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1.4 Gang der Darstellung

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Der Kirchenrechtler und Verfassungsjurist Otto Mejer schrieb im 19. Jahrhundert im Vorwort zu einem Lehrbuch, auf dem Katheder dürfe der Professor frei von der Leber weg seine eigene Meinung verkünden, im Lehrbuch sei er aber auf strenge und unpersönliche Sachlichkeit beschränkt. Dieser Mahnung folgt das vorliegende Buch nicht. Vielleicht war die Einschätzung bereits damals unrichtig. Stoffauswahl, Gliederung und Darstellungsweise sind höchstpersönliche subjektive Entscheidungen des Verfassers, der seine eigenen Vorlieben zu einer angeblich objektiven Geschichtserzählung erhebt. Deswegen ist es ehrlicher, den eigenen Zugang von vornherein offenzulegen.

Das vorliegende Lehrbuch verzichtet auf die klassische Antike und das römische Recht. Die überkommene Trennung von römischer und deutscher Rechtsgeschichte wird wissenschaftlich oft angegriffen und teilweise belächelt. Sie ermöglicht es aber, die Stoffmassen zu begrenzen. Das römische Prozessrecht mit seiner Gerichtsverfassung, von Max Kaser und Karl Hackl handbuchartig zusammengestellt, umfasst volle 1000 Jahre ganz unterschiedlicher politischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Rahmenbedingungen. Hier kurzerhand die großen Linien herauszumeißeln, sollte lieber den Spezialisten vorbehalten bleiben.

Die zweite Eigenheit besteht darin, Rechtsgeschichte über weite Strecken als Geschichte der Rechtspraxis anzusehen und darzustellen. Nicht nur Lehrbücher, sondern in hohem Maße auch die Werke der älteren Literatur haben gerade hier ihren blinden Fleck. Es geht also nicht um die Gipfelwanderung der großen Rechtsdenker oder um die altbekannte Dogmengeschichte. Der normengeschichtliche Zugriff bildet ebenfalls nur einen Teil der Darstellung. Es geht vielmehr um die Frage, wie die Gerichte in ihrer alltäglichen Arbeit organisiert waren und wie ihre Prozesse abliefen. Selbstverständlich spielen Prozessgesetze dafür eine entscheidende Rolle. Aber wenn die Praxis eigene Wege ging, steht der Gerichtsalltag neben den normativen Vorgaben. Zeigen sich hier Unterschiede, handelt es sich in den meisten Epochen [<<24] nicht lediglich um Verstöße, Abweichungen oder Missbrauch des Gesetzes. Ob der Blick auf die Rechtspraxis die angemessene Art bildet, Rechtsgeschichte zu betreiben, mag man gern diskutieren. Der Versuch wird hier unternommen und soll zeigen, welche Felder und Sichtweisen sich auf diese Weise eröffnen. Gerade dort, wo die Forschungen zur Praxis noch nicht so weit vorangeschritten sind, bleibt der Rückgriff auf zeitgenössische Gesetze und Literatur freilich unumgänglich. Das betrifft vor allem die neuere Zeit.

Die nächste Grundentscheidung betrifft den Umgang mit Quellen. Das Lehrbuch bietet an zahlreichen Stellen Quellenexegesen. Die Quellen sprechen nicht von selbst zu uns. Sie antworten nur auf die Fragen, die wir ihnen stellen. Deswegen folgen auf den Quellentext regelmäßig Erläuterungen. Auf diese Weise unterscheidet sich das Lehrbuch didaktisch stark von Kroeschells Konzept. Kroeschell stellt zahlreiche Quellen meist unkommentiert aneinander und schließt mit diesen Texten seine einzelnen Kapitel ab. Im Vergleich dazu sind die Quellentexte hier in den Gang der Darstellung eingebunden. Vom Detail her sollen auf diese Weise allgemeine Beobachtungen entwickelt werden. Das verlangt zugleich nach einer deutlich verringerten Zahl an Quellen. Hier gibt es Grenzen, die ein Kurzlehrbuch nicht sprengen darf, wenn es studentische Leser wirklich erreichen will.

Daraus folgt die nächste Weichenstellung. Das Buch richtet sich in erster Linie an Studierende, die in frühen oder mittleren Semestern rechtshistorische Lehrveranstaltungen besuchen oder sich im Selbststudium mit der Rechtsgeschichte befassen wollen. Im Gegensatz zu einer speziellen Forschungsmonographie darf man die Kenntnis des Forschungsstandes daher selbst in Grundzügen nicht voraussetzen. Deswegen ist es angezeigt, an einzelnen Stellen rechtshistorische Zusammenhänge, Begriffe oder Quellen knapp zu erläutern, selbst wenn dies aus einer engeren Prozessrechtsgeschichte in die allgemeine Rechtsgeschichte ausgreift. Weitgehend voraussetzungsfrei geschrieben, knüpft das Buch hoffentlich an geschichtliches Schulwissen an und möchte vor allem Freude und Begeisterung an selbständiger Vertiefung wecken. Die Literaturhinweise verstehen sich daher als Empfehlungen weiterzuarbeiten, nicht als vollständige Übersicht über die Forschungsliteratur. Ob und inwieweit die Rechtsgeschichte in der Lehre auf Kenntnissen des geltenden Rechts aufbauen kann, hängt ganz davon ab, wann sie unterrichtet wird. Für eine Geschichte der Gerichtsbarkeit ist Grundwissen über die moderne Gerichtsverfassung und das Zivil- und Strafprozessrecht zweifellos hilfreich. Doch versucht das Lehrbuch auch hier, diejenigen Grundlagen des modernen Rechts, die zum historischen Vergleich dienen, selbst zu legen. Einzelne Fachbegriffe sind im Glossar knapp erläutert. Das Glossar eignet sich auf diese Weise zugleich zur Wiederholung des Basiswissens. [<<25]

Der letzte Punkt betrifft den Gang der Darstellung. Wenn auch die Stoffauswahl und Schwerpunktsetzung den oben genannten Leitfragen folgen, bleibt das Buch im Wesentlichen der Chronologie verpflichtet. Ob die Rechtsgeschichte als Problemgeschichte ihre je einzelnen Fragen herausgreifen und den Stoff an ihnen ausrichten soll oder ob es vielmehr darum geht, Epochenbilder zu zeichnen und in ihnen dieselben Aspekte zu klären, stellt eine seit zwei Jahrhunderten bekannte Gretchenfrage dar. Schon Friedrich Carl von Savigny sah sich gemüßigt, Einwände gegen die chronologischen Abhandlungen seines Vorgängers Gustav Hugo zu erheben und selbst die jeweiligen Einzelprobleme zum Gerüst seiner Bücher zu erheben. Es geht dabei nicht nur um den Geschmack des jeweiligen Verfassers, sondern ebenfalls um historische oder juristische Grundbekenntnisse. Dennoch behält die Chronologie ihren Reiz. Der Gang des Lehrbuchs folgt dem Gang der Zeit. Gerade für die Leitfrage nach dem Verhältnis zwischen Staatsgewalt, Gerichtsverfassung und Prozessrecht erscheint dies sinnvoll. Die Gefahr liegt auf der Hand. Allzu leicht mag man überall „Entwicklung“ sehen, vielleicht „Entwicklungen“ sogar, vom Rohen zum Hohen, von der primitiven Frühzeit zum voll entfalteten Rechtsstaat der Moderne. Doch diese Überheblichkeit steht dem Rechtshistoriker genauso wenig zu wie die Verherrlichung der Germanen als urtümlich oder der staufischen Kaiser als glanzvoll in der älteren rechtsgeschichtlichen Literatur. Andererseits darf die Rechtsgeschichtsschreibung den Mut nicht verlieren, Geschichte auch zu werten. Zum Sammeln und Sichten treten das Ordnen und Prüfen. Abermals geht es um ganz subjektive und eigenwillige Meinungen und Vorlieben. Sie sollen hier nicht hinterm Berg gehalten werden. Wenn sich dagegen Widerstand von studentischer Seite regt, angestachelt durch bohrendes Selbststudium, wäre das ein Glücksfall. Denn ist erst einmal das Gespräch über die Inhalte eröffnet, dann geht es wirklich darum, wie man das sprichwörtliche Reflexionswissen, das die Rechtsgeschichte bereitstellt, am besten nutzen kann.

Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren

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