Читать книгу Sandors Figurenspiel - Peter Maibach - Страница 6
ОглавлениеKapitel 4
Sandor, lieber Sandor
Du hast es also gefunden. Gut. Ich habe Ordnung gemacht. Meine Zeit hier zerrinnt, und ihr Ende ist absehbar. Ich sage das ohne Bitterkeit. Wer ein Leben lang Holzengel geschnitzt hat, muss sich im Jenseits wie zu Hause fühlen. Mittlerweile müsstest du Ludmilla Parr persönlich kennen gelernt haben. Eine patente junge Frau. Ich vertraue ihr. Sonst rede mit Hans Sarbach, einer der wenigen vernünftigen Seelen im Dorfe Villerach.
Erinnerst du dich noch an das Märchen von Xelorin, dem glücklosen Meisterschnitzer? Ich habe es dir erzählt, als du ein kleiner Junge warst, als wir zusammen in der Werkstatt Tee getrunken haben. Hast du den Arkaden wieder erkannt? Den guten Arkaden? Sind Märchen erfundene Geschichten? Oder sind es vergessene Wahrheiten? Oder werden sie einfach wahr, wenn jemand den Figuren Vertrauen schenkt?
Vielleicht hat es wirklich einmal einen Xelorin gegeben, Sandor. Nicht im fernen Meldonien, sondern viel näher, als man vermutete. Wie auch immer, irgendwie fanden Xelorins Figuren den Weg nach Villerach. Das ist ja nicht weiter erstaunlich, sie zogen um, einfach von einem Holzschnitzer zum anderen. Keine Bange Sandor, sie liegen immer noch in ihren Kistchen aus Blei Eiche, solide verschlossen, sie werden erst wieder zum Leben erwachen können, wenn sie auf dem Wabenbrett aus Birlindenholz stehen und die ersten Züge gespielt sind.
Ich habe Xelorins Spielregeln überarbeitet, sie in seinem Sinne der heutigen Zeit angepasst. Keine Partei soll gewinnen können, und somit sollten alle Sieger und Verlierer zu gleichen Teilen werden. Aber ich traue dem grimmigen Arkaden nicht. Er ist im Stande und findet eine Lücke im Regelwerk und reisst erneut die Macht an sich. Ich habe es nicht gewagt, die Figuren aufs Brett zu stellen.
Vielmehr fand ich es sogar zu gefährlich, die Figuren so nahe beisammen zu lassen. Ich habe beschlossen, sie einzeln in alle Welt zu schicken. Sie sind in alle Winde zerstreut. Den Spieltisch aber hat Hans verbrannt, die Asche habe ich in den Wäldern um Villerach verstreut. Ich lasse dir das Märchen und die Pläne und die Skizzen zu den Figuren sowie meine anderen Zeichenhefte als Andenken. Alles ist nur ein Spiel. Eine einzige Figur habe ich behalten, den guten Arkaden. Er wird dich beschützen.
Grossvater
Xaver Lendel
***
***
Ich las den Brief zweimal durch, kam aber zu keiner klaren Schlussfolgerung. Ich war gerührt ob der Botschaft aus der Kindheit, dann fragte ich mich, ob Grossvater wohl senil geworden war. Diesen Gedanken verwarf ich aber sofort wieder. Am annehmbarsten schien mir der Gedanke, dass er in seinen letzten Jahren einem Spiel Gestalt verliehen hatte, dessen Idee er schon lange mit sich herumgetragen hatte. Immer nur Engel geschnitzt? Der alte Herr konnte ganz schön schlitzohrig werden, wenn ihn eine Idee ritt. Da musste mehr dahinter stecken, da kannte ich Grossvater zu gut. Einverstanden, es war bloss ein Spiel, aber jetzt war ich am Zug.
Zunächst ging es darum, den Papierberg nach Hinweisen durchzuarbeiten. So wie ich Grossvater einschätzte, hatte er sicher irgendwo einen Anknüpfungspunkt versteckt. Die Lagerlisten vielleicht? Dort wäre bestimmt jeder Eingang und Ausgang verzeichnet. Birlindenholz? Birne oder Linde? Oder etwas anderes? Wie gross müsste ein Block sein, damit man einen Arkaden daraus schnitzen könnte? Die Zeriden waren wahrscheinlich kleiner als die Arkaden. Eine unerwartete Lust, die Herausforderung anzunehmen, packte mich. Ich stapelte die Lehrbücher aus der Universitätsbibliothek in eine Ecke, sie konnten warten. Die Papierflut auf dem Küchentisch breitete ich auf dem Arbeitstisch aus, bald war er voll belegt. Ich legte weitere Blätter auf dem Fussboden aus und schritt wie ein Feldherr die Papierfront ab. Spielfreude, die Herausforderung ungelöster Rätsel, ich weiss nicht, was mich trieb. Jedenfalls konnte ich mich einer Aufgabe hingeben, die mich mit Grossvater verband und ein Stück vermisster Kindheit aus der Vergessenheit heraufholte.
Gut, dass Ludmilla erst in ein paar Tagen in Bern eintreffen würde. Sie hatte einen Kunden im Visier, mit dem sie in Kontakt treten wollte. Ich war ein wenig verstimmt gewesen über den hinausgezögerten Beginn unserer ersten gemeinsamen Sommerferien. Jetzt aber fand ich es angenehm, alleine in Grossvaters Nachlass zu schwelgen. Vielleicht war es auch bloss eine Sackgasse. Und bloss um in eine Sackgasse zu rennen, dazu wünschte ich mir nicht Ludmilla als Zaungast.
In diesem Zusammenhang machte ich eine verblüffende Entdeckung. Ludmilla muss Grossvater mehrmals Modell gestanden haben. Ein halbes Skizzenheft war gefüllt mit Porträts und zahlreichen Aktstudien. Von wegen bloss Engel schnitzen! Das muss mir ja eine fröhliche Gesellschaft gewesen sein, dort oben in Villerach. Ich studierte die Zeichnungen eingehend. Ich verwob meine Bewunderung für Grossvaters sichere Hand mit meinen eigenen Erinnerungen an Ludmillas nackten Körper, knüpfte ein Band zu den Skizzen. Jetzt wäre ich gerne mit Ludmilla zusammen gewesen. Ich legte das Heft nachdenklich beiseite und beschloss, das Geheimnis vorderhand für mich zu behalten.
***
Der Auktionator stellte endlich den Kartentisch vor. «Katalog Nummer 24: ein sehr schön gearbeiteter Kartentisch in einwandfreiem Zustand vom bekannten Holzschnitzer Xaver Lendel.» Einige erste Gebote? «30‘000.–, wer bietet mehr?» Einige wenige Bieter erhöhten nur schleppend, ein Museum war dabei. Ich beobachtete verstohlen Ludmilla. Sie bot nicht mit. Wie versteinert sass sie da, als ob sie das Ganze nichts anginge. Aber ich kannte sie zu gut. Die Katze lag sprungbereit auf der Lauer. Bei 37‘000.– blieben die Angebote stehen. Jetzt endlich regte sich Ludmilla.
«37‘100 für die Dame hier vorne. 37‘100! Wer bietet mehr, 37‘100 zum Ersten, zum Zweiten», sang der Versteigerer sein Lied. Er schaute aufmerksam über die Reihen.
Ich wartete bis zur letzten Sekunde, bis der Hammer für den Zuschlag zitterte. Dann hob ich die Hand.
«37‘200 für den Herrn in der letzten Reihe. 37‘200!»
Ich war wieder im Rennen. Ich war wieder dabei, das alte Fieber war wieder ausgebrochen.
Ludmilla zögerte erstaunt, dann schoss ihre Hand in die Höhe. Ich spürte, wie die Spannung im Saal stieg, ein verhaltenes Flüstern unter den alten Hasen rauschte kurz auf. Die Auktion nahm ihren Fortgang.
***
Ich weiss, es war Ludmilla gegenüber nicht fair. Aber genau so wenig, wie ich begründen kann, warum ich mich damals vor vierzig Jahren in Villerach spontan auf den Plan einliess, genau so wenig kann ich erklären, warum ich in Wien die Hand hob und wieder mitzubieten begann. So viel Zeit war an uns vorbeigegangen, das Leben beschrieb einen sanften Bogen, dessen Höhepunkt schon lange überschritten schien. Der Anfang verneigte sich respektvoll vor dem Ende.
***
Als ich unten die Haustüre zuschlagen hörte, wusste ich, es war Ludmilla. Schon wie sie die Holztreppe zum Dachstock hoch stürmte, kündigte gute Nachrichten an. Ich trat zur Türe, und schon flog mir Ludmilla um den Hals.
«Ich habe den grossen Michael verkauft, St. Michael!» Ludmilla strahlte und tobte durch den Flur.
«Komm lass uns anstossen, hier, die hab ich uns mitgebracht.» Sie drückte mir eine Flasche Champagner in die Hand. «Los aufmachen! Sandor, küss mich, verführe mich, und dann erzähle ich dir alles haarklein!» Ihr Freudentaumel war mitreissend! Sie kickte die hohen Schuhe in eine Ecke, zwängte sich aus dem engen Kostüm, löste mit einer fliessenden Geste ihre hochgesteckten Haare.
Provozierend stand sie in ihrer frechen, knallroten Unterwäsche vor mir auf Zehenspitzen.
«Muss ich dich jetzt mit Champagner abspritzen, wie die Ferrari-Kerle beim Autorennen?»
«Wüster, gemeiner Villacher Bergmensch! Reiss dich zusammen!» Sie knuffte mich in die Seite.
«Ich zieh mir schnell was über!»
«Frierst du? Dagegen kenne ich einen guten Trick von den Eskimos», rief ich hinterher.
«Iglu bauen? Lebertran einreiben? Puh, wie sieht es denn hier drin aus», rief sie aus dem Arbeitszimmer. «Komm, wir setzen uns in die Küche!» Von wegen setzen. Ludmilla tanzte in der engen Küche umher und erzählte, nein spielte mir die Verkaufsgeschichte vor, mehrmals.
Der St. Michael war unser Versuchsballon gewesen. Ludmilla hatte einen soliden Kunden ausgemacht. Der Liebhaber und Sammler blieb lange zurückhaltend. Aber die seriösen Gutachten und der tadellose Herkunftsnachweis hatten ihn schliesslich überzeugt. Ludmilla hatte einen wirklich sehr guten Erlös herausgeschlagen. Ich staunte nicht schlecht ob der Höhe der Summe. Wir hatten uns geeinigt, die ersten Einnahmen zur Seite zu legen, als Betriebskapital sozusagen. Und ein bisschen zu feiern erlaubten wir uns dennoch!
Den neuen Tag begannen wir mit viel Kaffee und langen Palavern.
«Bleibt das Arbeitszimmer den ganzen Sommer über ein derartiges Schlachtfeld?»
«Nein, eigentlich nicht, ich war am Aufräumen.» Ludmilla nickte vielsagend und lächelte zuckersüss. «Dabei bin ich auf etwas Eigenartiges gestossen, ich weiss nicht. Es hat mit Grossvater zu tun und vielleicht auch mit unserem Plan.»
«Du machst mich neugierig, komm, schiess los?»
Wir nahmen die Kaffeetassen mit in den Arbeitsraum.
«Es ist wirklich eine eigenartige Geschichte. Das hier sind die Papiere aus der Werkstatt. Du erinnerst dich an den Arkaden und das Märchen? Ich vermute, es gibt da etwas mehr.»
«Und es hat mit unserem Plan aus der Linde zu tun?»
«Ich weiss nicht, vielleicht ist es einfach ein Jux, und dann wandert der Papierkram zurück in den Koffer und ab ins Museum.»
Jetz war Ludmillas Scharfsinn angesprochen. Aufmerksam hörte sie zu, prüfte Dokumente, die ich hervorzog, wühlte selbst in den Unterlagen.
«Also, lass sehen, hier hast du in der Lagerliste einen Eintrag über einen Holzstamm, bei dem alle Angaben genauestens eingetragen sind, aber seltsamerweise ist die Spalte Holzart leer.»
«Und hier steht, dass der Stamm in zwölf Rohlinge zersägt wurde. Wenn ich das Volumen des guten Arkaden hochrechne, müsste der Stamm ungefähr passen.»
«Und das ist eine Rechnung für Holzkistchen aus Eiche, im Märchen kam doch so etwas vor?»
«Und dann die Zeichnungen; ich habe sie aus den verschiedenen Heften zusammengetragen, es sind genau zwölf Figuren, die in Frage kommen.»
Ludmilla war begeistert! Ihre Augen glühten, sie verbiss sich immer mehr in die Idee vom Figurenspiel.
«Aber wenn es nur ein Luftschloss ist, machen wir uns hier zum Narren.»
Ludmilla wurde sehr ernst: «Xaver konnte wirklich ein kauziger Mann sein. Aber alles scheint mir so klar auf dich ausgerichtet. Wer ausser dir könnte denn noch das Märchen gehört haben?»
«Vielleicht Hans?», warf ich ein.
«Gut möglich, er war oft bei Xaver. Und später wurde auch ich eingeweiht. Aber den Raum hinter der Werkstatt habe ich als stets verschlossen in Erinnerung. Sandor, Grossvater hielt grosse Stücke auf dich, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er dich in die Wüste schicken würde.»
Ich nickte zustimmend.
«Und abgesehen davon, einfach mal so unter Geschäftsleuten gesprochen, wenn das stimmt, dann wäre das doch ein Riesending! Das müssen wir überprüfen, das lassen wir nicht einfach so an uns vorbeiziehen. Zwölf Spielfiguren auf einem Brett, das Ganze als Original von Xaver Lendel entworfen, hergestellt und erst noch spielbar. Die Sammler würden sich darum reissen. Es gäbe Repliken, ein Familienspiel und alles aus unserem Hause und mit unserer Lizenz. Da lohnt sich zweimal hinschauen schon? Gell?»
Ich muss reichlich überrumpelt ausgesehen haben. Ich kratzte mich am Ohr.
«Sandor, nicht erschrecken. Wir haben die ganzen Sommerferien vor uns, wir haben eine Spur, die wir uns ansehen werden. Wenn sie im Sand verläuft, wars nix, und Grossvater wird sich im Grab wälzen vor Lachen. Das macht aber nichts, weil wir unsere Schatzsuche strikt für uns behalten werden. Und wenn wirklich etwas dran ist, ja dann, grosser Meister Sandor, dann bleibt hier kein Stein auf dem andern!»
***
Wie Recht Ludmilla behalten sollte. Die folgenden Tage hatten nichts mehr mit den erhofften beschaulichen Sommerferien zu tun. Alles Material wurde systematisch aufgearbeitet und ausgewertet. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, dass wir das alles noch ohne Computer bewältigten! Zettelkasten, Karteikarten, Notizhefte, viel nachfragen und herumtelefonieren und dabei immer darauf bedacht sein, möglichst keine Spuren zu hinterlassen! Grossvater hatte die Figuren kaum unter seinem Namen weitergegeben, sie waren wahrscheinlich einem unbekannten Künstler zugeschrieben. Aber die Mühe lohnte sich, und es zeichneten sich ein paar undeutliche erste Spuren ab. Ludmilla und ich machten eine Zwischenbilanz. Dabei wurde eine Spur immer klarer erkennbar.
«Sie führt nach Süden!», jubelte Ludmilla.