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Dritter Tag - Marie

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Sonntag, 24. Februar

Nass geschwitzt wachte ich um kurz nach sieben auf und wusste genau, etwas nicht sehr Angenehmes geträumt zu haben. Ebenso angestrengt wie vergeblich versuchte ich, mich an auch nur an irgend etwas zu erinnern, während ich eine Saiphon rauchte und die Kaffeemaschine gurgelte. Ich saß auf der Bettkante und wurde auch nach der zweiten Tasse Kaffee noch nicht richtig wach. Nach dem Duschen ging es mir etwas besser und ich beschloss, gleich zu frühstücken, bevor Leo oder der Harley Club im Restaurant eintrudelte. Kurz vor acht saß ich vor einem doppelten Cheeseburger und der Bangkok Post an einem Tisch in der hintersten Ecke des Restaurants und liess es mir schmecken. Dazu noch zwei Tassen Kaffee und ich war um kurz nach halb neun wieder zurück im S4, gerade noch rechtzeitig, um durch die halb geöffnete Tür zu sehen, wie auf der gegenüber liegenden Seite Leo in Slip und T-Shirt aus ihrem Bungalow trat und sich gähnend umschaute. Eine halbe Stunde saß ich vor meinem Laptop, checkte meine emails und übertrug die Fotos von von der Kamera.

In Jeans, Camelhemd und der Kameratasche über der Schulter spazierte ich wieder am Pool entlang zur Bar und bestellte einen Kaffee. Im Restaurant saß der Harley Club an seinem gewohnten Platz, einem aus drei zusammen geschobenen quadratischen Vier-Platz-Tischen generierten Achtertisch. Mit meiner Kaffeetasse in der Hand ging ich gerade durch das Restaurant auf sie zu, als auch von der Straßenseite her Lena und Tina herein tänzelten und wir uns am Tisch trafen. Die Mädels setzten sich und bestellten ihr Frühstück bei Katai, die mir zum Tisch gefolgt war. Währendessen begrüßte mich Captain Bavaria laut und breit grinsend mit ‘Hi Peter’’. Ich nahm mir einen Stuhl gegenüber von Joss, stellte die Tasse auf den Tisch und setzte mich auf die Stuhlkante, wie jemand, der damit ausdrücken will ‘Ich bleibe nur mal kurz’, was ich ja auch wollte.

“Na, so ganz allein? Leo ist gerade wieder weggegangen”, feixte Joss. “Ja, und?”, lächelte ich ihn an, wohl wissend, worauf er hinaus wollte, “sie hat dir doch garantiert von gestern Abend erzählt, nachdem du sie danach gefragt hast, versteht sich“. “Kein Wort hat sie gesagt, nur gefragt, ob du schon hier warst. Und müde sah sie aus. Ich dachte nur so, ihr kommt heute morgen zusammen hierher“, gab er demonstrativ enttäuscht zurück. “Kann es sein, dass du mich da schon wieder falsch einschätzt?”, fragte ich ihn, trank schmunzelnd meinen Kaffee aus und stand auf, “und jetzt mache ich erst mal einen Strandspaziergang. Bis nachher, spätestens zur Harley Hour“, grüßte ich in die ganze Runde, nahm meine Tasche und zog ab.

Gemütlich schlenderte ich am Strand entlang, bückte mich gelegentlich nach einem dieser kleinen, runden Dinger, die am Big Buddha für teure Baht als Talisman verkauft werden. Es waren die letzten, weil massivsten Überbleibsel von den Gehäusen der Meerschnecken, in Jahren oder Jahrzehnten abgeschliffen vom Hin- und Hertreiben auf dem Meeresgrund und schliesslich angespült am Strand. Hier und da blieb ich stehen und schaute einfach auf die leichten Wellen, hinüber nach Pha Ngan oder über die Bophut Beach und dachte an bessere, sprich glückliche Zeiten, die ich mit Meou hier verbracht hatte.

Aus den Augenwinkeln sah ich jemanden vom vielleicht 200 Meter entfernten Smile House her auf mich zu kommen und wusste sofort, dass es Marie war. So desinteressiert wie nur möglich schaute ich ab und zu in ihre Richtung, während sie zielstrebig näher kam. Etwas weniger als schulterlange, wohl gezielt ausgefranst und zerzaust gestylte blonde Haare, ein kurzärmeliges weisses Hemdchen bis knapp über den Bauchnabel, fantastisch sitzende weisse Jeans und Turnschuhe, über der Schulter eine bunt bedruckte Strandtasche. Jetzt sah ich, worüber ich vorgestern beim Anblick ihres Passfotos gerätselt hatte: Wie der Rest von ihr aussah. Schlank und grazil war sie, vielleicht knapp zehn Zentimeter kleiner als ich, hatte kaum Busen und einen süßen kleinen Hintern. Sie war nicht dünn oder gar mager, die Proportionen stimmten, sie hatte einfach eine tolle Figur. Es war so gegen viertel vor elf, als sie neben mir stand und ihre Sonnenbrille mit kreisrunden, hellblau getönten Gläsern abnahm, die mich spontan an John Lennon denken liess.

“Peter, auch aus Deutschland?”, lächelte sie mich an und wirkte etwas nervös dabei. Durch meine grüne Sonnenbrille schaute ich sie an. “Ja, warum?”. “Ich bin Marie, Marie Michalski, du hast meine Tasche gefunden und mir ins Blue Lagoon gebracht”. Ich schob mir die Brille über die Stirn und schaute ihr in die Augen. “Ja, hab ich. Aber so im Vorbeigehen hätte ich dich jetzt nicht so ohne weiteres erkannt”, log ich, “du bist ja noch hübscher als auf deinem Passfoto, und deine Haare sehen so viel besser aus. Stimmt was nicht? Hat irgendwas gefehlt?”. Sie hob gleich abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. “Nein, nein, alles in Ordnung! Und danke für das Kompliment, das Passfoto ist wirklich gruselig, ist ja auch schon fünf oder sechs Jahre alt”. ”Das war kein Kompliment“, korrigierte ich gleich, ”das war eine ganz sachliche Feststellung“. “Noch besser”, lachte sie, wirkte schon weniger nervös und legte unvermittelt los:

“Ich habe dich gesucht und Gott sei Dank gefunden, um mich bei dir zu bedanken. Du hast mich gerettet, ich war echt kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Dann kam auf einmal Sopah, das Mädchen von der Rezeption, und sagte, da hat jemand angerufen, der deine Tasche gefunden hat, er will sie heute Mittag hierher bringen. Ich bin fast durchgedreht vor Freude, ich war so aufgeregt, bin nur noch auf meiner Veranda hin und hergelaufen, hatte auf einmal einen Riesenhunger, nachdem ich eineinhalb Tage vor Aufregung so gut wie nichts gegessen hatte.

Als Sopah mir dann so gegen zwölf dein Päckchen gebracht hat, war ich zwar überglücklich, aber auch irgendwie enttäuscht und hab sie gleich gefragt, wer das denn gebracht hat und warum er nicht selbst zu mir gekommen ist. ‘Weiss nicht’, hat sie gesagt, ‘ich habe ihm gesagt, dass du hier wartest, aber er meinte nur, ich soll dich grüßen. Ein netter, gut aussehender Mann, vielleicht so Mitte vierzig, etwas größer als du, sportlicher Typ, lange blonde Haare, grüne Sonnenbrille und wirklich sehr freundlich. Ich weiss nur, dass er Peter heisst und mit einem roten Motorroller hier war’. Dann hab ich das Päckchen aufgerissen, in die Tasche geschaut und alles war da, sogar das Geld. Und dein Zettel: ‘Peter, auch aus Deutschland’. Ich hab mich erst mal auf mein Verandatreppchen gesetzt und geheult. Dann musste ich ja anfangen, alles wieder rückgängig zu machen, was ich angeleiert hatte, zuerst habe ich meine Eltern angerufen und gesagt, dass alles wieder in Ordnung ist. Mein Vater hatte schon per Blitzanweisung Geld für mich an die Bank of Bangkok in Chaweng überwiesen”.

Endlich musste sie mal Luft holen. Ich hatte die ganze Zeit ruhig zugehört und sie angeschaut. Ein bildhübsches Gesicht, ungeschminkt, sah eher nach 25 als nach 35 Jahren aus. Ihre großen, grauen, manchmal leicht bernsteinfarben schimmernden Augen sagten schon mehr über die Lebenserfahrung einer 35-jährigen Ärztin aus. Ab und zu schüttelte sie ihre blonden Haare aus der Stirn, ihr zur Seite gescheitelter Pony reichte schon fast bis zur Nasenspitze, ihr zerzauster Schopf wirkte irgendwie lasziv.

Schon redete sie weiter, so, als müsse sie vorbereitete Erklärung zu Ende bringen. “Ich konnte noch nicht alles erledigen, aber dann habe ich meine Schweizer Freunde, die mir so viel geholfen haben, zum Essen eingeladen und wir haben gefeiert bis Mitternacht. Ich habe den beiden auch von dir erzählt und gesagt, morgen muss ich unbedingt diesen Peter, auch aus Deutschland, finden! Gott sei dank war Sopah noch eingefallen, dass es ja eine alte Freundin von ihr war, die aus dem Smile House in Bophut Beach angerufen und nach mir gefragt hatte. Und geschlafen habe ich wie ein Murmeltier, nach zwei schlaflosen Nächten. Mann, ich quassele schon wieder zuviel“. Sie war regelrecht ausser Atem. “Na, dann ist doch alles bestens“, sagte ich beruhigend, “komm, setz dich doch erst mal“. Wir setzten uns nebeneinander in den Sand und sie schaute mich forschend an.

“Warum hast du mir die Tasche nicht selbst übergeben?”. Ich überlegte ein paar Sekunden. “Ich versuche es dir mal so zu erklären: Wenn du deine Sonnenbrille am Pool liegen lässt und ich bringe sie dir zurück, dann lächelst du mich freundlich an und sagst ‘Oh, danke, sehr aufmerksam’. Wenn ich dir deine Digitalkamera bringe, die du im Restaurant vergessen hast, dann sagst du vielleicht ’Oh, super, ich hab sie schon überall gesucht, dafür spendiere ich aber nachher an der Bar einen schönen Drink’. Aber was machst du, wenn ich dir etwas so Wichtiges und Wertvolles wie deine Tasche zurückbringe? Da stehst du doch unter einem ganz schönen Zugzwang, oder? Das wollte ich vermeiden. Und ich will ja auch gar nichts von dir. In dem Moment, in dem ich die Tasche abgebe, bin ich mir doch hundertprozentig sicher, dass ich jemanden, wenigstens für ein paar Tage, überglücklich gemacht habe. Und dieses Gefühl ist sowieso unbezahlbar. Verstehst du, was ich meine?”.

Marie war im Laufe meiner Erklärung immer nachdenklicher geworden und sagte erst einmal gar nichts, sie schüttelte nur leicht, wie ungläubig, ihren Kopf. “So habe ich das noch nicht gesehen“, sagte sie langsam. “Darf ich dich trotzdem zum Essen einladen? Ich meine, falls du heute nicht schon was anderes vor hast. Du bist doch auch allein hier, oder?”. “Ja, natürlich, allein ist gar kein Ausdruck. Danke für die Einladung. Ich habe nur ziemlich gut gefrühstückt, kurz bevor du kamst, und tagsüber esse ich bei der Hitze gar nicht so viel und was sollte ich auch schon vorhaben. Ich weiss nicht, was du noch für Verpflichtungen hast, aber wie wär’s mit Abendessen? Und bitte lächele wieder, steht dir viel besser”. Sie lächelte nicht nur, sie strahlte wie ein AKW. “Gerne, alles klar, ich habe Zeit, ich habe doch Urlaub, heute ist mein erster richtiger Urlaubstag auf Samui! Wollen wir nicht mal auf einen Drink da vorne an die Bar gehen, ich hab einen furchtbaren Durst”. “OK, gehen wir“. Ich stand auf und nahm meine Fototasche. Gemütlich spazierten wir den Strand entlang zurück zum Smile House.

“Schön hier“, sagte sie und schaute noch einmal zurück über die gesamte Bophut Beach. “So ganz anders als Chaweng Beach. Angenehm ruhig, das Dorf, nicht so ein elendes Verkehrschaos wie bei uns”. “Wie bist du hierher gekommen?”, fragte ich sie. “Ich hatte mir schon am Tag nach meiner Ankunft hier so eins von diesen Mini Cabrios gemietet, weil ich ja gleich die Insel erkunden wollte. Und das habe ich immer noch“. “Und woher wusstest Du, dass ich am Strand bin?”. “Zuerst habe ich an der Rezeption nach einem Peter aus Deutschland gefragt, die wussten zwar gleich, wen ich meine, haben aber gesagt, ich soll mal im Restaurant fragen. Die haben gesagt, dass du gerade noch da warst und jetzt vielleicht am Strand bist. Und im Vorbeigehen habe ich an einem Tisch so ein paar wilde Typen deutsch sprechen hören, die habe ich auch noch gefragt ‘Kennt ihr Peter aus Deutschland?’. Haben alle genickt und gegrinst und gesagt ‘Ja’. Ich frage noch ‘Wisst ihr, wo ich ihn finde?’, da meint offenbar der Anführer der Bande ‘Ja, warum?’. ‘Errätst du nie’, hab ich ihm ebenso grinsend gesagt, ‘weil ich ihn suche’. Mein Gott, hat der mich bescheuert angeglotzt und gemeint ‘Der ist da draussen am Strand, aber du kannst auch gerne bei uns bleiben’. Unmöglich der Typ“. Entrüstet schüttelte sie den Kopf und ich lachte vor mich hin. “Tja, solche Antworten ist er als berühmt-berüchtigter Captain Bavaria nicht gewohnt“.

“Und so wie Sopah dich beschrieben hat, warst du ja nicht zu verfehlen“. Ich lachte noch etwas lauter. “Sopahs Beschreibung! Da hat sie sich aber ganz ordentlich vertan. Statt eines gut aussehenden Typs Mitte Vierzig findest du einen Mitte Fünfziger mit Glatze und Waschtrommel- anstelle von Waschbrettbauch. Herbe Enttäuschung!”. Sie lachte, blieb stehen und musterte mich von oben bis unten und zurück. “Nein, absolut nicht“, urteilte sie, jetzt wieder ernst, “ich finde ihre Beschreibung wirklich zutreffend“. “Sag ihr trotzdem, sie sollte lieber mal zum Augenarzt gehen”.

Im Smile House angekommen, setzten wir uns auf der Restaurantterrasse an einen Tisch unter zwei Sonnenschirme. Marie verrückte ihren ein wenig, damit die Sonne, die fast senkrecht über uns stand, auf ihre Arme schien, ihr Kopf aber im Schatten blieb. “Also ich brauche erst mal ein Bier“, stöhnte sie. “Und du? Auch eins? Du bist heute den ganzen Tag mein Gast“. “Oh, danke! Aber bloß kein Bier. Nicht wegen der Uhrzeit, ich hab nur an meinem letzten Tag in Bangkok zuviel Chang Beer getrunken, da brauche ich erst mal ein paar Tage Pause. Für mich einen Kaffee, bitte.” “Sehr vernünftig“, nickte sie, “aber ich trinke nun mal gerne Bier, und wenn ich arbeite, kann ich mir das nicht leisten. Ausserdem bin ich immer noch in Feierstimmung“.

Katai war ungwohnt schnell bei uns, vielleicht waren wir ihr aufgefallen, weil wir hier draussen die einzigen Gäste waren. Marie bestellte auf Englisch und Katai schaute mich etwas verwundert an, sagte aber nichts. Ich nahm mir eine Roth-Händle und hielt ihr die Packung hin. “Nein, danke, so was vertrage ich nicht, eine Filterzigarette genehmige ich mir schon mal gelegentlich. Ich rauche ja nicht, um Himmels Willen, nur so ab und zu mal eine, reiner Luxus. Irgendwer hat mal gesagt, ein Arzt, der raucht, ist wie ein Richter, der klaut”, schmunzelte sie. “Nur in den letzten beiden Tagen habe ich aus purer Verweiflung fast ein ganzes Päckchen geraucht”. “Filter hab ich auch“, antwortete ich, erleichtert, dass sie mich nicht anmeckerte wegen der Qualmerei, “sind aber Mentholzigaretten”, kramte mein Päckchen Saiphon aus der Tasche und reichte es ihr. “Um so besser, Menthol zählt in der Humanmedizin ja zu den Heilmitteln”, meinte sie und ich gab ihr Feuer. Katai brachte eine Flasche Singha, ein vereistes Bierglas und meinen Kaffee, mittlerweile war es halb eins. “Wie lange warst du in Bangkok?”. “Drei Tage“, sagte ich, “vorgestern bin ich hier angekommen, bleibe noch 12 Tage hier, dann noch mal zwei Tage Bangkok und am achten März wieder nach Hause“. “Mir bleiben jetzt noch 14 Tage Samui und zweieinhalb Tage Bangkok“.

Sie ignorierte das Bierglas, nahm einen Schluck aus der Flasche und sah mich ernst an. Dann sprudelte es nur so aus ihr heraus. “Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn du plötzlich ohne Pass, Tickets und Geld da stehst. Ich war so was von fertig! Zuerst habe ich nur völlig verzweifelt da gesessen, dann bin ich zur Rezeption und habe gefragt, was ich tun soll. Die Mädchen dort waren ja so lieb, haben gleich herum telefoniert bei der Polizei in Nathon, in Maenam, in Bophut, überall, wo ich gesagt hab, wo ich war. Nichts. Wir versuchen es morgen noch mal, haben sie mich getröstet. Aber ich solle auf jeden Fall die deutsche Botschaft in Bangkok anrufen und den Passverlust melden. Wenn meine Sachen nicht gefunden werden, brauche ich ja einen provisorischen Reisepass zur Ausreise. Und natürlich die Airline informieren. Und bei der Polizei Anzeige erstatten wegen Diebstahl, könnte ja auch sein, dass mir die Tasche geklaut worden ist. Und ob ich denn überhaupt noch Geld hätte. Ich sage dir, die waren echt lieb“.

Es war hinreissend, wie sie ihre Verzweiflung zum Ausdruck brachte. “Und dann haben mir noch Nadine und Roger, das Schweizer Pärchen vom Nachbarbungalow, unheimlich geholfen. Die haben mich mit ihrem Jeep zur Polizei, zum Airport und zur Bank gebracht, weil ich überhaupt nicht mehr zum Autofahren fähig war, ein paar tausend Baht, die ich in Bangkok umgetauscht hatte, waren Gott sei Dank noch in meiner Hemdtasche. Und glücklicherweise, aber frag mich nicht warum, hatte ich auch meinen Führerschein, den Mietvertrag und die Papiere für den Mini separat in meiner Umhängetasche. Oh Gott, wenn ich die beiden nicht gehabt hätte! Peter, ich bin dir so dankbar, dass du mir meine Tasche gebracht hast, dazu noch mit vollständigem Inhalt. Du hättest dir ja genauso gut das Geld einstecken und den Rest wieder wegwerfen können”.

“Marie, ich hab mir den Inhalt deiner Tasche angeschaut und festgestellt, dein Reisepass ist für mich als zweite Identität aufgrund von Geschlecht und Alter schon mal unbrauchbar, ein Rückflugticket habe ich selbst, deine Traveller Cheques kann ich nicht einlösen und Bargeld klaue ich erst ab 10.000 Euro. Die Tasche selbst hat mich am wenigsten begeistert, da habe ich eine Bessere. Also kann ich dir auch alles zurückbringen. So, und jetzt reicht es aber wirklich mit der Dankerei”.

Während ich das sagte, verriet ihr Gesichtsaudruck, dass sie überlegte, ob ich das wirklich ernst meinte und musste wieder lachen. “Und wenn 9.900 Euro drin gewesen wären, die hättest du nicht geklaut?”, fragte sie schelmisch. “Hmm”, druckste ich ein wenig herum, “ehrlich gesagt, allem kann ich widerstehen, nur der Versuchung nicht“. “Cooler Spruch, sollte ich mir merken“, schmunzelte sie, “wer hat das gesagt?”. “Oscar Wilde”. Leicht nachdenklich schaute sie mich an. “Die ganze Zeit rede und rede ich und du sagst so gut wie gar nichts“. “Ich höre dir zu und schaue dich an. Damit bin ich voll ausgelastet”.

Endlich sprach sie mal von etwas anderem als ihren verlorenen Papieren. “Peter, du weisst alles über mich, Name, Alter, Wohnort, Beruf. Von dir weiss ich nur, dass du Peter aus Deutschland bist. Ist doch unfair, oder? Erzählst du mir ein bisschen von dir?”. “Klar, ist ja kein Geheimnis. Aber viel zu erzählen gibt’s da nicht. Ich wohne, bei staufreier A5, nur zehn Autobahn-Minuten von dir entfernt in Bad Nauheim,...”. “Hey, da sind wir ja praktisch Nachbarn!”, rief sie dazwischen. “...habe mich nach dem Abi mit verschiedenen Jobs durchs Leben geschlagen, irgendwann mal Grafik und Design studiert, war mal ein paar Jahre in der Werbeabteilung eines US-Konzerns in Deutschland und arbeite seit fünfzehn Jahren selbstständig als Grafiker. Das heisst, so eine Art Werbeagentur als One-man-show. Bin seit zwei Jahren geschieden und lebe und arbeite allein in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung oben unterm Dach. In einem Zimmer steht mein Bett, im anderen mein Schreibtisch, alles in allem ziemlich trostlos”.

“Wieso denn?”, unterbrach sie mich, “die Werbebranche stelle ich mir immer interessant, spannend und vor allem abwechslungsreich vor“. “Marie, ich habe keine millionenschwere Agentur, ich fahre weder einen Ferrari noch einen Porsche, sondern einen zwölf Jahre alten Peugeot 306. Ich habe keine halbnackten Mädels auf meinem Schreibtisch sitzen, trinke keinen Champagner zum Frühstück und lasse mir auch meinen Salat nicht von Fleurop bringen. Zur Zeit habe ich nichts zu tun, es gibt keine Aufträge, die Finanzmarktkrise tifft die Werbung zu allererst. Hier und da schreibe ich mal etwas. Ansonsten bin ich schwerpunktmäßig damit beschäftigt, meine Wohnung in Ordnung zu halten, ich muss kochen, putzen, waschen, bügeln, einkaufen, das ist schon fast ein Fulltimejob. Doch trostlos, oder?”. Den Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hand gestützt hatte sie mir interessiert zugehört und brachte nur ein nachdenkliches “Hmm“ heraus. “Schliesslich”, fuhr ich fort, “war ich die Herumhängerei leid und ausserdem seit Jahren nicht mehr im Urlaub, habe kurz entschlossen ein paar Sachen eingepackt, die Tür hinter mir abgeschlossen und jetzt sitze ich hier“.

“Also wie auch immer, ich beneide kreative Menschen, Künstler, Maler, Musiker, Fotografen und so. Mir bleibt in meinem Job nicht viel Spielraum für Kreativität, ich muss mich an die Regeln halten. Wie lange warst du verheiratet?”. “17 Jahre”. Sie war ehrlich erstaunt. “Wow! Ich habe mich vor sechs Monaten von Martin, meinem Freund, getrennt, das heisst, ich hab ihn rausgeschmissen. Wir waren fast vier Jahre zusammen. Aber meinst du, ich hätte gemerkt, dass er bei seinen wöchentlichen Sauftouren mit seinem Kumpels ständig etwas mit anderen Frauen hatte? Bis es mir eine Bekannte erzählt hat. Da habe ich ihn vor die Tür gesetzt. Seitdem bin ich auch allein. Ab und zu gehe ich mal mit meiner Freundin Sani aus zum Essen, ins Kino oder wir trinken irgendwo ein Bier oder drei, ansonsten verläuft mein Leben offenbar genauso unspektakulär wie deins. Warum trennt man sich überhaupt nach 17 Jahren Ehe?”.

Ich zuckte leicht mit den Schultern. “War nicht meine Idee. Vor drei Jahren, kurz vor Weihnachten, hat meine Frau mir gesagt, sie kann mich nicht länger ertragen und hatte sich schon ein Appartement in der Stadt gemietet. Packt ein paar Klamotten zusammen und weg ist sie. Irgendwann im April oder Mai kam sie und wollte die Scheidung. Ich zwar nicht, aber ich habe gesagt ‘Wenn es dich glücklich macht, bitte, aber ich kümmere mich um nichts.’ Sie hat alles mit ihrer Rechtsanwältin abgewickelt und auch alles bezahlt, ab und zu kam mal ein Brief oder Formular vom Familiengericht zum Unterschreiben und im Mai vor zwei Jahren war der offizielle Scheidungstermin beim Amtsgericht. Hat nur zehn Minuten gedauert”.

“Hm, eigenartig“, murmelte sie vor sich hin. “Habt ihr Kinder?”. “Nein, meine Frau hatte schon eine sechsjährige Tochter, als ich sie kennen lernte, aber die ist bei den Großeltern aufgewachsen, ich habe sie nicht allzu oft gesehen, obwohl ich das Sorgerecht für sie übernommen hatte. Vor ein paar Tagen haben wir uns nach über vier Jahren zum ersten Mal wieder getroffen. Wir sind spazieren gegangen, waren shoppen und ich habe sie zum Essen eingeladen. Ist eine richtig tolle junge Frau geworden“.

Marie schüttelte den Kopf, nippte wieder an ihrem Bier, schaute verdutzt in die leere Flasche und grinste. “Verdunstet! Meinst du, das Mädchen kommt noch mal?”. “Sicher, irgendwann im Laufe des Tages. Ich hol dir eins an der Bar, meine Tasse ist auch leer”. “Danke, bringst du mir bitte eine Kleinigkeit zum Essen mit? Ein Sandwich oder so was? Habe auf einmal doch ein bisschen Hunger“. Ich war schon aufgestanden. “Mit Schinken? Käse? Thunfisch?”. “Ja, Thunfisch hört sich gut an, OK”.

Das Restaurant war jetzt gegen halb zwei fast leer. An der Bar holte ich ein Singha, noch einen Kaffee für mich und bestellte ein Tuna Sandwich. Auf der Terrasse hatte Marie wieder den Sonnenschirm in die optimale Position gebracht und trank zuerst mal einen ordentlichen Schluck Bier. “Zum Essen gibt’s nichts?”. “Kommt gleich“, beruhigte ich sie und setzte mich wieder in den Schatten.

“Wie spät ist es eigentlich? Ich habe zwar meine Uhr an, aber seitdem ich in Bangkok mal eine halbe Stunde mit ihr im Pool war, macht sie keinen Mucks mehr“. Zum Beweis hielt sie mir ihr Handgelenk mit der toten Armbanduhr entgegen. “Ich habe immer noch die Hoffnung, dass sie in der Sonne austrocknet und wieder losläuft. Die haben mir meine Eltern mal zu Weihnachten geschenkt“. Mittlerweile hatte ich meine aus der Tasche geholt und hielt ihr das Ziffernblatt vor die Nase. “Was, schon gleich zwei! Schöne Uhr, darf ich mal sehen?”. Sie nahm sie aus meiner Hand und betrachtete sie eingehend. “Wow, eine Breitling Pluton, mein Vater wäre begeistert, er ist fanatischer Uhrensammler, nur Nobelmarken. Ich glaube, so an die vier, fünf Breitling hat er auch. Er zeigt mir immer ganz stolz seine neusten Errungenschaften, deshalb kenne ich mich ein bisschen aus“. Ich steckte sie wieder in die Tasche zurück und fragte “Was macht dein Vater?”. “Er ist auch Arzt, Chirurg”.

Marie blickte versonnen nach oben in den Sonnenschirm und reflektierte plötzlich noch einmal auf die Trennung von ihrem Freund. “Also nach meiner Trennung von Martin habe ich mich einige Wochen lang ziemlich mies und einsam gefühlt, obwohl ich die Beziehung ja selbst beendet hatte. Ich hing einfach so in der Luft und habe sogar mit dem Gedanken gespielt, abzuhauen und vielleicht mal ein Jahr für die ‘medecins sans frontieres’, die Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten, in Afrika oder Indien. So ganz einfach war das nicht. Meine Freundin Sani hat mir sehr geholfen und natürlich meine Arbeit. Mittlerweile bin ich ganz zufrieden und richtig stolz auf meine Entscheidung“.

Katai brachte einen Teller mit einem tadellosen Thunfischsandwich, jede Menge Salat, Gurken- und Tomatenscheiben drum herum und den obligatorischen Ständer mit den Saucenschüsselchen. “Guten Appetit“, sagte ich und nahm mir ein Stückchen Gurke vom Teller. Sie wollte damit anfangen, das üppig belegte Baguette mit Messer und Gabel zu zerlegen. aber alles fiel auseinander. Sie fluchte leise, schubste mit den Fingern ein paar Thunfischbrocken und Zwiebelringe wieder auf das Baguetteunterteil zurück, nahm es in die Hand und biss herzhaft hinein.

“Hmm, gut“, sagte sie nach dem ersten Bissen und einem Schluck Bier, “du kannst gerne mitessen, das Ding ist ja riesig. Gefällt mit hier, wie bist du übrigens auf dieses Smile House hier gekommen?”. “War ein Tipp von meiner Ex-Frau”, sagte ich so beiläufig wie möglich und nahm noch eine Gurkenscheibe. Sie biss erneut in das Brot und hielt es mir über den Tisch entgegen. “Hier, probier mal”. Ich nahm einen Mund voll und nippte an meinem Kaffee.

“Du hast wenigstens einen sinnvollen Job”, sinnierte ich, “und, nehme ich mal an, täglich deine Erfolgserlebnisse. Was ich da mache, ist doch nur Lug und Trug. Aber Kinderärztin, das hat was. Ich denke, Kinderärzte sind doch die wichtigsten Ärzte überhaupt, oder?”. Marie kaute weiter und sah mich erwartungsvoll an. Ich lehnte mich im Stuhl zurück und setzte meine Überlegungen fort. “Wenn du ein krankes Kind nicht über die Runden bringst, dann braucht es später weder einen Orthopäden, noch einen Herzchirurgen oder Neurologen. All die hoch bezahlten Spezialisten wären ohne dich doch arbeitslos. Wissen die das überhaupt?”.

Wie zauberhaft sie lachte, nachdem sie sich beinahe verschluckt hätte. “Nun, ganz so krass ist es ja nicht, es gibt ja schliesslich auch Kinder, die ohne ärztliche Hilfe erwachsen und dann erst krank werden. Aber ein sehr interessanter Aspekt, so habe ich das noch nicht betrachtet“. “Ausserdem”, nahm ich den Faden wieder auf, “stelle ich mir jedenfalls vor, muss es doch sehr befriedigend sein, zum Beispiel bei einem weinenden Kind den Grund für die Bauchschmerzen zu diagnostizieren und ihm helfen zu können. Stell dir mal vor, du bist ein praktischer Arzt, Allgemeinmediziner, oder wie nennt man das, dann besteht doch täglich die Gefahr, dass ein 88-jähriger Greis zu dir kommt, der sowieso schon an prämortaler Mumifizierung leidet und über Erektionsstörungen und Durchfall jammert. Das wäre doch widerlich!”.

Marie hatte gerade die Singha-Flasche angesetzt, verschluckte sich dieses Mal wirklich und hustete und lachte zugleich. Mit der Serviette wischte sie sich den Mund ab und lachte weiter. “Was war das eben? Prämortale Mumifizierung? Das hab ich ja noch nie gehört!”. Sie wiederholte es noch einmal vor sich hin und konnte sich gar nicht beruhigen. “Dann hast du aber deinen Pschyrembel* nicht besonders gut im Kopf“, ermahnte ich sie. Das hatte sie wohl nicht erwartet. “Was hast du als Grafiker mit dem Pschyrembel* ( * Pschyrembel Klinisches Wörterbuch, Fachlexikon für Mediziner, 2.300 Seiten) zu tun?”, fragte sie erstaunt. “Gar nichts, aber Marie, ich bitte dich, das ist doch Allgemeinbildung, unterstes Level.” “So, meinst du? Also das muss ich mir unbedingt merken, prämortale Mumifizierung.”

Ich wechselte das Thema. “Und wie bist du auf das Blue Lagoon gekommen?”. “Eigentlich wollte ich mit Sani hierher kommen. Sani ist meine beste Freundin und total flippig. Sie hat Germanistik und Englisch studiert, ist freie Journalistin und schreibt für alle möglichen und unmöglichen Mode-, Lifestyle-, Szene- und Trend-Zeitschriften. Sie hat grauenhafte Flugangst. Alleine würde sie nie fliegen. Das Witzige ist, sie schreibt am liebsten über ihre unzähligen Reisen zu allen möglichen Galas, Modeschauen, Preisverleihungen und was weiss ich für Events rund um die Welt. Wenn du ihren Artikeln glaubst, verbringt sie vier von sieben Wochentagen im Flieger. Alles nur virtuell, sie holt sich ihre Informationen ausschliesslich aus dem Internet und hat Deutschland ich glaube seit zwei Jahren nicht mehr verlassen. Um so überraschter war ich, als sie mit der Idee kam, nach Samui zu fliegen.

Es war wohl so vor zwei Monaten. Ich war nach Feierabend bei ihr, um ein paar Sachen abzuholen, die sie tagsüber für mich eingekauft hatte. Wir hockten in ihrer Küche, tranken ein Bier und der Fernseher lief, sie hat in jedem Zimmer einen Fernseher, immer angeschaltet. Keine Spur von Umwelt- oder Energiebewusstsein. Plötzlich macht sie den Ton lauter und sagt

“Hey, schau mal’ und, ich glaube es war auf arte, lief unter dem Titel ’Inselzauber’ ein Bericht über Ko Samui. Und schon während des Nachspanns sagte sie absolut bestimmt: ‘Marie, da fahren wir hin. Du brauchst dringend mal Urlaub und ich könnte endlich mal was Authentisches

schreiben und nicht bloß diese Internetscheisse abkupfern’ “. Sie sagte nichts davon, dass, wie ich vermutete, der Urlaub auch mit ihrem 35sten Geburtstag verbunden werden sollte. “Ich wollte es gar nicht glauben, aber sie meinte es ernst und wir haben sofort auf einem ihrer Computer nach Angeboten gesucht.

Aber wenn du absolut keine Ahnung hast von der Insel, geschweige denn Thailand, dann kannst du selbst mit zehntausend supertollen Angeboten nichts anfangen. Ich habe gesagt: ‘Sani, wenn wir das wirklich machen wollen, dann gehst du

morgen bei deinem Einkaufsbummel mal in zwei oder drei Reisebüros und lässt dich beraten.’ Und verrückt, wie sie nun mal ist, hat sie gleich im zweiten Reisebüro drei Wochen Thailand für uns gebucht, vermutlich, weil der nette junge Mann dort so toll aussah. ‘Marie, das wird phänomenal. Wir zwei im Blue Lagoon Resort an der Chaweng Beach in Ko Samui. Und dann

noch drei Tage Shopping in Bangkok. Mein Gott, wenn ich mir allein nur vorstelle, was ich dann alles schreiben kann!’. Sie war total aus dem Häuschen.

Und jetzt liegt sie zu Hause mit einem gebrochenen Fussgelenk und zwei gebrochenen Rippen. Oder sitzt vor ihren Computern, wie ich sie kenne. Drei Tage vor unserem Abflug rennt sie in der Stadt noch schnell über eine sechsspurige Kreuzung, obwohl die Fußgängerampel schon längst auf rot war und ein Auto auf der Abbiegespur erwischt sie beim Anfahren. Sie hat mich schon aus dem Krankenhaus in der Praxis angerufen, von ihrem Unfall berichtet und gesagt ‘Marie, du fliegst! Verzichte jetzt bloß nicht auf die Reise, nur weil ich so bescheuert bin.’ Nachmittags habe ich sie abgeholt und nach Hause gebracht. Arme Sani, sie war so sauer und wütend. ‘Ich weiss, ich bin schon selten dämlich, aber wenn du nicht fliegst und mir ein paar super Fotos mitbringst, bin ich stinksauer wie noch nie. Und mach dir Notizen über alles, was ich verwerten kann, ich gebe dir mein altes Notebook mit, das kleine Weisse, das wiegt fast gar nichts, bitte, Marie.’

Hat mich schon ein wenig Überwindung gekostet, aber die Anzeige, dass meine Praxis für drei Wochen geschlossen ist, stand schon in der Zeitung, meine Patienten waren informiert und meine Sachen so gut wie gepackt. Gut, Jasmin, meine Assistentin, macht Notdienst in der Praxis, da gibt es immer irgendwelche Nachbehandlungen, Verbandswechsel, Spritzen, die kontinuierlich weiter gegeben werden müssen und so was. Alles war vorbereitet und ich war sozusagen mental schon in Thailand. Und jetzt bin ich tatsächlich hier“. Ihre Erleichterung, jetzt hier um fast halb drei im Smile House beim Bier in der Sonne zu sitzen, nach allem, was sie in den letzten Tagen durchgemacht hatte, war nahezu greifbar zu spüren.

“Du, darf ich ein Foto von dir machen?”, fragte sie unvermittelt und kramte schon in ihrer Strandtasche, “du sitzt da so schön relaxed“. Sie schaltete ihre kleine Digitalkamera an, lokalisierte mich auf dem Display, drückte auf den Auslöser und lächelte zufrieden. “Warte, noch eins mit dem ganzen Tisch”, stand auf, wiederholte die Aktion aus drei Schritten Entfernung, machte noch ein paar Fotos über die Terrasse hinaus in Richtung Strand und Pha Ngan, setzte sich wieder und reichte mir die Kamera. “Machst du mal eins von mir? Ich brauche Belege. Sonst glaubt mir Sani kein Wort von dem, was ich hier erlebe”. Sie lächelte in die Kamera und murmelte, leicht kopfschüttelnd, ‘prämortale Mumifizierung’ vor sich hin. “Gleiches Recht für alle“, sagte ich, bückte mich nach meiner Tasche und holte die Minolta heraus. “Jetzt darf ich auch ein Foto von dir machen“.

Innerhalb von einer knappen Minute hatte ich Marie bestimmt zehn Mal abgelichtet. “Schau mal zum Strand“, forderte ich sie auf und fotografierte weiter. “Und jetzt nach links“. Sie war wohl ein wenig überrascht von dem Überfall, hatte aber offensichtlich nichts gegen ihre kurze Model-Funktion einzuwenden und machte artig mit. “Schöne Kamera, bist du auch Fotograf?”. “Nein, ich knipse nur so ein bisschen herum”, meinte ich und verstaute die Dynax wieder in der Tasche.

Sie machte es ebenfalls, und, in ihre geöffnete Tasche schauend, sagte sie: “Peter, ich habe dir ein kleines Geschenk mitgebracht“, legte ein Päckchen auf den Tisch, das vom äusseren Erscheinungsbild her eindeutig eine Zigarettenschachtel war und schob es zu mir. Ich schüttelte verwundert den Kopf. “Wozu noch ein Geschenk, du hast mich zum Dinner eingeladen?”. Keine Antwort. Das kleine Präsent war federleicht. Vorsichtig, als hätte ich Angst vor einer Bombe, zog ich an der Schleife des roten Bändchens und wickelte das bunte Geschenkpapier auf. Es war in der Tat eine Zigarettenschachtel. Ich ahnte Übles und klappte den Deckel auf. Es waren die elfhundert Euro Bargeld aus ihrer Tasche darin, sauber zusammengefaltet. Ein paar Sekunden lang fiel mir echt nichts ein. Dann klappte ich die Schachtel bedächtig wieder zu und schob sie ihr über den Tisch zurück.

“Bist du verrückt? Vor nicht ganz zwei Stunden habe ich dir erklärt, warum ich nichts von dir will. Wir waren uns doch einig, ich bin heute dein Gast und allein die Tatsache, dass du mir einen ganzen Tag deines restlichen Urlaubs opferst, macht mir fast ein schlechtes Gewissen“. Wie sie mich anschaute! War sie traurig oder enttäuscht? “Marie, ich weiss, du meinst es sehr lieb. Du bist unglaublich großzügig und fair, aber das nehme ich nicht an. Du schuldest mir nichts. Siehst du, das ist genau das, was ich vorhin gemeint habe, als ich sagte, ich wollte vermeiden, dich unter Zugzwang zu bringen, und jetzt tust du es selbst. Ich war glücklich, dir die Tasche zu bringen und bin noch glücklicher, jetzt mit dir hier zu sitzen”.

Schweigend schaute sie mich an, fing leise an mit “Aber...“, schüttelte ihren Kopf und grübelte. “Wenn ich dich verletzt habe, tut es mir leid, ich wollte dir nur zeigen, wie dankbar ich dir bin“. Versöhnlich beugte ich mich vor zur ihr. “Nein, hast du nicht. Es ist so schön und so lieb von dir, dass du hergekommen bist. Wenn es dir darum geht, deine Dankbarkeit unter Beweis zu stellen, das hast du zur Genüge getan. Das ist dein Urlaubsgeld. Selbst wenn du es schon total abgeschrieben hattest und es jetzt als zusätzlichen, ich sage mal ‘Gewinn’ betrachtest, dann mach etwas damit, was du normalerweise nicht machen würdest. Schenke denen etwas, die dir in den vergangenen zwei Tagen wirklich geholfen und sich um dich gesorgt haben, deiner Mutter, deinem Vater, deinen Schweizer Freunden. Geniess deinen Urlaub damit, kauf dir etwas Schönes in Bangkok, Klamotten, eine neue Uhr, erfüll dir einen Wunsch, den du dir ohne dieses Geld nicht erfüllen würdest“.

Sie lächelte wieder, wenn auch etwas unsicher. “Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang, ich zeige dir mal die Anlage. Dann stelle ich mich kurz unter die Dusche und so um fünf, halb sechs gehen wir rüber ins Chang Noi und essen was Gutes, OK?”. Sie nickte, setzte noch einmal die Flasche an, aber der Rest Bier war wohl wieder verdunstet. “Na gut, aber ich muss erst noch bezahlen“. Ich steckte meine Zigaretten ein, wir gingen durchs Restaurant zur Bar und Marie bezahlte bei Katai.

Auf dem Weg über den Parkplatz deutete sie auf ein postgelbes Mini Cabrio. “Das da ist meins,” sagte sie nicht ohne Stolz, “putzig, das Ding, sollte ich mir in Deutschland auch zulegen, macht richtig Spass. Aber wenn ich dann wieder an unser Scheisswetter denke...”. Am Pool war es, kurz vor der Harley Hour, ruhig, nur ein paar Liegestühle waren belegt und im Wasser planschten zwei Kinder. Wir spazierten gemächlich rechts am Pool vorbei und vor S4 zeigte ich auf den Bungalow. “Hier wohne ich, aber komm, da hinten geht’s noch weiter”.

Wir passierten das kleine Hinweisschild ‘Luxury area’ und Marie staunte nicht schlecht, als wir am zweiten Pool mit den Luxusbungalows im Thai Style rundherum in der Sonne standen und machte ein paar Fotos. Zurück am S4 öffnete ich die Tür und ließ Marie eintreten. Sie schaute sich um, warf einen kurzen Blick ins Badezimmer, meinte: “Mein Häuschen im Blue Lagoon sieht fast genauso aus, ist aber ein bisschen kleiner, dafür habe ich einen größeren Fernseher und sogar einen DVD-Player“, und, auf den Schreibtisch und das Laptop und die Festplatten zeigend: “Du hast ja dein halbes Büro dabei“. “Tja, wenn im Bungalow kein DVD-Player vorhanden ist, muss man sich eben einen mitbringen“. Sekundenlang schauten wir uns in die Augen, keiner sagte einen Ton, bis ich mich langsam zum Schrank umdrehte. “Ach, darf ich mal deine Toilette benutzen?”. “Kommt überhaupt nicht in Frage!”. Mein entschlossener Tonfall verdutzte sie sichtlich. “Natürlich darfst du”, lachte ich, “frag doch erst gar nicht, dann bekommst du auch keine so dämliche Antwort“. Lachend und kopfschüttelnd ging sie ins Badezimmer und verschloss die Tür.

Im Wandschrank suchte ich mir ein frisches Hemd heraus und warf es aufs Bett. “Marie, ich geh mal schnell unter die Dusche, mach es dir irgendwo bequem, leg dich hin oder setz dich auf die Veranda, wie du willst, bin gleich wieder da.” Sie hatte den MP3-Player neben dem Laptop entdeckt und freute sich. “Hey, du hast den gleichen MP3-Player wie ich, was hast du denn Schönes drauf?”. “Zuletzt habe ich Reggae gehört, also müsste es mit Reggae wieder losgehen, wenn du ihn anschaltest, soll ich’s machen?”. Sie hatte ihn schon in der Hand und tippte auf die ON-Taste. “Lass nur, ich komme schon klar, hast du ein Bier im Haus?”. “Sorry, ich bin ein miserabler Gastgeber”, entschuldigte ich mich und öffnete den Kühlschrank. “Singha oder Carlsberg?” “Singha, bitte, wo hast du deine Kopfhörer?”. Ich öffnete ein Bier am Flaschenöffner an der Wand neben der Tür und reichte ihr die Flasche, zusammen mir den Kopfhörern, die auf dem Bett halb verdeckt unter einem T-Shirt gelegen hatten. “Danke, ich mache mir es draussen gemütlich”.

Als ich zehn Minuten später frisch geduscht auf die Veranda trat, immer noch mit dem Handtuch meine Haare rubbelnd, lag sie im Rattansessel, die Beine auf dem Tisch, in der einen Hand das Singha, in der anderen den MP3-Player und strahlte mich an. „Das ist ja super Reggae, so herrlich melodisch, wer ist das, auf dem Display steht nur ‚Best of Reggae’?”, wollte sie wissen und hielt mir die Kopfhörer entgegen. “Lucky Dube“, erkannte ich sofort, ohne die Dinger aufzusetzen. “Nie gehört. Das wäre was für Sani! Sie ist ein echter Reggae-Typ, dunkelhäutig, tolle Figur, Beine bis zu den Schultern, ziemlich wirre, lange, schwarze Löckchen, sie liebt Reggae über alles, hört aber meistens diese alten Bob Marley Songs. Und Heavy Metal, was mich fürchterlich nervt. Sani gibt immer an, sie sei aus Burkina Faso, dabei war sie nie in ihrem Leben dort. Ihr voller Name ist Ysani O’Talu, ihre Mutter ist aus Burkina Faso, ich weiss noch nicht mal genau, wo das ist“. “In West-Afrika, ein riesiges Land“, meinte ich und hängte das Handtuch über das Verandageländer, “grenzt im Süden an die Elfenbeinküste, Ghana, Togo und Benin”. “Das sagt mir auch nicht viel mehr, da hast du wohl eine entschieden bessere Allgemeinbildung als ich“. “Unsinn, nur ein Zufallstreffer, wäre ich nicht mal dort gewesen, wüsste ich es auch nicht.”

Die Kopfhörer hörten endlich auf zu krächzen, als Marie den Player ausschaltete und mich anschaute. “Was machst du denn in Burkina Faso?”. Ich setzte mich auf die Armlehne ihres Sessels. “Ich war nur zwei Stunden auf dem Airport von Quagadougou bei einem Fuel-Stop auf dem Flug von Lomé nach Brüssel”. “Und was hast du in Lomé gemacht?”. “Fotografiert, in Togo, und vorher in Abidjan an der Côte d’Ivoire”. “Du hast doch gesagt, du bist kein Fotograf?”. erinnerte sie sich völlig richtig. “Bin ich ja auch nicht. Das war nur eine einmalige Sache, ich habe damals einem Bekannten geholfen, der den Auftrag von Focus dafür in der Tasche hatte, und die Flugtickets. Seine Frau hatte ein paar Tage vor seiner geplanten Abreise einen schweren Autounfall und lag auf der Intensivstation, da wollte er natürlich bei ihr bleiben. Er hat mich angerufen, hat mir seine Situation geschildert, und gefragt, ob ich ihm helfen würde. Und das habe ich gemacht. Das war alles”. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie gegenüber Leo in ihrem in der Sonne glitzernden Badeanzug ihren Bungalow verließ, einen Augenblick zu uns herüberschaute und abrupt in Richtung Pool marschierte.

Marie trank einen Schluck Singha und schaute mich nachdenklich an. ”Das war alles! Warum spielst du eigentlich alles so herunter bis zur Bedeutungslosigkeit? Das ist mir jetzt schon ein paar Mal aufgefallen. Die Reise war doch garantiert abenteuerlich, aufregend, spannend. Erzähl doch mal ein bisschen, interessiert mich wirklich”. “Nachher vielleicht, was hältst du davon, wenn wir langsam mal losziehen?”. “Ja, klar, wo gehen wir hin?”. “Nicht weit, nur da vorne schräg über die Straße, zum Chang Noi. Ein sehr schönes Thai Restaurant, aber auch mit europäischer Küche. Ich weiss ja nicht, was du gerne isst, aber da findest du bestimmt etwas für deinen Geschmack“.

Ich ging in den Bungalow zurück, sie kam hinterher und stellte die leere Bierflasche ordentlich neben den Kühlschrank. “Und jetzt muss ich noch mal zur Toilette.” Nach einer Weile öffnete Marie die Badezimmertür und rief: “Du, ich nehme mir mal ein bisschen von deiner Après Soleil Lotion, ich habe einen ganz schönen Sonnenbrand auf den Armen, OK?”. “Ja, sicher, warum fragst du überhaupt?”. Sie kam aus der Tür, cremte sich die Arme ein und antwortete kokett: “Weil ich ein wohlerzogenes Mädchen bin. Also, ich bin fertig, wollen wir gehen? Ich habe schon wieder Hunger“. “Ja, ich auch“, sagte ich, hängte mir die Tasche über die Schulter und hielt ihr die Tür auf.

Die Harley Hour am Pool wurde heute wieder mit voller Besetzung zelebriert, aber gänzlich unbemerkt konnten wir uns nicht über den Weg zur Straße vorbei schleichen und ich winkte kurz hinüber. “Das sind die Typen, die ich heute morgen im Restaurant nach dir gefragt habe“, bemerkte Marie halblaut. “Ja, ich weiss, aber die sind ganz in Ordnung und sehen nur so wild aus”. Langsam schlenderten wir plaudernd aus der Anlage die Straße hinunter.

Wir redeten schon seit über einer Minute unmittelbar neben dem großen Elefanten aus Teakholz am Eingang des Chang Noi und der Junge, der am qualmenden Holzkohlengrill gerade die ersten Kartoffeln auflegte, hatte mir schon freundlich zugenickt. “Bitte”, lud ich sie mit einer Armbewegung ein, “wir wollten doch etwas essen”. Wir traten ein, es war viertel vor sechs auf der Uhr über der Bar und noch hell, das Restaurant noch leer. Marie schaute sich neugierig in alle Richtungen um und nickte anerkennend. “Ja, schön hier, gehen wir nach draussen auf den Balkon, da ist es etwas luftiger“.

Genau von dort kam uns Clark Kent entgegen. Ein Thai vom Personal, den ich seit der Eröffnung des Chang Noi anno dunnemals kannte. Er war der Spassvogel der Happy Elephant Truppe. Bei meinem letzten gemeinsamen Besuch hier mit Meou trug er die ganze Zeit ein glasloses, schwarzes Brillengestell exakt wie Superman in seiner zweiten, ‘zivilen’ Identität als Reporter Clark Kent und versuchte jeden, aber auch jeden Gast davon zu überzeugen, er sei Superman. War jemand mit der Brille allein nicht zu überzeugen, knöpfte er zum Beweis sein weisses Hemd auf und zeigte stolz sein T-Shirt mit den V-förmigen, blau-gelb-roten Superman Logo auf der Brust. Ein echter Knaller, wir waren oft hier zum Essen, und ich habe mich jedes Mal aus Neue darüber kaputtgelacht. Gestern hatte ich ihn nicht gesehen oder er hatte seinen freien Tag.

Wir trafen uns in der Mitte des Restaurants, er erkannte unsere Absicht und geleitete uns auf den Balkon direkt zu dem Tisch, an dem ich gestern Abend mit Leo gesessen hatte. Es war ihm deutlich anzusehen, dass ich ihm wohl bekannt vorkam und er gerade grübelte, woher denn bloß, aber ich sagte nichts. Mit dem weissen Handtuch, das an der Seite seiner ebenso weissen Schürze hing, wedelte er flüchtig über das blitzsaubere Tischtuch, reichte uns zwei Karten und fragte, was wir zu Trinken wünschten. “Ich bleibe bei Singha“, entschied Marie, “magst du jetzt auch eins?”. “Nein, wirklich, ich trinke heute überhaupt kein Bier“, und, an Clark Kent gerichtet, “ein Singha, einen Kaffee und eine kleine Flasche Wasser, bitte.”

Marie stand auf, beugte sich über das Geländer, blickte nach links und rechts auf die Bophut Beach und eine Weile versonnen hinüber nach Pha Ngan. Die Sonne musste wohl gerade hinter den Berggipfeln von Ko Ang Thon versinken, im Osten über Big Buddha Island war der Himmel schon fast schwarz, verlief nach oben in ein dunkles Blau, wurde in westlicher Richtung wieder heller und ging über in ein intensives Gelb und schließlich, knapp über dem Horizont, in ein leuchtendes Orangerot. “Irgendwie so unwirklich, das Licht, meinst du nicht auch?”, sinnierte Marie, ihr Kínn in die Hände gestützt und war so wunderschön anzusehen. Sie setzte sich wieder und schlug ihre Karte auf, während die Getränke serviert wurden.

“Kaffee und Wasser“, bemerkte sie kopfschüttelnd, “Also wenn ich abends Kaffee trinke, kann ich nicht schlafen.” “Bei mir ist es genau umgekehrt. Wenn ich abends schlafe, kann ich keinen Kaffee trinken“. Verdutzt schaute sie mich an. “Deine Denkweise oder auch Logik, wenn man das überhaupt so nennen kann, ist wohl wirklich etwas gewöhnungsbedürftig“, schmunzelte sie, “komm, wir wollten doch feiern! Peter, du bist heute mein Gast, soll ich uns eine Flasche Sekt bestellen?”. “Nein, bloß nicht!”. “Wie du willst“, resignierte sie und studierte weiter die Karte. “Hast du schon etwas gefunden, du warst doch schon mal hier, oder?”. “Ja, gestern, da hatte ich das Steak au Poivre, war ausgezeichnet, heute nehme ich das Steak Hawaii“. “Mit dem Gedanken habe ich auch schon gespielt, OK, nehme ich auch, well-done, und du?”. “Genauso”. “Und so eine Kartoffel von dem Grill da draussen, du auch?”, klappte ihre Karte zu und bestellte bei Clark Kent, der gerade vier Gäste an den übernächsten Tisch geleitet hatte. Im Innenraum waren mittlerweile auch zwei Tische besetzt.

Marie hob ihr Glas. “Auf meinen Retter! Noch mal vielen Dank, Peter”. “Aber jetzt wirklich zum allerletzten Mal, ja?”, erwiderte ich, nippte vorsichtig an der dampfend heissen Kaffeetasse und steckte mir eine Zigarette an. Der letzte Rest des orangefarbenen Horizonts versank hinter den Palmenhügeln vor Ban Maenam, sie schaute wieder auf das Meer hinaus und deutete mit dem Zeigefinger in den schwarzen Himmel. “Schau mal, da kommt ein Flieger“. Rechts von Phan Ngan näherte sich eine Bangkok Airways ATR im Sinkflug und sah mit ihren zwei grellen Scheinwerfern aus wie ein heran kommendes Auto. “Wie niedrig die über Big Buddha fliegt! Als ich am Mittwoch Nachmittag hier gelandet bin, sind gerade die letzten Regenwolken abgezogen, die Straßen waren noch nass, aber seitdem ist das Wetter phantastisch. Schade, ich hätte gerne ein paar Fotos vom Anflug aus dem Flieger gemacht, mein Sitznachbar hat mit mir sogar seinen Fensterplatz getauscht, ich saß da, mit der Kamera in der Hand und dem Finger auf dem Auslöser, aber draussen nur alles grau in grau mit ein paar unwesentlichen Abstufungen. Als man dann endlich etwas erkennen konnte, ist die Maschine schon über die Landebahn geholpert, so tief hingen die Wolken”.

Unweigerlich musste ich an den Absturz der Bangkok Airways Maschine im November 1992 denken, eine Woche, bevor Meou und ich hierher geflogen sind. Das Wetter muss so gewesen sein, wie Marie es gerade beschrieben hatte, zudem war es noch stürmisch, bereits fast dunkel und der Samui Airport war damals lediglich für Sichtflug-Landungen ausgelegt und zugelassen. Normalerweise hätte bei dieser Wetterlage der Flug in Bangkok überhaupt nicht starten dürfen oder hätte umkehren oder nach Phuket umgeleitet werden müssen. Statt dessen krachte die vollbesetzte ATR 140 in die Berge von Chaweng, etwa drei Kilometer Luftlinie neben der Landebahn. Überlebt hat niemand, in den deutschen Medien wurde auch ausführlich über die Katastrophe berichtet, aber die authentischen Schilderungen, die wir hier vor Ort zu hören bekamen, waren schauerlich. Einheimische seien unmittelbar nach dem Crash durch den Dschungel in die Berge zur Absturzstelle geklettert und haben die Leichen gefleddert. Die Rettungstrupps, die sich erst am folgenden Tag zu den Flugzeugtrümmern durchschlagen konnten, fanden weder Bargeld, noch Schmuck, Armbanduhren oder andere Wertgegenstände, selbst die weit verstreut liegenden Gepäckstücke waren durchsucht worden. Bei einigen Opfern waren Goldzähne herausgebrochen, aber keinem fehlte der Reisepass.

Natürlich erzählte ich nichts davon Marie. Sie hatte mich wohl beobachtet, wie ich ein paar Sekunden lang schweigend meine Tasse anstarrte. “Peter, was ist denn?”. Aber da kam glücklicherweise Clark Kent, stellte zwei große Teller auf den Tisch und Marie bestellte noch ein Singha. “Na, dann guten Appetit“, sagte ich und griff nach Steakmesser und Gabel. “Ja, danke, dir auch“, kam es etwas abwesend zurück, sie versuchte hochkonzentriert, mit ihren Fingernägeln die Aluminiumfolie stückchenweise von der dampfenden Kartoffel abzuziehen, ohne sich dabei die Finger zu verbrennen, während ich mit meiner keinerlei Probleme hatte. Ich sah ihr zu, bis sie fertig war, die nackte Kartoffel mit Salz und Pfeffer würzte und wir fingen gemeinsam mit dem Essen an. “Hmm, wirklich gut, das Steak”, lobte sie. Clark Kent brachte ihr zweites Singha und ein frisches, vereistes Glas.

“Wir haben ein sehr gutes Steakhouse in Bad Homburg, ab und zu gehe ich mit Sani zum Abendessen hin, aber so ein leckeres Steak Hawaii habe ich da noch nicht bekommen. Magst du auch noch eine Kartoffel, ich bestelle mir noch eine, oder warte, die Dinger sind so groß, reicht dir eine halbe von mir?”. “Ja, natürlich, das ist mehr als genug”. Sie winkte Clark Kent, deutete auf die zerfetzte Folie und sagte: “One more, please, but a big one!” und er brachte sie umgehend auf einem kleinen Teller. Marie begann, die Folie zu öffnen und dieses Mal klappte es sichtlich besser. “Da fällt mir ein“, erzählte sie weiter und legte mir eine Kartoffelhälfte auf den Teller, “ich war auch einmal in Bad Nauheim zum Essen, in einem italienischen Restaurant, da wo diese breite Straße am Park entlang bergauf geht und oben auf dem Berg ist ein Ausflugscafé“. “Dann warst du bei Davide“, folgerte ich. “Genau, so hieß der Laden. Mit meinen Eltern und meiner Schwester. Meine Mutter hat gelegentlich solche plötzliche Eingebungen der dritten Art und lädt uns dann alle zu irgend etwas Besonderem ein“. Das Steak war in der Tat köstlich.

Marie kramte weiter in ihren Erinnerungen. “Abgesehen von dem Familiendinner war ich auch mal in diesem Biergarten am Teich im Kurpark, echt schön dort“. “Siehst du, und wenn du am Teichhaus weitergehst, am Eisstadion vorbei, dann bist du in fünf Minuten bei mir in der Georgenstraße.” “Dann kann es ja gar nicht weit weg sein von der Autobahnabfahrt“, strahlte sie, sichtlich stolz auf ihr Erinnerungsvermögen. “Und wo würde ich dich finden, wenn du in Bad Nauheim unterwegs bist? Gehst du auch öfter mal mit Freunden aus, oder wenigstens mit einem netten Mädchen, wenn du schon, wie du sagst, keine Freundin hast?”.

So gelassen wie möglich klärte ich sie auf. “Nirgends würdest du mich finden. Ich gehe überhaupt nie aus, war schon jahrelang in keiner Kneipe und keinem Restaurant mehr“. Marie sah ehrlich überrascht aus. “Wie, warum denn das? Du kannst doch nicht nur zu Hause herumhocken!”. “Tu’ ich ja auch nicht. Länger als ungefähr drei Stunden kann ich gar nicht vor meinen Rechnern sitzen, dann muss ich mich bewegen und laufe mal durch den Park, um den Golfplatz oder gehe im Wald spazieren, ist ja alles direkt vor meiner Haustür“, antwortete ich, “und das einzige nette Mädchen, mit dem ich mich gelegentlich treffe, ist meine Ex-Frau, wenn sie mich anruft und fragt, ob ich Zeit und Lust auf einen Spaziergang habe. Ich lebe wirklich sehr zurückgezogen“.

“Das kann ich mir einfach nicht vorstellen, jeder Mensch hat sein Umfeld mit Freunden und Bekannten. Du kannst doch nicht ständig alleine sein, das ist doch total ungesund!”, entrüstete sie sich. “Aber so ist es nun mal“, versuchte ich ihr zu erklären, “seit drei Jahren lebe ich so und habe mich daran gewöhnt. Ich habe nicht die geringste Lust, alte Bekannte oder sogenannte Freunde zu treffen und dumme Fragen beantworten zu müssen”. Marie sah mir teils nachdenklich, teils ungläubig in die Augen. “Also bleibe ich lieber alleine“, schloss ich meine Überlegung, “mache mir über alles meine Gedanken und bin soweit zufrieden damit”. “Das glaube ich dir zwar nicht, aber wenn du meinst. Ich denke, du bist ein ausgesprochen ungewöhnlicher Mensch. Musst du auch sein, um so leben zu können“, sinnierte sie und schaute mich unentwegt an. “Du hast unheimlich blaue Augen”. Ich zuckte mit den Schultern, erwiderte gelassen “Besser als gar keine, oder?” und sie lachte wieder. Im Laufe der Unterhaltung hatten wir unser Dinner beendet, ich schob meinen Teller samt Serviette zur Seite, trank den Rest kalten Kaffee, bot Marie eine Saiphon an und gab ihr Feuer.

Clark Kent ging an unserem Tisch vorbei und servierte einen Obstteller am Tisch hinter mir. Marie strahlte. “Hast du das gesehen? Darauf hätte ich jetzt auch Lust, und du?,” und stoppte den Thai auf seinem Rückweg mit einem Arm voller leerer Teller mit einem Wink. “Please, one fruit plate”, und an mich gewandt, “was nehmen wir, Ananas und Wassermelone? OK, with pineapple and watermelon, kop kun kah“, worauf er nickte und seine Teller weiter balancierte. Innerhalb von drei Minuten stand eine Riesenplatte mit eiskalten Früchten und zwei kleinen Gabeln auf unserem Tisch und wir begannen zu naschen. “Hmm, diese Wassermelonen sind lecker hier”.

Unvermittelt kicherte sie und mit einer leichten Kopfbewegung nach rechts und einem Augenaufschlag deutete Marie an, ich solle mal dort hin schauen. Bedächtig drehte ich mich um. In der zweiten Tischreihe im Restaurant saßen zwei junge Frauen, wohl gerade erst hereingekommen, und unterhielten sich lautstark auf italienisch oder spanisch, genau konnte ich nichts verstehen, der gesamte Geräuschpegel war zu hoch. Aufgebrezelt bis zum geht-nicht-mehr. Die eine, wasserstoffblond mit giftgrünen Strähnen, trug violette Leggings und ein goldfarbenes Bikini-Oberteil, die andere, mit karottenfarbenen kurzen Haaren, einen langen, bunt bedruckten Rock und ein übergroßes weisses Hemd mit funkelnden Pailetten. Mir blieb nichts, als bewundernd zu nicken. Wieder zu Marie gewandt, meinte ich anerkennend: “Wow, wo gibt’s denn diese geilen Klamotten? Bei Roncalli?”. Sie hatte gerade ihr Glas an die Lippen gesetzt, prustete los und der Schaum des frisch eingeschenkten Singhas spritzte über den Tisch. “Sorry”, gluckste sie und wischte mit ihrer Serviette die Tropfen auf, “das kam so plötzlich!”.

Marie blickte verträumt in den wolkenlosen Sternenhimmel. “Ist dir schon mal aufgefallen, wie tiefschwarz der Himmel hier ist?”. Prüfend schaute ich ebenfalls nach oben, runzelte kritisch die Stirn und antwortete: “Sooo beeindruckend ist das nicht. Das sind vielleicht gerade mal so 60 oder maximal 64 Dark“. Sie neigte den Kopf zur Seite und sah mich mit zusammen gekniffenen Augen fragend an. “Was?”. “Dark“, wiederholte ich. “Dunkelheit wird in Dark-Einheiten gemessen. Temperatur in Grad, Druck in bar, Licht in Lux und Dunkelheit in Dark“. Sie schien mir nicht so recht glauben zu wollen, ihr Gesichtsausdruck liess Zweifel erkennen. Durch und durch ernsthaft fuhr ich fort. “Ja, mal zum Vergleich: In einem unbeleuchteten U-Bahn Schacht in München werden um drei Uhr morgens durchschnittlich 84 bis 86 Dark gemessen. Die höchste in Deutschland dokumentierte natürliche Dunkelheit war im Dezember 2001 in einem Keller in Recklinghausen mit 91 Dark, ungewöhnlich”.

Marie schaute mich kopfschüttelnd an, lauschte aber neugierig. “Im Juni 2003 hatten zwei Schweizer Darkforscher in einer stillgelegten Kupfermine in den peruanischen Anden eine natürliche Dunkelheit von sagenhaften 97 Dark entdeckt. Sie haben sie in drei ineinander verschachtelten Stahlbehältern vakuumisoliert gesichert und mitgenommen. Aber bei der Einreise in die Schweiz war den Genfer Zollbeamten die Sache zu suspekt, versiegelte Stahlbehälter aus Südamerika, und sie bestanden darauf, sie zu öffnen und die einmaligen Proben waren natürlich verloren. Dumm gelaufen“. Marie bewegte noch immer ungläubig ihren Kopf hin und her. Nach etwa fünf Sekunden kritischer Überlegung lachte sie laut los. “Willst du mich verarschen? Wie kannst da allen Ernstes so einen Schwachsinn erzählen, ohne auch nur ein einziges Mal lachen zu müssen“. Sie war so wunderschön, so ausgelassen, sie sah so glücklich aus. Ich versuchte vergeblich zu rekonstruieren, wie viele Singha sie im Laufe des Tages getrunken hatte, es waren einige und ich dachte besorgt an ihre Fahrt zurück ins Blue Lagoon.

“Du solltest dir wirklich mal ernsthaft überlegen, ob du heute Nacht nicht besser hier in Bophut bleibst, anstatt nachher noch durch die Wildnis nach Chaweng zu fahren. Ich will dir damit nicht unterstellen, dass du nicht mehr fahren kannst. Aber möglicherweise, und die Chancen stehen nicht schlecht, trifft du unterwegs auf andere Fahrer, die es nicht mehr können. Nach ein paar Bier und Maekong vergisst man schon mal, dass hier links gefahren wird. Du bist die Strecke nur zweimal bei Tageslicht gefahren und hast sicher gemerkt, dass es selbst dann nicht ganz ungefährlich ist. Wenn die Thais mit ihren Trucks angerauscht kommen und dich überholen oder wenn plötzlich ein paar Kinder auf der Straße spielen. Und da willst du nachts eine Strecke von 25 Kilometern fahren mit dem Risiko, das dir ein besoffener Geisterfahrer entgegenkommt? Da würde ich doch lieber zwölfhundert Baht in meine Sicherheit investieren und mir hier einen Bungalow nehmen, ausschlafen, gemütlich frühstücken und dann nach Chaweng fahren. Also mir macht das Autofahren hier Angst”.

Marie hatte aufmerksam zugehört, drehte ihren Kopf zur Seite und schaute ein paar Sekunden nachdenklich auf die Lichter von Pha Ngan. Sie kratzte sich am Kopf, schüttelte einmal kräftig ihre Haare durch und seufzte: ”Und, was meinst du, soll ich machen?”. “Hm, ich kann im Smile House fragen, die haben garantiert noch was frei. Oder, wenn du mir vertraust, dass ich dich nicht um drei Uhr morgens in deinem tiefsten Schlaf fessele und vergewaltige, kannst du gerne in meiner Hütte übernachten. Du hast ja gesehen, ich habe ein riesiges Bett, brauche aber nur die Hälfte davon. Vermutlich habe ich sogar noch eine von diesen kleinen Airline-Zahnbürsten zum Zusammenstecken, originalverpackt!”. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schaute wieder gedankenversonnen nach Pha Ngan, dann mir in die Augen und sagte fast feierlich: “Du hast recht, Peter, ich fahre lieber nicht mehr. Und ich vertraue dir und nehme dein Angebot an. Danke. Ich glaube, wenn ich auf dieser Insel jemanden vertrauen kann, dann dir. Ausserdem kann ich dann noch ein Bier trinken“, lachte erleichtert über ihre Entscheidung und winkte Clark Kent mit der leeren Singhaflasche zu.

“Mit dem Linksverkehr habe ich überhaupt keine Probleme. Vor drei Jahren bin ich mit dem Volvo, den ich damals hatte, von unten nach oben durch ganz England gefahren bis nach Nairn im Norden von Schottland, an der Moray Firth. Und wieder zurück, unfallfrei!”. “Cool“, lobte ich, “alleine?”. “Nein, ich war damals schon ein paar Monate mit Martin zusammen und wir wollten unbedingt gemeinsam Urlaub machen. Schottland hat mich schon immer fasziniert, die Landschaft, die Abgeschiedenheit, irgendwie romantisch. Gut, bis nach Oostende ist Martin noch gefahren, aber auf der Fähre hat er schon ein paar Bier getrunken, also musste ich weiterfahren. Und an jedem zweiten Pub anhalten, weil er noch ein Bier trinken wollte. Irgendwo mitten in England haben wir übernachtet und am nächsten Tag bin ich auch noch den Rest bis nach Nairn gefahren. Hat richtig Spass gemacht. War echt schön da oben, eine ganz wilde Landschaft. Zurück bin ich auch chauffiert, sogar noch zwei Tage durch London! Warst du mal dort? Ein wahnsinniger Verkehr, nicht so krass wie in Bangkok, aber immerhin, ich hab’s geschafft!”.

“Wohin bist du sonst noch so verreist?”. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihre Hände auf dem Tisch drehten verspielt mein Päckchen Saiphon und sie begann zu erzählen, als Clark Kent das Bier brachte.

“Ach, gar nicht so viel, und vor allen Dingen nicht so weit. In meiner Studienzeit war ich oft mit Kommilitonen in Frankreich, meistens in Paris, wir hatten viele Freunde dort. Als ich angefangen habe mit meiner Praxis, war nichts drin mit Urlaub, das hat erst mal alles ein Schweinegeld gekostet. Da habe ich praktisch drei, vier Jahre durchgearbeitet, kein fester Freund, keinen Urlaub, ich musste mich ja erst mal etablieren. Vor zwei Jahren war ich mit Martin auf Fuerteventura und letztes Jahr auf Barbados”. Marie nahm sich eine Saiphon aus der Packung und ich gab ihr Feuer.

“Ach ja, meine erste große Reise waren drei Wochen Florida. Mit meinen Eltern, da war ich 14 und natürlich total begeistert. In New York waren wir auch drei Tage, das war für mich das Allergrößte. Aber wenn ich heute so daran zurückdenke, fallen mir eigentlich nur noch Burger und Hot Dogs ein, ist irgendwie ein fades Land, zwar alles gigantisch und pompös, aber grauenhaft oberflächlich. Meine zweite USA-Reise hat mir dann einen ganz anderen Eindruck vermittelt, aber das war ja auch kein Urlaub. Ich habe am Children’s Hospital in Boston ein sechsmonatiges Auslandspraktikum absolviert. War eine tolle Erfahrung. Es war zwar Stress pur, ich habe geschuftet wie ein Tier, aber auch unheimlich viel gelernt, in medizinischer und in sprachlicher Hinsicht. Zeit, mich umzusehen, hatte ich gar nicht, habe in diesem halben Jahr Boston nur einmal verlassen und bin an einem verlängerten Wochenende mit Kollegen nach New York gefahren“. Ihr Bier war schon wieder halb leer. “Ich bin im Grunde gar kein Urlaubsfanatiker“, fuhr sie fort, “ich gehe auch gerne einfach nur stundenlang spazieren, wir haben herrliche Parks und viel Wald in und um Bad Homburg. Ich habe das Gefühl, dabei erhole ich mich besser, als wenn ich irgendwo am Strand an einer Bar bei einem Cuba libre hocke“.

Sie betrachtete die glühende Spitze ihrer Zigarette. “Merkst du was? Ich rauche zuviel. Vorgestern habe ich mir sogar in Chaweng ein Päckchen Marlboro light gekauft und am gleichen Tag schon halb leer geraucht, ich war so was von nervös und zappelig. Gestern waren es, glaube ich, nur vier oder fünf. Was soll’s! Urlaub ist doch Ausnahmezustand, oder?”. “Kann man so sehen, deiner ist es auf jeden Fall“. “Ja”, lachte sie, “da hast du recht. Weisst du, ich lese sehr gerne über Reisen und Urlaub, gerade in den letzten Monaten. Und manchmal denke ich, da musst du unbedingt mal hin. Aber allein? Nein, nie wieder! Du siehst ja, was ich hier schon am ersten Tag für ein Disaster angerichtet habe! Zwei Bücher über Thailand habe ich gelesen, damit ich nicht ganz so unbedarft hier ankomme. Ich habe mir sogar extra eine Stunden frei genommen, um mir die Bücher selbst in der Buchhandlung auszusuchen. Sani kann ich mit so etwas nicht beauftragen. Milch holen, drei Joghurt und einen Kopf Salat, kein Problem. Aber Fachliteratur auswählen, das mache ich lieber selbst. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob sie überhaupt weiss, wie man ein Buch umblättert, vermutlich sucht sie stundenlang nach der Taste zum Weiterklicken. Sie würde sogar ihr Essen mit dem PC kochen, wenn das möglich wäre, ein Computerfreak durch und durch“. Ich hustete los wie verrückt, denn ich hatte gerade an meiner Zigarette gezogen und musste simultan auch noch lachen. “Du hast ja eine hohe Meinung von der geistigen Kapazität deiner besten Freundin”, scherzte ich.

Nachdem die Gäste zwei Tische weiter bezahlt und das Restaurant verlassen hatten, waren wir die letzten hier draussen, an der Bar saß noch ein Pärchen bei einem Drink und die Tische im Innenraum wurden bereits aufgeräumt und für morgen vorbereitet. Da traf es sich gut, dass Maries Bier zur Neige ging und ich meinte mit einer Kopfbewegung Richtung Bar: “Marie, schau, wir sind die Letzten, ich denke, die Jungs hätten auch gerne Feierabend, wollen wir gehen?”. Offenbar riss ich sie damit aus ihren Gedanken, denn sie schreckte fast ein wenig zusammen. “Ja, natürlich, entschuldige, ich glaube, ich habe geträumt. Wie spät ist es eigentlich?”. Ein Blick auf meine Uhr in der Tasche bestätigte mein Zeitgefühl, es war kurz vor halb eins. “Und müde werde ich auch so langsam“, fügte sie noch hinzu, ein Gähnen unterdrückend, während ich Clark Kent winkte. Er hatte offensichtlich schon darauf gewartet und kam von der Bar die Stufe zum Balkon herauf, platzierte den Teller mit der Rechnung auf dem Tisch direkt vor mir und begann lächelnd, die Gläser, Flaschen und den Aschenbecher einzusammeln und wegzutragen.

Marie wirkte zwar etwas müde, sah aber nicht so aus, sie lachte und strahlte und grabschte blitzartig nach dem Zettel auf dem Teller, warf einen kurzen Blick darauf und wühlte eine Weile in ihrer Strandtasche auf dem Stuhl neben ihr. Fein säuberlich legte sie die Rechnung zusammen mit drei 500 Baht Scheinen auf den Teller zurück. “Wollen wir noch irgendwo hingehen auf einen Drink”, fragte sie mich, und es sollte wohl unternehmungslustig klingen, war aber absolut nicht überzeugend. “Ehrlich gesagt, lieber nicht, ich bin auch müde“. Clark Kent stand wieder am Tisch, blickte auf die Baht Scheine auf dem Teller, schien kurz etwas im Kopf zu rechnen und zückte seine große schwarze Geldbörse. Marie lächelte ihn an und wehrte kopfschüttelnd ab. “No, no, it’s OK, kop kun kah“. Er verneigte sich leicht zuerst in ihre Richtung, dann in meine, bedankte sich freundlich, wünschte uns eine gute Nacht und verschwand mit dem Teller.

Marie streckte sich und gähnte. “Sag mal, wie viel Singha habe ich heute eigentlich getrunken?”. “Keine Ahnung“, lachte ich, “ist das wichtig? Entscheidend ist doch, dass es dir gut geht, oder?”. Sie schloss ihre aufgeklappte Tasche und rückte mit ihrem Stuhl ein Stück nach hinten. “Da hast du auch wieder recht”, und, nach einer Denkpause lächelnd, “mir geht es sehr gut!”. Sie stand auf und lehnte noch eine halbe Minute am Geländer, schaute nach Pha Ngan hinüber, dann nach oben in den Sternenhimmel und murmelte schmunzelnd vor sich hin “64 Dark...“. Ich steckte Zigaretten und Feuerzeug ein, nahm meine Tasche und folgte Marie durchs Restaurant Richtung Straße.

Vier Thais vom Personal waren mit Aufräumen und Putzen beschäftigt, das Pärchen an der Bar bezahlte auch gerade und der abgekühlte Kartoffelgrill wurde herein getragen. Alle verabschiedeten uns mit einem freundlichen ‘Sawadee krap’ und draussen auf der Straße blieb Marie unvermittelt stehen, schaute nach links und nach rechts und sah mich fragend an. “Was ist denn hier los? Ist heute Nationaltrauertag oder so was?”. Die Straße war so gut wie menschenleer und fast überall war es bereits dunkel. Bei Franz war noch Licht und leise Musik zu hören und weiter vorne, möglicherweise beim Red House, saßen noch vier Leute an einem Tisch an der Straße mit ihren Drinks.

“Marie, wir sind in Ban Bophut, nicht in Chaweng, hier gehen um Mitternacht die Lichter aus”. Ungläubig schaute sie noch einmal in beide Richtungen und meinte: “Ich hatte zwar noch keine Gelegenheit dazu, aber ich habe mir sagen lassen, in Chaweng lohnt es gar nicht, vor Mitternacht überhaupt irgendwohin zu gehen, da geht es um ein Uhr erst so richtig los. Macht ja nichts, ist doch schön, dass es auch noch so ein ruhiges Plätzchen gibt. Ich glaube, wenn ich mich mehr mit der Urlaubsplanung befasst und mich besser informiert hätte, anstatt alles Sani zu überlassen, wären wir vermutlich eher hier gelandet“.

Langsam spazierten wir an Davids Appartements vorbei zum Smile House. “Nichts gegen das Blue Lagoon, finde ich toll, die Anlage, der Strand ist ja auch super. Aber diese Stadt Chaweng ist mir doch ein bisschen zu chaotisch, ich fürchte, aus dem Alter, in dem man so was geil findet, bin ich wohl raus“, sagte sie ein wenig wehmütig. An der Smile House Rezeption brannte noch Licht, aber die Bar war auch hier bereits geschlossen. Beim Überqueren des Parkplatzes fiel mir auf, dass der Harley Club noch unterwegs war und im S4 schaltete ich zuerst einmal die Aircondition an, um die Innentemperatur auf ein erträgliches Niveau herunter zu kühlen.

“Kannst du bei dem Gebrumme denn schlafen?”, fragte Marie, nachdem ich die Tür geschlossen hatte, “ich schalte meine Aircondition nachts immer ab”. “Das mache ich auch, nur den Deckenlüfter lasse ich auf Stufe eins die ganze Nacht laufen, der ist geräuschlos”. “Genau so mache ich’s auch!”, lachte sie und nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. “Ich darf doch?”. Ich war damit beschäftigt, die linke Bettseite für Marie fertigzumachen, das heisst, die herumliegenden Klamotten und die blaue Thai Airways Tasche wegzuräumen und das dünne Betttuch einladend aufzuschlagen. “Marie, du darfst alles, auch ohne zu fragen“. “Soll ich dir auch ein Glas einschenken?”. Es kam mir auf einmal so vor, als sei sie seit Betreten des Bungalows wieder hellwach. “Ja, bitte, so, dein Bett ist fertig“, bemerkte ich, ging ins Badezimmer, putzte mir die Zähne und suchte und fand die kleine gelbe, in Cellophan verpackte Lufthansa Zahnbürste in meiner Tasche mit dem Waschzeug, so, wie ich es in Erinnerung hatte.

“Hier, schau mal, ich habe sie tatsächlich noch“, freute ich mich, als ich wieder ins Schlafzimmer trat. Marie hatte das Deckenlicht und die Aircondition ausgeschaltet und statt dessen den Lüfter und die beiden Nachttischlampen angemacht, saß nachdenklich auf ihrer Bettkante, ein Glas Wasser in der Hand, und sah einfach märchenhaft schön aus. “Du”, sagte sie langsam, “ich habe gerade versucht, mich zu erinnern, wann ich mich zum letzten Mal so gut amüsiert habe, so gut mit jemanden unterhalten habe wie mit dir“, und trank einen Schluck Wasser. Leicht schmunzelnd und jetzt doch wieder müde aussehend schüttelte sie den Kopf. “Es fällt mir beim besten Willen nichts Vergleichbares ein“.

Sie stand auf, nahm die Zahnbürste, die ich ihr entgegenhielt und deutete auf das T-Shirt, das ich beim Abräumen ihres Bettes über den Stuhl vor dem Verandafenster gehängt hatte. “Darf ich das zum Schlafen anziehen?”. “Ja, natürlich, habe ich ‘ne Wolldecke im Mund? Ich habe dir doch gesagt, du darfst alles, auch ohne zu fragen“. Sie lachte. “Die Wolldecke wäre vielleicht manchmal gar nicht so schlecht,” grinste sie, “wenn ich daran denke, was du heute, beziehungsweise gestern im Laufe des Tages so alles von dir gegeben hast...“, ging durch den kleinen Vorraum ins Badezimmer und schloss die Tür.

Hochgradig eloquent, die Frau. Mir ging es genau wie Marie, was die Erinnerung an eine gute Unterhaltung betraf. Ich zog mir ein T-Shirt an, legte mich auf mein Bett und rauchte eine Saiphon. Das war in der Tat ein wunderbarer Tag mit einer wunderschönen Marie, dachte ich, als sie zurückkam, noch einmal ihr Wasserglas füllte, ihre Lampe ausschaltete und sich ins Bett kuschelte. “Lässt du mich mal ziehen“, fragte sie und ich reichte ihr die Zigarette. Sie lag auf der Seite, den Kopf auf ihre Hand gestützt und schaute mich an. “Es ist so ungewohnt ruhig hier. Die Bungalows im Blue Lagoon liegen zwar etwas unterhalb der Hauptstraße und auch bestimmt 200 Meter davon entfernt, aber nachts hört man trotzdem jedes einzelne Motorrad, jeden einzelnen Truck vorbeifahren, da ist rund um die Uhr Verkehr“.

Sie gab mir die Zigarette zurück, legte sich auf den Rücken und zog sich das Betttuch bis an die Schultern. “Danke, dass ich heute Nacht bei dir bleiben kann“, sagte sie leise, während ich den Aschenbecher auf den Nachttisch stellte, meine Lampe ausknipste und mich, zu Marie gewandt, auf die Seite legte. “Schön, dass du geblieben bist“, entgegnete ich, “gute Nacht, Marie, schlaf gut“. “Gute Nacht Peter”. Sie drehte sich auf die Seite, mit dem Rücken zu mir, und ich schaute sie noch bestimmt zehn Minuten an, nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit und das schwache Mondlicht gewöhnt hatten, dann schlief ich auch ein.

Samui und zurück

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