Читать книгу UNTERGRUND GEWINNEN - Peter Kessner - Страница 6
Micha 1
ОглавлениеEr war nicht einverstanden damit gewesen. So wurde die Versammlung dann auch nicht in seinem Café abgehalten. Jetzt sind sie ihm böse, seine Kollegen in diesem Teil der schönen Insel an der Ostsee. Er hat das Gegenteil von dem erreicht, was er immer wollte: allen alles recht zu machen, nie stark aufzufallen. Dabei ist er nach wie vor ihrer Meinung. Bloß der Ort, der Ort ihres Protestes sollte nicht sein Café sein. Schön, es hätte sich bestens geeignet, um diesem Neuen, diesem Fremden direkt gegenüber mit seinem riesigen, restaurierten Nobelschuppen zu zeigen, wo es hier lang geht. Dass sie es sich nicht gefallen lassen, zu Beginn der Saison die Urlauber mit Dumpingpreisen weglocken zu lassen. Alle wissen, wie so etwas endet. Wenn dann genügend ihre Häuser dicht machen mussten, ziehen die Preise wieder an; und zwar auf Westniveau, wenn nicht sogar noch höher.
Die Presse hatte sich schon angemeldet, sogar der Bürgermeister hatte Verständnis gezeigt – hatte nicht mehr nur auf vordergründig potente Geldgeber von außen geschielt. Aber Micha sagte Nein! Im letzten Moment. So war die Sache im Sande verlaufen.
Nun hat Micha es vor allem dem Neuen recht getan. Denn die Besucher des Ortes haben bisher von all den Diskussionen nichts mitbekommen. Die wohnen vorwiegend in den Hotels bei den Dünen, kommen hierher, in den alten Ortskern, nur für jeweils kurze Zeit. Würden sie sich überhaupt für die Aktion interessieren? Nächstes Jahr machen die sowieso ganz woanders Urlaub, denkt Micha. Gewonnen hat er durch die Geschichte einen schlechten Freund. Seine neue Sympathie hat der Fremde gleich am nächsten Morgen nach der geplatzten Versammlung gezeigt: “Wir zwei in dieser Straße müssen doch zusammenhalten!” Was er damit wohl meinte?
Micha steht im Gästeraum. Das Kännchen eben wäre ihm fast aus der Hand gerutscht. So unsicher ist Micha schon lange nicht mehr gewesen. Richtige Angst überfällt ihn manchmal. Hier echte Freunde zu gewinnen, ist in der für alle schwierigen Zeit nicht leicht. Ihm ist es inzwischen gelungen, und das, obwohl sein Erbe nicht unumstritten war. Noch über weite Strecken, seit er sich hier bewegt, ist gemunkelt worden, er gehöre gar nicht richtig zur Familie des Alten: sei nur der uneheliche, vielleicht sogar ein untergejubelter Sprössling – denn “offizielle” Kinder hatte der Alte in seiner doch recht langen Ehe gar keine gehabt. Jedoch: Andere, nicht einmal weiter entfernt verwandte Erben hatten sich nie gemeldet.
Was die Leute am Ort schließlich beruhigt hat: Der Alte war der einzige, der bis zur Wende auf eigene, wenn auch kleine Rechnung wirtschaften konnte. Von diesem Vertrauen zehrt auch Micha. Ansonsten ist ihm selbst nicht klar, warum gerade er gewinnend auf andere Menschen wirkt. Vielleicht liegt es daran, was eben eine Kölnerin am Tisch zu ihrem Mann sagte. “Zurückhaltend wie alle hier, aber angenehm – irgendwie gar kein Norddeutscher.” Micha muss lächeln. Einen Moment später spannen sich seine Nackenmuskeln, er wendet sich den anderen Gästen zu, die sein Café füllen. Er versucht locker zu sein, seine Hände zu entkrampfen. Innerlich macht sich ein wenig Ruhe breit. Die braucht er auch. Er will diesen Sommer nicht nur überleben, er will wieder mit den anderen gut auskommen.
Fühlt er sich eigentlich wohl an diesem Ort? Diese Frage schießt ihm auf einmal durch den Kopf. Als ob sie ganz neu wäre. Wohl, ja richtig wohl fühlt Micha sich am frühen Abend, das weiß er ganz sicher. Wenn er für kurze Zeit an den Strand kann, weil sein Café die erste große Aufmerksamkeit des Tages verliert. Wenn er die Schuhe auszieht. Den Sand spürt. Die immer noch heiße Sonne auf die Haut lässt. Dann bewundert Micha die Kinder, die sich hartnäckig weigern, ihre Spielsachen zu sammeln, weil es nach dem Willen der Eltern woanders hingehen soll. Für Micha ist dieses Verhalten geradezu exotisch. Geweigert hat er sich bei seinen Eltern – wie er meint – immer nur, indem er Anweisungen schnell und gut ausführte und dann seine Ruhe genoss, in Gedanken auf seinen Stern und Planeten ging.
Das ist es: Warum nur hat Micha nicht sein Café den Kollegen zur Verfügung gestellt? Er hatte Angst, dass danach nicht die Belohnung, die erwartete Ruhe eintreten würde. Dass er danach nicht mehr den nötigen Abstand halten und zugleich als liebenswert gelten könnte. Dass da keine heile Welt zum innerlich Abtauchen mehr bliebe. Dass da etwas nicht nach wenigen Tagen schon gegessen wäre. Diese Angst hatte Micha. Diese Angst hat er jetzt nicht mehr. Oder doch? Wird er die Kontrolle über die Dinge am Ort, soweit sie ihn betreffen, behalten? Jetzt würde er jedenfalls auf einmal gerne am Strand sein, und zwar sofort. Aber es ist erst sechzehn Uhr, beste Kaffeezeit.
Sybille kommt allein nicht mehr herum. Micha muss mit anpacken. Sybille ist die gute Seele im Haus, jedenfalls von Mittwoch bis Sonntag, immer nachmittags. Micha führt sein Tablett wieder mit sicherer Hand. Sybille war schon früher da, zur Zeit des Alten. Hat ihr damals wohl einige Nachteile gebracht. Andere Angebote hatte sie gehabt, eine Weile lang: Weg von dieser Insel, auf der auch heutzutage nur drei Monate im Jahr richtig was los ist. Könnte in Warnemünde oder sonst wo gelandet sein, die Sybille. Micha ist froh um sie.
Micha schneidet einen neuen Kuchen an. Zuckerstreusel bedecken ihn. Den mag er selbst. Die Äpfel drin sind umschlossen von einer Schicht cremigen Sahnepuddings, der mit gebacken wurde und eine leicht feste Konsistenz bekommen hat. Micha wagt nicht mehr zu naschen als den Krümel, der neben das Blech gefallen ist. Er schiebt drei schöne Stücke auf die bereit stehenden Teller. Micha: wieder ganz in seinem Element. Vergessen sind die trüben Gedanken von eben. Sybille ruft, sie brauche noch ein viertes davon. Bevor sie es holen kann – sie nimmt noch den Ruf nach einem weiteren Kaffee wahr, “aber bitte nur eine Tasse” –, hat Micha schon die betreffenden Gäste versorgt. Bald ist es sechs Uhr geworden. Die Stühle leeren sich, Sybille und Micha können selbst einen Schluck nehmen. Beide schauen sich an, sie lächelt, kurz.
Micha denkt an seinen Strand. Aber heute wird er nicht mehr hingehen. Nicht den steilen Hang hinuntergehen, den er der glatten Holztreppe vorzieht, deren Stufen die Schritte im stählernen Gerüst widerhallen lassen. Micha liebt es dagegen, den Schwung seiner Tritte direkt im Sand auslaufen zu lassen. Heute jedoch nicht. Ihm ist Anderes in den Sinn gekommen. Er spürt ein Prickeln auf der Haut, ist wieder ein wenig aufgeregt, aber diesmal macht ihn das nicht unglücklich – im Gegenteil. Warum nur hat er dieses Gefühl nicht schon viel eher entdeckt? Er will Sybille darauf ansprechen – später, wenn alles abgespült ist und wirklich Ruhe eingekehrt ist.