Читать книгу Erste Hilfe Outdoor - Peter Oster - Страница 12
ОглавлениеRUM: Risiken, Umfeld, Management
Achte bei einem Notfall zunächst auf alles, was um den Patienten herum vorgeht, sozusagen auf das »DRUMheRUM«. Meistens ist »RUM« in wenigen Sekunden abzuhaken, da man drohende Risiken oder den Unfallmechanismus oft mit einem Blick wahrnehmen und das Management mit wenigen Worten unter den Helfern abstimmen kann.
Dennoch sind Umsicht und klare Gedanken in diesen ersten Sekunden von entscheidender Bedeutung für den Ablauf der Hilfeleistung: Sie gewährleisten die Sicherheit der Helfer, liefern erste Verdachtsmomente für eine korrekte Diagnose und ermöglichen eine koordinierte Versorgung des Patienten.
Dieses Teilkapitel gibt dir zunächst allgemeine Hinweise zu Risiken und zeigt einige Techniken zur Rettung aus akuter Gefahr. Im zweiten Abschnitt folgen Zusammenhänge zwischen Umfeld und Schädigung. Zuletzt werden Fragen des Managements besprochen.
2.1 Dein erster Gedanke gilt den Risiken, die dich, deine Gruppe und den Patienten bedrohen
2.1.1 Sicherheit ist wichtiger als alles andere
Sicherheit zuerst!
Wenn sich bei der Rettung ein Helfer verletzt, kann er niemandem mehr helfen – im Gegenteil, es gibt plötzlich einen zusätzlichen Patienten. Daher hat deine eigene Sicherheit und die deiner Mithelfer oberste Priorität. Dazu gehört, einem Abgestürzten nicht kopflos und ungesichert hinterherzusteigen, einen Ertrinkenden nur unter Beachtung der entsprechenden Verhaltensregeln anzuschwimmen usw.
Überblick trainieren
Beim Lesen dieses Buches denkst du sicher: »Na, das ist ja wohl klar!« Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn dein Instinkt treibt dich dazu, dem Verletzten so schnell wie möglich zu Hilfe zu eilen. Wenn du das tust, verbaust du dir aber unter Umständen die Möglichkeit, einen echten Überblick über die Situation und ihre Gefahren zu gewinnen. Also: Versuche ab heute immer dann, wenn du jemandem helfen willst, einige Sekunden innezuhalten und die Umgebung zu betrachten. Auch dann, wenn deinem Mitmenschen einfach nur etwas heruntergefallen ist. Das ist ein gutes Training.
Bild 5:
Safety first!
Grundprinzip: »Risiken abwägen«
Zweite Priorität hat die Sicherheit des Patienten. Es ist wichtig, dass er keine weiteren Schäden erleidet. Hier kann erstmals das Grundprinzip »Risiken abwägen« angewandt werden: Ist der Patient einem akuten Risiko ausgesetzt (z. B. Stein-/Blitzschlag, Lawinenhang, Feuer usw.), rette ihn aus dem Gefahrenbereich, auch wenn dabei das Risiko besteht, eine (noch) nicht erkannte Verletzung zu verschlimmern. Dieses Grundprinzip wird dir in diesem Buch noch öfter begegnen.
Erinnere dich an das Beispiel aus Kapitel 1:
Dein Partner ist beim Queren des Firnfeldes ausgerutscht. Erste Priorität hat deine eigene Sicherheit und die deiner Gruppe: Du sicherst dich entsprechend selbst, z. B. mit deinem Pickel, und die Gruppe baut einen vernünftigen Standplatz. Zweitens denkst du an die Sicherheit des Patienten: Er wird gesichert, und eine Person steigt vorsichtig (nicht direkt in der Falllinie über ihm) hinunter.
Gefahrenprävention durch sicherheitsrelevante Ausbildungen
Zu dem Punkt Risiken gehört auch der Hinweis auf die Gefahrenprävention. Mehr dazu erfährst du in entsprechenden sicherheitsrelevanten Ausbildungen. Zu den wichtigen Schulungen gehören beispielsweise:
• Für Kletterer und Bergsteiger: Ausbildung in behelfsmäßiger Bergrettung
• Für Skitourengänger: Lawinenkurs
• Für Paddler und Rafter: Rettungsschwimmer, Kanu-Sicherheitstraining, SRT-Kurs
• Für Erlebnispädagogen: Sicherheitskurs bei den entsprechenden Fachverbänden
Häufig sind in allgemeinen Ausbildungen zum Thema (z. B. Kletterkurs) bereits einige sicherheitsrelevante Elemente eingebunden. Überlege kritisch, ob diese Kenntnisse für dich im Ernstfall ausreichen. Nimm im Zweifelsfall einfach an einer derartigen Schulung teil – fast alle machen viel Spaß und man lernt Gleichgesinnte kennen.
Bild 6:
Immer an Schutzhandschuhe denken!
Praxistipp: Schutzhandschuhe
Ein Risiko, das du besonders beachten musst, ist die Infektion mit ansteckenden Krankheiten wie z. B. Aids oder Hepatitis. Schütze dich vor dem Kontakt mit Körperflüssigkeiten am besten durch Einmalhandschuhe. Wenn du keine zur Verfügung hast, bieten eine übergestreifte Plastiktüte, eine wasserdichte Jacke oder normale Handschuhe zumindest einen gewissen Schutz.
Die sichersten und angenehmsten Schutzhandschuhe sind aus Latex oder Nitril. Leider altert dieses Material vor allem bei Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen sehr schnell. Sie sind somit nur sinnvoll, wenn du jemanden kennst, der dich alle paar Monate mit »frischen« Handschuhen versorgen kann. Wenn das nicht der Fall ist, verwende Vinylhandschuhe. Du kennst sie aus dem Autoverbandkasten. Sie halten sich länger, sind aber nicht so »gefühlsecht«.
2.1.2 Bei großem Risiko muss der Patient schnell aus dem Gefahrenbereich gerettet werden
Bei akuter Gefahr: Schnelligkeit ist wichtiger als schonender Transport.
Auf dieser Doppelseite werden einige Techniken gezeigt, mit denen du einen Patienten schnell und ohne Hilfsmittel aus akuter Gefahr retten kannst. Dabei geht es mehr um Schnelligkeit als um einen schonenden Transport. Wenn das Risiko für dich und den Patienten nicht wirklich extrem groß ist, solltest du ihn besser vor Ort untersuchen und behandeln und erst später in aller Ruhe transportieren (DIWAN: Abtransport organisieren).
Weitere Transporttechniken werden im Abschnitt 4.4.4 (→ 159ff) vorgestellt.
Bild 7:
Für Bewusstlose und für schwere Patienten: der Rautek-Rettungsgriff
Rautek-Rettungsgriff
Der nach seinem Erfinder benannte Griff ermöglicht ein schnelles Aufnehmen und Ziehen des Verletzten über kurze Strecken. Er ist vor allem bei Bewusstlosen und bei besonders schweren Patienten geeignet.
Bild 8:
Auf schmalen Wegen: im Rautekgriff tragen
Rautekgriff mit 2 Helfern
Wenn zwei Helfer verfügbar sind und die Trageringtechnik (→ 25) nicht möglich ist, kann der zweite Helfer die Beine des Patienten überkreuzen und das untere (Hosen-) Bein in die Hand nehmen.
Bild 9:
Auf glattem Untergrund: auf einer Plane ziehen
Ziehen auf einer Plane
Auf glattem Untergrund (Sand, Schnee) ist diese Methode wirklich prima. Das Überrollen auf die Plane lernst du später kennen (→ 123). Wenn es schnell gehen muss, kann man einen Patienten auch an der Kleidung anfassen und wegschleppen.
Bild 10:
Unangenehm für den Patienten: Gamstragegriff
Gamstragegriff
Dieser Griff eignet sich sogar zum Transport über etwas weitere Strecken. Er ist für den Patienten allerdings besonders unangenehm.
Bild 11:
Komfortabel auf breitem Weg: Tragesitz, ggf. mit Tragering
Tragesitz mit zwei Helfern
Die Helfer geben sich die »vorderen« Hände und setzen den Patienten darauf, der seine Arme um den Hals der Helfer legt. Noch besser geht es mit einem (Dreiecktuch-)Tragering. Allerdings muss der Weg breit genug sein!
Bild 12:
Techniken zur Eigensicherung und zum Abschleppen im Rettungsschwimmkurs erlernen
Rettungsschwimmen
Jeder kann in die Situation kommen, einen Menschen aus dem Wasser retten zu müssen.
Besonders wichtig ist dabei, an die eigene Sicherheit zu denken. Wenn dich der Ertrinkende umklammert oder unter Wasser drückt, weiche nach unten aus.
Bild 13:
Im Wildwasser den Mund über Wasser halten
Bei allen Rettungstechniken muss man darauf achten, den Mund des Patienten über Wasser zu halten.
Am besten lernst du all dies in speziellen Kursen.
2.2 Umfeld und Unfallmechanismus geben Hinweise auf die Ursache der Verletzung bzw. Erkrankung
Augen auf! Verdachtsmomente
Schon beim ersten Ansehen der Situation kannst du mögliche Ursachen für bestimmte Verletzungen oder Erkrankungen wahrnehmen.
Unfallmechanismus genauso bedeutsam wie körperliche Untersuchung
Wenn dein Kletterpartner beim Bouldern an einem Überhang aus zwei Meter Höhe auf den Rücken gefallen ist, musst du mit einer Wirbelsäulenverletzung rechnen. Dies gilt umso mehr, wenn du bei genauerer Analyse des Unfallmechanismus feststellst, dass die Wirbelsäule beim Sturz geknickt wurde. Wenn er zusätzlich auf den Kopf gefallen ist und sich nicht mehr an den Unfallhergang erinnert, kannst du auf eine Gehirnerschütterung schließen. All diese Schlussfolgerungen kannst du ohne detaillierte körperliche Untersuchung ziehen und dennoch sind sie für deine Diagnose genauso bedeutsam wie die Beule, die du am Hinterkopf ertasten kannst. Du siehst also: Es lohnt sich, dem Unfallmechanismus besondere Beachtung zu schenken.
Umfeld als einziger Hinweis
In manchen Fällen liefert das Umfeld sogar den einzigen Hinweis auf die Ursache: Beispielsweise wirst du bei Kopfschmerzen in 4000 Meter Meereshöhe auf eine Höhenkrankheit tippen. Treten sie jedoch am Abend eines sonnigen Tages auf und ist der Patient ohne Kopfbedeckung in der Sonne gewesen, musst du eher einen Sonnenstich vermuten.
Manchmal kannst du dich schon aus der Entfernung auf mögliche Verletzungen einstellen: Wenn jemand aus einer Lawine gerettet wird, rechnest du z. B. mit einer Atemstörung, Knochenbrüchen und ggf. einer Unterkühlung.
Diese Beispiele sagen sicherlich mehr als tausend Worte. Bei jedem Notfall gilt also: Augen auf und das Umfeld bzw. den Unfallmechanismus genau analysieren.
»Mentales Training« für den Ernstfall
Ein Weg, seine Fähigkeiten in der Beurteilung des Umfelds zu perfektionieren, besteht darin, (auch ohne Notfall) seine Umgebung auf Gefahrenpunkte hin zu untersuchen. Mithilfe dieses »mentalen Trainings« schult man seinen Blick für Gefahren und erkennt den Unfallmechanismus dann im Ernstfall oft auf einen Blick. Natürlich lohnt es sich genauso, sicherheitsrelevante Literatur zu studieren. Für Bergsteiger und Kletterer sind beispielsweise die Bücher »Sicherheit und Risiko in Eis und Fels« von Pit Schubert interessant. Eine besonders gute mentale Vorbereitung ist natürlich ein speziell auf die Outdoorsituation zugeschnittener Erste-Hilfe-Kurs, in dem realistisch nachgestellte Notfallszenarien durchgespielt werden.
Bild 14:
Klettern in den winterlichen Rocky Mountains – eine Situation, in der zahlreiche Gefahren drohen!
Info: Gefahren in großer Höhe – Höhenkrankheit & Co.
Alle 5500 Höhenmeter nimmt der Luftdruck um etwa die Hälfte ab. Damit halbiert sich jeweils auch der so genannte Partialdruck des Sauerstoffs, der für die Aufnahme des Sauerstoffs in der Lunge (Diffusion) entscheidend ist. In der Höhe entsteht folglich ein Sauerstoffmangel im Blut. Probleme ergeben sich bei den meisten Menschen frühestens ab 2500 Höhenmetern. Bis auf Höhen von 5500 Meter kann sich der Körper anpassen, wenn man ihm genügend Zeit dafür lässt (Akklimatisation). Also: Lass dir Zeit beim Aufstieg!
Wenn du eine Tour in große Höhen planst, informiere dich über Akklimatisationsstrategien und den Umgang mit höhenbedingten Problemen. Jeder kann höhenkrank werden, aber niemand muss daran sterben! Gute Quellen sind z. B. www.bexmed.de, www.himalayanrescue.org und verschiedene Bücher.
Als gute Faustregeln gelten folgende Empfehlungen:
• Lerne Anzeichen für höhenbedingte Probleme (s. u.) erkennen und verstehen.
• Steige bei entsprechenden Anzeichen nicht weiter auf.
• Steige ab, wenn die Anzeichen schlimmer werden oder nach einem Ruhetag nicht verschwinden. Bei gravierenden Anzeichen (s. u., HACE/HAPE) sofort absteigen auf die Höhe, auf der der Patient zuvor eine Nacht symptomfrei verbacht hat. (BERGHOLD/SCHAFFERT 2008, 161)
• Achte auf andere Gruppenmitglieder. Lass einen Höhenkranken nie allein.
Höhenkrankheit – Acute Mountain Sickness (AMS)
Das Leitsymptom sind Kopfschmerzen. Des Weiteren können Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen auftreten. Man schläft schlecht und fühlt sich matt. Steigt der Ruhepuls um mehr als 20 % über den persönlichen Normwert, ist das ein schlechtes Zeichen. Wer die Anzeichen der Höhenkrankheit ignoriert, muss mit schwerer wiegenden Problemen rechnen:
Höhenlungenödem – High Altitude Pulmonary Edema (HAPE)
Flüssigkeitsansammlungen in der Lunge führen zu einem plötzlichen Leistungsabfall und zu ungewöhnlicher Atemnot bei geringer Belastung. Der Patient hustet und zeigt eventuell brodelnde Atemgeräusche. Es besteht Lebensgefahr! Um die Anstrengung beim Abstieg zu minimieren, solltest du ihn ggf. transportieren (→ 159).
Höhenhirnödem – High Altitude Cerebral Edema (HACE)
Bei dieser schlimmsten Ausprägung der Höhenkrankheit schwillt das Gehirn an. Der Patient zeigt insbesondere Gangunsicherheit, aber auch Koordinationsstörungen, ungewöhnliches Verhalten, Verwirrtheit und leidet unter schwersten Kopfschmerzen, die auch bei Schmerzmitteleinnahme nicht verschwinden. Akute Lebensgefahr! Falls dies ohne Sicherheitsrsiko möglich ist, sollte der Patient selbst gehen, um schneller nach unten zu kommen.
2.3 Geplantes Notfallmanagement ermöglicht effektives Zusammenarbeiten aller Helfer
2.3.1 Gut überlegt Schritt für Schritt vorgehen
Aufmerksam SCHAUEN Genau ÜBERLEGEN Konkret ENTSCHEIDEN Beherzt HANDELN
Bei einem Outdoornotfall gibt es immer eine ganze Reihe von Dingen, die zu tun sind. Untersuchung, Betreuung und Behandlung des Patienten, Bau eines Notfallcamps, Organisation der Evakuierung usw. Damit nicht alles drunter und drüber geht, sondern die wichtigsten Dinge zuerst und die unwichtigsten zuletzt erledigt werden, bedarf es einer konkreten Planung: Du schaust dir die Situation gut an und gewinnst einen Überblick (vergleiche auch die vorangegangenen Punkte). Dann überlege gemeinsam mit deinen Mithelfern und eventuell auch dem Patienten (!), welche Tätigkeiten notwendig sind. Als Nächstes entscheidet ihr, welches Handeln ihr für richtig haltet. Nimm dir diese Zeit zum Planen! Durch eine koordinierte Rettung sparst du sie später locker wieder ein.
2.3.2 Rollenverteilung in der Helfergruppe ist wichtig
Koordinator
Kontakter
Bild 15:
Koordination mit der nötigen Distanz zum Patienten
Wenn mehrere Helfer zur Verfügung stehen, bedarf es eines Koordinators, der den Überblick über die Situation behält und je nach Bedarf und Fähigkeiten Aufgaben verteilt. Die wichtigste einzelne Aufgabe ist die medizinische Betreuung des Patienten durch den Kontakter. Andere Helfer können z. B. für die Dokumentation von Untersuchungsergebnissen, für den Bau des Notfallcamps oder für die Verpflegung (Feuer machen, Tee kochen) zuständig sein.
Egal, ob viele oder wenige Helfer zur Verfügung stehen, zwei Dinge sollten beim Management immer beachtet werden:
• Eine Person muss immer den Überblick haben: Koordinator.
• Eine Person muss immer beim Patienten bleiben: Kontakter.
Für die optimale Rollenverteilung brauchst du also mindestens zwei qualifizierte Helfer.
Sonderfall: nur ein qualifizierter Helfer
In manchen Fällen gibt es nur einen einzigen qualifizierten Helfer und eine größere Anzahl wenig qualifizierter Mithelfer (z. B. Jugend- oder Reisegruppe). Dann übernimmt der »Chefretter« zu Beginn die medizinische Betreuung (Kontakter). Nachdem er den Patienten untersucht und fürs Erste beruhigt hat, übergibt er diese Aufgabe an einen Mithelfer und wird selbst zum Koordinator. Das Denken in den Rollen »Koordinator« und »Kontakter« hilft also auch in diesem Sonderfall.
2.3.3 Der Koordinator versorgt nicht den Patienten, sondern behält den Überblick
Ein guter Koordinator hat alle Qualitäten eines guten Managers: Er hat Organisationstalent, nimmt Informationen auf und gibt sie weiter, trifft Entscheidungen und delegiert Aufgaben – legt aber nicht selbst Hand an. Pauschale Handlungsanweisungen für diese Tätigkeit können hier nicht gegeben werden – schließlich ist jede Notfallsituation anders. Um dennoch einen Einblick in die konkreten Aufgaben eines Koordinators zu geben, folgt hier der Bericht eines Reiseleiters, der die Rettung einer verletzten Langläuferin koordinieren musste.
Nebenstehender Bericht (gekürzt) stammt von einem Teilnehmer eines Kompaktseminars zum Thema »Erste Hilfe Outdoor«.
Er soll verdeutlichen, dass auch im Rahmen einer »ganz normalen« Outdoorrettungsaktion selbst unter sehr guten Rahmenbedingungen zahlreiche Managementleistungen zu erbringen sind.
Bericht: Ein Skiunfall im norwegischen Fjell
Der Unfall ereignete sich auf einer Skitour im Hochfjell am Fuß des Jotunheimen. Ich betreute als Reiseleiter eine Gruppe von etwa 40 Personen. Ferner waren ein Skibegleiter, ein Koch und ein Küchengehilfe dabei.
Am ersten Skitag war das Wetter sonnig und kalt, etwa +5 °C. Es herrschten sehr gute Schneebedingungen und die Loipen waren prima. Der Unfall ereignete sich in der achtköpfigen Gruppe der Fortgeschrittenen:
Gegen 14 Uhr fuhr eine Skiläuferin am Ende eines steileren Abhangs in eine Kuhle. Dabei muss sich der rechte Ski unter dem Schnee festgefahren haben. Dadurch wurden wohl der Fuß, der Unterschenkel und das Knie fixiert. Durch den Schwung der Anfahrt fiel die Frau nach vorn – über das gestreckte Knie. Sie verletzte sich das Knie schwer und zog sich an Schien- und Wadenbein einen schlimmen Splitterbruch zu. Der Knochenbruch war aber nach außen hin nicht offen.
Der Unterschenkel stand anfangs schräg nach außen weg, doch die Frau richtete ihn selbst – unter starken Schmerzen – wieder ein. Den Ersthelfern wurde schnell klar, dass ein Scooter (Motorschlitten) zur Rettung der Frau benötigt wurde. Der Skibegleiter fuhr daraufhin den letzten Kilometer zur Hütte ab, um ein Transportmittel zu besorgen.
An der Hütte wurde ich, der Reiseleiter, zum ersten Mal über das Geschehen informiert. Sofort versuchten Koch und Küchenhelfer (sprechen Norwegisch) zuerst den Hüttenwirt, dann seinen Sohn telefonisch zu erreichen – erfolglos. Schließlich telefonierten wir mit der Frau des Hüttenwirts. Sie teilte uns mit, dass sie den an der Hütte vorhandenen Scooter zwar aktivieren, aber nicht fahren könne. Dafür musste ein weiterer norwegischer Helfer angefordert werden, der im Notdienst tätig war. (In Norwegen haben die meisten Leute im Gebirge irgendeine Notausbildung und Funktion im Rettungsdienst.) Nachdem klar war, dass der Scooter bald einsatzbereit sein würde, schickte ich den Skibegleiter zur Unfallstelle zurück, damit die Information »Hilfe kommt gleich!« schnell dort oben ankommen würde. Ich übernahm daraufhin die Koordination des Geschehens in der Hütte. In der Zeit bis zum Eintreffen des Scooterfahrers suchte ich die beiden Ärzte der Gruppe auf. Das war nicht einfach, denn wir standen am Anfang der Reise und kannten noch nicht einmal alle Namen der Teilnehmer.
Nach der Information der Ärzte zog ich mich schnell wintertauglich um und ging zur Hüttenwirtin und dem Scooter. Es musste nur noch ein großer Anhänger angehängt und mit Fellen belegt werden. Exakt in diesem Moment kam der Fahrer an und wurde kurz von der Hüttenwirtin und dem Küchenhelfer auf Norwegisch über die Sachlage informiert. Eine Verständigung auf Englisch oder Deutsch war nicht möglich. Da bisher nur ich den Unfallort kannte, fuhr (raste) der Fahrer dann sofort mit mir auf dem Anhänger zur Unfallstelle.
Am Unfallort lag die Frau auf Rucksäcken und Kleidungsstücken im Schnee. Den anderen Personen war inzwischen ziemlich kalt geworden, teilweise waren sie mit den Nerven runter, denn die Frau hatte viel geschrien und nach Einschätzung der Helfer war bereits viel Zeit vergangen. Tatsächlich lag der Unfall nur wenig mehr als eine halbe Stunde zurück. Wir positionierten den Anhänger unterhalb der Frau und hoben sie mit sechs Personen gleichzeitig auf den Hänger. Niemand durfte ihr Bein berühren, wir waren sehr vorsichtig und trotzdem muss ihr die Umlagerung sehr weh getan haben. Meine Aufgabe an der Unfallstelle war auch wieder die Koordination. Zuerst stand z. B. der Anhänger oberhalb der Frau und dann falsch herum. Bei der Abfahrt zur Hütte musste ihr Kopf ja oben liegen und nicht unten. Nach der Umlagerung fuhr sie der Norweger sehr vorsichtig (ein echter Profi) zur Hütte.
Die verletzte Frau wurde mitsamt dem Anhänger in die Hütte getragen und von den beiden Ärzten betreut. Als ich wieder dazukam, war bereits klar, dass sie ins Krankenhaus musste. In Norwegen ist es üblich, dass man zunächst versucht, selbst zum nächsten Arzt zu fahren. Unsere Ärzte meinten jedoch, dies wäre in diesem Fall unmöglich. Daraufhin bestellten wir in Lillehammer einen Krankenwagen. Das war gar nicht so einfach, denn ein Beinbruch hat im norwegischen Gebirge offensichtlich keine Priorität. Letztlich dauerte es gut vier Stunden, bis der Krankenwagen vor Ort war. Während dieser Zeit wurde die Frau trocken angezogen, da sie nass geworden war und fror. Außerdem bekam sie von den Ärzten starke Schmerzmedikamente.
Meine Aufgabe bestand jetzt darin, das weitere Vorgehen zu organisieren. Die Freundin der Verletzten und der Küchenhelfer sollten mit nach Lillehammer fahren. Die relevanten Sachen für zwei Personen mussten gepackt werden: Papiere, Versicherungsscheine usw. Als Reiseleiter musste ich auch noch Geld rausrücken und das Büro in Deutschland informieren. Ansonsten war mit vermindertem Personal das Abendessen und eine gemeinsame Gesprächsrunde für alle Reiseteilnehmer vorzubereiten. Notfallpack, Erste Hilfe, Sicherheit auf Touren und ähnliche Themen kamen während dieser Tour immer wieder zur Sprache.
Bild 16:
Winterliche Tour in Lappland
Bild 17:
Gut verpackt für den Scooter-transport (Erste-Hilfe-Seminar in Lappland)
Gedanken zur beschriebenen Situation: Wurde richtig gehandelt? Wie wurde das Prioritätenschema umgesetzt? Könnte so etwas auch bei deinen Touren passieren? Welche Aufgaben kommen dem Büro in Deutschland zu – insbesondere bei noch schlimmeren Situationen (→ 180ff: Krisenmanagement)?
2.3.4 Der Kontakter ist für psychische Betreuung zuständig
Einfühlen können
Sei einfach du selbst!
Viele Aufgaben beim Outdoornotfallmanagement sind mit technischem oder medizinischem Wissen, mit Übersicht und Organisationstalent leicht lösbar. Der Kontakter jedoch benötigt Fähigkeiten, die darüber hinausgehen: Er muss sich in seinen Patienten einfühlen können sowie Informationen, Zuversicht und Geborgenheit vermitteln. Dieser Abschnitt enthält Informationen, die dich auf diese Aufgabe vorbereiten sollen. Bedenke aber, dass psychische Betreuung etwas sehr Individuelles ist. Somit hängt sie sowohl von dir als auch dem Patienten ab. Behalte also einerseits die folgenden Hintergründe im Kopf und im Herzen und sei andererseits einfach du selbst!
Reaktionen sind individuell sehr verschieden – aber keine ist »unnormal«
Typische Reaktionen erkennen und damit umgehen
Es gibt viele Reaktionen auf ungewohnte oder extreme Situationen. Keine davon ist richtig oder falsch, sondern durch die individuelle Lebensgeschichte des Patienten bedingt. Wenn man einige davon kennt, kann man eher angemessen reagieren. Es gilt: Nicht die Reaktion ist unnormal – das Notfallereignis ist es!
Verleugnung
»Ich bin nicht verletzt, alles ist in Ordnung.« Dies ist häufig eine erste Reaktion, die man als Eigenschutz der Psyche interpretieren kann. Bei diesen Patienten muss man besonders aufmerksam diagnostizieren.
Keine Schuldzuweisungen
Rationalisierung
»Wir sind nur abgestürzt, weil der Karabiner nicht gehalten hat.« Gerade bei selbst verschuldeten Unfällen scheint die Psyche eine Vernachlässigung durch die Helfer zu befürchten, wenn es keine sachliche Erklärung für die Ursache gibt. Schuldzuweisungen verbessern die Situation dieser Patienten nicht.
Kleine Aufgaben übertragen
Regression (Rückentwicklung) in kindliche Verhaltensweisen
Nur Grundbedürfnisse, Zuwendung und Schutz spielen eine Rolle, bis hin zu vollständiger Selbstaufgabe. Hier kann man als Helfer behutsam gegensteuern, indem man dem Patienten kleine Aufgaben überträgt: »Halte bitte mal diese Kompresse hier fest.«
Angst kann eine Schutzfunktion haben.
Angstreaktionen
Angst ist bis zu einem gewissen Maß eine wichtige Schutzfunktion. Nimmt sie jedoch das Denken und Handeln vollständig in Besitz, so sollte der Helfer durch sachliche Informationen und durch das Ausstrahlen von Ruhe und Zuversicht behutsam gegensteuern. Allerdings hilft übertriebenes Verharmlosen (»Ach, das ist doch alles kein Problem!«, »Nur keine Angst!«) nicht.
Bild 18:
Auf den Patienten herabstarrende Gaffer können seine Angst verstärken (Foto: Uli Ueber).
Patienten haben die gleichen Bedürfnisse wie alle anderen Menschen
Wunsch nach körperlichem Wohlbefinden
Jeder Mensch wünscht sich frische Luft, Essen und Trinken, Wärme bzw. Kühlung, bequeme Lagerung, Ruhe, Schutz vor Ekel erregenden Gerüchen oder Lärm usw.
Wünsche ernst nehmen
Wunsch nach Kontrolle
Patienten können plötzlich keinen Einfluss mehr darauf nehmen, was um sie herum geschieht. Mache deinem Patienten deutlich, dass seine Wünsche ernst genommen und nach Möglichkeit erfüllt werden. Tue möglichst nichts gegen seinen Willen.
Sicherheit vermitteln
Wunsch nach Sicherheit
Der Unfall, der sich gerade eben ereignet hat, führte dem Patienten deutlich vor Augen, dass die Situation nicht so sicher ist wie erwartet. Warum sollte also nicht gleich wieder etwas Schlimmes passieren? Erkläre dem Patienten, dass Sicherheit auch deine erste Priorität ist: »Du kannst nicht weiter abrutschen und die anderen aus der Gruppe sind in Sicherheit!« Besonders beim Transport eines Verletzten ist darauf zu achten, dass er sich (z. B. auf der Trage) sicher fühlt.
Bild 19:
Die psychische Erste Hilfe ist Aufgabe des Kontakters.
Informationen geben, Maßnahmen erklären
Wunsch nach Information
Die Helfer haben den Überblick über die Umgebung, ihre Maßnahmen und ihren Handlungsplan. Lass den Patienten daran teilhaben. Erkläre alle deine Maßnahmen! »Ich lasse jetzt vorsichtig kaltes Wasser über deine verbrannte Hand laufen. Das lindert deine Schmerzen und ist wichtig für die Ausheilung.«
Nicht anlügen
Wichtig ist das Hier und Jetzt!
Es ist normalerweise nicht sinnvoll, den Patienten über seinen Zustand anzulügen, z. B. bei einer Querschnittslähmung: »Ooch, das ist immer so, wenn man auf den Rücken fällt. Das gibt sich in zwei, drei Tagen wieder.« Bei folgenschweren Verletzungen ist es jedoch manchmal hilfreich, die Beschränktheit der diagnostischen Möglichkeiten im Gelände zu betonen und eventuelle Gedanken an eine schreckliche Zukunft durch eine Betonung des »Hier und Jetzt« zu vertreiben. »Hier draußen kann man wirklich nicht sagen, welche Folgen deine Verletzung hat. Aber Hilfe ist unterwegs und du wirst in gute Hände kommen. Bis dahin ist es wichtig, dass du ruhig und warm bleibst. Hier ist ein Schluck heißer Tee für dich.«
Körperliche und verbale Zuwendung
Wunsch nach Liebe und Zuwendung
Dein Patient möchte nicht allein gelassen werden. Er hat das Bedürfnis nach körperlicher Geborgenheit (Schlafsack, Hand halten) und verbaler Zuwendung: »Ich bleibe bei dir, bis Hilfe kommt. Versprochen!« Er soll das Gefühl bekommen, ganz im Mittelpunkt deiner Bemühungen zu stehen. Ein Wechsel des Kontakters sollte – wenn möglich – vermieden werden.
Wunsch nach Achtung und Selbstachtung
Jeder Mensch hat das Recht, akzeptiert zu werden. Der Patient will nicht als »Fall«, sondern als einzigartiges Individuum mit Gedanken und Gefühlen behandelt werden.
Wunsch nach Unterstützung in Glauben und Gebet
Viele Menschen suchen in schweren Situationen Hilfe und Trost in ihrem Glauben. Der Wunsch nach einem Gebet sollte respektvoll behandelt werden. Eventuell kannst du (wenn du auch religiös bist) mit dem Patienten gemeinsam beten. Krampfhaft vorgespielte Religiosität ist natürlich fehl am Platze – auch hier gilt: Sei du selbst.
Achte auf deine Psyche und die deiner Mithelfer!
Auch bei der psychischen Ersten Hilfe an den Eigenschutz denken
Ein Outdoornotfall ist auch für die Retter ein sehr belastendes Ereignis. Achte daher während und nach der Hilfeleistung auf dich selbst und deine Mithelfer. Eine gute Idee ist es, nach der Rettung den Rahmen für eine Nachbesprechung zu schaffen (→ 184: Debriefing). Hier können offene Fragen geklärt und Gefühle angesprochen werden.
Wenn dich oder einen Mithelfer die Situation überfordert hat, in Träumen verfolgt oder ihr mit den Erlebnissen nicht fertig werdet, dann lasst diese Gefühle ruhig zu. Durch ein Verdrängen kann die Psyche Schaden nehmen. Wenn das Gespräch mit Freunden und Kollegen nicht ausreicht und dich die Bilder länger als 4 Wochen verfolgen, kann auch das Aufsuchen eines Therapeuten sinnvoll sein. Er kennt Wege, die das Verarbeiten erleichtern können.
Praxistipp: Ausprobieren
Das beste Training für die psychische Erste Hilfe sind gut dargestellte Fallbeispiele bei einem Erste-Hilfe-Kurs. Hier kannst du zum Helfer werden und lernen, in einer Belastungssituation trotz innerer Anspannung Ruhe auszustrahlen.
Frage bei deinem nächsten Erste-Hilfe-Kurs vor der Anmeldung, ob die Ausbilder »realistische Unfalldarstellungen« durchführen. Dann kannst du dir sicher sein, dass du wirklich gute Übungsmöglichkeiten hast.
Bild 20:
Im Notfall: »Erst mal RUM!«
Checkliste: RUM – Risiken, Umfeld, Management
Risiken, Retten aus akuter Gefahr
• Grundsatz: »Sicherheit zuerst«
• Erste Priorität: Risiken, die die Helfer bedrohen
• Zweite Priorität: Sicherheit des Patienten
• Bei hohem Risiko musst du den Patienten – ungeachtet seines medizinischen Zustands – aus dem Gefahrenbereich retten. Prinzip »Gefahren abwägen«
• Überblick in plötzlich auftretenden Situationen trainieren!
• Sicherheitsrelevante Ausbildungen machen
Umfeld, Unfallmechanismus
• Das Umfeld und der Unfallmechanismus geben erste Hinweise auf Verletzung bzw. Erkrankung, also: Augen auf!
• Durch »mentales Training« auf den Ernstfall vorbereiten
Management
• Schauen – überlegen – entscheiden – handeln
• Besonders wichtig bei der Aufgabenverteilung: Koordinator und Kontakter
• Der Koordinator behält immer den Überblick und verteilt Aufgaben an weitere Helfer.
• Der Kontakter ist medizinischer Betreuer und widmet sich ganz dem psychischen Wohlbefinden des Patienten.
• Sonderfall: nur ein einziger kompetenter Helfer zunächst Kontakter, dann Koordinator
• Realistisch dargestellte Fallbeispiele sind eine gute Trainingsmöglichkeit, um fit fürs Notfallmanagement zu werden.