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III. Politisches System Deutschland: Die Institutionen
ОглавлениеIm Grundgesetz werden die Institutionen der Bundesrepublik Deutschland eingehend beschrieben. Dort ist (in den wesentlichen Rahmenbedingungen) festgelegt, wie sie zueinander stehen und was sie dürfen bzw. nicht dürfen. Damit vollzieht sich in der Polity Deutschlands anhand der Bestimmungen der Verfassung die Struktur des deutschen Staates nach 1949. Die Bundesrepublik ist hierin ein durch und durch modernes Staatsgebilde, das aber (wie andere demokratische Staaten auch) in der Gegenwart eine Reihe von Problemen aufweist, die sich allein schon aus der Struktur der Staatlichkeit ergeben. Bevor die zentralen Institutionen im Einzelnen vorgestellt und erläutert werden, ist es daher wichtig, die Strukturprinzipien moderner Staatlichkeit zu verstehen.
Moderner Staat
Der Staat ist im Grunde eine europäische Erfindung, basierend auf den Erfahrungen, die das Zusammenspiel und die wechselseitige Differenz von Religion und Politik seit dem Mittelalter für die europäischen Nationen erbracht haben. Politische Ordnungssysteme hat es zwar immer gegeben, doch meist waren dies an Personen orientierte Verbandssysteme, in denen z.B. die Herkunft qua Geburt oder reine Gewaltstrukturen den Ausschlag gaben. Eine Form der Staatlichkeit, in der Gesetze (vermittelt über einen dafür extra ausgebildeten Beamtenapparat, verbunden mit einem effizienten Steuersystem) den Ausschlag für die politische Ordnung geben, ist so gesehen eine Erfindung der Neuzeit. Die Entdeckung des Staates als einer unabhängig von einer Person zu adressierenden Ordnungsmacht ist zwar seit der Renaissance bekannt, zweifellos aber erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts strukturell wirkungsmächtig geworden. So sind insbesondere das 19. und das 20. Jahrhundert hervorzuheben, in denen sich der ordnungspolitische Aufstieg und die Leistungsfähigkeit des Staates als das zentrale Herrschaftsmodell für Politik durchgesetzt haben.
Dies gilt auch (und ganz besonders) für die deutsche Entwicklung (vgl. auch Nitschke 2011). Der Staat wird in Deutschland zur unumstrittenen politischen Ordnungsgröße, bei der mitunter in der Betrachtung der Politik-Begriff gänzlich als eigenständige Größe verschwindet, indem alles und jedes Thema etatisiert, d.h. staatlich gedacht wird. Insofern ist es vielleicht auch nicht überraschend, dass es ein deutscher Staatsrechtler war, Georg Jellinek, der mit seiner Allgemeinen Staatslehre (1900) ein Standardwerk vorgelegt hat, das dann selbst für die Begründung des Staates im modernen Völkerrecht die klärenden Grundlagen geschaffen hat (vgl. auch Anter 2010).
Die drei Dimensionen von Staatlichkeit
Nach Jellinek ist der Staat in drei Dimensionen zu begreifen (vgl. Jellinek 1960):
1. Hoheitsgebiet (Territorium)
2. Hoheitsgewalt (Government)
3. Staatsvolk
Als weiteren Punkt kann man aufgrund der staatsrechtlichen Diskussion in Verbindung der Faktoren 1–3 als Synthese hinzunehmen:
4. Die Souveränität
Gewaltmonopol des Staates
Alle vier Kennzeichen beschreiben das, was einen modernen Staat auszeichnet. Das Territorium, d.h. der Geltungsbereich der staatlichen Gesetze, muss klar bestimmbar sein. Meistens ist dies ein abgerundetes, in sich zusammenhängendes Gebiet mit fest umrissenen Grenzen. Die Hoheitsgewalt bezieht sich dann auf eben jenes Staatsgebiet. Die Legitimation der Regierung für ihr Handeln ist zunächst nur in Bezug auf das Staatsgebiet zu sehen. Die Gewaltfunktion der Regierung ergibt sich durch ihr Gewaltmonopol, d.h. den Anspruch auf die Mittel und Durchsetzungsfähigkeit von Gewaltmaßnahmen, die durch Gesetze und die Verfassungsstruktur legitimiert sind.
Staatsvolk
Keine Regierung ohne ein Volk, das regiert wird. Insofern ist der Bezug des Staates auf ein Volk zwar scheinbar eine Banalität, doch enthält genau dieser Passus eine Reihe von Problemen rechtlicher Art. Wer oder was ist das Volk? Und zwar als Staatsvolk? – Es geht bei der dritten Kategorie nicht um irgendeine Gesellschaft, die in einem Staatsgebiet lebt, also die Einwohner bzw. Bewohner eines Landes, sondern spezifisch um diejenigen Menschen, die als Bürger in ihrer Rechtseigenschaft als Mitglieder des Staates alle verfassungsgemäßen Rechte (und Pflichten) auf sich vereinigen. Mit dem Kriterium des Staatsvolkes werden zugleich all diejenigen Menschen ausgeschlossen, die zwar auf dem Boden des Staates arbeiten und leben, jedoch den Staatsbürgerpass nicht besitzen. Sie haben nur ein Aufenthaltsrecht im Sinne eines Gastrechts, das meist auch mit der Berechtigung zur Arbeit verbunden wird.
Souveränitätsprinzip
Das vierte Kennzeichen, die Souveränität, ist der Schlüsselbegriff, mit dem das moderne Völkerrecht die drei Kategorien von Jellinek zusammenfassend klassifiziert (vgl. u.a. Hobe 2014, Tomuschat 2018). Es ist aber zugleich auch der Begriff, der mittlerweile am deutlichsten zeigt, wie sehr sich der moderne Staat in einer strukturellen Krise befindet.
Wenn man Souveränität mit dem griechischen Begriff der Autarkie übersetzt und dabei die Selbständigkeit einer Nation bzw. die eines Staates meint, dann ist ein solcher Zustand heutzutage für keinen Staat dieser Welt mehr gegeben. Selbst die USA als derzeit nach wie vor mächtigstes politisches System sind nicht mehr souverän in dem Sinne, dass man unabhängig von anderen Entscheidungen oder Einflüssen wäre. China bestimmt aufgrund der Dollardevisen, über die es verfügt, mittlerweile die amerikanische Finanz- und Wirtschaftspolitik mit. Eben deshalb wenden sich die USA in ihrer politischen Agenda verstärkt dem pazifischen Raum zu. Auch Deutschland ist wenig souverän: was der jeweilige Bundeskanzler entscheidet, hängt im Wesentlichen von der Interaktion im Rahmen der Strukturen der Europäischen Union ab. Eine Souveränität im Sinne einer freien Selbstverfügung gibt es hier für keinen Staats- und Regierungschef mehr – auch wenn manche Politiker dies zweifellos gerne so sehen würden oder nach wie vor meinen, dass es so sei!
Der Souveränitätsanspruch besteht völkerrechtlich nur noch auf dem Papier. De facto sind die Strukturen der internationalen Politik mittlerweile in einer derart komplexen Vermischung begriffen, dass von den Inhalten einer staatlichen Souveränität (mit Ausnahme bestimmter Politikfelder) nicht mehr die Rede sein kann. Vielleicht war dies auch realhistorisch im 19. Jahrhundert der Fall, als man den Begriff zum Maßstab des Völkerrechts gemacht hat, aber das ist für den Gegenwartsbefund an dieser Stelle nicht weiter relevant.
Ende des souveränen Staates
Was jedoch von Relevanz ist, ergibt sich in der Konsequenz aus dem Scheitern des Souveränitätskonzeptes: Wenn kein Staat dieser Welt in seiner politischen Handlungslogik unabhängig von den anderen Staaten ist, dann sind auch die Zuordnungsmuster für den modernen Staat anhand der Kategorien 1–3 nicht mehr so klar zu fixieren, wie dies für Jellinek am Ausgang des 19. Jahrhunderts der Fall war. Tatsächlich ist die Frage, wo die staatlichen Grenzen liegen, angesichts weltweiter Wanderungsbewegungen, die auf eine Entgrenzung von Räumen, Kulturen und Staatlichkeit zielen, nicht nur eine soziale, sondern auch eine politische, die neu beantwortet werden muss. Wo sind die rechtlichen Grenzen im Zeitalter der Internetkommunikation, bei der in Echtzeit über die Grenzen des Staates hinweg agiert wird? Was sollen noch staatliche Grenzen bewirken, wenn die Organisierte Kriminalität mit der Illegalität ihrer Strukturen diese Grenzen mühelos überwindet? Was bedeutet es für einen Staat, wenn ein zentraler Wirtschaftszweig seiner nationalen Ökonomie (und sogar nur eine bestimmte Firma) zum Global Player aufsteigt und Produkte in aller Welt anbietet? Wo werden dann die Steuern gezahlt und wo werden die Gewinne gutgeschrieben?
Entgrenzung des Staates
Mit der Entgrenzung des Staates verliert zugleich die Frage nach der kategorialen Bestimmung des Staatsvolkes ihre absolute Glaubwürdigkeitsfunktion und Legitimation. Wer oder was ist das Volk, wenn im Rahmen der Dynamik der Globalisierung Facharbeiter als sogenannter brain drain in großer Zahl in eine nationale Wirtschaft hinein migrieren und sich damit die Konstellation der arbeitsleistenden Gesellschaft jedes Jahr neu verändert? Das Konzept des Staatsvolkes bzw. der Staatsbürgergesellschaft ging historisch idealisierend von einer nationalen Gesellschaft aus, die in sich selbst sprachlich, kulturell (und oft auch religiös-konfessionell) große Gemeinsamkeiten aufwies (vgl. u.a. Deutsch 1977, Anderson 2005). Das ist aber bei vielen Staaten dieser Welt, auch bei den erfolgreichen Industrienationen des Westens, oft gar nicht mehr der Fall. Die USA, Kanada und Australien sind als Einwanderungsgesellschaften logischerweise Multi-Nation States (vgl. Connor 1994).
Wenn der Nationalstaat in seiner klassischen Modellbeschreibung seit der Französischen Revolution an sein Ende gekommen ist (vgl. u.a. Nitschke 2000, Zürn 2005), dann stellt sich damit auch die Frage, ob die Kategorie 3, die Regierung, noch in gleicher Weise zu begreifen ist, wie es das traditionelle Staatsmodell unterstellt? Auch hierin ist die Antwort eindeutig: die Erscheinungsformen haben sich derart verändert, dass die Beschreibungsmuster, wie sie etwa das Grundgesetz für die Bundesregierung formuliert, hier einer modifizierenden Revision bedürfen.
Das gilt ganz besonders für den Institutionenaufbau in der Bundesrepublik Deutschland. Hier vor allem für die Funktion des nationalen Parlaments. Der Deutsche Bundestag ist das Forum, in welchem sich die Repräsentation des deutschen Volkes als Staatsvolk widerspiegeln soll. Da die Bundesrepublik keine direkte Demokratie ist (vgl. Kapitel II), stellt das nationale Parlament den Ort dar, an dem sich die Interessen des deutschen Volkes in ihrer möglichst breiten gesellschaftlichen Pluralität repräsentieren sollen. Diese Repräsentanz geschieht über den Umweg der Parteienbildung, weil die Parteien jenes Medium sind, das aus Einzelinteressen Artikulationsforen für Gruppeninteressen herstellt – letztlich sogar mit dem Anspruch auf ein allgemeines Interesse (vgl. auch Kapitel IV).
Bundestag
Der Deutsche Bundestag als Forum der konkurrierenden Interessenvertretungen hat hierbei zentral die Funktion der Legitimierung von Politik. Der Bundestag übt daher (wie in allen Demokratien) die Legislativfunktion für die Politik aus, d.h., hier werden die Gesetze gemacht und beschlossen, mit denen dann das Volk regiert wird. Soweit die Theorie. In der Praxis sieht das etwas anders aus. Zwar ist die Hauptrolle des Deutschen Bundestages die Legislative, d.h. die gesetzgebende Gewalt im Staat. Doch darüber hinaus ist der Bundestag zugleich auch ein Parlament, das sich nach folgenden Kriterien bzw. Funktionen beschreiben lässt (vgl. u.a. Hesse/Ellwein 2012, Beyme 2017, Rudzio 2019):
a) Arbeitsparlament
b) Regierungsparlament
c) Verbändeparlament
d) Parlament der Berufspolitiker
Arbeitsparlament
Ein Arbeitsparlament ist der Deutsche Bundestag aufgrund seiner Funktion als gesetzgebende Gewalt. Es ist Aufgabe der gewählten Volksvertreter in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete die Gesetze zu machen, d.h., sie zu beraten und über sie mit Mehrheit zu beschließen. Diese Funktion ist zwar selbstverständlich für ein parlamentarisches System, doch meist wird von der Öffentlichkeit übersehen, welches Arbeitspensum dahintersteckt. In diversen Fachausschüssen geht es weniger um das allgemeine Mandat zur Repräsentation des Deutschen Volkes, als vielmehr um die inhaltliche Kompetenz des Abgeordneten für die Debatte über die einzelnen Politikfelder, zu denen die Gesetze erfolgen sollen. Ein juristisches Fachwissen ist hierbei nicht unbedingt notwendig, es ist aber auch nicht verkehrt, wenn man darüber verfügt. Schließlich geht es um die Ausgestaltung von Gesetzestexten. In den Ausschüssen zur Innen-, Gesundheits- oder Agrarpolitik etc. wird die eigentliche Kernarbeit geleistet. Lange bevor ein Gesetzestext zur Entscheidung für das Votum im Bundestag ansteht, wird in diesen Ausschüssen um das richtige Maß der Formulierungen, ihrer Bedeutung für die Umsetzung in der politischen Praxis im Pro- und Kontraverfahren zwischen den Abgeordneten und ihren Parteipositionen gerungen.
Diese Form der Arbeitstätigkeit entzieht sich dem Betrachter im Fernsehen. Deshalb ist bei Laien die Verwunderung (und das Unverständnis) oft groß, wenn man bei der Fernsehübertragung von Debatten im Deutschen Bundestag mitunter nur eine Handvoll Abgeordnete auf den Plenarbänken sieht. Die eigentliche Arbeit ist dann schon im Ausschuss geleistet, die Mehrheit ist meist klar (durch die Regierungsparteien) gegeben, und das Thema mag dann bei spärlicher Repräsentation ohnehin nur eine Frage für die Fachleute in den Parteien sein.
Regierungsparlament
Ein ganz wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag ein Regierungsparlament darstellt. Das entspricht nicht der klassischen Demokratievorstellung, die von einer Trennung der Gewalten im Sinne eines Gleichgewichts der Kräfte (checks and balances), wie etwa beim amerikanischen System, ausgeht. Für das deutsche Parlament ist hingegen eine Struktur kennzeichnend, bei der die Regierung bei den Abstimmungen im Parlament mit am Tisch sitzt. Und zwar in der Rolle der Stimmberechtigten. In der Regel ist jedes Regierungsmitglied zugleich auch Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Das führt dazu, dass die Regierung Gesetze mit beschließt, die sie selbst in das Parlament eingebracht hat – und die sie vor allem selbst als Exekutive ausführen wird! Eine klare Gewaltenteilung findet hier nicht statt. Die Bundeskanzlerin Merkel stimmt mit über die Gesetze ab, die ihr Kabinett a) vorgelegt hat und b) ausführen wird. Da in der Regel die Gesetzesvorschläge von der Regierung stammen und ganz selten nur von einzelnen Abgeordneten initiiert werden, hat die Regierungsseite im deutschen Parlamentarismus ein Übergewicht, das nicht unproblematisch ist (vgl. u.a. Feldkamp 2013, Andersen 2015, Meinel 2019). Der einzelne Abgeordnete hat gegenüber der fachlichen Expertise von Hunderten oder gar ein paar tausend Beamten in dem jeweiligen Ministerium mit seinem eigenen kleinen Sekretariat keine Chance auf eine substanzielle Mitgestaltung. Nur im Rahmen der Partei bzw. der Fraktion, also als Gruppe, lässt sich hier eine Interessensgestaltung organisieren.
Noch problematischer ist jedoch, dass durch die jeweilige Mehrheit der Parteien, welche konkret die Regierung stellen, zugleich schon die Mehrheit im Parlament festgelegt bzw. strukturiert ist. Von der ursprünglich sowohl verfassungshistorisch wie theoretisch gedachten Funktion einer kritischen Kontrollinstanz ist der Deutsche Bundestag damit weit entfernt. Eine kritische Kontrolle findet dann nur durch die jeweilige Opposition derjenigen Parteien statt, die gerade nicht in der Regierungsverantwortung sind.
Verbändeparlament
Die Verfassungsväter haben dieses strukturelle Übergewicht der Regierung im Deutschen Bundestag gewollt, um die Entscheidungsfähigkeit bei der Herstellung der Gesetze gewährleistet zu sehen. Das Parlament soll und muss zu einer Entscheidung kommen, das war eine der Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Die Funktion eines Verbändeparlaments ist hingegen eher ein Ergebnis der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik selbst. Im Grundgesetz steht davon nichts, de facto aber wirken Verbände aller Art, von Wirtschaftsverbänden bis hin zu den Gewerkschaften, mit ihren Interessen auf die Abgeordneten ein. In der Regel sind die Bundestagsabgeordneten Mitglied irgendeines oder gleich mehrerer Verbände, deren Interessen sie natürlich bei ihren Entscheidungen mit zu berücksichtigen haben. Gegen diese Lobbyfunktion ist demokratietheoretisch nichts einzuwenden, da wirtschaftliche und soziale Interessen zunächst auch jenseits der Politik organisiert werden sollen – das ist geradezu ein wesentliches Kennzeichen einer funktionsfähigen Demokratie (vgl. auch Kleinfeld/Zimmer/Willems 2007). Problematisch wird es immer dann und dort, wo dieser Lobbyismus nicht transparent gehalten wird, sich am öffentlichen Diskurs vorbei bewegt und im Hintergrund bestimmte Interessen einseitig abbildet (vgl. Lejeune 2015).
Abgeordnete als Berufspolitiker
Ebenso problematisch ist auch das vierte Kennzeichen für den Deutschen Bundestag, nämlich dass dieses Parlament in zunehmenden Maße ein Forum für Berufspolitiker geworden ist. Politik als Beruf ist seit Max Webers systematischer Reflexion zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem ganz neuen Typus in der (demokratischen) Politik geworden, welcher auch den deutschen Parlamentarismus als Erscheinungsform maßgeblich prägt (vgl. Weber 2002). Personen wie Oskar Lafontaine, Willy Brandt, Wolfgang Schäuble oder Helmut Kohl kamen bereits in jungen Jahren zur Politik – und blieben dort dann ihr Leben lang. Das bedeutet, eine berufliche Karriere findet nur über die Politik statt. Es gibt nichts anderes mehr als ein politisches Leben. Für die fachliche Expertise, für das Wissen um die Spielregeln in der Politik, für den Erfahrungsschatz ist dies zweifellos von Vorteil. Zum Nachteil wird dieses vollständige Leben in und für die Politik jedoch in Bezug auf die Arbeitsperspektive: man bleibt bis zu einem gewissen Grade nur noch in einer spezifischen Denkwelt verhaftet. Neue Strömungen in der Gesellschaft werden dann oft nicht wahrgenommen, nicht (oder zu spät) verstanden, was zu einer strukturellen Entfremdung des parteipolitischen Personals von der Gesellschaft führt.
Politik als Lebenszweck
Beamtete Politiker
Wer sein Leben lang in der Politik bleibt und damit den ökonomischen Erfolg der eigenen bürgerlichen Existenz sichert, der sucht vorrangig auch nach der Konstanz der eigenen personalen Existenz in der Politik. Die Dynamik gesellschaftlichen Wandels ist dann nicht das zentrale Ziel einer Perspektive, bei welcher der Politiker den Beruf zum Selbstinhalt macht. Austauschprozesse, die stets auch einen Erfahrungsaustausch zwischen ökonomischen, wissenschaftlichen und sozialen Akteuren mit sich bringen, wenn es zu einem personalen Wechsel von der Politik in die Wirtschaft oder Wissenschaft (und umgekehrt) kommt, finden in Deutschland – im Gegensatz zu den USA – viel zu wenig statt. Der Typus des freien Unternehmers, der temporär auch einmal im Deutschen Bundestag sitzt, ist in den Reihen der Abgeordneten unterrepräsentiert. Hausfrauen, immerhin sozial wie ökonomisch keine unwichtige Statusgruppe in der deutschen Gesellschaft, gibt es im Bundestag nicht. Was hingegen überwiegt, ist der Typus des Beamten, a) des Juristen und b) des Lehrers. Beide Berufsgruppen sind geradezu prädestiniert für die Rolle als Berufspolitiker. Die Juristen, weil es im Parlament um die Ausarbeitung von Gesetzen geht. Rechtsfragen sind hier vorrangig, das verlangt nach einer fachlichen Kompetenz schon in Bezug auf die Verwaltungssprache, mit der die staatliche Bürokratie zu adressieren ist. Lehrer sind geeignet, weil sie darauf trainiert worden sind zu kommunizieren – und dies mit einem pädagogisch vermittelnden Imperativ. Die Liste der Minister, die entweder das eine oder das andere waren, bevor sie in die Politik gingen, ist lang. Sie zeugt aber auch davon, dass das parlamentarische System der Bundesrepublik eine strukturelle Staatslastigkeit aufweist, weil eine Beamtenperspektive hier dominiert.
Die funktionale Bedeutung des Deutschen Bundestages als Legislative hat insofern auch eine Veränderung in ihrer Wertigkeit erfahren (müssen), da mit der Europäischen Integration in mehrfacher Hinsicht ein gewisser Bedeutungsverlust eingetreten ist (vgl. dazu Kapitel X). Viele wichtige Entscheidungen werden zwar noch von der Bundesregierung getroffen, jedoch geschieht dies auf dem Brüsseler Parkett beim Treffen der Fachminister bzw. der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Das nationale Parlament ist bei diesen Entscheidungen entweder zunächst gar nicht gefragt worden oder muss sich der Sachlogik der Inhalte in ihrer Legitimierung im Nachhinein beugen. Das reduziert den Stellenwert des Deutschen Bundestages als Repräsentanz der nationalen Souveränität.
Medien als vierte Gewalt
Ein weiterer Bedeutungsverlust ergibt sich durch das Zusammenspiel von Politik und Medien. Die Medien als sogenannte vierte Gewalt im Staat verleiten Politiker geradezu in Sachen Selbstdarstellung, was dazu führt, dass viele Diskussionen zunächst gar nicht im Parlament debattiert werden, sondern in der medialen Öffentlichkeit. Der politische Stil wird dadurch mitunter von seinen Inhalten abgekoppelt: Popularisierungen, Showeffekte und Skandalisierung der jeweils konträren Positionen ersetzen dann die argumentative Sachlogik (vgl. auch Wieczorek 2013). Der Anspruch auf den Nutzen des besseren Arguments, der dem parlamentarischen Geschehen zugrunde liegt, wird hier verzerrt durch Effekthascherei, die wiederum dann oft die (nachgelagerte) eigentliche Debatte im Bundestag beeinträchtigt.
Checks and Balances in der Exekutive
Die mediale Vereinnahmung betrifft auch das Tätigkeitsfeld der Regierung, insbesondere ihre verfassungspolitische Rolle im Wechselspiel mit den beiden parlamentarischen Institutionen, a) dem Bundestag, b) dem Bundesrat. Die Bundesregierung ist hierbei jedoch institutionell betrachtet das Schwergewicht im deutschen Staatsgefüge, auch wenn man die Regierungskompetenz bei Weitem nicht mit der politischen Funktion der Regierung in Frankreich oder etwa in den USA vergleichen kann. Big Government findet in der Bundesregierung nicht statt, weder an der Spitze in der Amtsrolle des Bundeskanzlers noch in den Gestaltungskompetenzen der Bundesministerien. Das liegt vor allem an der föderalen Struktur der Bundesrepublik, derzufolge die Länder über die meisten Exekutivkompetenzen verfügen, wenn es an die inhaltliche Umsetzung der Gesetzesbeschlüsse aus dem Deutschen Bundestag geht. Checks and Balances ist als Strukturprinzip für den Aufbau der staatlichen Institutionen systematisch gewollt und in Deutschland durch die föderale Struktur umgesetzt worden. Viele Politikfelder kann die Bundesregierung nur über die Mitwirkung der Länderregierungen, d.h. über die Mitgestaltung im Bundesrat erreichen. Die Exekutive ist demnach in Deutschland eine sektoral (nach Politikfeldern) wie auch vertikal (von oben nach unten) zergliederte Erscheinung. Abbildung 1 zeigt die Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen an, die hier für die Bundesregierung institutionell bestehen:
Abb.1 Die Bundesregierung zwischen den Institutionen
Der Bundeskanzler
Auch wenn die Darstellung hier nur vereinfacht die Wechselbeziehungen wiedergibt, so wird doch deutlich, wie sehr die Bundesregierung quasi eingehegt ist in ein komplexes Zusammenspiel a) mit dem Bundestag, b) mit dem Bundesrat, und dass diese beiden Foren wiederum aufeinander angewiesen sind. Das Staatsvolk ist hierbei für die Legitimation der Gesetze der eigentliche Souverän, was sich dadurch manifestiert, dass die Bürger die Abgeordneten als ihre Interessenvertreter in den Deutschen Bundestag wählen und darüber hinaus durch das Petitionsrecht sich mit ihren Beschwerden auch direkt an die Bundesregierung in Form der Fachministerien wenden können. Die Bürger wählen aber die Regierung nicht direkt, schon gar nicht denjenigen, der (oder die) ins Bundeskanzleramt einzieht. Die Wahl des Bundeskanzlers ergibt sich über die Mehrheit der Parteien, welche die Regierungsverantwortung übernehmen. Historisch sind das in Deutschland meist Koalitionsregierungen gewesen. Mit der einen Ausnahme von Konrad Adenauer, der formal im Jahre 1960 ohne eine weitere Partei regierte, hat es in der Geschichte der Bundesrepublik nur Koalitionsregierungen gegeben. Auch das limitiert die Rolle des Bundeskanzlers in seinen Möglichkeiten. Die Ausgestaltung der Regierungsmacht hängt dann nicht unwesentlich vom koordinierten Miteinander der Parteien ab, welche die Regierungsmehrheit haben (vgl. auch Decker 2011). Im Vergleich mit dem englischen Premierminister oder etwa dem amerikanischen Präsidenten ist das Amt des Bundeskanzlers ohnehin deutlich eingebunden in eine austarierte Machtbalance durch Bundestag und Bundesrat. Auch wenn es verschiedentlich immer wieder Anläufe auf eine Machtpolitik seitens eines Bundeskanzlers gegeben hat, wie etwa bei Gerhard Schröder mit seinen Äußerungen „Basta – So wird es gemacht“, ändert dies nichts an der Tatsache, dass der Bundeskanzler im Vergleich westlicher Verfassungssysteme eine eher eingeschränkte Gestaltungskompetenz hat.
Kanzlerdemokratie
Dies gilt auch in Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Bundesregierung selbst. Zwar ist immer wieder von einer Kanzlerdemokratie die Rede, weil die Medien und das interessierte Publikum zentral auf den Mann oder die Frau im Kanzleramt fixiert sind, dennoch ist die Machtposition des Kanzlers auf der Grundlage der Verfassung im Regierungskabinett ebenfalls limitiert. Erstens hängt der jeweilige Kanzler vom Goodwill seiner Partei ab, was zu keinem Zeitpunkt ein Selbstläufer ist, da es immer parteiinterne Kritiker gibt. Solange ein Kanzler erfolgreich ist, hat er die Mehrheit seiner Parteileute auf seiner Seite. Bei strukturellen Misserfolgen hat noch jede Partei in der Geschichte der Bundesrepublik irgendwann (z.T. erbarmungslos) Schluss gemacht mit der Gefolgschaft.
Richtlinienkompetenz
Zweitens hat der Bundeskanzler auf diejenigen Minister seiner Regierung wenig Zugriffsmöglichkeiten, die in der Regierungskoalition nicht seiner Partei angehören. Verfassungsrechtlich ist der Bundeskanzler nur primus inter pares, er steht dem Regierungskabinett zwar vor, doch seine wesentliche Funktion ist eine Moderation der Themen und die Vorgabe der grundlegenden Richtung in der Regierungspolitik. Ein unmittelbares Weisungsrecht gegenüber den Ministern gibt es für den Bundeskanzler nicht. Von der sogenannten Richtlinienkompetenz kann der Bundeskanzler daher auch nur bedingt Gebrauch machen. Er sollte von dieser Kompetenz auch eher absehen, denn wenn man darauf pocht, dann kann dies auch schon das Eingeständnis eines Scheiterns sein.
Insofern liegt die viel beschworene Macht des Bundeskanzlers eher in der informellen Ausgestaltung der Regierungspolitik (vgl. auch Florack/Grunden 2011). Gerade aber in dieser Grauzone zwischen formalen Prozessen und informellen Debatten und Entscheidungen besteht für den Bundeskanzler bei einer entsprechend taktisch orientierten Politikperspektive eine hohe Varianz an Einflussmöglichkeiten. Die Moderatorenfunktion führt zwar nicht zur Herrschaft im Sinne einer strikten Exekutive, die von oben bis unten schematisch durchregiert, wohl aber zu einer Machtposition im Sinne einer von allen in ihren Erwartungshaltungen zu adressierenden Instanz, an der man nicht vorbeigehen kann.
Bundesrat
Das eigentliche Gegengewicht zum Bundeskanzler und seiner Regierung ist nicht der Bundestag, sondern der Bundesrat. Als zweite Kammer des deutschen parlamentarischen Systems vertritt der Bundesrat die Interessen der Länder. Die 16 Länder im Bund organisieren in diesem Forum ihre spezifischen Politikansprüche, d.h. die Art und Weise, wie territorial im föderalen System der Bundesrepublik Politik gemacht wird.
Die Vertreter der Länder, die im Bundesrat sitzen, sind für diese Form der Repräsentation nicht direkt vom Volk gewählt worden. Sie verdanken ihre Legitimation der Mitgliedschaft in der jeweiligen Landesregierung. Meist sind es die Ministerpräsidenten, die Länderminister oder (je nach Thematik) die Staatssekretäre der einzelnen Fachressorts, die hier über die Gesetze beraten und beschließen. Es sind also – nach einer älteren Terminologie – nur Obrigkeiten, die hier versammelt sind und diskutieren. Da es sich ausschließlich um Regierungsvertreter handelt, ist der Bundesrat im Gegensatz zum Bundestag ein Forum der Repräsentation der Exekutiven in den Ländern. Die Politik, die im Bundestag mit den dort beschlossenen Gesetzen für ganz Deutschland angezeigt wird, bekommt im Bundesrat eine spezifischere, d.h. konkret auf die Bedürfnisse und Leistungsfähigkeit der Länder zugeschnittene Umsetzungsfunktion. Das gilt nicht für alle Politikbereiche, wohl aber für die meisten, da es die Länderverwaltungen sind, die z.B. Sozialpolitik oder Umweltpolitik bis in die kommunale Ebene hinein regeln und umsetzen müssen. Zwischen Bundestag und Bundesrat besteht, wenn man so will, eine produktive Konkurrenzsituation vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessenlagen – a) dem Gesamtstaat, b) dem einzelnen Bundesland gegenüber.
Stimmenverteilung der Länder im Bundesrat
Da aber die Parteien im Bund und in den Ländern (mit der einen Ausnahme der CSU in Bayern) die gleichen sind, bekommt diese systemische Konkurrenz noch einmal eine Aufladung durch die parteipolitischen bzw. ideologischen Positionierungen, die hier vorgenommen werden (vgl. auch Kapitel IV). Regiert z.B. eine bestimmte Partei im Bund, bedarf sie auch der Mehrheitsfähigkeit in den Ländern, um im Bundesrat mit ihren Zielen durchsetzungsfähig zu bleiben (vgl. auch Schmedes 2019). Das ist aufgrund der Verfassungsstruktur schwierig, weil die Stimmen der Länder nach ihrer demografischen Größe gewichtet sind, d.h., bevölkerungsreiche Länder wie etwa Nordrhein-Westfalen (NRW) haben mehr Stimmen im Bundesrat als die kleinen Stadtstaaten Bremen und Hamburg. Im Einzelnen verteilen sich die 69 Stimmen im Bundesrat wie folgt:
Große Länder | 6 Stimmen = | Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg |
5 Stimmen = | Hessen | |
Mittelgroße Länder | 4 Stimmen = | Rheinland-Pfalz, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Berlin, Schleswig-Holstein |
Kleine Länder | 3 Stimmen = | Saarland, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern |
Komplexität durch wechselnde Regierungskoalitionen
Die Proportionen sind zwar nicht sauber gewichtet hinsichtlich der demografischen Größe, demzufolge ein Bundesland wie NRW mit ca. 18 Millionen Einwohner (immerhin größer als die meisten Nationalstaaten in der Europäischen Union) nur das Doppelte an Stimmen hat wie etwa das Saarland mit seinen knapp über einer Million Einwohnern. Die Relation hinsichtlich der demografischen Bedeutung wird also nur annähernd in der Stimmengewichtung angedeutet. Die Entscheidungs- und Machtkompetenz der Länder wird zudem dadurch noch komplizierter, dass die Länderregierungen (ebenso wie die Bundesregierung) auf der Basis von Parteienkoalitionen zustande kommen. Selbst in Bayern ist die jahrzehntelange Alleinherrschaft der CSU mittlerweile Geschichte. Das bedingt für die Entscheidungen im Bundesrat komplexe Abstimmungsprozesse, denn wenn sich zwei Parteien in der Regierungskoalition in einem Bundesland bei einer Gesetzesfrage nicht einig sind, möglicherweise bedingt durch die Tatsache, dass die eine Partei zugleich auf Bundesebene in der Regierungsverantwortung ist, während sich die andere im Bundestag in der Oppositionsrolle befindet, dann ist eine Stimmenenthaltung für das betreffende Bundesland der einzig gangbare Weg, da die Stimmen der Länder im Bundesrat einstimmig abgegeben werden müssen. Auch muss eine Partei auf regionaler Ebene im Bundesland A nicht die Position teilen, die sie etwa als Koalitionspartner in der Bundesregierung vertritt.
Vor dem Hintergrund dieser komplexen Entscheidungsstrukturen ist das Regieren in der Bundesrepublik Deutschland als ein in sich horizontal wie vertikal zergliederter Prozess anzusehen. Der Föderalismus macht die Entscheidungsfrage für die nationale Politik nicht einfacher, was aber von der Verfassung im Sinne der Teilung der Gewalten ausdrücklich gewünscht ist: Politik soll ein plurales Geschäft in der wechselseitigen Konkurrenz der lokalen, regionalen bis hin zu den nationalen Interessen sein.
Staatsqualität der Länder im Bund
Die Länder haben hierfür ihre eigene Staatsqualität als Gliederungen des Gesamtstaates zugewiesen bekommen. Dies umfasst im Wesentlichen:
a) eine eigene Verfassung
b) eigene Amtsträger und Institutionen
c) eigene Zuständigkeitsbereiche
Kultur- und Polizeihoheit der Länder
Die Kulturhoheit gehört zu den spezifischen Zuständigkeitsbereichen der Länder ebenso wie die Polizeihoheit. In der logischen Konsequenz beinhaltet dies, dass das große Feld der Beamten in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf der Ebene des Bundes eingesetzt wird, sondern im Bereich der Länderverwaltungen. Lehrer und Polizisten stellen das Hauptpersonal der Beamtenschaft in Deutschland.