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Christian 1

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Missmutig schmeißt sich Leutnant S. auf seine Matratze. S. wie Starlinberg (vom Vornamen ganz zu schweigen, den kann er hier sowieso vergessen). Aber sie werden – irgendwo im nördlichen Teil des Bezirks Cottbus – alle nur mit Rang und Initial angeredet. Bei Dopplungen gibt’s zusätzlich Nummern, jedoch erst ab der zweiten Person mit dem gleichen Anfangsbuchstaben, die zur Einheit kommt. Drei von zwanzig Lexikon-Bänden fangen mit “S” an, aber hier war er eigenartiger Weise zuerst da. Also hat er, S., keine Nummer. Und er ist im gemeinsamen Quartier wegen seiner Zuverlässigkeit nach wie vor der erste. Ansonsten gibt es hier inzwischen einen weiteren S., und der heißt folgerichtig S. II. Warum bis heute keine Decknamen eingeführt worden sind, weiß keiner genau. Wohl weil sich Elite-Einzelkämpfer im freien Feld sowieso nie treffen sollen; da braucht’s dann auch keine weiteren Bezeichnungen.

Auf Übung hätte er heute gehen sollen, S. – aber nein, Leutnant D. III war plötzlich dran. An sich ist S. froh, nicht ausrücken zu müssen. Und Befehl ist zudem Befehl; nur nicht groß auffallen! Aber früher sagen hätten sie’s ihm können.

Still ist es geworden, auch die anderen aus dem Quartier haben noch eine Aufgabe erhalten. Jedenfalls für heute. Und wann die einzelnen zurückkehren, ist zuvor nie bekannt. Keiner weiß von keinem. Wahrscheinlich heißen sie deswegen Solitäre.

S. geht zu seinem Spint, er hat sich etwas zu essen drin aufgehoben. Manchmal ist es einfach besser, mit viel Zeit richtig satt zu werden. Das Essen ist nach der Ausbildung besser geworden. Außerdem hat die Schlamm-Robberei aufgehört; jedenfalls fast: Es kann schon noch ab und zu vorkommen, dass er durch den Morast muss. Aber dann hat er ihn sich selbst ausgesucht, weil es nach seinem eigenen Gutdünken bei einem Auftrag keinen anderen Weg gibt. Gehorsam wird bei ihnen im Gegensatz zum Rest des Volkes nicht beaufsichtigt. Kann er gar nicht: Selbst der Marxismus-Leninismus muss bei Einzelkämpfern Vertrauen üben.

Zum Leutnant wurde S. gemacht, als er ankam – wie alle, die es hierher geschafft haben. Oder noch vom alten Verteidigungsminister Hoffmann in Ostberlin höchstpersönlich ausgesucht worden sind und dann gar keine andere Chance mehr hatten, als “Karriere” zu machen.

Das ist schon eine komische Elitetruppe. Eigentlich gar keine richtige Truppe. Das sozialistische und brüderliche Miteinander ist nicht gefragt. Was zählt, ist bedingungsloser Gehorsam gegenüber einem personbezogenen Großauftrag – und zwar draußen, in der Einsamkeit, wenn kein anderer mehr irgendwas am Kleinkram der Ausführung noch kontrollieren kann. Dafür, für diese Art Gehorsam, gibt es Vergünstigungen – die nur selten wirklich zu nutzen sind.

Die Tür geht auf. Major Zitzsche steht im Rahmen. Den hat S. schon ewig nicht mehr gesehen. Ob der sich auf einer seiner Touren im Wald verirrt hatte?

“Leutnant S., sind Sie bereit?” Das “Sie” ist unter den Solitären häufiger anzutreffen als sonst im ach so brüderlichen Sozialismus – auch öfter als in der “normalen” NVA; da schwingt wohl ein eigentlich verbotenes elitäres Selbstbewusstsein mit eine Rolle.

“Allzeit bereit!” S. muss schmunzeln, als “Freier Deutscher Jugendlicher” fühlt er sich doch nicht mehr ganz.

“Gut – mitkommen!”

Innerhalb von Sekunden sitzen sie gemeinsam im Geländewagen sowjetischer Bauart. Körperlich fit ist er ja, denkt sich S., sehr fit. Immerhin ist der Major schon 49, hat einiges hinter sich. Springt aber rum wie einer von der Militärsportschule. Der wäre mir gleichauf, wenn’s drauf ankäme. Was will er bloß? Jetzt, wo alle anderen bereits weg sind?

“Haben Sie Ihre Waffen dabei, Leutnant S.?”

Was soll diese Frage? Die Mitglieder dieser Einheit haben immer ihre kleinen Waffen dabei, Revolver und Fangmesser. Wo es größere versteckt gibt, ist jedem bekannt – wenn es sein muss. Die Solitäre sind die einzige Einheit in der DDR, die ständig unter scharfen Waffen steht. Und die einzige mit durchgehend Faustfeuerwaffen, besonders merkwürdig angesichts der knappen Zahl der Revolver im Staat. Selbst hohe Offiziere anderer Einheiten tragen meist nur leichte Pistolen.

Warum hatten die mich eigentlich für diese Einheit bestimmt? Die Frage verblasst sofort hinter der nächsten, die für S. schon eine Feststellung ist: Zitzsche ist der einzige ohne Buchstaben-Kürzel. Honecker selbst kam auf die ruhmreiche Idee, den vollständigen Namen bei einer Ehrung zu verraten.

Die Soldaten werden in dieser Einheit mit ihrem Rang angesprochen, obgleich es nur zwei gibt: den des Leutnants und den des Majors; vielleicht, weil die Initiale doch zu wenig hergibt, um einen anständigen Befehlston hervor zu zaubern. S. weiß gar nicht, welche Namen sich hinter den einzelnen Initialen verbergen. Nur noch bei einem, T. IV, Talkes – war diesem am Anfang seiner Zeit rausgerutscht. Streng verboten natürlich, hätte ihm Ärger eingebracht, wäre es herausgekommen. Deswegen wohl auch diese Art von dankbaren Freundschaftsbekundungen, die wahrscheinlich gar keine Freundschaft darstellen – keine darstellen dürfen. Schließlich haben zu Beginn der Zeit hier alle nichts anderes geübt, als bei überraschend hervorgerufenen Reaktionen nicht mit dem eigenen Namen zu antworten. Allein wurde das selbstverständlich geübt, nur mit dem Ausbilder von einer anderen Gruppe. Und allein für sich sollen auch die Hirne mit all ihren Gefühlen bleiben.

Die Waffen dabei, was für eine Frage. “Jawohl, Major Z.!” Der Major sieht kurz zu ihm herüber – die Ironie im Aussprechen des Kürzels war unüberhörbar und zudem sitzt der Major als Vorgesetzter ausnahmsweise selbst am Steuer. S. hatte einen kleinen Moment mit der Antwort gezögert. Er kam ihm länger vor. Der Major schaut aber schon längst wieder auf den Fahrweg. Die Unebenheiten und eine Kurve haben die Antwort verzögert, denkt dieser wohl.

“Wissen Sie, wohin wir fahren, Leutnant?”

“Jawohl, Herr Major.”

“Wohin?”

“Zum Fliegerhorst!”

“Nein!”

S. schweigt.

“Doch, Sie haben Recht, aber nur bis zur Abzweigung nach Wuntlow; dann nehmen wir einen kleinen Umweg, müssen noch irgendwo unbemerkt parken.”

So viel Erfahrung hat S. schon gesammelt: Bei einem Auftrag in dieser Einheit geht es immer irgendwo hin, aber nur fast; und danach geht es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau woanders hin, bloß nicht mehr zu zweit. Und etwas weiteres hat S. bereits gelernt: Er muss immer kundtun, im Groben informiert zu sein – aber er darf niemals zu viel wissen.

S. spürt auf einmal Lust an seiner Aufgabe mitzukommen. Heute scheint es keine bloße Übung zu geben – heute wird richtig geübt. S. ist neugierig geworden. Und seine augenblickliche Ausgangsstellung macht ihm bewusst Spaß. Er kann dem Volk der DDR wieder einmal gehorsam und selbstständig zugleich dienen – in einem System, dessen humanistische Ader er leider noch nicht richtig erkannt hat (aber das liegt wahrscheinlich an ihm). S. dient an sich gerne – und gerne auch gehorsam, aber die Selbstständigkeit ist ihm ebenfalls wichtig. Denn: Wenn er allein ist, kann er für sich entscheiden, wie er am besten gehorsam oder so ähnlich dienen kann.

UNTERGRUND GEWINNEN

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