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II. Polity: Das Grundgesetz

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Verfassung

Die Frage nach der Verfassung steht in der Tagespolitik meist nicht im Vordergrund, obwohl sie das konstitutive Element für alltägliche Politik ist, besonders wenn diese demokratisch sein will. Denn in und mit der Verfassung wird der normative Referenzrahmen festgelegt und wird definiert, in welcher Weise die Institutionen hierzu stehen sollen bzw. wie sie überhaupt arbeiten (vgl. u.a. Preuß 1994, Vorländer 2013). Die Polity als Verfassungsfrage liefert demnach die Grundlagen der Legitimation von Politik. In Demokratien ist dies die geschriebene Verfassung, es kann aber auch die Qualität der Politischen Kultur insgesamt sein, die zur Frage nach der Verfasstheit einer Gesellschaft, eines Volkes, einer Nation Auskunft gibt.

Common Law in Großbritannien

Nicht notwendigerweise benötigt ein Volk eine geschriebene Verfassung, um sich politische Institutionen mit einem gesetzlichen Regelwerk aufzuerlegen. Großbritannien als Urmodell der Demokratie kommt bis zum heutigen Tage ohne eine geschriebene Verfassung aus. Die Legitimation der Politik kann auch durch die Systematik einer von Fall zu Fall bezogenen Interpretation stattfinden, bei der die Tradition als solche die Standards setzt, mit denen Politik gemacht wird. Die englische Orientierung an einem Common-Law-Modell, bei dem die historische Beweisführung kraft der Traditionen in der Gesellschaft den Ausschlag gibt (vgl. auch Potter 2015), ist jedoch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts einmalig, in gewisser Weise sogar ein Anachronismus, da selbst Diktaturen ihre Herrschaft in Verfassungstexten deklarieren.

Generell legen Staaten ihre Herrschaftsstrukturen und die Erwartungshaltungen an die Bürgerinnen und Bürger in Verfassungen fest. Die Polity zeigt insofern den Ordnungsrahmen an, in dem sich die staatliche Politik bewegt und – sofern es richtige Demokratien sind – wo ihre Grenzen liegen. Die amerikanische Verfassung ist hier historisch eine der ersten, in der die Fragen nach der Qualität und dem Gestaltungsspielraum der politischen Institutionen im Zusammenhang mit der Bewertung des Individuums als politisches Subjekt systematisch durchdacht worden ist (vgl. Lhotta 2010). Auch wenn schon in der Antike Verfassungsfragen kontrovers diskutiert und reflektiert worden sind und bereits Aristoteles die politische Ordnung seiner Wahlheimat Athen in einer systematischen Beschreibung festgehalten hat (vgl. Aristoteles 1993), so ist doch der Typus der verbindlich formulierten Verfassung ein Produkt der Neuzeit, spezifisch des 18. Jahrhunderts.

Grundgesetz

Dem zeigt sich auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet. Die deutsche Verfassung folgt systematisch den konstitutionellen Verfassungsfragen des 19. Jahrhunderts (vgl. u.a. Mayer-Tasch 2008, Grimm 1987). Insofern lässt sich mit dem Grundgesetz (GG) paradigmatisch anzeigen, a) was die normativen Bedingungen sind, unter denen die Bürger und Bürgerinnen in Deutschland ihre Existenz organisieren (können), und was sie dabei b) praktisch beachten müssen, damit diese Selbstorganisation in Staat und Gesellschaft auch funktioniert (vgl. GG 2018).

Adenauers Leistung

Verfassungen wie das Grundgesetz fallen jedoch nicht einfach vom Himmel, sondern sind das Ergebnis bestimmter (oft über lange Zeiträume hinweg ausgetragener) Diskurse, in denen vor allem einzelne Persönlichkeiten allein durch die Kraft ihrer Argumente oder ihren Tatendrang den Ausschlag geben können. Das gilt auch für die Entstehungsphase des Grundgesetzes, das ohne die Persönlichkeit Konrad Adenauers in dieser Weise nicht zustande gekommen wäre. Mit der Person Adenauers verbindet sich nicht einfach nur die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Entstehung und Ausgestaltung für die ersten eineinhalb Jahrzehnte, sondern eben auch ein nicht unwesentlicher Teil der Systematik und der normativen Qualität der demokratischen Verfassung selbst.

Am Anfang war Adenauer, kann man ohne Übertreibung sagen (vgl. Schwarz 1986). Die Polity der Bundesrepublik verbindet sich maßgeblich mit seinem Namen. Die Westanbindung der Bundesrepublik im Rahmen der Europäischen Integration, der Beitritt zur NATO, all dies ist zentral durch Adenauers Wirken zustande gekommen. Eine Politik, die keineswegs unumstritten war, sondern im Gegenteil heftige Kontroversen bis hin in die eigene Partei hinein ausgelöst hat.

Adenauer war zum Zeitpunkt der Debatte und Ausgestaltung des Grundgesetzes in einem Alter, in dem man sich eigentlich eher aus der Politik verabschiedet. Das ist für die Betrachtung des Grundgesetzes nicht unwichtig, weil Adenauer als zwar nicht alleiniger, so doch wichtiger Stichwortgeber und Vermittler von Interessen eine Perspektive an die demokratische Verfassung stellte, die weitgehend von normativen Mustern aus dem 19. Jahrhundert bestimmt war. Was die Männer und (vier) Frauen im Parlamentarischen Rat im Mai 1949 beschlossen haben, ist von Adenauer als Vorsitzendem des Rats mit seiner Unterschrift besiegelt worden.

Stabilität und Dynamik des Grundgesetzes

Das Grundgesetz war gedacht als Provisorium, als Vorverfassung vor der eigentlichen nationalen Verfassung, die erst dann zustande kommen sollte, wenn das deutsche Volk wieder vereint sein würde. Herausgekommen ist jedoch eine bemerkenswert gut durchdachte Verfassungsstruktur, die derart erfolgreich wurde, dass sie auch nach der deutschen Wiedervereinigung nicht aufgegeben worden ist, sondern zu Recht als Verfassung der Bundesrepublik Deutschland weiterhin gilt. Das Grundgesetz hat ungeachtet seiner ursprünglich provisorisch gedachten Rolle die zwei wesentlichen Fragen, die an eine nationale Verfassung gestellt werden, erstaunlich systematisch beantwortet: 1) wie trägt eine Verfassung zur Stabilität eines Staates bei – und 2) wie sehr können gleichzeitig Prozesse der Veränderung in einer Verfassung so implementiert werden, dass die Substanz dieser Verfassung nicht darunter leidet?

Nachhaltigkeit und Dynamik sind im Grundgesetz recht gut austariert. Im mittlerweile 70-jährigen Bestehen des Grundgesetzes wird dem gesellschaftlichen Wandel ebenso Rechnung getragen wie der Orientierung an der Stabilität des politischen Systems und seiner normativen Grundlagen. Das erklärt den Erfolg der Verfassung, die allen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zum Trotz sich in ihren Kernaussagen treu geblieben ist. Eine Änderung des Grundgesetzes lässt sich im Parlament nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit herstellen. Diese hohe Hürde erklärt, warum Grundgesetzänderungen nicht täglich stattfinden. Modischen Meinungen ist damit ein Riegel vorgeschoben. In den 60 Jahren von 1949 bis 2009 ist das Grundgesetz genau 60 Mal geändert worden, also gab es statistisch eine Änderung pro Jahr.

Verfassungsänderungen

Die meisten Verfassungsänderungen hat es jedoch erst nach der deutschen Wiedervereinigung gegeben. Dies ist allerdings nicht so sehr durch die Wiedervereinigung selbst bedingt, sondern durch den gleichzeitig ablaufenden Prozess der Europäischen Integration, da mit dem Vertrag von Maastricht (1992) eine ganze Reihe von Änderungen im Grundgesetz notwendig wurden, um die deutsche Verfassung für die Europäische Union (EU) anschlussfähig zu machen (vgl. Nitschke 1997).

Themenbereiche des Grundgesetzes

Der Aufbau des Grundgesetzes folgt einer strengen Systematik, nach welcher die einzelnen Themenbereiche (Normen, Staatszielbestimmungen, Institutionen, Akteure) klar zuzuordnen sind. Im Einzelnen sind dies:

Präambel

I. Grundrechte

II. Der Bund und die Länder

III. Der Bundestag

IV. Der Bundesrat

V. Der Bundespräsident

VI. Die Bundesregierung

VII. Die Gesetzgebung des Bundes

VIII. Die Ausführung der Bundesgesetze und die Bundesverwaltung

IX. Die Rechtsprechung

X. Das Finanzwesen

X.a. Verteidigungsfall

XI. Übergangs- und Schlussbestimmungen

In den insgesamt 146 Artikeln wird das Leben der Bürgerinnen und Bürger, ihr Umgang mit den Institutionen des Staates, die Mechanismen zwischen den staatlichen Instanzen, ihre Zuständigkeiten und Abhängigkeiten als Ordnungsstruktur dargelegt und mit einer möglichst klaren juristischen Terminologie geregelt. Für das Verständnis, was diese Verfassung alles beinhaltet, ist es für den einzelnen Bürger nicht notwendig, die Artikel des Grundgesetzes jeweils für sich auswendig gelernt zu haben. Im Prinzip reicht eine grobe Orientierung schon aus, mit der man sich auf dem Boden des Grundgesetzes zurechtfinden kann. Der Dschungel der Institutionen ist zunächst auch zu komplex, als dass man erwarten könnte, der Bürger würde von einem Alltagsverständnis der Politik aus das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat, die Funktionen und Kompetenzen des Bundeskanzlers, die Rolle des Bundespräsidenten etc. so ohne Weiteres verstehen. Mitunter haben selbst Politiker hier ihre Probleme.

Präambel des Grundgesetzes

Was aber hingegen erwartet werden kann für das Verstehen des Grundgesetzes, ist die normative Zuordnung, welche die Verfassung für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes vornimmt. Hier appelliert das Grundgesetz geradezu an die Maximen der Vernunft und der Einsichtsfähigkeit in Form einer Selbstreflexion durch den mündigen Bürger. Dieser Appellcharakter drückt sich auch gleich in der Präambel aus, die der Verfassung vorangestellt ist. Das ist zunächst schon ungewöhnlich, denn eine Verfassung benötigt nicht notwendigerweise auch eine Präambel. Die meisten westlichen Verfassungstexte kommen ohne eine solche aus. Adenauer und Co. waren jedoch der Meinung, dass aufgrund der besonderen Umstände wegen der Teilung Deutschlands, der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Abgründe, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, eine Präambel für das Provisorium der Verfassung wichtig sei.

Die Präambel zum Grundgesetz zeigt insofern an, in welche Richtung man sich diese Verfassung denken soll und wer ihr Adressat ist (GG 2018: Präambel): „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Das Deutsche Volk

„Das Deutsche Volk“ wird hier mit dem normativen Anspruch auch im Hinblick auf die Einwohner in der sowjetisch besetzten Zone hin formuliert. Es ist aber zunächst nicht mehr als ein Appell. Auch der Blick auf Europa ist vor dem Hintergrund des soeben beendeten Zweiten Weltkriegs der Hinweis auf eine politische Zielsetzung, dass ein Frieden auf dem Kontinent dauerhaft nur erreicht werden kann, wenn der Nationalstaat sich einbettet in eine Struktur, die von einer Gemeinsamkeit der Staaten in Europa ausgeht. Aber das ist zunächst (noch) Zukunftsmusik. Entscheidender für das Verständnis des Grundgesetzes ist der normative Anspruch, der gleich zentral im ersten Satz der Präambel erhoben wird: die Verantwortung vor Gott.

Verantwortung vor Gott

Dieser Passus war durchaus strittig in der Debatte des Parlamentarischen Rats, letztlich haben sich hier Adenauer und seine christlich-konservativen Mitstreiter durchgesetzt. Sie haben auf die Relation zu Gott vor allem deshalb gedrungen, um die normative Perversion, die das Dritte Reich in seiner Rechtskonstruktion ergeben hatte, deutlich zu kennzeichnen. Denn das NS-System blieb trotz aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit formal betrachtet ein Rechtsstaat. Aus der Sicht von Adenauer und Co. war es gerade der Positivismus einer ganz auf Mehrheiten und Macht ausgerichteten Politik, der dazu geführt hat, dass Auschwitz möglich wurde. Wenn man nur noch den Menschen gegenüber verantwortlich ist, eventuell sogar nur noch einem einzigen Führer, dann gibt es keine Schranke mehr für ein individuelles Gewissen, denn dann kann die Mehrheit mit Macht diktieren, was das Richtige sei.

Die Humanität des Menschen in seiner individuellen Existenz und geistigen Verfasstheit kann und darf aber niemals zentral durch die Politik definiert werden. Dann wäre es jedenfalls keine demokratische Politik mehr, sondern eine Totalitäre. Die Verantwortung vor Gott kennzeichnet daher eine Appellinstanz, die sich sowohl normativ als auch funktional dem Machtanspruch der irdischen Welt (und dazu gehört Politik immer) entzieht. Was politisch geboten erscheint, muss daher noch keineswegs richtig sein, erst recht dann nicht, wenn eine Mehrheit auf den Straßen lautstark oder sogar mit Gewalt dies einfordert.

Der Bezug zu Gott als Appellinstanz gleich zu Beginn des Grundgesetzes im ersten Satz der Präambel verweist also auf eine normative Dignität und Größe, die sich dem rein positivistischen Verständnis von Politik entzieht. Jenseits aller Macht des Staates gibt es immer noch eine Macht, die größer ist. Was Wahrheit ist, kann nie allein durch Gesetze, die Menschen nach ihren Launen und begrenzten Vernunfteinsichten machen, bestimmt werden. Insofern bleibt mit dem Gottesverweis immer ein Rest an Unverfügbarkeit für die Politik bestehen (vgl. auch Walther 2004). Genau daran erinnert der Passus in der Präambel.

Diese Erinnerung ist jedoch heute strittiger denn je. Heutzutage würde es für eine solche Formulierung im Deutschen Bundestag vermutlich keine Mehrheit mehr geben. Nicht zufällig waren Gerhard Schröder und Joschka Fischer bei ihrer Vereidigung zum Bundeskanzler bzw. Außenminister 1998 die ersten Politiker, die ihre Ämter in einer Bundesregierung ohne den Eid auf Gott geleistet haben. Für viele Parlamentarier und Politiker generell ist der Gottesverweis ein Indikator geworden, der ihrer Ansicht nach nicht in die Verfassung gehört. Die rechtsphilosophischen und normativen Gründe, die Adenauer und Co. motiviert haben, spielen in der Gegenwart keine zentrale Rolle mehr. Ein Terminus, wie der „von dem Willen beseelt“, in dem vom Verständnis einer Seele ausgegangen wird, die dann auch noch unsterblich sein soll, ist für Atheisten nicht hinnehmbar.

Christliches Naturrecht

Papst Benedikt XVI. hat daher nicht zufällig in seiner programmatischen Rede im Deutschen Bundestag (2011) betont, wie sehr die christliche Auslegung des Naturrechts die Vernunftansprüche des Menschen als Bürger mitbestimmt. Es geht nicht einfach um eine Vernunft, „die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann“ (Benedikt XVI. 2011: 2). Es geht vielmehr um eine Vernunft, die einen ethischen Kern aufweist, der nicht hintergehbar ist, aus welchen praktischen Gründen auch immer. Das setzt ein Bewusstsein voraus bzw. eine Anerkennung, dass man als Mensch von der Natur (und in der Natur) gemacht worden ist, die nicht einfach durch willkürliche Verfügungen anderer Menschen im Namen einer sogenannten richtigen Politik zerstört werden darf. „Der Mensch“, so Benedikt XVI. (ebd.), „ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“

Artikel 1 des Grundgesetzes

Der Hinweis auf die christlichen Grundlagen des modernen Naturrechts gilt auch in Bezug auf Artikel 1 des Grundgesetzes (GG 2018: Art. 1.1): „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dieser Satz stellt gewissermaßen als Eingangskode in das Grundgesetz die Substanz aller weiteren Grundrechte dar. Der Appell an die Würde des Menschen, die unantastbar sei, ist in dieser Zuordnung einzigartig. Keine andere demokratische Verfassung kennt eine solche Festlegung, schon gar nicht an derart prominenter Position. Insofern ist Artikel 1, Satz 1 des Grundgesetzes eine deutsche Besonderheit. Sie wird nur verständlich vor dem Hintergrund der Exzesse des Dritten Reiches.

Die Väter und Mütter des Parlamentarischen Rats wollten mit diesem Satz gegenüber den Abgründen in der Staatlichkeit des Dritten Reiches eine eindeutige Schranke ziehen. So etwas wie Auschwitz, das als Paradigma steht für Massenmord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im staatlichen Auftrag, soll und darf sich nicht wiederholen. Nicht der Staat steht in der demokratischen Kultur des Grundgesetzes voran, sondern es ist das Individuum, der einzelne Bürger, der als Mensch sein natürliches Menschenrecht stets behält, egal wie die sozialen und politischen Umstände sein mögen. Der demokratische Verfassungsstaat hat die Verpflichtung, die Würde seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Diese müssen allerdings auch untereinander diese Würde als wertvolles Gut ihrer Existenz betrachten.

Die Würde des Menschen

Doch was ist die Würde des Menschen? Die meisten Zeitgenossen betrachten die Frage der Würde als einen Ausdruck für ihre individuelle Selbstverwirklichung. Dabei hat dies eigentlich gar nichts mit der Würde zu tun. Die Würde eines Menschen manifestiert sich in der Qualität seiner Selbstachtung, der Art und Weise, wie jeder Einzelne über sich denkt und wie er oder sie von anderen Menschen behandelt werden will. Die Selbstachtung ist die Zuschreibung der Identität einer Person. Sie ist damit integraler Bestandteil dessen, was einen jeden Menschen zu einer natürlichen Persönlichkeit macht. Dieses natürliche Anrecht auf die je eigene Selbstachtung im Sinne einer Selbstauslegung als Person kann und darf niemandem genommen werden. Die Würde ist damit ein konstitutives Element für die Menschenrechte insgesamt. Wer sich hieran vergeht bzw. dies bewusst in Abrede stellt, vergeht sich nicht nur an der jeweiligen Person (und ihrer Würde), sondern auch an den Grundsätzen des deutschen Verfassungsstaats, der mit Artikel 1 (1) GG seine oberste Maxime formuliert.

Da jeder Mensch seine Würde als Akt einer Selbstzuschreibung seiner personalen Identität versteht (vgl. auch Quante 2010), muss der Staat im Rahmen seiner Institutionen die Relation der Würdeverhältnisse unter den Bürgern garantieren bzw. dort wiederherstellen, wo (und wenn) diese diskreditiert werden. Der Satz von Artikel 1 zielt auf die Unantastbarkeit. Die Aussage, derzufolge die Würde eines Menschen unantastbar ist, wirkt paradox, da faktisch jederzeit die personale Würde bestritten werden kann, Bürgerinnen und Bürger in ihrer Selbstwertschätzung diskreditiert, verleumdet, angefeindet und verletzt werden. Die Verfassungsväter insistieren mit ihrer Formulierung hingegen auf die Unabdingbarkeit der Würde, die auch dann bestehen bleibt, wenn sie de facto angegriffen wird. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine metaphysische Aussage: egal, wie die Rechts- und Herrschaftsverhältnisse sein mögen, das Recht des Menschen in Bezug auf seine Würde bleibt nicht verhandelbar, ist vom Staat nicht zu verändern – so, wie auch der Gottesbezug sich der staatlichen Verfügung entzieht.

Artikel 1 (1) GG bezieht sich in erster Linie auf die normative Disposition der Bürgerinnen und Bürger, materielle Verpflichtungen (vor allem seitens des Staates) sind damit nicht gemeint. Daher sind die immer wiederkehrenden Versuche, z.B. im Bereich der Sozialpolitik, etwa bei der Sozialhilfe etc., mit der Würde des Menschen zu argumentieren, von der Rechtsprechung her abgelehnt worden.

Artikel 2 des Grundgesetzes

Anders verhält es sich hier hingegen bei der Aussage von Artikel 2 GG, in der es um die freie Entfaltung der Persönlichkeit geht. Insbesondere Satz 2 von Artikel 2 hat hier in der jüngeren Vergangenheit Furore gemacht (GG 2018: Artikel 2.2): „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“

Folterverbot

Diese Festlegung betrifft unmittelbar die konkrete Ausgestaltung in der politischen Praxis, vor allem im Vollzug der staatlichen Institutionen. Artikel 2 (2) ist wie Artikel 1 vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Dritten Reiches geschrieben worden. Folter und Verstümmelung im staatlichen Auftrag sollen hiermit eindeutig unterbunden werden. In die Freiheitsrechte einer Person kann nur auf der Grundlage von Strafgesetzen und polizeilichen Bestimmungen eingegriffen werden. Doch das, was sich auf dem Papier so schön eindeutig lesen lässt, ist in der Praxis mitunter komplizierter. Wie der Fall eines Geiselnehmers und Mörders in Frankfurt am Main im Jahre 2002 zeigt, kann eine Situation auftreten, in der sich die ermittelnden Polizisten in einer Zwickmühle befinden. Der Täter hatte ein Kind entführt und ermordet und war drei Tage später nach erfolgter Geldübergabe von der Polizei verhaftet worden. Der Täter stritt zunächst alles ab und suggerierte bei der Vernehmung, dass die Geisel noch leben würde, gab jedoch das Versteck nicht preis. Daraufhin erlaubte der zuständige Polizei-Vizepräsident, dem Täter im Verhör Gewaltanwendung anzudrohen. Der Vizepräsident machte über diesen Sachverhalt eigens einen Aktenvermerk. Aus Angst vor der angedrohten Gewaltmaßnahme gab der Täter dann das Versteck der bereits toten Geisel preis (vgl. u.a. Broder 2011).

Gegen den Polizei-Vizepräsidenten wurde ein Verfahren wegen Aussageerpressung eingeleitet, das mit einer Verurteilung zur Geldstrafe 2003 abgeschlossen worden ist. Im gleichen Jahr wurde der Täter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen der besonderen Schwere der Schuld verurteilt. Im Juli 2010 klagte er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und bekam in Teilen seiner Anklage Recht. Demzufolge haben die Beamten Hessens bei ihrem seinerzeitigen Vorgehen gegen die internationale Konvention zum Folterverbot verstoßen, welche von der Bundesrepublik Deutschland mit unterzeichnet worden ist.

Notsituation in der Debatte

Über diesen und ähnlich gelagerte Fälle hat sich in der Öffentlichkeit wie auch in der juristischen Fachwelt eine heftige Debatte entfacht. Das Verhalten des Frankfurter Vizepräsidenten galt vielen als praktikabler Ausweg aus einer extremen Situation. Das geltende Recht sieht jedoch eine solche Lösung für die Ermittlungsbehörden nicht vor. Unter dem Begriff der Rettungsfolter führen Strafrechtler und Kriminologen nicht erst seit diesem Fall eine Diskussion darüber, ob und inwiefern es bei bestimmten Notsituationen für den Staat doch erlaubt sein könne, Ermittlungen mit Gewaltanwendung zu betreiben (vgl. Nitschke 2005, Wang 2014). Die Pro- und Kontra-Debatte wird besonders auch im Hinblick auf Bedrohungslagen wie die von 9/11 geführt. Was darf der Staat tun, wenn es zum Äußersten kommt? Darf ein Verteidigungsminister z.B. ein gekapertes Flugzeug abschießen lassen, wenn damit ein Anschlag wie am 11. September 2001 verhindert werden kann? Mehrfach ist hier auch das Bundesverfassungsgericht zu einem Urteil aufgefordert worden. Bisher ist mit dem Verweis auf einen staatlichen Notstand die Sachlage allerdings nicht klarer geworden. Artikel 2 (2) scheint eindeutig, doch in der Praxis zeigen sich Spannungspunkte für die Auslegung. Beim Finalen Rettungsschuss, mit dem die Polizei Geiselnehmer gezielt töten darf, wenn Gefahr für das Leben der Geiseln droht, geht es schon lange nicht mehr um die körperliche Unversehrtheit der Person. Die Erlaubnis zur gezielten Liquidierung ist Bestandteil der Gesetze für die Polizeien der Länder.

Artikel 3 des Grundgesetzes

Gleichheitsgebot

Theorie und Wirklichkeit liegen aber nicht nur bei Artikel 2 (2) GG nicht deckungsgleich. Streng genommen trifft dies für die meisten Punkte der Verfassung zu. Der praktische Wirklichkeitsvollzug in und durch die Politik muss unterschieden werden von der juristischen Terminologie, die ein Text wie das Grundgesetz pro forma anzeigt. Das gilt z.B. auch für Artikel 3 GG. Hier heißt es in Satz 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Damit ist jedoch nicht gemeint, dass alle Bürger den gleichen gesetzlichen Bestimmungen unterliegen. Zwar ist das Recht als Gesetz für alle gleich, aber in der Qualität der Anwendung unterliegt jeder differenten Bestimmungsmöglichkeiten, die von dem jeweiligen Kriterienkatalog abhängen, die angesetzt werden. Zwischen jugendlichen und erwachsenen Straftätern wird zu Recht unterschieden. Auch die Frage der Höhe des Einkommens führt zu einer unterschiedlichen Behandlung durch die Steuergesetze. Artikel 3 (1) GG meint also zunächst nur die formale Gleichheit in der Perspektive auf die gesetzlichen Bestimmungen. Welche das dann konkret für einen Bürger sind, hängt von seiner Einordnung in spezifische Bereiche der Altersgruppen, der Erwerbtätigkeit, der personalen Verantwortung etc. ab.

Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern

Auch der zweite Satz von Artikel 3 formuliert einen Rechtsanspruch, der in der Faktizität der Erscheinungsformen in der Praxis dazu geführt hat, dass die Umsetzung a) lange hat auf sich warten lassen und b) bis zum heutigen Tage immer noch Defizite aufweist. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, heißt es da (GG 2018: Artikel 3.2). Doch weil die politische und ökonomische Praxis in Deutschland trotz dieser Aussage über Jahrzehnte hinweg eine andere war, hat die rot-grüne Bundesregierung 1999 einen Zusatz zu Artikel 3 (2) eingebracht, der da lautet (ebd.): „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Damit erkennt der Verfassungsgeber, der Deutsche Bundestag, an, dass die sozialpolitische Realität in der Frage der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in der deutschen Gesellschaft nach wie vor reformbedürftig ist. Zwar werden im öffentlichen Dienst die Prinzipien der Frauenförderung bzw. (neuerdings) der Gleichstellungspolitik schon seit mehr als 30 Jahren verfolgt, d.h. beispielsweise, dass es für gleiche Arbeit den gleichen Lohn gibt. Jedoch sind es vor allem bestimmte Bereiche der Privatwirtschaft, z.B. im Banken- und Versicherungssektor, die sich bisher durch eine recht einseitige Männerdominanz und eine unterschiedliche Bezahlung (zulasten der Frauen) auch in den ersten zwei Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts nach wie vor auszeichnen.

Die Realität einer Verfassung wird immer durch die politische und ökonomische Praxis bestimmt. Insofern ist deutlich zu unterscheiden zwischen den normativen Aussagen, die im Grundgesetz signifikant formuliert werden, und der alltäglichen Praxis in ihrer konkreten Ausgestaltung. Das erweist sich vor allem im Hinblick auf die Staatsziele, von denen das Grundgesetz gleich vier in einem einzigen Artikel thematisiert. Während in den Artikeln 1–19 die Grundlagen der Menschenrechte als Freiheitsrechte für den einzelnen Bürger formuliert und in ihren Grundzügen umrissen werden, zeigt Artikel 20 die Strukturprinzipien des Staates an.

Staatsziele

Gleich der erste Satz von Artikel 20 indiziert die vier zentralen Staatsziele für die deutsche Verfassung (GG 2018: Artikel 20.1): „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, heißt es hier lapidar in aller Kürze. Dahinter verbergen sich folgende Staatszielbestimmungen für das deutsche Volk:

1) Republik

2) Demokratie

3) Sozialstaatlichkeit

4) Föderalsystem

Die Republik

Es mag auch auf den ersten Blick verwundern, warum Demokratie nicht mit dem Republikgedanken identisch sein soll. Tatsächlich ist es jedoch richtig gewesen, dass die Verfassungsväter 1949 hierin eine Unterscheidung vorgenommen haben. Nicht alle Staaten, die sich Demokratie nennen, betonen zugleich den Charakter einer Republik – und umgekehrt sind auch nicht alle Republiken dieser Welt automatisch eine Demokratie. China z.B. nennt sich eine Volksrepublik und betont auch (derzeit), wie wichtig der Volksgedanke (vermittelt über die Partei) sei, doch eine Demokratie ist das Land zweifellos nicht. Umgekehrt ist Frankreich eine Demokratie, betont aber vom konstitutionellen Selbstverständnis das republikanische Element. Worin besteht also der Unterschied?

Demokratie

Die Differenz liegt a) in der historischen Erscheinungsform des Begriffs und b) in dem damit verbundenen Institutionenverständnis. Auch wenn der Demokratie-Begriff durch das Beispiel Athens im 5. Jahrhundert v. Chr. der historisch ältere Begriff ist, so stellt doch die Zuordnung des Staates zur Republik für die Entstehungsphase des modernen europäischen Staates seit dem 16. und 17. Jahrhundert die strukturell zunächst relevantere Bedeutungsfunktion dar. Die Republik verweist demzufolge auf eine Herrschaft im Namen des Volkes, ohne dabei notwendigerweise mit den Wahlmechanismen der Demokratie verknüpft zu sein. Denn Demokratie meint zunächst nichts anderes als den reinen Akt der Wahl sowie die Schaffung bestimmter prozeduraler Voraussetzungen hierfür. Streng genommen geht es bei einer reinen Demokratie immer (nur) um Direktdemokratie. Diese aber hat sich im modernen Staat in vollständiger Weise nirgendwo umsetzen lassen. Was zur Herrschaftswirklichkeit wurde, und daran appelliert das Grundgesetz, ist hingegen die repräsentative Demokratie, also die Repräsentation der Interessen der Bürger durch gewählte oder nominierte Mandatsträger (vgl. auch Duso 2006).

Rechtsstaatsprinzip

Das Verständnis des Staates als Republik, die vor allem dadurch besteht, dass Gesetze die normative und funktionale Grundlage des Staates bilden, ist hingegen die ältere Traditionslinie in der europäischen Staatsgeschichte. Der prämoderne Republikanismus zeigt in dieser Hinsicht das an, was heute mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zum Bestandteil einer jeden Demokratie geworden ist (vgl. u.a. Gelderen/Skinner 2002). Die Lehre von der Gewaltenteilung ist zentrales Element einer jeden republikanischen Verfassung. Auf diesen Sinnzusammenhang haben sich Adenauer und Co. bezogen und deshalb heißt es in Artikel 20 (1) GG auch nicht Bundesdemokratie, sondern dort ist von der Bundesrepublik die Rede. Das impliziert, dass gute Demokraten allesamt auch (und vor allem) Anhänger der Republik sind, also die staatlichen Institutionen, weil sie im Auftrag des Volkes agieren, achten. An diesen Kontext idealerweise zu erinnern, ist gerade in der heutigen Zeit nicht verkehrt. Demokratie als normativer Ausdruck für die Legitimation durch das Volk kann nur funktionieren, wenn die staatlichen Institutionen rechtsstaatlich auf der Grundlage der Gesetze agieren.

Der Sozialstaat

Neben dem Rechtsstaatsprinzip wird in der Formulierung von Artikel 20 (1) GG auch der Sozialstaatsgedanke genannt. Es ist dies eine der wenigen Stellen im Grundgesetz, an denen auf diesen Sachverhalt hingewiesen wird. Die Ausrichtung auf eine Soziale Marktwirtschaft, wie sie in den Artikeln 14 und 15 GG anklingt, bekommt hier ihre strukturelle Zuordnung und Bestätigung. Empirisch betrachtet, hat sich dieses Staatsziel zu einem der größten Handlungsfelder für die Bundesrepublik Deutschland ausgeweitet. Im Politikfeld des Sozialen werden die meisten Ausgaben des Staates getätigt – eine Entwicklung, die nicht unbedingt der Intention der Verfassungsgeber entsprach. Die Diskussionen um Soziale Gerechtigkeit als materielle Verteilungsfrage stehen in der deutschen Gesellschaft seit Jahrzehnten voran, prägen die bundesrepublikanische Politik und werden stets mit einer Energie und Heftigkeit ausgetragen, wie sie in anderen politischen Themenfeldern oft ausbleibt.

Föderalismus

Demgegenüber gerät das vierte Staatsziel etwas in den Hintergrund, obwohl es doch eigentlich neben dem Rechtsstaatsgedanken den prägenden institutionellen Rahmen für die deutsche Demokratie ergibt. Die demokratische Ordnung in Deutschland ist keine zentralistische Staatsordnung, sondern basiert auf einer föderalen Struktur, in der die Länder im Bund als Glieder des Staates eine wichtige Funktion einnehmen.

Die 16 Bundesländer, welche die Bundesrepublik insgesamt als Föderation begründen, verdanken ihre Entstehung zwei Faktoren: Einerseits der Intention der westlichen Alliierten, hier insbesondere der USA, nach 1945 keine zentralistische Staatsgewalt in Deutschland mehr zulassen zu wollen, weil der Zentralismus mit der Diktatur des NS-Regimes verbunden war. Mehr noch aber ist ausschlaggebend gewesen, dass der Föderalismus selbst eine lange historische Traditionslinie bis in das Heilige Römische Reich Deutscher Nation seit dem Spätmittelalter hatte (vgl. u.a. Schmidt 2009). Sowohl die Weimarer Republik als auch das Deutsche Kaiserreich sind Föderalsysteme gewesen. In dieser Hinsicht ist die Beziehung auf den Bundesstaat keine Neuerfindung, sondern folgt durchaus pragmatisch der Verwaltungserfahrung der Mitglieder des Parlamentarischen Rats, die, wie etwa Adenauer, hier dezidierte Experten in Sachen Föderalismus waren.

Ewigkeitsklausel

Eine jede Verfassung lebt von der Substanz ihrer Kernaussagen und der Nachhaltigkeit in ihrer Anwendbarkeit. Die Kernaussagen sind in den Artikeln 1–19 und systematisch für den Staat in Artikel 20 formuliert. Die Frage ist allerdings, wie dauerhaft diese Bestimmungen sind. Darüber kann man zweifellos geteilter Meinung sein (vgl. z.B. Dreier 2014, Wolff 2018). Um gesellschaftlichen Veränderungen vorzubeugen, die letztlich auch zu Zwei-Drittel-Mehrheiten im Deutschen Bundestag führen könnten, mit deren erdrückender Dominanz man sich über zentrale Aussagen des Grundgesetzes hinwegsetzen könnte, haben die Verfassungsväter zu einer eigenwilligen Konstruktion gegriffen. In Artikel 79 (3) wird die Veränderbarkeit des Grundgesetzes in bestimmten Punkten für unzulässig erklärt: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

Diese auch als Ewigkeitsklausel verstandene Formulierung des Grundgesetzes soll der Verfassung eine immer fortwährende Existenz gewähren. Ist dies realistisch? Ganz abgesehen davon, dass kein westlicher Verfassungsstaat eine derartige Klausel kennt, und abgesehen davon, dass kein Staat ewig bestehen bleibt, wirkt dieser Passus merkwürdig bis hin zur logischen Inkonsistenz. Sicherlich war die Sorge um die Verfassung vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem NS-System, welches die bestehende Verfassung funktional ausgehebelt hat, gut gemeint. Aber gut gemeint ist nicht notwendigerweise gut gedacht. So, wie der Satz 3 in Artikel 79 formuliert ist, wirkt er wie eine metaphysische Konstruktion durch die Hintertür. Deutschland muss auf ewig ein Föderalstaat bleiben, und Artikel 1 muss seinen zentralen Stellenwert für die Verfassung behalten. Dabei lassen sich für die Bestimmung der Würde ganz unterschiedliche Geltungsmuster anzeigen. Normativ wie institutionell wird mit der Ewigkeitsklausel eine Sperre für die Dynamik in der Verfassungsentwicklung angezeigt, die wie eine Tabuisierung für den öffentlichen Diskurs wirken soll. De facto aber können sich Strukturen in der Bundesrepublik allein schon durch internationale Prozesse (wie den der Globalisierung oder der Europäischen Integration) derart gravierend verändern, dass die Verfassung hierzu modifizierend Stellung nehmen muss. Wenn kein Staat ewig existiert, dann ist auch eine demokratische Ordnung nur von längerer Dauer, wenn sie auf Wandel positiv zu reagieren weiß (vgl. auch Nitschke 2007).

Einführung in die Politikwissenschaft

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