Читать книгу Sandors Figurenspiel - Peter Maibach - Страница 5
ОглавлениеKapitel 3
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Es war bereits kühl für die Jahreszeit. Es würde erneut ein harter Winter werden, sagten die Wetterfrösche der Zeitungen voraus. Der Regen hatte endlich aufgegeben, aber der Tag blieb grau und verhangen. Hans Sarbach, mein bester Freund aus der Schulzeit in Villerach, hatte mich am Bahnhof in Sendingen abgeholt. Nach Villerach führte nur eine Buslinie, zwei-, dreimal täglich für die Ausflügler. Hans war der Sohn des Lindenwirts und würde wie alle erstgeborenen männlichen Sarbachs eines Tages die Linde übernehmen. Jetzt stand er in Vaters Küche und arbeitete sich langsam zum lokalen Kochgenie hoch, während sein alter Herr in der Gaststube mit den Einheimischen soff und versuchte, den jungen Serviertöchtern an die Wäsche zu gehen.
«Er wird langsam zur Plage, er verdirbt es uns mit der auswärtigen, besseren Kundschaft, und hier oben noch gutes Personal zu finden, wird immer schwieriger. Aber allein von den Einheimischen können wir nicht leben», klagte Hans auf der Fahrt hinauf ins Bergdorf.
Ich schwieg. Vor wenigen Stunden hatte mich sein Telegramm an der Universität erreicht. Eine Dame aus dem Sekretariat war mit einem kalten Lufthauch in den Hörsaal gestürmt, hatte mit dem irritierten Professor getuschelt und mir dann mit ein paar heiser geflüsterten Worten einen Zettel hingeschoben. Ich war wie gelähmt, als ich las, dass Grossvater in seinem 82. Lebensjahr ebenso ruhig wie sanft in eine bessere Welt hinübergewechselt war, wie Hans mitfühlend telegrafiert hatte. Der Professor klopfte energisch auf sein Pult, um dem Getuschel im Saal ein Ende zu bereiten. «Respekt, meine Damen und Herren, Respekt. Unser junger Freund Sandor Lendel hat einen schweren Verlust erlitten. Wir erheben uns, während er das Auditorium verlässt, und ehren so seinen soeben verstorbenen Grossvater, den hoch geschätzten Figurenschnitzer Xaver Lendel aus Villerach.»
Hans riss mich aus meinen Grübeleien: «War schon ein feiner Kerl, der Xaver, dein Grossvater. Er sass oft in der Gaststube, aber nicht bei den Süffeln. Er hat eine gute Küche zu schätzen gewusst. Ich habe dir ein Zimmer richten lassen, wenn du nicht allein im Haus bleiben möchtest.»
«Du bist wirklich ein Freund, Hans, danke. Ich weiss noch nicht. Aber wahrscheinlich ist es besser, ich bleibe bei euch in der Linde.»
«Er ist nach Dorfsitte in seinem Schlafzimmer aufgebahrt, doch die Besuche sind schon vorbei. Ich nehme an, das ist dir recht so?»
Ich nickte. «Und morgen ist die Beerdigung?»
«Ja, um zehn Uhr, soll ich danach etwas in der Linde organisieren? Die Leute hier erwarten das irgendwie.»
«Gut, Hans, mach es einfach so, wie es Brauch ist, sag mir dann, was ich dir schuldig bin.»
«Gut. Du musst dann noch auf das Gemeindeamt, um den Papierkram zu erledigen, das bleibt dir leider nicht erspart.»
«Nachher, Hans, später, ich will ein paar Tage bleiben und alles in Ruhe angehen.»
Hans parkte hinter der Linde. Ich gab ihm meinen Koffer mit aufs Zimmer. Dann schlenderte ich durch die Dorfstrasse, auf Grossvaters Haus zu. Wie mickerig mir heute alles schien; ich trug den Ort und seine Häuser anders in meiner Erinnerung: heller, stattlicher. Ich stieg die Stufen zum Eingang hoch und stand vor der unverschlossenen Türe, durch die so viel Leben gegangen war. Sollte ich anklopfen? Unsinn, niemand würde antworten. Ich war der letzte Stammhalter der Lendels, und ich spürte, wie diese Last immer schwerer wurde. Ich hielt es nicht lange beim aufgebahrten Leichnam aus. So lieb mir Grossvater im Leben gewesen war. Heute war es mir unmöglich, lange bei dem Toten zu verweilen. Ruhelos strich ich durch das alte Haus. In jedem Zimmer entdeckte ich Spuren, Hinweise auf sein Leben. Ich wollte verweilen, darauf warten, dass seine schweren Schritte den Holzboden erzittern liessen und seine Gegenwart ankündigen würden. Unsinn, sagte ich zu mir selber und wischte die Gedankenfetzen weg. Die Erinnerung an den geliebten Menschen schien mir näher und stärker als die Rituale, die über Tod und Verlust hinweg trösten sollen. Ich hielt es nie lange in einem Zimmer aus. Aus dem kargen Schlafzimmer mit dem aufgebahrten Leichnam wechselte ich ins Wohnzimmer. Der Teppich, den ich tiefrot in Erinnerung hatte, war braun und abgewetzt, eine Decke verbarg den zerschlissenen Überzug des Sofas, das in einst stolzem Plüsch den Raum beherrscht hatte. Lange blieb ich in der Tür zu meinem ehemaligen Kinderzimmer stehen. Ich suchte nach Spuren, die in mir Erinnerungen an früher wecken würden. Doch heute schienen mir die vertrauten Gegenstände fremd, als gehörten sie zu einem anderen Leben. Ich schritt zum Büchergestell, strich mit den Fingern den Buchrücken entlang. Meine Kinderbücher – all meine durchgelesenen Nächte.
In der Küche goss ich mir ein Glas Wasser ein. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich alleine sein wollte oder Gesellschaft brauchte. Schliesslich gab ich mir einen Ruck und beschloss, etwas essen zu gehen. Ich stellte das Wasserglas in das Spülbecken, verliess das Haus, ohne abzuschliessen, so wie es im Dorf alle hielten. Dann spazierte ich in die Linde zurück und begab mich in Hans Sarbachs Obhut.
Während ich ass, trauten sich die Einheimischen nicht, mich anzusprechen. Beim Eintreten hatte ich jeden persönlich begrüsst und die gemurmelten Kondolenzen entgegen genommen. Jetzt tuschelten die Alten untereinander und liessen zwischendurch wie unbeabsichtigt verstohlene Blicke zu mir herüber gleiten. Nach dem Essen setzte sich Hans an meinen Tisch, sein breiter Rücken entzog mich den neugierigen Blicken vom Nebentisch.
«Hat‘s geschmeckt?»
«Ausgezeichnet, Hans, in dir steckt wirklich ein Meisterkoch! Ich werde einmal stolz sagen können, dass ich dich seit dem Anfang deiner Karriere kenne!»
«Mach mir keine falschen Hoffnungen, hier je fortzukommen.» Hans nickte diskret zu seinem Vater hinüber, der schon einiges intus zu haben schien. «Das braucht wahrscheinlich mehr Kraft, als ich im Moment habe.»
Ich nickte nachdenklich. Villerach war nicht gerade das Paradies, das stimmte schon.
«Nicht alle haben einen berühmten Grossvater im Rücken.»
«Dafür aber einen besoffenen Alten, was?»
Hans grinste. «Na ja, wir werden sehen. Ich bin ja noch am Lernen. Zuerst schliesse ich mal die Ausbildung zum Küchenchef ab, dann schauen wir weiter. Du hast schon recht, hier komme ich nicht weiter. Aber du, du bist jetzt frei, oder? Was willst du mit dem Haus machen?»
«Daran habe ich noch nicht gedacht. Grossvater hat mir das Studium finanziert, bald werde ich abschliessen können. Ich hoffe, es reicht noch bis dann.»
Hans lachte trocken: «Reicht bis dann, Sandor, du bist gut! Lebst du hinter dem Mond? Der Xaver muss steinreich gewesen sein, was meinst du, warum die Alten dort drüben derart die Köpfe zusammenstecken?»
«Meinst du? Das sind doch alles Sachwerte, und die sind auf die Schnelle nur mit Verlust abzustossen.»
«Genau, und präzis damit rechnen die alten Schlawiner. Lass dich nicht übertölpeln! Die wollen dir etwas abluchsen, um es dann mit Profit selbst zu verhökern.»
«Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich mag mich jetzt nicht damit herumschlagen, morgen ist auch noch ein Tag. Komm Hans, erzähl von dir. Ich vermisse tatsächlich den Dorfklatsch, seit ich in Bern lebe. Wie geht es mit deinem Vater? Und wie geht es Lucie?»
Es regnete am Tag der Beerdigung. Diese war vorbeigegangen, wie es in Villerach bei allen Beerdigungen Sitte war. Das Dorf hatte seinen berühmten Querkopf verabschiedet, den Holzkopf, wie sie ihn hinter vorgehaltener Hand nannten. Die gesamte Dorfprominenz war von Amtes wegen von der Linde her aufmarschiert. Die kleine Kirche war sehr gut besetzt. Reihum wurden Ansprachen abgehalten, die so heuchlerisch daher kamen, dass ich schon befürchtete, Grossvater würde aus dem Sarg springen und das Pfäfflein und den mickerigen Bürgermeister mitsamt seinen Kumpanen mit Donnerstimme und seinem schweren Spazierstock aus jenem Tempel jagen, für den er so manchen Engel geschnitzt hatte.
Als letzte Rednerin stellte der Bürgermeister Ludmilla vor. Ludmilla Parr, die bekannte Kunstexpertin aus Basel. Ludmilla Parr, die grosse Kennerin des Werkes unseres allseits verehrten Meisters Xaver Lendel. Aus ihrer Feder stammte der viel beachtete Artikel über den Villacher Kirchenaltar. Die wenigen Presseleute auf der hintersten Bank tuschelten und horchten auf, als Ludmilla vor die Gemeinde trat.
Das also war Grossvaters berühmte Ludmilla Parr. Er hatte von ihrem Besuch geschrieben, ein paar dürre Zeilen nur. Bei einem der seltenen Telefonanrufe hatte er zwei, drei Silben verloren über eine Studierte, die ihn dauernd über seine Arbeit aushorchen wolle. Die hatte ich mir aber anders vorgestellt, irgendwie altmodischer. Hübsche Beine, taxierte ich abwesend. Ich kratzte mich am Ohr, als ich so diskret wie möglich die üppige Figur bewunderte. Mollig? Schwer auszumachen unter dem weiten, rostbraunen Pullover. Ludmilla schaute direkt zu mir hin. Ertappt senkte ich den Blick. Ludmilla strich sich eine verwegene Strähne aus dem Gesicht. Sie trug ihre rot schimmernde Lockenmähne hochgesteckt, das gefiel mir ausserordentlich. Ob die Haare wohl gefärbt waren? Ludmillas Katzenblick strich aufmerksam über das Publikum, bis es endlich ruhig wurde. Entspannt und frei, in klaren Worten, die alle verstanden, sprach sie über Grossvaters Werk. Keine Floskeln, eine klare, besonnene Stimme, die unaufdringlich alle Zuhörer in ihren Bann zog. Es schien ein Hauch aus den Hallen der Kultur durch die schlichte Dorfkirche in Villerach zu wehen. Dass ihr alter Holzkopf so wichtig gewesen war, hatten sich wohl die wenigsten Villacher träumen lassen. Ein paar Weiblein seufzten, als unter Glockengeläut Grossvaters Sarg auf den Friedhof getragen wurde.
Ludmilla Parr war die Letzte, die den Friedhof verliess. Geduldig hatte ich am Tor Hände geschüttelt und wie in bleierner Trance mit allen und jedem ein paar belanglose Worte gewechselt.
«Guten Tag, Sie sind Herr Lendel, gell?»
Ich nickte und schüttelte abwesend die Hand. Ich spürte einen festen Druck, eine warme, zierliche Hand. Ich musste mich zwingen, sie wieder freizugeben.
«Ich bin Ludmilla Parr, aber das wissen Sie ja schon. Mein aufrichtiges Beileid.»
Ich murmelte ein paar Silben.
«Übrigens, ich bin ebenfalls beim Lindenwirt abgestiegen, begleiten Sie mich?»
«Sie bleiben in Villerach?»
«Na ja, das Paradies ist Villerach nicht gerade», lästerte sie. Ich musste grinsen.
«Sie kennen Hans? Hans Sarbach?»
«Kennen, kennen, wir haben zwischendurch ein wenig miteinander geplaudert. Und da habe ich mir vorgenommen, Ihre Bekanntschaft zu machen.»
«Welche Ehre für mich, Frau Parr!»
«Nun, da steckt auch ein wenig Eigennutz meinerseits dahinter!» Ihr Lächeln war wirklich zauberhaft. «Nennen Sie mich doch bitte Ludmilla, wir sind ja sozusagen in derselben Branche tätig, wie ich hörte.»
Von wegen ein wenig mit Hans geplaudert, sie musste den armen Kerl gehörig eingewickelt und ihn gründlich über die Familie Lendel ausgehorcht haben.
«Sandor», nickte ich, «aber das wissen Sie wahrscheinlich auch bereits?»
Ludmilla lachte ihr helles, klares Lachen, das mir unter die Haut fuhr und mir die letzten Reste Weihrauchmief aus dem Kopf vertrieb.
«Ich mag nicht in die Linde hocken, dort feiern jetzt die Villacher ihren Holzkopf, wie sie Grossvater heimlich nannten. Hans hat das Leichenmahl für mich organisiert.»
«Kein Problem. Kann ich gut verstehen. Ich hätte aber gerne etwas mit Ihnen besprochen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Treffen wir uns heute Abend zum Abendessen. Ich lade Sie ein, in die Linde, zu Hans. Er pflegt eine ausgezeichnete Küche!»
Ich trödelte herum. Hans hatte mich in das Gemeindeamt aufgeboten, Papierkram wartete. Aber die Büros würden erst in zwei Stunden öffnen. Ich spazierte durch das enge Dorf. Das Lebensmittelgeschäft sah aus, wie wenn es nächstens aufgegeben würde, am Löwen hing ein Schild «zu verkaufen». Viele Gärten, einst ganzer Stolz der Landfrauen, wirkten ungepflegt und schienen zu verwahrlosen. Wie schäbig es hier in so kurzer Zeit geworden war. Ein blühendes Bergdorf mit stolzen Menschen wurde unaufhaltsam zum Altenheim der letzten Generation. In ihren schiefen Häusern gedachten die Rentner besserer Zeiten, die nie wieder kommen würden. Die Jungen zogen talwärts in die Städte. Die Schule war geschlossen. Niedergang schlich über die Berghänge wie zäher Morgennebel. Der Tourismus kam nicht richtig in Schwung, Familien zogen fort, eine Wirtschaft um die andere, ein Geschäft ums andere würden schliessen müssen. Die Buslinie wurde auf Sparbetrieb umgestellt. Immer mehr Häuser standen zum Verkauf. Ein Bergdorf erlitt das Schicksal, in Vergessenheit zu geraten und bald nur noch auf der Landkarte zu existieren.
Aber vielleicht war es ja nur meine düstere Stimmung, die mir Villerach in diesem trüben Licht erscheinen liess. Ich bummelte zum Dorf hinaus, stieg hinauf zu meinen Lieblingsplätzen von damals. Ich setzte mich trotz der kühlen Witterung auf die verwitterte Bank, auf welchem Grossvater und ich oft Rast gemacht hatten. Grossvater war immer auf der Suche nach einem ausgefallenen Stück Holz gewesen, wenn wir durch die Wälder wanderten. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass ich alleine auf der Welt stand, dass ich mich nicht mehr auf Grossvaters Rückhalt verlassen konnte. Erst jetzt gelang es mir zu weinen. Ich weinte, aus Trauer und wahrscheinlich auch zu einem guten Teil aus Selbstmitleid. Erst jetzt konnte ich mich von Grossvater endgültig verabschieden. Ich würde mein Leben energisch in die Hand nehmen und es so führen, dass Grossvater stolz auf mich sein könnte, ja genau, ein echter Lendel würde ich sein.
***
Heute registriere ich erstaunt, wie weit weg das alles gerückt ist. Grossvater hatte grosszügig für mich vorgesorgt. Zudem war ich Alleinerbe, wie mir der säuerlich wirkende Bürgermeister an jenem Nachmittag nach der Beerdigung im Gemeindeamt eröffnete. Er hatte etwas von Dorfmuseum und Tourismus und Ehrenbürger geschwafelt. Ich hatte an die Warnungen von Hans gedacht und versprochen, darüber nachdenken zu wollen, später einmal, nach der Trauer, einfach später.
***
Die Auktion zog sich hin. Um eine hässliche Vase wurde gefeilscht, als handelte es sich um den Gralsbecher. Ludmilla wurde unruhig, rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Ich hatte einen Sitzplatz zuhinterst im Saal ausgesucht. Aber wahrscheinlich spürte sie dennoch, dass ich sie heimlich beobachtete. Das hatte sie immer sofort gefühlt und ungehalten reagiert. Vorsorglich wechselte ich den Sitzplatz und zwang mich, nicht ständig nach Ludmilla auszuspähen. Als übernächstes Objekt müsste eigentlich der Spieltisch versteigert werden. Ich war gespannt, ob Ludmilla mitböte. Wie weit würde sie mitgehen? Und überhaupt, wie weit wollte ich denn gehen? Ludmilla oder ich, wer würde den Zuschlag erhalten?
Der Tisch durfte keinesfalls in fremde Hände geraten, das musste ich verhindern. Zulange hatte ich bloss zugeschaut, zu lange schon war ich träge und unbeteiligt geblieben. Ich spürte, wie die Sammelleidenschaft wieder erwachte, wie mir heiss wurde, wie der Trieb, einen begehrten Gegenstand zu ersteigern, sich jäh aufbäumte.
***
Die Linde in Villerach war berühmt für ihre Jagdspezialitäten. Hans hatte einen zarten Rehrücken zubereitet, der selbst eingeschworene Wildmuffel unruhig werden liess. Ludmilla und ich hätten an Hans bedenkenlos die höchsten Prämierungen vergeben: Sternchen, Pfännchen, Kochmützen und was sonst noch alles herhalten musste, um exzellente Kochkunst zu bewerten.
Wir sassen an einem ruhigen Tisch weit ab von den Stammgästen. Der Lindenwirt hatte uns einen ausgezeichneten Roten empfohlen, einen Gigondas. Ich erinnere mich daran, weil ich überrascht war, in der Villacher Linde auf solche Weinqualität zu stossen. Aber dem alten Sarbach musste man ehrlicherweise zugute halten: Rotwein war wirklich sein Metier. Dann übernahm Hans die Regie für den Abend und trug uns ein Festmahl auf, wie es in besten Häusern serviert wurde.
«Ein Meister, wir erleben die Geburtsstunde eines Meisters!», rief Ludmilla entzückt, als Hans sich kurz zu uns setzte. Er strahlte wie ein Marienkäfer, Anerkennung war hier oben rares Gut. Als Ludmilla kurz auf die Toilette verschwand, beugte er sich zu mir: «Heiss, die rote Hexe, wie? Leider steht sie mehr auf die Familie Lendel!»
«Grossvater? Was treibt ihr eigentlich hier oben, während ich mir den Rücken krumm studiere! Hans, was um Himmelswillen habt ihr alles von mir erzählt?»
«Bloss ein wenig getratscht, und nur Gutes! Ein feines Mädchen! Sie ist jedoch etwas älter als du. Aber sie steht mit beiden Füssen auf dem Boden. Apropos, nicht schlecht, was, Herr Kunststudent? Appetitlich, äusserst angenehme Erscheinung», Hans grinste, «und klug!»
«Ja, sie hat ein Semester bei Professor Etter studiert, so wie ich», warf ich ein. Hans klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich blickte warnend, Ludmilla kam zum Tisch zurück. Hans verschwand wieder in seinem Reich hinter den klirrend nachschwingenden Küchentüren.
«Über unschuldige Mädchen herziehen, so geht das bei euch Männern!», lachte Ludmilla. Der Wirt brachte eine weitere Flasche Gigondas. Als er mit der leeren Flasche wieder weggeschlurft war, strich Ludmilla mit einer weiten Geste das Tischtuch vor sich glatt, als wären dort Krümel wegzuwischen. «So, Sandor, Enkel des Xavers, diese Flasche ist meinem Plan und uns beiden gewidmet.»
Ich muss überrascht aufgeschaut haben.
«Ich weiss, es scheint vielleicht etwas roh, so kurz nach einer Beerdigung schon Zukunftspläne zu schmieden, ich gebe es zu, und es tut mir auch echt Leid. Aber siehst du, Sandor, dort vorne am Stammtisch sitzen die Gierigen. Sie warten nur darauf, dich über den Tisch zu ziehen. Bestimmt hat dir der Bürgermeister von seinem Museum erzählt. Und vom erhofften touristischen Aufschwung? Von deiner Kindheit im Dorf? Dankbarkeit, Ehre, auf immer und ewig?»
Ich musste grinsen, nickte aber nachdenklich. «Hans ist derselben Ansicht.»
«Hans versteht sehr gut, worum alles geht. Er, Grossvater und ich sassen oft beisammen. Grossvater wünschte, dass wir drei Jungen zusammenhalten würden. Gemeinsam schafft ihr es, pflegte er unsere Gespräche zu beenden.»
«Mir ist das alles etwas zu hoch, und es geht mir viel zu schnell.»
«Das verstehe ich sehr gut, Sandor, besser als du vielleicht glaubst. Aber ich habe solide Grundlagen und gute Gründe für meinen Überfall auf dich.» Ludmilla lächelte mich an, sie beugte sich über den Tisch und griff nach meiner Hand. Ich roch ihr betörend schweres, geheimnisvolles Parfüm, spürte, wie ihre Wärme über den Tisch schlug. «Wach endlich auf, Sandor, jetzt geht es erst recht los!»
Ich setzte mich gerade hin, zog meine Hand zurück. Ich musste mich am Ohr kratzen. Ludmilla sah mir irritiert zu. «Entschuldigung», murmelte ich und verschränkte die Arme auf dem Tisch.
«Ich kenne das künstlerische Schaffen deines Grossvaters sehr gut. Ich kannte auch ihn sehr gut. Xaver meine ich, deinen Grossvater.»
Ich drehte nachdenklich den Stiel des Weinglases zwischen den Fingern. «Wie gut kanntest du Grossvater eigentlich?»
Ludmilla schlug die Augen nieder, lächelte sanft, strich sich ein paar Locken aus der Stirn.
«Schau Sandor, dein Grossvater war ein kluger Mann. Ich weiss nicht, wie es um seine Finanzen stand. Aber ahnst du überhaupt, was für ein immenses Lebenswerk er geschaffen hat? Weisst du eigentlich, was du erben wirst? Da kommt ganz schön was auf dich zu!»
«Woher willst du denn das so genau wissen?»
«Geduld, Sandor, ich mach es so kurz wie möglich!» Ludmilla suchte erneut meine Hand, als wolle sie die Zukunft daraus lesen.
«Ich lernte deinen Grossvater vor ein paar Jahren kennen. Ich schrieb damals eine Arbeit über den Villacher Altar, den er ja grösstenteils restauriert und erweitert hat. Er hat mich bei sich aufgenommen. In langen Gesprächen haben wir Vertrauen zueinander gefasst. Xaver hat mir erzählt, dass er bei weitem nicht alle seine Kunstwerke verkauft, sondern sie in einer Halle bei Sendingen eingelagert habe. Mit der Zeit ist dort eine stattliche Sammlung zusammengekommen. Das weiss hier oben aber keiner ausser Hans, der heimlich die Transporte ausgeführt hat.»
«Warum hat er denn die Kunstwerke nicht verkauft, ich meine, einfach eine Privatsammlung anlegen, da sehe ich keinen Sinn dahinter?» Ich spürte einen Stich, ich war ein wenig eifersüchtig auf Ludmilla und Hans, welche offenbar die Vertrauten von Grossvater geworden waren.
«Ich glaube, er hatte einfach alles, was er brauchte. Ich glaube, er wollte für deine Zukunft ein einmaliges Sparheft anlegen, so wie nur er es konnte. Bestimmt aber hat er lieber hier oben gearbeitet, als sich um Verträge zu kümmern und sich mit den Händlern in der Stadt herumärgern zu müssen.»
Das konnte ich wiederum sehr gut verstehen. Grossvater im Anzug, polierten Schuhen und mit einem Aktenkoffer in einer Galerie in der Stadt? Unvorstellbar. Ludmilla nahm mein Lächeln auf. «Ich kenne mich in sakraler Holzschnitzkunst gut aus. Und Xaver Lendel war ein wichtiger Künstler und zudem ein spannender Mann.»
Wieder dieser Stich, ich muss die Augenbrauen hochgezogen haben.
«Nun, jedenfalls hat mich dein Grossvater beauftragt, seine Sammlung in Sendingen zu katalogisieren und zu schätzen.»
«Jetzt verstehe ich, was er damit gemeint hatte, als er am Telefon von Buchhaltung und Inventar fabulierte. Ich hatte mich wirklich gewundert; Grossvater und Bürokram, unvorstellbar.» Ich schob das Weinglas mit gespielter Entrüstung von mir. «Ihr seid mir schon eine ausgekochte Bande!» Ludmilla strahlte mich an.
«Gell!» Sie goss uns Wein nach. «In den letzten Jahren allerdings hat Xaver hier oben ausnahmslos nur noch für sich gearbeitet. Er hat kein einziges Objekt mehr eingelagert. Nie hat er eine Arbeit vorgezeigt. In der Werkstatt bedeckte er seine unfertigen Werkstücke mit Tüchern. Ab und zu, wenn ich ihn besuchte, traf ich auf Kundschaft, er hat wahrscheinlich doch noch einige kleinere Aufträge angenommen.»
«Gut, meinetwegen. Jetzt sitze ich auf einem Haus in den Bergen, was mich kaum reizt. Zudem wurde ich über Nacht Besitzer einer Kunstsammlung sakraler Werke in einer Lagerhalle. Soll ich ein Museum eröffnen und Grossvaters Schätze hüten?» Und ich hätte eigentlich lieber das Geld, aber das sprach ich nicht aus. «Ich fühle mich zu jung, um in einem Museum zu leben!»
Ludmilla setzte sich aufrecht hin. Sie lachte hell auf. Dann strich sie sich wieder ein paar vorwitzige Locken aus der Stirn und goss uns Wein nach.
«Nun,Sandor, genau hier beginnt mein Plan. Wir beide machen einen Deal. Alles, was an Arbeiten von Xaver in Sendingen steht oder sich noch hier im Haus befindet, bildet die so genannte Sammlung Lendel. Ich verkaufe sie für dich so teuer, wie ich kann. Ich weiss, was ungefähr drin liegt. Ich kenne die Szene. Ich verspreche dir, da liegt der Schatz vom Silbersee. Genug für zwei! Aber man muss klug vorgehen und nicht zu hastig verkaufen. Das kann lange dauern. Ich weiss, wie man das macht, ich erledige das. Vom Reingewinn machen wir fifty-fifty.»
Ich wollte mich am Ohr kratzen, hielt aber im letzten Moment inne. Die andern Gäste waren schon gegangen, und Hans schloss die Wirtshaustüre ab. «Feierabend, Polizeistunde. Das gilt aber nicht für Übernachtungsgäste», rief er uns über die Schulter zu. «Der Letzte löscht das Licht!»
Wir blieben alleine in der Gaststube zurück.
Ludmilla streckte sich entspannt. Sie holte vom Schanktisch ein paar Rechaudkerzen. Als sie brannten, knipste Ludmilla das Licht aus. Ihre Augen funkelten wie geheimnisvolle Edelsteine. Ein kupferfarbener Schimmer überzog ihre rotblonde Mähne. «Also Sandor, wie stehts?», flüsterte sie, ihr Mund schwebte heiss über meinem Ohr. Ich wollte nicht mehr klar denken, ich konnte es auch nicht, es kam jetzt sowieso nicht mehr darauf an.
«Einverstanden, wir machens», schlug ich ein. «Morgen sehen wir uns gemeinsam das Haus genauer an!»
Ludmilla sprang auf. Sie steckte ein paar Münzen in die Jukebox. ‚Are you lonesome tonight?‘ schmolz durch die leere Lindenstube, danach langsame Tanzmusik. Ludmilla und ich tanzten, eng umschlungen. Ich sog ihren wilden Duft ein, spürte ihren straffen, prallen Körper, der zu vibrieren schien. Sie löste ihre Haare und zog sich mit einem «Puh, hier ist es heiss!» den Pullover über den Kopf. Ihre Haare knisterten und Funken sprühten. Bei den letzten Takten der Musik küssten wir uns.
«Sandor, du wirst es nicht bereuen», flüsterte sie mir ins Ohr.
***
Ludmilla hatte recht gehabt, wie eigentlich in allem. Nein, ich bereue es nicht, diesen Pakt mit ihr geschlossen zu haben. Ihr angeborenes Verkaufstalent hatte sich im Laufe der Jahre immer mehr ausgeprägt. Ludmilla und ich haben einen Vertrag abgeschlossen und stets sauber abgerechnet. Auch Hans nutzte seine Chance, er schaffte den Sprung von Villerach weg. Mit Ludmillas Unterstützung gelang es ihm, in Bern Fuss zu fassen. Er arbeitete sich Schritt um Schritt hoch zum gefragten Spitzenkoch. Doch was unser Leben in eine unerwartete Richtung lenken würde, entdeckten Ludmilla und ich erst, als wir anderntags glücklich, aber noch reichlich verkatert in Grossvaters Haus den Maschinenraum hinter der Werkstatt betraten.
***
Es regnete wieder, und Villerach schien wie ausgestorben, als ich die Haustüre hinter uns schloss. Ludmilla schmiegte sich an mir vorbei in die Wohnstube, ihre Haare kitzelten mich im Gesicht. Der niedrige Raum war spärlich möbliert, die Fensterläden zugezogen. Alles war fein säuberlich aufgeräumt, wie wenn Grossvater geplant hätte, nächstens auszuziehen. Nur Küche und Schlafstube schienen noch bewohnt. Ludmilla entdeckte in den Wohnräumen nichts, was ihr Interesse erweckte. Sie schien enttäuscht. Ich hingegen würde das eine oder andere kleine Andenken mitnehmen, aber eine schwere Last würde es nicht.
«Ich mache uns einen Kaffee, es ist noch alles da.» Ludmilla inspizierte die Küche.
«Ich glaube, ich frage Hans, ob er jemanden weiss, der hier leer räumt, viel ist es ja nicht», grübelte ich über die Kaffeetasse hinweg. «Ich weiss immer noch nicht, was ich mit dem Haus soll.»
«Du wirst wahrscheinlich kaum einen Käufer finden, hier oben. Behalt es doch. Dann kannst du das Haus den Villachern für ihr Museum vermieten. Für einen symbolischen Betrag, und dafür würden sie sich um das Haus kümmern.»
Ich nickte: «Das ist eine ausgezeichnete Idee.»
Es war kühl im ungeheizten Haus. «Komm, wir sehen uns noch die Werkstatt an, dann gehen wir zurück in die Linde.» Ludmilla ging voraus. In der Werkstatt unten schien es, wie wenn Grossvater gleich zur Türe hereinkommen würde. Bloss, dass der Ofen kalt war. Grossvater hätte bestimmt ein schönes Feuerlein unterhalten und sich in der Wärme geräkelt. Alle Werkzeuge waren fein säuberlich an ihrem Platz aufgehängt, die Werkbank war leer geräumt, ebenso die Regale an der Wand. Der Fussboden war blank gefegt. Es herrschte dieselbe Aufbruchstimmung wie oben in den Wohnräumen. Zu Ludmillas Enttäuschung waren auch die Regale leer, nur im Gestell standen ein paar Holzklötze gestapelt.
«Irgendwie habe ich doch gehofft, hier noch etwas zu finden. Wohin führt eigentlich diese Türe? Ich habe sie nie offen gesehen.»
«Der Maschinenraum, dort durfte ich nicht hinein, als ich klein war, wegen der gefährlichen Maschinen. Ich bin noch nie drin gewesen. Die Türe war stets abgeschlossen!»
Ludmilla drückte entschlossen auf die Klinke. Verschlossen.
«Ich weiss aber, wo der Schlüssel ist.»
Ludmilla schaute mich ungeduldig aus schrägen Augen an.
«An Grossvaters Schlüsselbund, und der müsste eigentlich in der Küchenschublade hinter dem Messerfach versteckt liegen.»
«Bitte, Sandor, machs nicht so spannend! Mir ist kalt, rette mich!»
Treppen hoch, Treppen runter, schon stand ich triumphierend mit dem Schlüsselbund vor Ludmilla. Sekunden später drängten wir uns lachend in den Maschinenraum.
Die gefährlichen Maschinen von einst, Sägen, Bohrer, Fräsen standen mit grauen Tüchern zugedeckt wie grosse Tiere an der Rückwand. Vor dem hohen, hellen Fenster stand ein roher Tisch mit ein paar Brettern und Sägeböcken zusammengezimmert. Er war überhäuft mit Plänen und Skizzen, Heften und Notizbüchern. Zeichenutensilien und Schreibzeug lagen kreuz und quer auf den Papieren. Auf einem Holzklotz mitten auf dem Tisch stand eine Figur, ein Junker, der freundlich lächelte. Er zog sofort Ludmillas Aufmerksamkeit auf sich.
«Was ist denn das?», fragte sie verblüfft.
Ich trat von hinten an sie heran, legte meine Hände um ihre Taille und roch an ihren Haaren. Ludmilla schmiegte sich an mich, hielt meine Hände fest. «Das, unwissende Ludmilla, ist ein Arkade. Genau genommen ist das der gute Arkade. Wenn du freundlich hinschaust, wird er dir zunicken.»
«Und, weiser Sandor, was genau ist ein Arkade?»
Ludmilla wand sich, und wie zufällig streifte sie mich mit ihrem straffen, runden Po. Lachend drehte sie sich zu mir um und umarmte mich.
«Das, neugierige Ludmilla, werde ich dir erst nach dem Mittagessen erzählen. In der Linde, bei einem von Sarbachs süffigen Weinen.»
«Sandor Lendel, Enkel des Xaver, du spottest meiner, du bist nicht galant mit mir! Ich weiss nicht, wie du das je wieder gut machen kannst!»
Wir küssten uns trotzdem.
Ich fand einen von Grossvaters altmodischen Koffern. Inzwischen war uns wirklich kalt geworden. Zügig verstauten wir die Papiere, die Figur und ein paar Kleinigkeiten, die mir wichtig erschienen. Dann schloss ich mit dem grossen Schlüssel die Haustüre ab und steckte Grossvaters beeindruckenden Schlüsselbund ein.
In der Linde sass um diese Zeit niemand mehr. Wir erhielten dennoch eine Kleinigkeit aufgetischt. Hans setzte sich uns gegenüber an den Tisch.
«Und, wie wars?»
Wir erzählten von unserem Rundgang; ohne uns abgesprochen zu haben, erwähnten wir den Maschinenraum mit keiner Silbe. Ich deutete auf den Koffer: «Ein paar Erinnerungsstücke.»
Dann weihten wir Hans in den Plan mit dem Museum ein.
Hans grinste: «Lass mich das einfädeln, bitte. Den Herrn Bürgermeister, den möchte ich zu gerne selbst erleben! Ich schicke dir dann die Papiere zum Unterschreiben.»
«Ich geh schon mal voraus.» Ludmilla gähnte, allerdings nur wenig überzeugend. Hans und ich nickten. Kaum war sie ausser Hörweite, zischte ich zu Hans: «Los, Hans, auf, eine Flasche Gigondas und zwei Gläser.»
Hans grinste und sauste hinter seinen Schanktisch.
«Sofort der Herr, sehr gerne Monsieur, wohl bekomms!»
Mit den klirrenden Gläsern in der einen Hand, der Flasche Wein unter den Arm geklemmt und dem Koffer in der anderen Hand stieg ich die Treppe hoch zu Ludmillas Zimmer. Sollte ich anklopfen? Wie denn?
«Komm herein, du hinterlistiger Casanova!»
Ludmilla lag im Bett, bis zur Nasenspitze zugedeckt. Ihre Katzenaugen funkelten. Ich stellte meine Bagage ab und schloss die Türe.
«Ich bin fast nackt!», kicherte sie. Wie zum Beweis streckte sie ein freches Bein unter der Decke hervor.
«Nur fast? Da muss man sofort etwas dagegen tun!» Spielerisch griff ich nach ihrem Fuss. Ludmilla kicherte und schloss geniesserisch die Augen, als ich ihre süssen kleinen Zehen knabberte.
***
Ich erinnere mich oft an unseren verbummelten Nachmittag unter der schweren Decke im kühlen Hotelzimmer. Alles zwischen uns war neu und unverbraucht. Jede Geste, jedes Wort wurde zur gegenseitigen Entdeckung. Alles Licht schien sich wie in einem Prisma im altmodischen Zimmer in der Linde zu bündeln und funkelnd wieder auseinander zu sprühen.
***
«Und, wie ist das mit dem Arkaden, dem Guten?»
Ich huschte aus dem Bett, fischte den Arkaden aus dem Koffer und stellte ihn vor den Spiegel auf den Waschtisch. Zurück unter der warmen Decke erzählte ich Ludmilla das Märchen von Xelorin aus Meldonien, so wie es mir Grossvater vor über zehn Jahren in der Werkstatt erzählt hatte. Erstaunlich, wie gut ich mich noch an die Geschichte erinnerte. Ludmilla war die perfekte Zuhörerin. Lange schwieg sie, grübelte. Sie studierte an den Spielregeln herum. Dann befand sie, es sei ein schönes Märchen, das sehr gut zu Xaver passe.
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Am nächsten Morgen trennten sich unsere Wege. Wir verabredeten uns aber für eines der kommenden Wochenenden. Ludmilla wollte in Ruhe ihre Aufzeichnungen durcharbeiten und dann in ihr Basel zurückkehren. Ich musste zurück nach Bern, an die Uni, der Alltag wartete bereits ungeduldig auf mich. Den Arkaden hatte ich nach einem zustimmenden Nicken und einem belustigten Lächeln Ludmillas zu den Papieren in den Koffer zurückgelegt.
Der Alltag hatte mich wieder eingefangen. Ich empfand es als wohltuend, Ablenkung im Studium zu finden. Die Trauer um Grossvaters Tod würde mich nie verlassen. Sie wurde aber leiser, es fiel mir immer leichter, den Verlust anzunehmen und als Bestandteil meines Lebens anzusehen. Diese Erfahrung mit Ludmilla zu teilen, vertiefte unsere Beziehung, ja schien uns sogar wie ein Wink des Schicksals, unseren Weg gemeinsam fortzusetzen. Hans und mein Advokat kümmerten sich um den Papierkram. Ich reiste noch einige Male nach Sendingen, um Dokumente zu unterschreiben, verspürte aber nie Lust, nach Villerach hoch zu fahren. Bis zu den Sommerferien war alles unter Dach und Fach, und die Villacher hatten ihr Museum eröffnet. Für die Eröffnungsfeier liess ich mich vom Advokaten vertreten. Auch Hans nahm an der Feier nicht teil. Er hatte seine Meisterprüfung mit Auszeichnung bestanden. Jetzt packte er seine Siebensachen und bereitete sich vor, nach Bern umzuziehen. Nach den Ferien würde er eine Stelle in einem bekannten Restaurant antreten.
Auch Ludmilla zog es nach Bern, allerdings aus anderen Gründen. Den Sommer wollten Ludmilla und ich gemeinsam verbringen. Wir wollten zusammen Probe wohnen, wie sie das bezeichnete. Auch wenn wir diese gemeinsame Zeit eher locker angingen und über unser Zusammenleben witzelten, waren wir beide wohl angespannter und unsicherer, als wir es uns eingestehen wollten.
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Die Semesterferien begannen, und auf einmal hatte ich massenhaft Zeit. Schon bald würde Ludmilla einziehen. Ich nutzte die Gelegenheit, meine Bude auszumisten. Beim Aufräumen stolperte ich einmal mehr über Grossvaters Koffer. Gute Gelegenheit, dachte ich und begann den Inhalt auf dem Küchentisch auszubreiten. Der Arkade lächelte mir zu. Abwägend hielt ich ihn in der Hand. Ich erinnerte mich an Xelorin, ich hörte wieder Grossvater erzählen, roch Holz und Lack, sah die Werkstatt im Nachmittagslicht, die Kirchenglocken schlugen vier Uhr. Ich stellte die Figur ins Pfannenregal, die Erinnerungen wichen zurück. Dann begann ich, Grossvaters Dokumente zu sichten. Ein schwarzes Notizbuch zog mich wie magnetisch an. Ich blätterte es oberflächlich durch, legte es weg und hielt es wenig später dennoch wieder in der Hand. Seitenweise Listen, in welchen Grossvater peinlich genau Buch über sein Holzlager führte. Woher das Holz stammte, wie gross, wie schwer, wann er es eingelagert hatte und was er damit zu tun beabsichtigte, alles war fein säuberlich aufgelistet. Erst beim gründlichen Durchblättern entdeckte ich das Dokumentenfach im hinteren Buchdeckel. Darin lag eine Notiz, die in Grossvaters sauberer, gerader Schrift abgefasst war.