Essen tat… und wann er es tat, es gab da mehrere unerklärliche Todesfälle, auch in den Reihen der Bärtigen - Er verwendet eine einheimische Pflanze, deren Wirkung nur er kennt, das Gift ist völlig geschmacklos, wenn es mit dem Reis gekocht wird… Acht Männer, alle Commander der "Nördlichen Allianz" sind gestorben, bei einem Treffen, wo weitere Strategien besprochen hätten werden sollen - ein schwerer Schlag für die Freunde… man musste schnell reagieren - In den Gefangenenlagern gab es besondere Foltermethoden, für Menschen, die man ganz besonders hasste, Intellektuelle, Lehrer, Künstler… man spritze ihnen Tierurin ins Fleisch, in den Oberschenkel, oder den Unterarm, brannte Löcher ins Fleisch, mit Schweißbrennern… kannst du dir das vorstellen… das ist unbeschreiblich… wenn du zusiehst, wie deine Finger langsam gebraten werden – wenn diese Menschen Glück hatten, fielen sie in eine gnädige Ohnmacht, oder starben gleich, diese Art Schmerzen sind unvorstellbar - Und dieser Mann hat mit Leidenschaft mitgemacht, gefoltert und getötet, er ist ein vielfacher Mörder, hat auch alte Freunde von mir umgebracht - Er war auch in dem Lager, in das mein Vater verschleppt worden war, bei Bamyian, wo wir waren, mit Commander Habibullah… wo wir überfallen worden sind !"

Die Stille die im Raum herrschte war fast greifbar, Felsberg wagte vor Scham kaum den Kopf zu heben, dem Freund in die Augen zu blicken. Aber Mirwais lächelte ihn an, schlug ihm leicht auf die Schulter und goss frischen Tee nach.

"Was werden sie mit ihm machen… besser was haben sie mit ihm gemacht ?"

"Sie sind mit ihm zum Tangi-e-Pakikush gegangen, dem "Tor zum Paki-Tod"… ein Felsen der einige Hundert Meter steil abfällt… die Geier werden ihn fressen und wenn die Männer noch gnädig mit ihm sind, schießen sie ihm vorher noch in den Kopf, bevor er fliegen lernt… aber ich glaube nicht, dass sie gnädig mit ihm sind, er war es auch nicht und… eine der wichtigsten Regeln für dieses Land, höre mir genau zu… Afghanen vergessen nicht, und wenn es hundert Jahre dauert, sie warten ab, bis die Zeit reif ist."

Felsberg starrte Mirwais ungläubig an.

"Es gibt da diesen schönen Spruch, der genau für Afghanen sehr zutreffend ist – er lautet: Ihr mögt eine Uhr besitzen, aber wir haben die Zeit !"

Die Soldaten kamen polternd zur Tür herein, ein breites zufriedenes Lächeln im Gesicht, zurück von ihrer Aufgabe, und sie waren allein, der Gefangene war nicht dabei.

Felsberg blickte Mirwais fragend an, der aber zuckte nur mit seinen Schultern.

"Hast du nicht auch bereits auf Menschen geschossen, ist noch gar nicht so lange her, und ich glaube, du hast auch zumindest einen von denen getroffen !"

Felsberg wand sich innen und außen, druckste mit der Antwort herum, er hatte sich unlängst ja selbst auch gefragt, wie er denn mit der Tatsache zurechtkam, einen oder auch mehrere Menschen zu Tode gebracht zu haben.

"Ja-a, aber das war doch nicht dasselbe, da waren einfach ein paar Mörder hinter uns her, und sie schossen zuerst, ich habe mich nur gewehrt !"

"Siehst du !" triumphierte Mirwais, "Du bist auch nur ein Afghane… was glaubst du, denn was die Russen waren oder die Taliban, und die anderen Gruppen von religiösen Wahnsinnigen… die gab es überall, jede Ecke dieses Landes hatte seine eigenen religiösen Gruppen, und auch die kämpften alle gegeneinander… und sie waren alle nichts anders als Verbrecher, Betrüger, Mörder, Räuber, und Vergewaltiger, Verräter ihres Heimatlandes… die Taliban waren die Schlimmsten !"

"Mmmmh, ich verstehe schon… alles eine Sache der richtigen Betrachtung… das ist es ja, was mich nachdenklich stimmt… wie ich wohl reagieren würde, wenn mein Land gestohlen, meine Verwandten getötet, die Frauen vergewaltigt würden, ich weiß schon, alles relativ zur eigenen Betroffenheit !"

Mirwais stand auf, trat zu Commander Yahsin, sprach leise auf ihn ein, ein kurzes Gespräch entstand, in dessen Folge Mirwais dem Anführer anerkennend auf die Schulter klopfte und in lautes Lachen ausbrach, in das auch alle anderen Soldaten mit einstimmten. Noch immer grinsend wandte sich Mirwais an Felsberg, erzählte ihm, was er gerade erfahren hatte.

"Er ist nicht tot, sie haben ihn nicht umgebracht, sie haben ihn ausgezogen und an eine Felswand geschmiedet, nein, festgebunden und sie haben ihn mit Salz eingerieben… da oben gibt es eine kleine Weidefläche, mit Ziegen - sie werden ihn ablecken, bis er wahnsinnig wird - und wenn er diese Nacht übersteht, was wohl der Fall sein wird, dann bringen sie ihn nach Kabul… da gibt es einige Leute, die schon Sehnsucht nach ihm haben !"

Felsberg fühlte sich trotz allen Verständnisses, für die besonderen Umstände und die Situation, doch etwas erleichtert, als klar wurde, dass man den Mann den Behörden übergeben wollte. Aber der zweite Gedanke offenbarte sofort, was dem Mann möglicherweise in Kabul, im berühmt-berüchtigten Puli Charki-Gefängnis, erwartete, wo schon so viele ihr Leben gelassen hatten, dass man die Schreie und Klagen der Verzweiflung in jedem Ziegel des Hauses nur erahnen konnte. Vom Regen in die Traufe. Wahrscheinlich wäre er besser dran, hätte man ihn gleich standrechtlich erschossen. Aber darüber hatte er sich ohnedies keine Gedanken zu machen, das war wohl die Sache der Afghanen, sie mussten mit ihren Verbrechern selbst umgehen können.

Die Anstrengungen des Tages, zusammen mit der nervlichen Anspannung aus dem "Fall" des Gefangenen, zeigte seine Wirkung, Felsberg sank in die Polster zurück. Die anderen holten ein Brett hervor, spielten einige Partien Afghan-Carambol, der lokalen Billard-Variante, unter lebhafter Beteiligung der zusehenden Soldaten.

Die Petroleumlampe zauberte ein magisches Licht in den Raum, Felsberg glaubte, wieder in eine andere Zeit versetzt zu sein. Welches Jahrhundert schrieb man… und war das vor oder nach Christus Geburt… ??

Felsberg schaute der Runde fasziniert zu, das ganze Lautgemisch, der überall präsente Kassettenrecorder mit der überall gleich leiernden Musik. Offensichtlich waren die alle mit derselben leiernden Maschine kopiert worden, so dass ganz Afghanistan gar nichts anderes kannte, als diese leiernden Versionen ihrer Musik. Felsberg kicherte in sich hinein. Wahrscheinlich würde sie ganz schön blöd dreinschauen, wenn sie mal eine "normale" Version zu hören bekam, die eben nicht leierte, würden denken, dass da irgendwas nicht stimme.

Mirwais stieß ihn an, als er schon fast eingeschlafen war, bedeutete ihm, mit ihm zu kommen, sie schliefen dann im Nebenraum, wo zum Glück niemand Billard spielte.

"Übrigens, die waren zu dritt, zwei dieser Hunde sind entkommen, und sie sind in die Richtung geflüchtet, in die wir morgen weiter müssen, nach Norden !"

"Das sind ja nicht gerade erfreuliche Aussichten… Was sollen wir tun, zurückfahren ?"

"Nein… Yahsin fährt uns mit seinen Leuten voraus, und aus Zibak, kommen uns die anderen entgegen, da passiert gar nichts !"

Das letzte, was Felsberg noch hörte, war, dass einer der Soldaten in den Raum kam, seine Kalashnikoff ablegte, und sich ebenfalls zum Schlafen legte.

Er fühlte sich wie gerädert, als man ihn, im hellsten Sonnenschein, weckte, er hatte noch tief geschlafen, eine Folge der ständigen Belastung seiner Nerven. Er sagte dies auch Mirwais, nämlich, dass er baldmöglichst eine Ruhepause brauchte, sonst klappte er wahrscheinlich irgendwann einfach zusammen. Aber Mirwais lächelte nur.

"So schnell klappt man nicht zusammen… wenn man muss, und du musst jetzt einfach durchhalten, bis wir in Faizabad sind, in Badakhshan… dort machen wir dann Pause !"

Felsberg murrte zwar, erkannte aber auch, dass die Zeichen der Zeit anders standen.

Gerade brachten zwei Soldaten den Gefangenen den schmalen Pfad herunter, der Mann sah, zusätzlich zu seiner Verkrüppelung, auch sonst erbarmungswürdig aus. Er war nackt bis auf einen Lendenschurz, seine Haut war an mehreren Stellen abgeschunden, außerdem mehrere blau unterlaufene Stellen, die von Schlägen mit Gewehrkolben herrühren mochten, außerdem noch Bisswunden, von den Schafen, die wohl des Salzes wegen auch zugebissen haben mussten, einige der Stellen bluteten noch frisch. Felsberg betrachtete das grausame Schauspiel mit zusammengezogenen Augenbrauen.

Commander Yahsin befahl seinen Männern, den Gefangenen zum Fluss zu bringen, er solle sich reinigen, so könne man ihn nicht nach Kabul bringen.

Yahsin sah den besorgten Blick, den Felsberg zur Schau trug, wandte sich an Mirwais, sprach leise auf ihn ein, bis dieser sich endlich an seinen Freund wandte.

"Dieser Mann, dieses Schwein, war in einem der berüchtigtsten Lager, in Shakardara, einem Tal nördlich von Kabul, unter dem berüchtigten Taliban Commander Mullah Anwar – einer der Soldaten hat das gestern nachts noch erzählt – man hat dort Leute mit Säure verbrüht, sie mit Elektroschocks gefoltert, mit Draht um ihre Zehen, oder ihre Hoden, und dann ein Feldtelefon drangehängt, mit einer Kurbel, zur Stromerzeugung… die Usbekischen Gefangenen ließ man Höhlen graben, in die man dann Handgranaten warf… Massouds Anhänger wurden verkehrt rum aufgehängt und – im Winter - mit kaltem Wasser übergossen, am Morgen dann waren sie alle steifgefroren, mit Eiskrusten überzogen… die Hazaras wurden zusammengebunden, man hämmerte ihnen Nägel in die Köpfe, echte Mullahs, Geistliche, wurden auch gefoltert, alle Haare ausgerissen, ein Holz durch die Nase gezogen und wie Vieh herumgeführt… Menschen wurde, bei lebendigem Leib, Fleischhaken durch die Hälse gezogen, dann hing man sie auf, spielte "Hammelfleisch verkaufen !"

Felsberg hatte schon am Abend zuvor einiges an Grausamkeiten gehört, das buchstäbliche Entsetzen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

"Ich kann das nicht verstehen, wie Menschen anderen Menschen solcherlei Schweinereien antun können, das ist vollkommen unfassbar !"

"Das ist noch lange nicht alles… in Kabul, zum Beispiel, wurden willkürlich Menschen auf der Straße erschossen, aufgehängt, Frauen vergewaltigt, Mädchen entführt und vergewaltigt… und da gab es auch den berühmten "Tanz des Todes", den "Raqs-e-morda"… wir werden das nie vergessen - man hat den Leuten halb die Kehle durchgeschnitten und dann, vorher am Straßenrand vorbereitetes, heißes Öl in diese Kehle geschüttet… die Leute waren zwar schon fast tot, aber sie "tanzten" in ihrer Agonie quer über die Straße, bevor sie zusammenbrachen und diese Schweine haben dazu gelacht und Scherze gemacht, gejubelt !"

Felsberg sagte nichts mehr, hielt nur mehr erschrocken die Hand vor seinen Mund, unfähig auch nur einen Laut von sich zu geben.

"Das Schlimmste war, dass man diesen ungebildeten jungen Anhängern der Taliban, meistens junge Leute irgendwo vom Land, die nicht mal lesen und schreiben gelernt hatten, alles erzählen konnte, und die glaubten das dann auch alle… weil es ja ein Mullah gesagt hatte !"

Felsberg sah zu wie man den Gefangenen, immer wieder von Schlägen und Tritten begleitet, ins Haus schaffte. Felsbergs Sympathie war soweit abgesunken, dass er kein Mitleid mit dem Gefangenen mehr verspürte. Dieses Land hatte andere Gesetze, ganz andere, und sie waren alle bestimmt von Kampf, Gewalt, Leiden und Entbehrung, von zahllosen Opfern auf allen Seiten, eine endlose Kette der Erbarmungslosigkeit und blutiger Rache.

"Man erzählte ihnen, je mehr Feinde sie umbrächten, Ungläubige in ihren Augen, desto mehr würden sie belohnt, im Jenseits, im Paradies… Helden des Kampfes für ihre Form von Islam, durften jeweils zweiundsiebzig Jungfrauen als Belohnung erwarten, neben sonstigen, anderen Genüssen !"

Der Gefangene wurde herausgeführt, sah beinahe wiederhergestellt aus, wäre da nicht die verkrustete Platzwunde auf seinem nackten Kopf gewesen.

Ein Geländewagen kam die Bergstraße herauf, hielt vor ihnen an, drei Männer in Kampfanzügen sprangen heraus. Man begrüßte einander eher nur kurz, entgegen sonstiger Gewohnheit, aber auch das konnte auf den Gefangenen zurückgeführt werden.

Sie traten sofort an ihn heran, einer der Soldaten schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Gefangene fiel sofort auf die Knie, umfasste seinerseits flehentlich die Knie des Mannes, der ihn gerade geschlagen hatte, fing zu wimmern an. Aber der Mann trat ihn nur beiseite, zwei andere Soldaten rissen das heulende Bündel hoch, stießen den Gefangenen zum Wagen, stiegen mit ihm ein. Kurze Zeit darauf waren sie wieder verschwunden, brachten den erkannten Mörder seiner ungewissen, oder vielmehr gewissen Bestimmung entgegen.

Mirwais trat mit seiner Kalashnikoff aus dem Haus, kurz darauf waren sie ebenfalls unterwegs, den Anjuman-Pass hinunter, nach Norden, begleitet von einem weiteren Geländewagen, mit zwei Soldaten von Commander Yahsin, als Schutz.

Auf der Hälfte des Weges kamen ihnen bereits die Soldaten von Escada entgegen, der erste Wagen fuhr wieder zurück zur Station auf dem Pass. Die Straße war mehr als nur abenteuerlich, oft nur ein mit Steinen abgestützer Eselspfad, der Fahrer lehnte sich öfter beim Fenster hinaus, um nicht über die Begrenzung zu fahren. Die tiefe Schlucht auf der einen Seite, der blanke Fels auf der anderen Seite, jederzeit bestand die Möglichkeit von Steinschlag, oder einem Abrutschen in die Tiefe. Verschiedentlich sah man auch Wracks von bereits abgestürzten Fahrzeugen im Abgrund liegen, sie hatten es wohl nicht geschafft. Gleichzeitig war Felsberg aber auch von dem atemberaubenden Panorama fasziniert, das sich bei jeder Biegung der Straße von Neuem anbot, in neue Varianten übergehend, neue Blickwinkel zeigend, ein wilde urzeitliche Landschaft. Hier in diesen Bergen soll, der griechischen Sage nach, auch Prometheus, wegen seiner fortgesetzten Gotteslästerungen, in die Felsen geschmiedet worden sein, bis ihm die Geier die Augen aushackten. Das Szenario schien durchaus glaubhaft, noch nie hatte er derartige Felsformationen gesehen. Es war verständlich, dass Menschen in dieser Landschaft Ehrfurcht vor der Größe der Natur empfanden, Felsberg kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Als ihnen eine Karawane von etwa zwanzig Kamelen, Koochies, traditionellen afghanische Nomaden entgegenkam, und kurz darauf noch eine Eselskarawane, wurde es zwischenzeitlich eng auf der "Straße". Die Tiere mussten sich eng an der Felswand an den beiden Fahrzeugen vorbeiquetschen, vor allem die Kamele brüllten erbärmlich, aber es gab keinen anderen Ausweg. Außerdem kannte er das schon, von den Kamelen, die brüllten nämlich immer und bei jedem geringsten Anlass, auch wenn man sie nur mit einem Strohhalm belud. Er grinste breit übers ganze Gesicht, Kamele waren schöne Tiere, er mochte sie besonders gerne. Er hatte sogar seine Fotokamera hervorgeholt, war kurzzeitig ausgestiegen, um ein paar schöne Bilder zu schießen.

Als das Gelände zunehmends flacher wurde, man endlich wieder in einem breiten Tal, dem flacheren Land entgegenrollte, wurde es sofort auch sofort wieder wärmer, die Sonne zeigte, dass der Sommer noch nicht ganz vorüber war.

"Wo fahren wir jetzt eigentlich hin ?" fragte Felsberg schlaftrunken, er war trotz der durchschüttelnden Fahrt ein wenig eingeschlafen.

Die Reise nach Badakhshan erwies sich als schwieriger als gedacht, tagelang schüttelte und rüttelte die Straße ihre Knochen durcheinander, man fuhr fast wie ferngesteuert, einfach nur weiter, bis an irgendwo ankam. Felsberg ahtte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren, man hätte genausogut am Mond sein können

"Wir sind jetzt dann bald in Zibak, da pausieren wir einen Tag, dann geht’s nach Faizabad weiter, nochmals zwei Tage."

Es war dunkel, als sie ankamen und nach einem eher frugalen Mahl zeigte ihnen der lokale Commander, er hieß Mamajan, stolz noch die zwei anderen Gefangenen, die Komplizen des Buckligen, die ihnen auf ihrer heillosen Flucht nach Norden, quasi in die Arme gelaufen waren, nämlich in der lokalen Chaikhana, wo sie gerade seelenruhig Kebab mit Reis zu sich nehmen hatten wollen, es sei beim 'wollen' geblieben. Mamajan grinste übers ganze Gesicht.

Der hätte gut und gern der Geschichte aus "Tausend-und-eine-Nacht", nämlich "Ali Baba und die vierzig Räuber" entstammen können. Felsberg erinnerte der grobschlächtige Mann mit dem breiten Grinsen, sofort an diese Figur. Man konnte nicht sagen, ob sein Grinsen, das freundliche Lächeln eines urzeitlichen Drachens war, oder das Zähnefletschen eines Kannibalen. Aber er war gleichzeitig ein äußerst liebenswürdiger Mensch, anlässlich ihrer ersten Begegnung hatte er Felsberg mit der Leichtigkeit einer Puppe hochgehoben, hatte die immense Kraft angedeutet, die diesem Koloss innewohnte. Mirwais begrüßte er mit dem Repekt eines UKameraden auf gleicher Höhe, die Begrüßungsformeln hatten gar kein Ende mehr nehmen wollen.

Erst am nächsten Tag bemerkte er, dass der große Mann an einem Gehfehler litt, er humpelte leicht dahin.

Auf Felsbergs Nachfrage kam heraus, dass Mamajan und seine Männer, während der Belagerungen und den Kämpfen mit den Taliban, manchmal sehr lange Zeit, in Deckung, unter einer Brücke, im eiskalten Wasser stehend, im Hinterhalt gelauert hatten. Bis der Gegner reif war um angegriffen zu werden. Dabei hatte er sich ein Nervenleiden zugezogen, das ihn manchmal plagte.

"Das hier sind die wirklich harten Kämpfer… die Bedingungen, im Winter, ohne warme Bekleidung, nur mit Plastik-Schlappen, in Eis und Schnee, ohne Versorgung und Nachschub oder schwere Waffen… die mussten erst mühsam erbeutet werden… Jeder Panzer den du hier siehst, war einmal ein russischer Panzer und entweder wurden sie "erlegt" oder noch besser, man hat sie funktionstüchtig übernommen…nur die "Stinger"-Raketen kamen von den Amerikanern, mit denen man die Flugzeuge und Hubschrauber herunterholen konnte."

Commander Mamajan stand bei ihnen, als Mirwais ihm die Geschichte erzählte und untermalte dessen Erzählungen mit lautstarken, die Situation simulierenden Geräuschen. Booooooom… Tatatatatatatatata… Pfoooossshhhh… Pachhchaummmmm… jiuuuu, jiuuuu, jiuuuu… vorbeisausende Kugeln, Explosionen, Raketen, Maschinenpistolen, und Kanonendonner. Man musste es zur Kenntnis nehmen, es blieb einem gar nicht erspart, alles was diese Menschen kannten war Krieg.

Mamajan kämpfte bereits seit seinem fünfzehnten Lebensjahr aktiv mit. Seit damals, als die Russen seinen Vater und seine zwei älteren Brüder, vor den Augen der Familie und einigen zufälligen Passanten auf der Straße, einfach erschossen hatten. Als vermeintliche Terroristen. Man hatte sie erwischt, wie sie Zucker in die Tanks von russischen Fahrzeugen schütteten. Was auch tatsächlich dazu geführt hatte, dass ein Nachschubtransport von Kunduz nach Kabul, erst eine Woche später stattfinden hatte können. Außerdem, zur Rettung der Ehre der Mujaheddin, wie man die Kämpfer damals noch nannte, musste auch noch gesagt werden, dass jener besagte Transport, mit einem Duzend Lastwagen, hinter dem Salang-Pass, von Massouds Männern gnadenlos in den Abgrund gejagt worden war. Kein einziger Lastwagen hatte seinen Bestimmungsort erreicht. Die Russen hatten einen Heiden-Respekt vor dem jungen Anführer aus dem Panjshir-Tal, Commander Massoud.

Es gab keine Gesprächsrunde, die nicht irgendwann, im Laufe eines Zusammenseins, von diesem nun schon legendären Führer der "Nordallianz" erzählte, seine Heldentaten rühmte und seinen edlen Charakter pries.

"Massoouud Khan… Dost-e-Man- good frrend!", sagte Commander Mamajan, "er ist mein Freund!", als ob sein Idol noch am Leben wäre, schlug sich auf die Brust, dass es nur so dröhnte, kramte in einer seiner Brusttaschen und beförderte ein zerdrücktes Passfoto von Ahmed Shah Massoud hervor, hielt es ihnen triumphierend entgegen.

"Shaheed Massoud !", sagte er nochmals nachdrücklich – Massoud, der Martyrer, für sein Volk, ein wahrer "Ayaar", eine selbstlose idealistische Lichtgestalt des afghanischen Bürgerkrieges. Er war im Land geblieben, hatte gekämpft, während andere sich selbst bereicherten und ins sichere Ausland flohen.

Felsberg war der ständigen Beweihräucherung des Volkshelden Massoud schon etwas leid, es war einfach zuviel. Man begegnete dem Bild des allgemeinen Idols einfach überall. Keine Küche, kein Wohnraum, kein Laden, keine Straßenkreuzung ohne das Bild Massouds, groß oder klein.

"Ich weiß nicht, irgendwie kann ich's schon nicht mehr hören, es hängt mir etwas zum Hals heraus, es ist einfach zuviel !"

"Jaa, aber du musst auch bedenken, es gibt hier kein Fernsehen, nur einige wenige Radios, und keinen Strom, keine Nachrichten, wie auch immer, und die Winter sind lang… man erzählt einander Geschichten, so wie schon immer… und, klarerweise, sind das Geschichten vom Krieg und von den Heldentaten, der einzelnen Größen… Du musst das nur richtig verstehen !"

"Ich verstehe das nicht falsch, aber es entnervt mich zeitweise etwas, ich würde gerne mal Nachrichten sehen, im Fernsehen, mal was anderes, als Krieg und Zerstörung… Ich glaube ich sehe mir als Nächstes, wenn ich nach Hause komme, mal einen Liebesfilm an… neee, Scheiße…. stimmt gar nicht, ich kann "Liebesfilme" auf den Tod nicht ausstehen, das Gesülze kotzt mich an !"

Mirwais grinste, "Hättest du in Kabul ansehen können, im lokalen Fernsehen, die spielen immer nur indische Filme, und die sehen seit fünfzig Jahren gleich aus, obwohl sie 800 Filme pro Jahr machen. immer das gleiche… Junge trifft Mädchen, Liebe, und der Weg, bis sie sich endlich finden und auch kriegen, in aller Ehrhaftigkeit… meist mit Gesangseinlagen in den Schweizer Bergen… mit indischen Kostümen… ist auch wirklich zu köstlich, einfach… soooo witzig !"

"Ich hasse indische Filme, das ist das Letzte überhaupt !"

Felsberg schüttelte sich, als ob er sich ekelte.

"Zum Glück sendet das europäische Fernsehen nur ganz selten und dann nur um drei Uhr Früh, solcherlei Filme… da sind mir ja Pornos noch lieber… vor allem kann man da ja wenigstens noch was lernen !"

Mirwais fing zu kichern an, konnte sich kaum erholen, erzählte Commander Mamajan brühwarm, was Felsberg nun gesagt hatte. Kurz darauf rollte sich auch der Kommandant vor lauter Lachen fast am Boden. Er schlug Felsberg freundschaftlich auf den Schenkel, der Abdruck dieser Freundschaftsbekundung sollte noch Tage danach, wie ein Abbild der Hand eines Riesen, rotleuchtend auf seinem Schenkel sichtbar bleiben, als länger wirkendes Andenken an diesen Moment der Erheiterung eines Giganten in Menschengestalt und der Entladung seines Zwerchfells.

Der nächste Tag verging schnell, man besuchte verschiedene "Stellungen", in denen sich die Widerstandskämpfer verschanzt hatten, ob nun gegen die russischen Invasoren, gegen feindliche, rivalisierende Mujaheddin, oder letztlich gegen die Taliban. Eines war immer gleich geblieben, nämlich der Kampf, Tod und Zerstörung.

Commander Mamajan führte sie herum wie ein General, wie ein Museumsführer, der seine Sammlung präsentierte.

"Da hinten lagen wir… da hatten wir uns eingegraben, so dass sie uns von oben nicht erkennen konnten… hier lagen wir im Wasser… dort wurden wir fast vernichtet, da liegen unsere Brüder begraben, ohne Gräber, in Stücke gerissen, von da oben schossen wir die feindlichen Hubschrauber ab… dieser Platz markiert das Massengrab… ja, das ist unser Land !"

Felsberg war erschüttert, nie hätte er sich diese Umstände träumen lassen. Er wurde angesichts der geballten Tatsachen immer stiller, hörte nur mehr zu, staunte zeitweise mit offen stehendem Mund, lauschte Mirwais leisen Übersetzungen der einzelnen Grausamkeiten des afghanischen, alltäglichen Kampfes. Kein Europäer in seinen kühnsten ängstlichen Albträumen konnte sich jemals derartige Unmenschlichkeiten für sich, sein Volk, seine Angehörigen, Nachbarn, Freunde, oder auch Feinde, überhaupt nur annähernd vorstellen. Und hier war genau das alltäglicher Alltag, gewohnt, wie das Aufgehen der Sonne, war die alltägliche Gewalt, Mord und Totschlag. Was aber alles nur noch absurder erscheinen ließ, war die sprichwörtliche Freundschaft der Afghanen, ihre Offenheit, ihre Herzenswärme und ihre offensichtliche Liebe für Natur, für Dichtung, für Kunst im Allgemeinen, sie verehrten ihre Musiker wie Boten von fernen Göttern. Alles im krassen Gegensatz zueinander, ein lebendiges Beispiel eines fast schon klassischen Paradoxon.

Ein weiterer Tag verging fast wie im Schlaf. Felsberg jedenfalls setzte seiner Müdigkeit nicht viel entgegen, ließ sich immer wieder in den erholsamen Schlaf sinken. Er lag auf dem Dach der Behausung, die sie für einen Tag bewohnten.

Ein schlichter Raum, mit der üblichen Einrichtung aus länglichen Polstern, mit anderen Polstern darauf. Das Besondere an dem Raum war zweifellos der Teppich, im üblichen dunklen Rot gehalten, mit der gewohnten Musterung, aber das Material, die Fasern mussten Seide sein. Der Teppich war so dicht und weich, dass man förmlich darin "versank". Felsberg hatte sogar auf den Polster verzichtet, auf dem blanken Teppich geschlafen. Aber als der Tag anbrach, zog er kurzerhand auf das Dach um. Er wusste, dass er in dem Raum, im Haus, niemals würde Ruhe finden können, um weiter schlafen zu können. Es war ein guter Platz, gewissermaßen direkt über dem Eingang zu dem "Gehöft", auf dem man sich befand. Es hatte eine Mauer rundherum, etwa eineinhalb Meter hoch, mit mehreren Schießscharten in alle Richtungen. Zur Vorderseite hatte man diese Schießscharten auch noch halb überdacht, so dass man auch bei schlechtem Wetter, was hier in den Bergen durchaus häufig war, noch immer trockenen Fußes und, noch viel wichtiger, trockenen Gewehrs, seine Wacht verrichten konnte. Aber Felsberg dachte nicht an Wacht, er lag im Tiefschlaf der Erschöpfung.

Während er zwischenzeitlich doch erwachte, mehr in einem ein Halbschlaf, als ein wirklicher Wachzustand, gemischt mit Traumphasen – alles verfloss schon ineinander - es fing damit an, dass er Tagträumte, inmitten eines Streitgesprächs mit seiner Freundin Susanne zu sein.

"Ich kann deine andauernden Ausreden einfach nicht mehr hören, immer, immer das Gleiche, nur nicht irgendwie die Initiative ergreifen !"

"Was meinst du, ich ergreife immer wieder die Initiative, aber was kommt raus, ein neuerlicher Tiefschlag, ich habe einfach genug von diesem Scheiß-Spiel, es kotzt mich an !"

"Ja, ja, ich weiß, einmal ist es dies, dann wieder das, irgendetwas, irgendwer ist immer schuld, und dann landet die Flinte schon wieder im berühmten Korn !"

"Ich versuche, weiß Gott, alles Mögliche… und wenn ich nicht so ein Atheist wäre, dann könnte ich schön langsam glauben, dass da irgendein Fluch, ein böses Omen, oder ein Voodoo über mir schwebt… jedenfalls nichts Gutes !"

"Papperlapapp… und wenn ich dich nicht so gut kennen würde, dann könnt' ich jetzt glatt glauben, dass du wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank hast !"

"Susanne… was soll ich denn noch tun ?"

"Ich weiß nur, dass es so nicht mehr weitergehen kann… Ich kann nicht mehr… kann nicht immer dein Händchen halten, wenn's dem "Buben" schlecht geht… Ich werde im März umziehen, wegziehen von hier…"

"Aha, und wohin willst du, wenn man fragen darf, soll's noch mal Florida sein… oder Südamerika… wie wär's mit Hongkong… Australien, oder gar Amerika, das gelobte Land ?"

Susanne war aufgestanden, zur Tür gegangen, hatte sie geöffnet und sprach ihren letzten Satz im Hinausgehen, ohne sich auch nur nochmals umzudrehen.

"Ich gehe nach Wien... dorthin wo man Walzer tanzt, wo man lacht und das Leben vielleicht ja auch noch einige andere Qualitäten zu bieten hat !"

Die Tür hatte schwer zugeschlagen hinter ihr, Felsberg hatte ihr noch lange nachgesehen, obwohl sie schon lange weg war.

Zugegeben, sein Leben war bisher alles andere als glücklich verlaufen. Aber andererseits, nein, so konnte man es nicht sehen, früher hatte immer alles geklappt, was immer er anfasste.

Die nächste Traumphase fand im Halbschlaf statt, Susanne hatte endgültig "das Handtuch geworfen", wollte nicht einmal mehr selbst kommen, um ihre restlichen Sachen abzuholen. Eines schönen Tages hatte sie angerufen, um zu fragen, wann jemand vorbeikommen könne, um ihre Kartons abzuholen. Was dann einige Tage später stattfand, während er, wie verabredet, nicht in der Wohnung anwesend war.

Er wusste zwar, wo sie sich befand, wusste auch, dass es sich eigentlich nicht um den typischen Fall von Eifersucht, also einen anderen Mann handelte, sondern er selbst hatte tatsächlich selbst alles "verbockt". Wobei selbst diese Formulierung nicht ganz zutraf, denn er hatte immer wieder versucht, einen neuen Anfang zu setzen. Aber Susanne hatte wohl schon länger abgeschaltet, und postwendend, wie die Regel die im Buch stand, kam dann auch immer wieder das Ende. Andere hatten Glück, er hatte Pech. Nicht dass er sich zu wenig anstrengte oder auch bemühte ihren Wünschen Rechn ung zu tragen, was auch immer er tat, am Ende kam es immer wieder auf dasselbe heraus. Susanne hatte an diesem Punkt schon recht, das konnte kein Mensch auf Dauer ertragen. Auch er hatte die "Schnauze voll" gehabt.

Deshalb hatte er auch nach einem unkonventionellen Weg gesucht, alle geraden Wege waren schon mehrfach begangen worden, mit immer wieder eben jenem frustrierenden Ende, das er nun schon so gut kannte. Irgendetwas gab es immer. Was konnte man gegen Pech machen ?

"Weitermachen, gar keine Frage, was sonst, alternativ dazu sonst könnte ich mich ja gleich aus dem nächsten Fenster werfen !"

Als er dann am späten Nachmittag neuerlich erwachte - er hatte leise zischelnde Stimmen gehört, war sofort alarmiert aufgeschreckt, saß wieder eine Gruppe Kindern vor seinem "Lager". Sie starrten ihn an, tuschelten einander leise Kommentare zu. Soviel zu den leise zischelnden Stimmen.

Felsberg versuchte sich in einem Lächeln, aber die gequälte Grimasse erschreckte die Kinder mehr, als es sie beruhigte. Die drei Mädchen und zwei Jungen, denn um solche handelte es sich, sprangen auf und liefen kreischend davon. Aber nur bis zum Eingang zum Zimmer, wo sie sich nochmals umdrehten, ihn breitest anlachten, um dann, noch lauter kreischend, im Haus zu verschwinden. Er sollte die Rasselbande später noch näher kennenlernen.

Das Abendmahl fand wieder im nun schon üblichen Übermaß statt. Felsberg wunderte sich immer wieder, wie viel Nahrung diese Afghanen in sich hineinstopfen konnten, und wo das alles blieb. Denn offensichtlich, trotz allem Übermaß an Ernährung wurden diese Kerle einfach nicht dick, mit Ausnahme einiger Weniger. Sie "fraßen" regelrecht in sich hinein. Wenn er einen Teller mit "Palaw", Reis mit Hammelfleisch, gegessen hatte, vielleicht noch ein Stück "Kharbus", Melone darauf, als Nachtisch, dann war er vollkommen satt. Die Afghanen dagegen, fingen da gerade erst an, und er hatte Leute auch nach der "Suppe", die eigentlich auch schon ein eigenes Mahl darstellen konnte, schon mal drei Teller Palaw reinhauen gesehen. Danach noch Süßigkeiten und verschiedene Früchte, Äpfel, Melonen, Trauben, Pfirsiche und dann noch ein paar Nüsse - zum Abrunden - zum Tee. Felsberg musste immer wieder ablehnen, in aller Höflichkeit, und trotzdem, immer wieder forderte man ihn von Neuem auf, doch weiter an dem Mahl teilzunehmen. "Bas, bas !", war das Einzige was er noch von sich geben konnte, um sich anschließend gleich gegen die Mauer zu lehnen. Es war gar nicht so leicht, mit verschränkten Beinen sitzen zu bleiben, auch noch die Regel der nicht gezeigten Fußsohlen zu beherzigen und dabei auch noch irgendeine Form von Bequemlichkeit zu empfinden. Felsberg war sich seiner Unzulänglichkeit durchaus bewusst, entschuldigte sich immer mit Schmerzen in seinem Rücken, wohl wissend, dass ihn dies in aller Augen entschuldigte und, zu allem Unglück, war es nicht einmal gelogen, sein Rücken schmerzte wirklich sehr schnell. Es war nicht zu leugnen, er war ein degenerierter "Westler", Punktum. Man musste auch zu seinen Fehlern stehen können. Felsberg kicherte leise vor sich hin, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss – frei nach dem Motto – steh zu deiner Degeneration !

Danach packte der Hausherr, der Commander, seinen Vorrat an Edelsteinen aus. Er hatte schließlich schon von den eigentlichen Reiseplänen und den Absichten von Felsberg und Mirwais gehört, so etwas blieb natürlich nicht verborgen. Da auch er, Commander Mamajan, ein alter Weggefährte von Mirwais war, ging dies alles wie geschmiert vor sich. Da gab es keinen Argwohn oder irgendein Gefeilsche, ganz im Gegenteil, das Angebot kam immer von den anderen. So auch hier, Mamajan lächelte breit, als er sein Leinensäckchen vor den Augen der "Eingeweihten" auf dem Teppich ausleerte. Da waren einige schöne Halbedelsteine, sowie Smaragde, Türkise von minderer Qualität, Lapis Lazuli, aber auch einige herausstechende Steine, leuchtend rot, im Licht der Gasleuchte, keine Frage, dies waren Rubine.

Aber dann verfinsterte sich auf einmal Mamajans Blick, er versank in einem dunklen Gedanken, man konnte es genau sehen.

Der Hausherr sprach kurz auf Mirwais ein, welcher immer wieder ablehnend seinen Kopf schüttelte, aber Mamajan wollte, musste seine Frage unbedingt an Felsberg selbst stellen. Für die Leute hier schienen alle Leute aus dem Westen übergeordnete Fähigkeiten zu besitzen, also zu mindest "Arzt" oder "Ingenieur" zu sein !

"Mika jaan…" begann der Commander, um erst einmal seine Aufmerksamkeit unabwendbar auf sich zu ziehen, grinste ihn wieder an, wie ein Honigkuchenpferd, das er sogleich zu verspeisen wünschte. Dann allerdings, in weiterer Folge verstand er gar nichts mehr, wandte sich fragend an Mirwais.

Bin in Afghanistan

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