Читать книгу Lernlust. - Peter M. Endres - Страница 6
Erkenntnis 1:
Einzelkämpfertum ist gut.
Beziehungsfähigkeit und Gemeinsinn sind besser!
Оглавление■ ■ ■ Was wir wissen
Unser gegenwärtiges Leben wird bestimmt von regulierten und durchgeplanten Abläufen, von Vorschriften und klaren Anleitungen, von computergesteuerten Prozessen. Wer sich in dieser Welt zurechtfinden will, kommt ohne Planen, Regulieren, Kontrollieren nicht aus. Wie soll sonst der Verkehr in einer Großstadt reibungslos fließen, sollen aus Öl und Eisenerz Autos und Flugzeuge entstehen, soll ein Wolkenkratzer gebaut oder ein Organ verpflanzt werden? Unendlich viele einzelne Arbeitsschritte müssen gekonnt ineinandergreifen, präzise aufeinander abgestimmt werden, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Alles muss dafür nach »Plan« laufen – für Fehler und Abweichungen ist da kein Platz.
Freiräume kommen in dieser Logik nicht vor. Sie gefährden die Ablauforganisation und stören die Effizienz. Unser körperlicher »Bausatz« zeigt uns allerdings etwas anderes: Leben funktioniert nicht. Leben entwickelt und entfaltet sich. Zellverbände und Organismen werden nicht streng nach »Plan« gebaut, sie organisieren sich selbst. Das, was als Bauplan, als genetisches Programm vorgegeben zu sein scheint, ist weit weniger bestimmend für das, was am Ende herauskommt, und viel weniger, als wir uns gemeinhin vorstellen. Aus dem alltäglichen Umgang mit exakt steuerbaren technischen Abläufen heraus haben wir uns bisher verleiten lassen, zu glauben, dass auch das gesamte Leben einem Programm gehorchen müsse, dass sogar wir, sprich unsere Gesundheit, unsere Intelligenz, unser Verhalten, von genetischen Bauplänen determiniert seien.
Organisationen – ob in Schule, Wirtschaft oder Gemeinden – sind diesem mechanistischen Glauben ebenfalls verfallen. Man denkt in der Produktionslogik: Es gibt Güter, die angeliefert werden (Input), verarbeitet werden und zu einem Ergebnis führen (Output). Das Ergebnis ist plan- und messbar sowie überraschungsfrei.
Doch Menschen sind als sogenannte »offene Systeme« im ständigen Austausch mit ihrer jeweiligen Lebenswelt. Andauernd verändern sich die Bedingungen, und wir selbst führen durch jede Handlung wie auch durch jede Unterlassung Veränderungen herbei. Was daraus erwächst, ist weder planbar noch gezielt herstellbar, es organisiert sich aus sich selbst heraus und produziert Überraschungen.
Die nächste gute Nachricht: Unser Gehirn ist ein Musterbeispiel für das Prinzip dieser Selbstorganisation. Im Lauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung wurden die bewährten Strukturen und Funktionen der älteren Hirnregionen beibehalten und in die neuen Strukturen integriert. Im Zuge dieser Weiterentwicklung mit der Herausbildung des Neokortex (Großhirnrinde) ist unser Gehirn zu einem einzigartigen Organ geworden, das sich zeitlebens verändern und an seine Nutzung anpassen kann. Das oberste Gebot dieser Weiterentwicklung sind ganz offensichtlich die Bereitstellung einer maximalen Offenheit und das Zurückdrängen festgelegter Programmstrukturen, die eigentlich nur noch für »Notfälle« bereitgehalten werden.
Diejenige Hirnregion, in der sich während der frühen Kindheit ganz besonders intensive Nervenzellkontakte herausbilden und darauf warten, dass sie möglichst komplex benutzt und stabilisiert werden, ist beim Menschen die Hirnrinde, genauer gesagt: der Frontallappen. Die in dieser Region herausgeformten Verschaltungsmuster nutzen wir, wenn wir uns ein Bild von uns selbst und unserer Stellung in der Welt machen wollen (Selbstwirksamkeitskonzepte), wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Wahrnehmungen richten, Handlungen planen und die Folgen von Handlungen abschätzen (Motivation, Impulskontrolle), und wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen und Mitgefühl entwickeln (Empathiefähigkeit, soziale und emotionale Kompetenz).
Diese Fähigkeiten braucht jeder Mensch, der ein erfülltes Leben führen will – denn sie sorgen dafür, dass wir uns im Leben zurechtfinden, lernbereit, wissensdurstig und neugierig bleiben und mit anderen gemeinsam nach guten Lösungen suchen wollen.
Diese Fähigkeiten wollen alle Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben. Wir können es allerdings nicht oft genug wiederholen: Diese Fähigkeiten können nur durch eigene Erfahrungen anhand entsprechender Vorbilder herausgeformt und gefestigt werden. Und Erfahrungen lassen sich nicht unterrichten.
Eltern, Erzieher und Lehrer können Heranwachsende einladen, ermutigen und inspirieren, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, sich immer wieder neues Wissen und neue Fähigkeiten anzueignen, sich immer wieder auf neue Erfahrungen einzulassen. Ein Prozess, der nicht an der Schulpforte endet: Auch Unternehmen sind gefragt, diese schlummernden Potenziale in ihren Mitarbeitern zu entdecken, wenn sie erfolgreich sein wollen. Und was braucht es dazu? Freiräume zum eigenen Denken und Handeln. Und andere Menschen, die bereits über ein breites Spektrum an Erfahrungen verfügen und mit denen sie sich gerne austauschen, weil sie sich mit ihnen emotional verbunden fühlen. Solche Personen können nur Menschen sein, die ihre eigene Lust am Entdecken und Gestalten und an ihrer eigenen Weiterentwicklung noch nicht verloren haben.
Vor allem Heranwachsende brauchen möglichst vielfältige Gelegenheiten, um am eigenen Leib spüren zu können, wie es sich anfühlt, eine Herausforderung zu meistern, seine Ängste zu besiegen und mit Geduld und Ausdauer bei der Sache zu bleiben, Niederlagen zu ertragen und Fehler zu akzeptieren. Andererseits brauchen sie die Erfahrung, was es bedeutet – und wie sich das anfühlt –, gemeinsam mit anderen etwas zu entdecken und zu gestalten, füreinander einzustehen und besonders aufeinander Rücksicht zu nehmen.
Im Gehirn ist ein Belohnungsmechanismus für jede dieser positiven Erfahrungen eingebaut, da Wichtiges im Wortsinn »unter die Haut« geht. Es wird ein Gefühl ausgelöst, das mit einer körperlichen Reaktion einhergeht. Dabei kommt es zu einer Aktivierung der sogenannten emotionalen Zentren. Das sind Gruppen von Nervenzellen im Mittelhirn mit sehr langen und weitverzweigten Fortsätzen. Immer dann, wenn diese Zellen »feuern«, werden an den Enden dieser Fortsätze sogenannte neuroplastische Botenstoffe freigesetzt. Sie wirken auf nachgeschaltete Neuronenverbände bildlich ausgedrückt wie »Dünger«. Sie stimulieren dort die Herstellung von Eiweißen, die für das Auswachsen von Fortsätzen und die Neubildung und Festigung von Nervenzellverknüpfungen gebraucht werden. So werden alle jene Vernetzungen im Hirn verstärkt, ausgebaut und gefestigt, die für die erfolgreiche Bewältigung einer Herausforderung, für das Lösen eines Problems, für die Aneignung einer Fähigkeit oder die Verankerung neuen Wissens aktiviert worden sind.
Deshalb lernt man alles so leicht, schnell und nachhaltig, was einem wirklich wichtig ist. Und deshalb kann man sich Mühe geben und üben, so viel man will, ohne dass etwas hängen bleibt – wenn einen das, was man lernen will, nicht wirklich berührt.
Bestrafungen oder Belohnungen aktivieren ebenfalls die emotionalen Zentren – allerdings werden dabei vor allem Vernetzungen gestärkt, um Bestrafungen zu vermeiden oder Belohnungen zu bekommen. Anreizsysteme oder Incentives, wie sie in der Wirtschaft verbreitet sind, führen dazu, immer besser und geschickter Belohnungen einzuheimsen, nicht aber dazu, immer mehr Lust zu entwickeln, persönliches Wissen und Können zu verbessern.
Im Hintergrund schlummert nämlich folgende Logik. Wer immer wieder zu Hause, in der Schule oder im Berufsleben bestimmte Erfahrungen macht, entwickelt daraus eine bestimmte innere Einstellung. Solche Haltungen und Überzeugungen können günstig oder ungünstig für die weitere Entwicklung eines Menschen sein. Sie sind bestimmend für das, wofür sich der betreffende Mensch interessiert, sie lenken seine Wahrnehmung und bilden die Grundlage seiner Bewertungen und Entscheidungen.
Eine ungünstige innere Einstellung zum Lernen entwickelt niemand von allein. Sie ist immer das Ergebnis ungünstiger Erfahrungen. Für diese ist aber niemals ein Lernstoff verantwortlich, sondern immer ein anderer Mensch, manchmal ein bestimmter Lehrer, manchmal jemand zu Hause oder im Kindergarten, und sehr oft auch jemand aus der sogenannten Peergroup.
Erst wenn Jugendliche erleben, dass sie für dieses Zusammenleben und diese Gestaltung unserer Zukunft wirklich gebraucht werden, können sie auch erfahren, dass ihnen das umso besser gelingt, je mehr sie wissen und können.
Soziales Engagement ist daher keine verzichtbare Nebenbeschäftigung für junge Menschen, sondern die entscheidende Voraussetzung für den Erwerb sozialer Kompetenzen, denn die wichtigsten Erfahrungen machen wir im Zusammenleben mit anderen. Vor allem immer dann, wenn wir gemeinsam mit anderen auf Entdeckungsreise gehen und gemeinsam etwas gestalten, was über das hinausgeht, was man als einzelner Mensch zu bewerkstelligen imstande ist.
Je unterschiedlicher die einzelnen Personen mit all den Erfahrungen sind, die sie bisher in ihrem Leben gemacht haben, desto bedeutsamer, ausgewogener, komplexer, innovativer und nachhaltiger wird das, was dieses Team in einer gemeinsamen Anstrengung zu vollbringen imstande ist.
Damit jemand aber gemeinsam mit anderen, sehr unterschiedlichen Menschen nach innovativen und nachhaltigen Lösungen für bestimmte Probleme suchen kann, müsste die betreffende Person in der Lage sein, mit diesen anderen eine vertrauensvolle und konstruktive Beziehung aufzubauen. Sie müsste den Nutzen gemeinsamer Anstrengung erfahren. Nur dann kann sich das herausbilden, was wir Gemeinsinn nennen.
■ ■ ■ Darüber müssen wir reden
Endres: Wenn wir morgens zur Arbeit gehen, reisen wir nicht zum Mars. Wir sind noch auf dieser Welt – und die funktioniert in Sachen Beziehung genauso wie zu Hause. Egal, ob ich mit meiner Frau und den Kindern rede oder mit einem Mitarbeiter – ich versuche immer, eine stabile Beziehung aufzubauen. Und wenn Sie von Ihren Familienmitgliedern erwarten, dass sie offen und ehrlich zu Ihnen sind, dann sollten Sie das von Ihren Kolleginnen und Kollegen auch erwarten. Es wäre aus meiner Sicht ein grober Fehler, zu glauben, dass in einer Firma andere Gesetze gelten als im Rest der Welt.
Hüther: Die Vorstellung, dass es im Leben auf Wissen und Qualifikationen ankomme, nicht aber auf gute Beziehungen, ist aber immer noch verbreitet.
Endres: Es gibt jede Form von Missmanagement – diese natürlich auch. Aber wenn wir uns an den Guten orientieren, dann muss man konstatieren, dass diese in Beziehungen investieren – mit allen Gefühlen, die dazugehören.
Hüther: Noch bis vor Kurzem waren maßgebliche Leute fest davon überzeugt, dass es primär auf die kognitiven Leistungen des Menschen ankomme. Aus dieser Zeit stammt auch der immer noch weitverbreitete Glaube an die Wichtigkeit des Intellekts. Immer noch gehen viele davon aus, dass etwa ein Intelligenztest etwas über die Eignung von Menschen auszusagen imstande ist. Dabei misst er doch nichts weiter als die Fähigkeit, in bestimmten Situationen bestimmte analytische Lösungen zu finden. In Beziehungen zu investieren heißt, die Bedeutung von Gefühlen wiederzuentdecken, die ja lange Zeit als störend betrachtet wurden. Selbst die Wissenschaft hat versucht, Gefühle als steinzeitliches Erbe zu stigmatisieren.
Endres: Aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbar.
Hüther: Gefühle sind unentbehrlich, weil sie unseren Wahrnehmungen eine Wertigkeit, also Gewicht und Bedeutung, verleihen. Wir bewegen uns ja in einem ständigen Strom von Sinneseindrücken, die an uns vorbeirauschen würden, wenn es nicht Gefühle gäbe, die daraus einzelne Ereignisse herausfiltern und bedeutsam machen. Rosenliebhaber werden sich beim Gang durch den Garten den Rosen zuwenden, ein anderer, der gerne kocht, vielleicht dem Kräutergärtchen – wir brauchen unsere Gefühle, um für uns Wichtiges und Unwichtiges erfahren und voneinander unterscheiden zu können.
Endres: Wir versuchen deshalb, auch Themen, die für die Mitarbeiter von Bedeutung sind, immer stärker mit emotionalen Erlebnissen zu verbinden – egal, ob es sich dabei um Fehler oder Erfolge handelt.
Hüther: Dass es nur so funktionieren kann, haben die Hirnforscher inzwischen auch herausgefunden. Sie nennen es emotionale Aufladung. Und die funktioniert von Kindesbeinen an: Ein Kind lernt das Sprechen nicht deshalb, weil ihm die Mutter immer wieder Mama oder Apfel vorplappert, sondern es lernt diese Worte dann, wenn sie emotional aufgeladen werden. Was das Kind also lernt, ist eine Lautgestalt, die mit einem Gefühl verknüpft ist – mit dem Duft, dem Geschmack, der glatten Haut und allen anderen Eigenschaften eines Apfels. So wird ein Wort nach dem anderen gelernt, angehängt an ein damit einhergehendes, wunderbares Gefühl. Als Erwachsene können wir dann neutral den Begriff Apfel verwenden, ohne dass uns wieder dieses alte Gefühl überkommt. Bei Mama geht das nie so ganz. In den Schützengräben finden Soldaten, die schon lange nicht mehr Mama gesagt hatten, manchmal wieder zu diesem Gefühl zurück. Zu Mama, der emotional aufgeladenen Lautgestalt, die in der Not immer helfen konnte.
Endres: Diese emotionale Aufladung bringe ich immer mit dem 11. September 2001 in Verbindung. Es gibt wohl kaum jemanden, der sich nicht erinnern kann, wo er an diesem Datum war. Ich habe dazu ein sehr klares Bild im Kopf.
Hüther: Wobei das auch darauf zurückzuführen ist, dass wir uns alle daran erinnern, weil uns das kollektive Erlebnis emotional verbindet.
Endres: Aber Sie wissen dennoch auch, wo Sie waren?
Hüther: Ja, natürlich. Wenn Sie mich aber fragen, woran ich mich in meinem Leben am besten erinnern kann, dann sind das nicht so sehr irgendwelche äußeren Ereignisse. Dann sind das eher Erlebnisse, die ich mit anderen Menschen hatte und die einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
Endres: Ist es auch das, was Sie in der Beziehung mit anderen Menschen leitet, einen Eindruck zu hinterlassen?
Hüther: Das kann ein Ergebnis sein, ist aber nicht mein Ziel. Ich freue mich, wenn ich erleben darf, wie sich ein Mensch, mit dem mich etwas verbindet, weiterentwickelt. Umgekehrt leide ich mit, wenn ich mit Menschen zusammen bin, die Angst haben, sich auf etwas Neues einzulassen, die lieber so bleiben wollen, wie sie sind. Deshalb macht es mir besondere Freude, dazu beizutragen, in anderen diesen Wachstumsimpuls wieder zu wecken.
Endres: Da kann ich Ihnen zustimmen. Aber ich habe noch viele andere Aspekte, die mich leiten, Prinzipien, wenn Sie wollen. Zum Beispiel: Ich kommuniziere offen – was ich auch von anderen erwarte. Ich akzeptiere, dass der andere weder besser noch schlechter ist, sondern einfach nur anders, und deshalb können wir gleichberechtigt miteinander umgehen. Aber dabei endet es nicht. Es gibt noch viele andere Aspekte, die meine Beziehungen zu anderen implizit prägen.
Hüther: Vielleicht ist es schon ein guter Maßstab, wenn wir das ärztliche Handlungsprinzip zugrunde legen würden, dass man mit der Behandlung dem Patienten möglichst nicht schaden sollte. Glauben Sie, dass das in allen Köpfen schon verankert ist?
Endres: Nein, das glaube ich nicht. Nach meiner Wahrnehmung geht es immer noch stärker darum, wie ich schneller oder besser ans Ziel komme, als darum, wie ich dabei niemandem Schaden zufüge. Die Welt tickt zu sehr in Egoismen. In Unternehmen heißt das Spiel ab einer gewissen Managementhöhe dann Politik: Netzwerke für seine Themen aufbauen und aktivieren, damit eine Entscheidung am Ende in meinem Sinne mehrheitsfähig ist. In diese Spielchen wird enorm Zeit investiert – einer der Gründe, warum ich Kodak verlassen habe – trotz des herausragenden Rufs der Firma zur damaligen Zeit. Einen zu großen Teil meines Arbeitstages habe ich damals damit verbracht, meine Ziele auf diese Weise zu erreichen. Vollkommen unproduktiv: Ich hasse Zeitverschwendung, die für das Strippenziehen und den Aufbau von Seilschaften draufgeht.
Hüther: Und jetzt wollen Sie mir weismachen, dass es das bei Ihnen nicht gibt? Dass Sie Ihre Mitarbeiter nicht für das Erreichen Ihrer Ziele benutzen und sie zu Objekten Ihrer Maßnahmen machen?
Endres: Nein, aber es ist zumindest nicht die dominierende Verhaltensweise. Politische Machtspiele bestimmen nicht unser Handeln. Und das macht uns produktiver.
Hüther: Wie haben Sie das geschafft?
Endres: Ich hasse es und mache es nicht. Das sage und lebe ich deutlich. Und das Vorbild scheint zu helfen.
Hüther: Klingt sehr einfach. Aber ich kann mir vorstellen, dass es sehr schwierig wird, Ihre Vorstellung von Beziehungskultur zu etablieren, wenn es eine starke Gruppe gibt, die exakt diese politischen Netzwerke bevorzugt.
Endres: Ja, stimmt. Allerdings ist offene und ehrliche Kommunikation eine wichtige Grundlage, die politische Spielchen eher verhindert als fördert – wenn offen und ehrlich zu sein nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben. Wenn Sie genau zuhören und hinschauen, werden Sie schnell herausfinden, wo so etwas entsteht – und sofort intervenieren.
Hüther: Klingt anstrengend.
Endres: Ich finde es nicht anstrengend, weil ich von dem Ziel besessen bin, dass es sich zum Besseren ändert. Schließlich profitieren alle davon, wenn mir das gelingt: Die Produktivität steigt und jeder Einzelne gewinnt Zeit. Aber verhindern kann auch ich es nicht vollständig. Wo Menschen arbeiten, sind Eitelkeiten und Egoismen an der Tagesordnung.
Hüther: Egal, ob als Führungskraft, Lehrer oder Bürgermeister, man hat immer die Wahl, Menschen entweder so oder so zu behandeln: entweder als Objekt oder als Subjekt. Es gibt wohl wenig, was so demütigend ist, wie als Objekt behandelt zu werden. Aber ich fürchte, dass uns das sehr viel häufiger passiert, als uns lieb sein kann. Wir betrachten Menschen allzu leicht in Bezug auf ihre Verwertbarkeit, ihre Nutzbarkeit. Viele Unternehmen nennen ihre Personalabteilungen deshalb ja Human Resources Department – da wird über Sprache deutlich, welches Bild die von ihren Mitarbeitern haben.
Endres: Wobei »Personalabteilung« auch nicht die höchste Stufe der Wertschätzung ausdrückt – schließlich gibt es heute keine Herrschaften mehr, die Personal beschäftigen. Aber ich gestehe, dass wir etwa mit unserem Versuch, die Abteilung in Mitarbeiterabteilung umzubenennen, grandios gescheitert sind. Das konnte sich einfach nicht durchsetzen. Trotz des schlechten Namens arbeitet unsere Personalabteilung hervorragend.
Hüther: Wahrscheinlich deshalb, weil denen die Mitarbeiter wichtig sind und sie sich nicht mehr als Verwalter von Personal verstehen. Es ist ungünstig, wenn Menschen zu Objekten irgendwelcher Maßnahmen gemacht werden. Aber wer das will, müsste eine Haltung entwickeln, die es ihm ermöglicht, sich auf die Begegnung mit einem anderen Menschen einzulassen.
Endres: Und was braucht es dazu?
Hüther: Die Antwort klingt einfach und ist in der Umsetzung doch unendlich schwer: Sie gewinnen diese Haltung, wenn Sie im Laufe Ihres Lebens die Erfahrung machen durften, dass es gut ist, wenn Sie sich auf eine Begegnung einlassen. Deshalb braucht jeder Mensch ein reichhaltiges Spektrum an Möglichkeiten, anderen Menschen zu begegnen. Und diese anderen Menschen dürfen nicht alle gleich sein. Wenn ich nur Gleichaltrigen begegne, dann lerne ich nur mit und von Gleichaltrigen. Und auch das Verhalten der eigenen Eltern allein ist viel zu wenig reichhaltig, zu eindimensional. Wenn wir aber die Chance haben, möglichst vielen unterschiedlichen Menschen zu begegnen und von ihnen zu lernen, dann entsteht am Ende aus diesem breiten Spektrum eine Fähigkeit, die wir als psychosoziale Kompetenz bezeichnen. Menschen mit dieser Kompetenz wissen, wie bereichernd es ist, sich immer wieder mit Menschen auszutauschen, die über andere Erfahrungen verfügen als sie selbst, die etwas anderes erlebt haben, die andere Fähigkeiten ausgebildet haben.
Endres: Ich sehe es eigentlich so: Wir sind unbedingt darauf angewiesen, diese psychosoziale Kompetenz auszubilden. Wir können doch nicht darauf setzen, dass wir alle Erfahrungen selbst machen können.
Hüther: Exakt. Wir sind davon abhängig, Erfahrungen von anderen Menschen zu übernehmen oder uns anzueignen. Aus neurobiologischer Perspektive ist das die Schlüsselqualifikation, die man als Mensch braucht, um Mensch zu werden.
Endres: Wir reden über eine positive Spirale: Gute Erfahrungen lassen psychosoziale Kompetenz entstehen, die wiederum dazu führt, dass ich dies in die Welt hinaustrage. Weil es mich bereichert hat, weil es für mich wertvoll war. Was ist mit Menschen, die am Anfang negative Erfahrungen machen?
Hüther: Keine Erfahrungen wiegen noch schwerer als negative. Zu vielen Jugendlichen bleibt heutzutage die Erfahrung verwehrt, mit anderen Menschen als ihren Eltern oder Gleichaltrigen in eine enge Austauschbeziehung zu kommen. Solche Kinder lernen nur, einigermaßen mit ihren Eltern und Lehrern zurechtzukommen. Sowie mit Gleichaltrigen, in Kindergärten, Schulen und Peergroups.
Endres: Für jemanden wie mich, der in einer Geschwistergruppe aufwuchs und sich nur mit einem bunten Beziehungsnetz wirklich lebendig fühlt, ist das ein apokalyptisches Szenario.
Hüther: Es ist in der Tat beängstigend. Aber das erklärt, warum es in Ihrem Unternehmen junge Mitarbeiter geben wird, die schlicht nicht in der Lage sind, mit einem älteren Mitarbeiter eine Beziehung aufzubauen. Nur so ist aber die Weitergabe von Wissen und Können zu gewährleisten. Dieses Defizit zeigt sich in Unternehmen in besonders dramatischer Form. In der Schule hemmt es den Wissenstransfer genauso wie an der Universität. Und die Lösung ist nicht, die beiden Altersgruppen einfach zusammenzubringen. Vielmehr müsste für die Jüngeren ein Erlebnisraum geschaffen werden, in dem mehrgenerationale Begegnungen und die Weitergabe von Erfahrungen ermöglicht und als positiv erlebt werden.
Endres: Das ist das, was Sie mit altersgemischten Klassen meinen. Klingt plausibel, aber entsteht nicht ein ähnlicher Effekt, weil in vielen Schulen Kinder aus unterschiedlichsten Ländern miteinander lernen?
Hüther: Wenn sie gleich alt sind, dauert es nicht sehr lange, bis sie alles untereinander ausgetauscht haben, was sie für wichtig halten. Menschliches Leben vollzieht sich aber in Altersstufen. Und wenn gleichaltrige Menschen aus unterschiedlichen Ländern zusammenkommen und voneinander lernen, ist das ein guter Ansatz – aber immer noch zu wenig.
Endres: Wie ich Sie kenne, haben Sie auch Belege für Ihre Aussagen.
Hüther: Ja, das lässt sich aus den Befunden der Hirnforschung unmittelbar ableiten. Menschen, denen die positive Erfahrung fehlt, mit einer fremden oder einer älteren Person in einen konstruktiven Prozess zu kommen, aktivieren bei einer solchen Begegnung nicht ihr Lustzentrum im Hirn, sondern das Angstzentrum. Das ist ihnen fremd, davor haben sie Angst. Umgekehrt wird bei denjenigen, die positive Erfahrungen in solchen Begegnungen gemacht haben, das Lustzentrum aktiviert. Die Folge sind zwei diametral entgegengesetzte Verhaltensmuster: Der eine lässt andere Menschen links liegen und sieht zu, dass er Abstand halten kann, der andere geht auf solche Personen zu und verbindet sich mit ihnen. Und jetzt dürfen Sie raten, wer wohl das reichhaltigere und komplexer vernetzte Hirn entwickeln wird?
Endres: Ich liebe rhetorische Fragen. Im Ernst, wir versuchen, altersgemischte Teams in Mentoring-Programmen zu realisieren.
Hüther: Das ist der richtige Ansatz. Dort stellen die jungen Menschen nämlich fest, dass es neben Eltern und Gleichaltrigen jemanden gibt, der anders ist, anders denkt und handelt als sie, der sie ernst nimmt und mit dem sie sich austauschen können. Das stellt nicht nur den Schlüssel für den Erwerb psychosozialer Kompetenz dar, sondern kann sogar als Schutz dienen.
Endres: Inwiefern?
Hüther: Wir lehnen meistens diejenigen Menschen ab, die besonders negative Erfahrungen gemacht haben. Wenn ich einen Menschen ablehne und aus dessen Erfahrung nicht lerne, bin ich gezwungen, diese unangenehme Erfahrung möglicherweise selbst machen zu müssen. Doch unsere Schulen schotten sich systematisch gegen solche breiten Beziehungserfahrungen ab. Dort müsste es altersgemischte Gruppen geben, die Schulen müssten sich fürs pralle Leben öffnen. Und schließlich müssten auch andere Menschen als Lehrer in die Schule eingeladen werden, um ihre Erfahrungen dort einbringen zu können.
Endres: Das ist mir ein wenig zu einfach. Was ist mit Kollegen, zu denen ich einfach keinen Draht finde? Sie lehne ich nicht wegen ihrer Erfahrungen ab, die ich nicht mit ihnen teilen will, sondern weil ich einfach Probleme mit ihnen habe. Dann muss ich meines Erachtens in der Lage sein, mich selbst zu beobachten und dieses Verhalten zu hinterfragen.
Hüther: Vielleicht gelingt es Ihnen aber auch, herauszufinden, ob es nicht doch eine Eigenschaft des Gegenübers gibt, die Sie liebenswert oder gar bewundernswert finden. Glauben Sie mir, jeder, der bisher bereit war, sich auf diese Betrachtungsweise einzulassen, hat am Ende etwas gefunden. So kann ein Lehrer, den ein Schüler zur Weißglut bringt, auch zum Schatzsucher werden, und dann entdeckt er in diesem Schüler meist auch etwas, was er vorher nicht sehen konnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie jemanden als Objekt behandeln, schrumpft augenblicklich gegen null. Anders ausgedrückt: Sie haben jetzt eine Beziehung aufgebaut, Sie sind einander begegnet.
Endres: Dennoch gibt es Fälle, in denen nichts mehr hilft. Wenn etwa Werte oder Prinzipien grob verletzt werden, an die sich sonst alle halten, darf man auch vor einer Trennung nicht zurückschrecken. Im Übrigen halte ich – ganz trivial – das persönliche Gespräch für das beste Instrument, um solche Themen zu klären. Wir haben das etwa in der Familie früh geprobt: Was finde ich gut an Papa und Mama und was regt mich auf? Dann löst sich einiges auf. Im Unternehmen steht einem solchen Gespräch oft der Druck des Tagesgeschäfts im Weg. Dann hilft nur eins: das institutionalisierte Mitarbeitergespräch. Dabei haben die Mitarbeiter die Gelegenheit, mit dem Vorgesetzten Themen zu besprechen, die sie ärgern, sie bedrücken oder für die sie keine Lösung haben. Meine praktische Erfahrung ist, dass allein dieses Gespräch schon vieles auflöst, was vermeintlich zwischen den zwei Personen steht.
Hüther: Es darf sich aber nicht nur auf den engen betrieblichen Zusammenhang beziehen, sondern in dem Gespräch muss auch Raum für den Menschen sein.
Endres: Richtig, ich spreche mit der Person, nicht mit dem Funktionsträger.
Hüther: Nicht mit einem Objekt, sondern dem Subjekt.
Endres: Voraussetzung ist allerdings, dass Sie ehrlich daran interessiert sind, was Ihnen Ihr Gegenüber erzählen will. Nicht nur das Gefühl vermitteln, Sie seien interessiert, sondern es wirklich sein. Wenn Sie etwas vortäuschen, werden Sie exakt das Gegenteil von dem erreichen, was Sie wollten: Demütigung. Gerade wenn Sie mit jüngeren Kollegen eine Beziehung aufbauen, ist es ganz wichtig, dass Sie sich in deren Welt begeben. Das merke ich jedes Mal, wenn ich im Rahmen des Mentoring-Programms mit einem meiner Schützlinge, den sogenannten Mentees, zusammentreffe.
Hüther: Menschen haben seit Anbeginn versucht, ihr Wissen im Sinne dieser Mentoring-Programme an die nächste Generation weiterzugeben. Die Aborigines in Australien memorieren bis heute in Gesängen die Geschichte oder das Siedlungsgebiet des Stammes. Unser Versuch, Ausbildungsgänge effektiver zu machen, hat dazu geführt, dass wir nur noch darum bemüht sind, möglichst viel Wissen an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Wir berauben sie aber der Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu machen, die außerhalb des Lehrplans angesiedelt sind. Dass jetzt wieder versucht wird, mit solchen Mentoring-Programmen dieses Defizit in Schulen und auch in Kommunen zu überwinden, ist ein Zeichen dafür, dass wir anfangen, zu begreifen: Es geht uns dabei zu viel verloren.
Endres: Zumindest in Unternehmen funktioniert dieser Ansatz wirklich gut. Die Mentees profitieren von meiner Erfahrung und Vernetzung im Unternehmen. Umgekehrt lerne ich erfahrungsgemäß bei jedem Mentoren-Gespräch dazu. Spannend ist für mich vor allem, zu erfahren, wie etwa ein 30-Jähriger auf ein Thema blickt, zu dem ich mir eine Meinung gebildet habe. Nicht selten revidiere ich sie danach. Dieser andere Blickwinkel erweitert meinen Horizont. Ich habe Kollegen, die sind imstande, ein Thema von allen Seiten zu betrachten, einen 360-Grad-Blick einzunehmen. Eine Fähigkeit, die dann wiederum mit dem Team geteilt wird, das so von diesem Können profitiert.
Hüther: Mentoring-Programme sind gut, wenn sie den Mentee zur eigenen Kraft führen. Faszinierend wird es dann, wenn diese Hierarchie zwischen Mentee und Mentor aufgehoben wird – das ist dann das, was mit einer Begegnung auf Augenhöhe gemeint ist. In menschlichen Gemeinschaften geschieht das immer dann, wenn es ein gemeinsames Ziel gibt. Nicht erziehen, belehren, coachen oder begleiten ist das Ziel, sondern die Vollendung eines gemeinsamen Werkes. Beispiel: Opa und Enkelsohn basteln gemeinsam – und das Ergebnis ist mit Sicherheit beeindruckender, als wenn sich beide allein darangemacht hätten. In dieser Situation sind die beiden durch einen gemeinsamen Sinn, nämlich etwas gemeinsam in die Welt zu bringen, miteinander verbunden. Deshalb heißt das ja auch Gemeinsinn.
Endres: Etwas pragmatischer ausgedrückt: vom Einzelkämpfer zum Gemeinsinn mit einem gemeinsamen Ziel.
Hüther: Richtig – und unser Gehirn arbeitet ja genau so. Es wäre doch katastrophal, wenn sich meine Amygdala mit dem Hippocampus darüber streiten würde, wer Mentee und Mentor ist. Je mehr Verbindungen im Hirn existieren, desto komplexer kann das Werk werden, das der Mensch mit diesem hochvernetzten Gehirn zustande bringt.
Endres: Wenn ich Sie richtig verstehe, hat unser Hirn damit auch die Lösung für die Grenzen des Wachstums vorgegeben. Nicht immer stärker wachsen, sondern sich immer besser vernetzen ist der Erfolg versprechende Ansatz.
Hüther: Genau. Das Hirn wächst nicht dadurch, dass immer mehr Nervenzellen entstehen, sondern durch die Intensivierungen der Beziehungen zwischen den Nervenzellen, der Konnektivität, wie wir das nennen. Das Faszinierende: Diese Beziehungsintensität im Hirn können Sie nahezu endlos steigern und wachsen lassen – bis ins hohe Alter. Und diese Verbesserung der Beziehungen ist überdies noch energiesparend. Also erzeugt einen Zustand, den das Hirn herbeiführen möchte. Denn derjenige, der nur wenige Autobahnen in seinem Hirn hat, verbraucht mehr Energie als jemand, der über ein reichhaltiges Netzwerk verfügt, mit dessen Hilfe er in unterschiedlichsten Lebenssituationen die optimale Lösung findet.
Endres: Das ist für mich in einer Zweierbeziehung noch denkbar. Ziemlich schwierig wird das, wenn ich Tausender- oder Zehntausenderbeziehungen managen muss.
Hüther: Im Gehirn gibt es diese Beziehungen milliardenfach.
Endres: Aber immerhin an einem Ort und planmäßig verdrahtet. Im Unternehmen sind Tausende nicht am selben Ort und auch nicht planmäßig verdrahtet. Da ist die Herausforderung schon ein wenig größer. Es existieren zudem Hierarchien, die eine Vernetzung ebenfalls nicht erleichtern. Und schließlich wird in der Schule die Konnektivität auch nicht gefördert. Dort sind in der Regel immer noch Einzelkämpfer gefragt: Meine Klausur schreibe ich alleine – und wenn ich meinem Nachbarn helfe, werden wir beide dafür bestraft.
Hüther: Genau. Und solchen Schülern fehlt dann auch die Fähigkeit, in Teams mit anderen zusammenzuarbeiten und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Endres: Und zwar aus freien Stücken, weil sie erkannt haben, dass eine solche Lösung deutlich besser für alle ist.
Hüther: Das sehe ich auch so. In menschlichen Gemeinschaften gibt es eine Art von Verbundenheit, die auf Druck von außen erzeugt wird. So bilden sich Not-, Zwangs- und Zweckgemeinschaften. Das Interessante: Wenn sie ihr Ziel erreicht haben, fallen sie auseinander. Wenn die Oder-Flut vorbei ist, braucht es keine Solidarität mehr, wenn der Diktator vertrieben ist, braucht es keinen Widerstand mehr. Dauerhafter wirkt ein inneres Band, das eine Gemeinschaft verbindet und auch dann noch hält, wenn der äußere Druck weg ist. Wir sprechen hier von Kohärenz. Was können solche Bänder sein? Rituale, eine gemeinsame Identität, eine gemeinsame Marke, eine gemeinsam getragene Kultur. Und es muss Geschichtenerzähler geben, es muss Kümmerer geben und Clowns, die mit Humor das Ganze zusammenhalten. Das gilt für Familien, Schulen und Gemeinden genauso wie für Unternehmen. Und wenn Firmen das erreichen, dann ist dieser Zusammenhalt wirklich stabil und unabhängig von augenblicklichen wirtschaftlichen Gegebenheiten.
Endres: In der Regel sind Unternehmen und Schulen heute Zweckgemeinschaften – die sich durch entsprechende Gestaltung des äußeren Rahmens und des Umgangs miteinander zu Wunschgemeinschaften mit gemeinsamen Zielen entwickeln können.
Hüther: Aber nur durch die Erfahrung, dass es wunderbar ist, gemeinschaftlich etwas zu gestalten. Und zwar im positiven Sinn: Nicht um der Not zu entkommen oder dem Lehrer zu zeigen, dass auch Schüler Macht besitzen. Sondern um die in den Schülern angelegten Talente und Begabungen wirklich und deutlich zur Entfaltung zu bringen.
Endres: Um Erfahrungen zu machen, die unter die Haut gehen und uns dann unser Leben lang begleiten.
■ ■ ■ Was wir behaupten
■ ■ ■ … und wie kann man Beziehungsfähigkeit und Gemeinsinn in der Bildungspraxis fördern?
Gemeinsam etwas zu erreichen, wird in Schulen durch Projektarbeit gefördert. Der systematische Aufbau von Kontakten wie das Entwickeln von Netzwerken wird indes selten gefördert. Ein gelungenes Beispiel, wie sehr die eigene Begeisterung andere anzustecken vermag, ist buddY e. V. Die Initiative verwirklicht den pädagogischen Ansatz der Peergroup-Education. Demnach beeinflussen Kinder und Jugendliche einander, lernen voneinander und profitieren gegenseitig von ihren Erfahrungen: Gleichgesinnte helfen sich gegenseitig. Unter dem Motto »Aufeinander achten. Füreinander da sein. Miteinander lernen« übernehmen die Kumpel (oder englisch buddys) Patenschaften für jüngere Mitschüler. Sie helfen in dieser Funktion anderen beim Lernen, sie setzen sich als Streitschlichter ein und sind Ansprechpartner bei Problemen. Die Lehrer profitieren von diesem Programm, da die Schüler ihre Aufgaben und Probleme eigenständig untereinander lösen. An Schulen, an denen das Programm durchgeführt wird, entsteht so eine konstruktive, offene und rücksichtsvolle Schulkultur.
In Grundlagentrainings bereitet die Initiative die Lehrer auf ihre neue Rolle als Coach vor. Sie werden beim Aufbau von Praxisprojekten an ihren Schulen unterstützt. Die Lehrkräfte tragen die buddY-Idee zu ihren Schülern und geben den Anstoß dazu, Praxisprojekte umzusetzen. Durch dieses Rollenverständnis fördert das buddY-Programm eine Lernkultur, die sich an den Bedürfnissen der Schüler orientiert. »Wir wollen, dass Schüler die Erfahrung machen können, mit dem eigenen Können und Engagement etwas zu bewirken – diese Selbstwirksamkeit ist grundlegend für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls«, ist Roman Rüdiger, geschäftsführender Vorstand von buddY, überzeugt. Schüler fühlen sich durch ihre Aufgaben als buddYs gebraucht und sehen, dass ihr Verhalten eine positive Wirkung hat.
Da sich das Programm flexibel an die Bedingungen der einzelnen Schulen und existierenden Programme anpasst und damit keine Konkurrenz zu bestehenden Projekten darstellt, ist buddY äußerst erfolgreich: Insgesamt beteiligen sich bundesweit in Landes- und Regionalprogrammen inzwischen rund 1000 Schulen am buddY-Programm.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr ein kleiner Eingriff in den üblichen Lehrplan imstande ist, die Beziehungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen, ist Klasse in Sport – insbesondere wenn es um gemeinsame Bewegung geht. Gegenwärtig sind etwa 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen übergewichtig, acht Prozent gelten als fettsüchtig. Langjährige Untersuchungen der Deutschen Sporthochschule Köln haben zudem ergeben, dass durchschnittlich 15 Prozent der Kinder bei der Einschulung zu dick sind, nach dem vierten Schuljahr sind es 26 Prozent. Tendenz steigend.
Der Schlüssel zur Vermeidung dieser Entwicklungsstörung liegt in der täglichen Bewegung der Kinder. Bewegungsmangel – oder besser fehlende Bewegungsförderung – in der relevanten Phase des Heranwachsens ist die entscheidende Komponente. »Den Kindern muss spätestens durch den Schulsport der Spaß am Sport und an der Bewegung ganz allgemein vermittelt werden«, fordert Wilfried Pastors, Erster Vorsitzender von Klasse in Sport e. V. Denn daraus resultieren verbesserte motorische Fähigkeiten und ein verbessertes Körpergefühl. Und es kann eine Welle entstehen: Spaß am Schulsport motiviert, zusätzlichen Sport auf Vereins- oder Freizeitebene zu betreiben und Bewegung auch später im Jugend- und Erwachsenenalter als Bedarf des täglichen Lebens zu betrachten.
Wie buddY auf Beziehungsfähigkeit und Gemeinsinn einzahlt, erfahren Sie hier.